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5.  Die Guckguck-Welt

Postman-1985

 

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Um die Mitte des 19. Jahrhunderts trafen zwei Ideen zusammen, aus deren Verschmelzung eine neue Metapher für den öffentlichen Diskurs im Amerika des 20. Jahrhunderts hervorgehen sollte.

Die Verbindung dieser beiden Ideen machte dem Zeitalter der Erörterung ein Ende und schuf die Grundlage für das Zeitalter des Showbusiness

Die eine Idee war ganz neu, die andere so alt wie die Höhlenbilder von Altamira. Auf die ältere Idee werden wir gleich zu sprechen kommen. Die neue Idee besagte, daß die Bindung der Kommunikation an den Transport aufgelöst werden könnte, daß der Raum die Weitergabe von Informationen nicht unbedingt hemmen mußte.

Die Amerikaner des 19. Jahrhunderts beschäftigten sich sehr intensiv mit dem Problem der »Eroberung« des Raumes. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war die »Grenze« bis zum Pazifischen Ozean vorgerückt, und ein noch in den Anfängen steckendes Eisenbahnsystem, mit dessen Bau man in den dreißiger Jahren begonnen hatte, fing an, Menschen und Waren durch den Kontinent zu befördern. Aber bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts konnten sich Informationen nur so schnell fortbewegen, wie ein Mensch sie transportieren konnte; genaugenommen: so schnell, wie ein Eisenbahnzug fahren konnte, nämlich, um es noch genauer zu sagen, etwa 55 Kilometer in der Stunde. Diese Beschränkung trug dazu bei, daß sich die Entwicklung Amerikas zu einer nationalen Gemeinschaft verzögerte.

In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts bestand Amerika noch immer aus einzelnen Regionen, jede mit ihren besonderen Formen der Verständigung und mit besonderen Interessen. Ein Austausch, der den ganzen Kontinent einbezog, war noch nicht möglich.

Die Lösung dieser Probleme lieferte, wie früher jedes Schulkind wußte, die Elektrizität. Es überrascht nicht, daß es ein Amerikaner war, der ein Verfahren fand, die Elektrizität in den Dienst der Kommunikation zu stellen und das Problem des Raumes auf diese Weise ein für allemal aus der Welt zu schaffen. Ich denke hier natürlich an Samuel Morse, dessen Telegraph die Grenzen zwischen den Bundes­staaten auslöschte, Regionen zusammenballte und, indem er den Kontinent mit einem Informations­netz überzog, die Grundbedingung eines einheitlichen amerikanischen Diskurses herstellte.

Der Preis hierfür war allerdings hoch. Denn die Telegraphie tat etwas, was Morse nicht vorhergesehen hatte, als er prophezeite, sie werde »das ganze Land in eine einzige Nachbarschaft verwandeln«. Sie zerstörte die bis dahin geläufige Definition von Information und gab so dem öffentlichen Diskurs eine neue Bedeutung. Zu den wenigen, die diese Folgewirkung erkannten, gehörte Henry David Thoreau, und in seinem Buch <Walden> schrieb er: 

»Wir beeilen uns sehr, einen magnetischen Telegraphen zwischen Maine und Texas zu konstruieren, aber Maine und Texas haben möglicherweise gar nichts Wichtiges miteinander zu besprechen. [...] Wir beeilen uns, den Atlantischen Ozean zu durchkabeln, um die Alte Welt der Neuen ein paar Wochen näher zu rücken; vielleicht lautet aber die erste Nachricht, die in das große amerikanische Schlappohr hineinrinnt: Prinzessin Adelheid hat den Keuchhusten."1

Wie sich zeigte, hatte Thoreau ganz recht. Er begriff, daß der Telegraph seine eigene Definition von Diskurs hervorbringen würde, daß er einen Austausch zwischen Maine und Texas nicht nur möglich machen, sondern auf ihm bestehen würde, und daß sich der Inhalt dieses Austauschs notwendigerweise von dem unterscheiden würde, woran der Homo typographicus gewöhnt war.

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Der Angriff des Telegraphen auf die aus dem Buchdruck erwachsene Definition von Urteilsbildung hatte drei Stoßrichtungen: Er verschaffte der Belanglosigkeit, der Handlungsunfähigkeit und der Zusammen­hang­losigkeit Eingang in den Diskurs. Entfesselt wurden diese bösen Geister des Diskurses dadurch, daß die Telegraphie der Idee der kontextlosen Information Legitimität verlieh, also der Vorstellung, daß sich der Wert einer Information nicht unbedingt an ihrer etwaigen Funktion für das soziale und politische Entscheiden und Handeln bemißt, sondern einfach daher rühren kann, daß sie neu, interessant und merkwürdig ist.

Der Telegraph machte aus der Information eine Ware, ein »Ding«, das man ohne Rücksicht auf seinen Nutzen oder seine Bedeutung kaufen und verkaufen konnte.

Aber er schaffte das nicht allein. Die dem Telegraphen innewohnende Möglichkeit, Information in Ware zu verwandeln, wäre vielleicht nie Wirklichkeit geworden, wenn sich der Telegraph nicht mit der Presse zusammengetan hätte. Die Penny-Blätter, die kurz vor der Telegraphie, in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts, entstanden waren, hatten schon damit begonnen, Belanglosigkeiten in den Rang von Nachrichten zu erheben. 

Zeitungen wie Benjamin Days New York Sun und James Bennetts New York Herald wendeten sich von der überkommenen Vorstellung ab, Nachrichten bestünden aus vernünftig begründeten (wenn auch voreingenommenen) politischen Meinungsäußerungen und wichtigen Wirtschafts­informationen, und füllten ihre Seiten statt dessen mit Berichten über aufsehenerregende Ereignisse, die meist mit Verbrechen und Sex zu tun hatten. Solche Meldungen mit human interest hatten für die Entscheidungen und das Handeln der Zeitungsleser zwar kaum eine Bedeutung, aber sie waren immerhin noch ortsbezogen — sie handelten von Orten und Menschen in ihrem Erfahrungsraum — und nicht immer völlig an den Augenblick gebunden.

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Die Artikel mit human interest in den Penny-Blättern hatten etwas Zeitloses; ihre Faszinationskraft beruhte nicht so sehr auf ihrer Aktualität als vielmehr auf ihrer Transzendenz. Im übrigen befaßten sich keineswegs alle Zeitungen mit solchen Themen. Die Informationen, die sie brachten, waren größtenteils nicht nur ortsbezogen, sondern auch funktional — sie standen in einem Zusammenhang mit den Problemen und Entscheidungen, mit denen es die Leser bei der Gestaltung ihres privaten und sozialen Lebens zu tun hatten.

Das alles veränderte der Telegraph, und zwar mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Wenige Monate nach Morses erster öffentlicher Vorführung hatten das Lokale und Zeitlose ihre zentrale Stellung in den Zeitungen verloren, Distanz und Tempo hatten sie mit ihrem blendenden Glanz in den Schatten gestellt. Genau einen Tag, nachdem Morse die Funktionstüchtigkeit der Telegraphie unter Beweis gestellt hatte, bediente sich eine Zeitung zum erstenmal des Telegraphen. Über die gleiche Kabelverbindung zwischen Washington und Baltimore, die Morse errichtet hatte, informierte der Baltimore Patriot seine Leser über einen Beschluß, den das Repräsentantenhaus in der Oregon-Frage gefaßt hatte. Abschließend stellte die Zeitung in ihrem Bericht fest: »[...] auf diese Weise sind wir imstande, unseren Lesern bis zwei Uhr Informationen aus Washington zu liefern. Das ist praktisch die Aufhebung des Raumes.«2

Infolge praktischer Probleme (die sich vor allem aus der geringen Zahl von Telegraphenverbindungen ergaben) blieb die alte Definition der Nachricht als einer zweckbestimmten Information noch für kurze Zeit erhalten. Aber amerikanische Zeitungsverleger mit Weitblick erkannten sehr rasch, wo die Zukunft lag, und stellten die ihnen verfügbaren Mittel in den Dienst der Verkabelung des Kontinents. William Swain, der Besitzer des Philadelphia Public Ledger, investierte nicht nur große Summen in die Magnetic Telegraph Company, die erste kommerzielle Telegraphengesellschaft; er wurde 1850 auch ihr Präsident.

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Es dauerte nicht lange, da hing das Schicksal der Zeitungen nicht mehr von der Qualität oder Nützlichkeit der Meldungen ab, die sie lieferten, sondern davon, wie viele Informationen sie aus welchen Entfernungen in welchem Tempo herbeischaffen konnten. Voller Stolz erklärte James Bennett vom New York Herold, in der ersten Woche des Jahres 1848 habe sein Blatt 79.000 Worte telegraphischen Inhalts gebracht(3) — worin ihre Relevanz für seine Leser bestand, sagte er nicht.

wikipedia  James_Gordon_Bennett_senior  (*1795 in Schottland; † 1872 in New York City) war ein amerikanischer Zeitungsmann. Der Herausgeber und Gründer des New York Herald, des ersten Ein-Cent-Massenblattes der Geschichte (1835), gilt als der „Vater des modernen Journalismus“.

Nur vier Jahre, nachdem Morse am 24. Mai 1844 die erste Telegraphenverbindung Amerikas eröffnet hatte, wurde Associated Press gegründet, und Nachrichten aus dem Nirgendwo, ohne bestimmten Adressaten, begannen kreuz und quer im ganzen Land umzulaufen. Kriege, Verbrechen. Unfälle, Feuersbrünste, Überschwemmungen — häufig nichts weiter als das soziale oder politische Pendant zu Prinzessin Adelheids Keuchhusten — bildeten von nun an den Inhalt dessen, was man die »Tagesnachrichten« nannte.

Wie Thoreau angedeutet hatte, machte die Telegraphie die Relevanz irrelevant. Der Überfluß an Informationen hatte mit denen, an die er sich richtete, mit einem sozialen oder intellektuellen Kontext, in den ihr Leben eingebettet war, nichts oder nur wenig zu tun. Coleridges berühmter Vers »Wasser, Wasser überall, aber kein Tropfen zu trinken« liefert fast so etwas wie ein Motto für eine solche dekontextualisierte Informationsumwelt: eine Flut von Informationen, aber nur sehr wenig davon war brauchbar. Der Mann in Maine konnte sich nun zwar mit dem Mann in Texas austauschen, aber nicht über etwas, das ihnen beiden bekannt oder bedeutsam gewesen wäre. Vielleicht hat der Telegraph das Land tatsächlich in »eine einzige Nachbarschaft« verwandelt, allerdings in eine sehr merkwürdige, bevölkert von Fremden, die voneinander nur die oberflächlichsten Dinge wußten.

Da wir heute in einer ebensolchen Nachbarschaft leben (die, man jetzt zuweilen auch als »Weltdorf« bezeichnet), kann sich der Leser eine Vorstellung davon machen, was kontextlose Information bedeutet, indem er sich die folgende Frage stellt:

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Wie oft kommt es vor, daß die Informationen, die ich morgens dem Radio, dem Fernsehen oder der Zeitung entnehme, mich dazu veranlassen, meine Pläne für den Tag zu ändern oder etwas zu tun, was ich sonst nicht getan hätte, und wie oft verhelfen mir diese Informationen zu Einsichten in Probleme, die ich lösen soll? Für die meisten von uns hat die Wettervorhersage zuweilen solche Konsequenzen; für Investoren sind die Börsenberichte folgenreich; und folgenreich ist manchmal auch die Meldung über ein Verbrechen, wenn es zufällig in unserer Umgebung geschehen ist oder jemand, den man kennt, davon betroffen ist. Doch der größte Teil der täglichen Nachrichten bleibt wirkungslos, besteht aus Informationen, über die wir reden können, die uns jedoch nicht zu sinnvollem Handeln veranlassen. Dies ist das wichtigste Vermächtnis des Telegraphen: Dadurch, daß er eine Fülle irrelevanter Informationen hervorbrachte, hat er das proportionale Verhältnis zwischen Information und Aktion drastisch verändert.

In mündlichen und vom Buchdruck geprägten Kulturen gewinnt die Information ihre Wichtigkeit aus den Handlungsmöglichkeiten. Gewiß, in jeder Kommunikationsumwelt übersteigt der Input (das, worüber man informiert wird) den Output (die Handlungschancen, die auf diesen Informationen beruhen). Aber in der Situation, die die Telegraphie erzeugt hat und die durch später entstandene Technologien weiter verschärft wurde, hat sich die Beziehung zwischen Information und Handeln verflüchtigt und ist ungreifbar geworden. Denn zum erstenmal in der Geschichte stehen die Menschen vor dem Problem, daß sie mit Informationen übersättigt sind, und damit gleichzeitig vor dem anderen Problem, daß sich ihre soziale und politische Handlungsfähigkeit verringert hat.

Was das bedeutet, kann man sich klarmachen, indem man die folgenden Fragen beantwortet: Welche Maßnahmen planen Sie zur Eindämmung des Konflikts im Mittleren Osten? Oder zur Senkung der Inflationsrate, der Kriminalitätsrate, der Arbeitslosenquote? Wie sehen Ihre Pläne für den Schutz der Umwelt oder die Verminderung der Gefahr eines Atomkriegs aus?

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Was planen Sie, im Hinblick auf die NATO, die OPEC, die CIA, die Bemühungen um eine stärkere Integration von ethnischen Minderheiten und Frauen in das öffentliche und wirtschaftliche Leben und die ungeheuerliche Behandlung der Bahais im Iran zu tun? Ich bin so frei und antworte an Ihrer Stelle: Sie planen gar nichts. Vielleicht geben Sie jemandem ihre Stimme, der behauptet, solche Pläne zu haben und sogar die Macht, sie zu verwirklichen. Aber das können Sie nur alle vier Jahre tun, nicht gerade ein befriedigendes Mittel, um die vielfältigen Ansichten zum Ausdruck zu bringen, die Sie vertreten. Man könnte das Wählen sogar die vorletzte Zuflucht der politischen Ohnmacht nennen. Die letzte Zuflucht besteht natürlich darin, die eigene Meinung einem Meinungsforscher zu offenbaren, der sich mit seinen dürren Fragen eine eigene Version von ihr zurechtlegt, sie in einen riesigen Topf, angefüllt mit ähnlichen Meinungen, kippt und schließlich eine neue Meldung daraus macht — was denn sonst? 

Das ist der große Kreislauf der Ohnmacht: Die Nachrichten entlocken uns eine Vielfalt von Meinungen, mit denen wir nur eines tun können — sie wiederum als Stoff für weitere Nachrichten anbieten, mit denen wir ebenfalls nichts anfangen können.

Vor dem Zeitalter der Telegraphie war die Verbindung zwischen Information und Handlungsfähigkeit noch so eng, daß die meisten Menschen glaubten, zumindest einige der Wechselfälle ihres Daseins beherrschen zu können. Worüber die Menschen Bescheid wußten, das hatte einen Handlungswert. In der Informationswelt, die die Telegraphie hervorgebracht hat, ist das Gefühl, handlungsfähig zu sein, gerade deshalb verloren gegangen, weil die ganze Welt zum Kontext für die Nachrichten geworden ist. Von nun an ging jeden alles an. Zum erstenmal wurden uns Informationen übermittelt, die lauter Antworten auf ungestellte Fragen gaben und die uns jedenfalls kein Recht zur Erwiderung einräumten.

Der Beitrag des Telegraphen zum öffentlichen Diskurs, so könnte man sagen, bestand darin, der Belang­losig­keit zu Ansehen zu verhelfen und die Ohnmacht zu verstärken. Aber das war nicht alles: Die Telegraphie machte den öffentlichen Diskurs auch seinem Wesen nach inkohärent.

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Sie brachte, mit Lewis Mumford zu reden, eine Welt der zerbrochenen Zeit und der zerbrochenen Aufmerksamkeit hervor. Die eigentliche Stärke des Telegraphen bestand darin, Informationen zu übermitteln, nicht darin, sie zu sammeln, zu erläutern oder zu analysieren. In dieser Hinsicht war die Telegraphie das genaue Gegenteil des Buchdrucks. Bücher zum Beispiel sind ausgezeichnete Behältnisse für die Anhäufung, die gelassene Sichtung und systematische Analyse von Informationen und Ideen. Ein Buch schreiben und ein Buch lesen, das braucht Zeit; es braucht Zeit, seinen Inhalt zu erörtern und sich ein Urteil über seinen Wert und über die Form seiner Darstellung zu bilden. Ein Buch ist der Versuch, dem Denken Dauer zu verleihen und einen Beitrag zu dem großen Gespräch zu leisten, das die Autoren der Vergangenheit mit der Gegenwart führen. Überall halten zivilisierte Menschen das Verbrennen von Büchern deshalb für einen der schlimmsten Exzesse von Anti-Intellektualismus. 

 

Der Telegraph jedoch verlangt geradezu, daß wir seine Inhalte verbrennen. Der Wert der Telegraphie wird unterhöhlt, wenn man sie im Hinblick auf die Dauerhaftigkeit, Kontinuität und Kohärenz ihrer Inhalte prüft. Der Telegraph eignet sich nur zur blitzartigen Übermittlung von Botschaften, die sogleich wieder von aktuelleren Botschaften verdrängt werden. Fakten drängen sich ins Bewußtsein und werden von anderen wieder verdrängt, und zwar mit einem Tempo, das eine eingehende Prüfung weder zuläßt noch fordert.

Der Telegraph brachte einen öffentlichen Diskurs in Gang, der einige seltsame Merkmale aufwies: Seine Sprache war die Sprache der Schlagzeilen — auf Sensationen versessen, bruchstückhaft, unpersönlich. Nachrichten nahmen die Form von Slogans an, die man voller Erregung aufnehmen soll, um sie unverzüglich wieder zu vergessen. Die Sprache dieses Diskurses war diskontinuierlich. Jede Botschaft hatte mit denen, die ihr vorausgingen oder folgten, nichts zu tun. Jede »Schlagzeile« stand für sich, war ihr eigener Kontext. Der Empfänger der Nachricht mußte ihr einen Sinn geben, wenn er dazu imstande war; der Sender war dazu nicht verpflichtet.

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 Die Welt, wie der Telegraph sie darstellte, erschien deshalb zusehends unlenkbar, sogar unentzifferbar. Die vom Ablauf der Zeilen bestimmte, sequentielle, kontinuierliche Gestalt der Druckseite verlor als Metapher und Muster für die Aneignung von Wissen und das Begreifen der Welt immer mehr von ihrer Bedeutung. »Bescheidwissen« erlangte ein neues Gewicht, und Folgen, Hintergründe, Zusammenhänge zu verstehen, gehörte jetzt nicht mehr dazu. Der telegraphische Diskurs ließ keine Zeit für Betrachtungen aus historischem Blickwinkel und gab dem Qualitativen keine Priorität. Für den Telegraphen bedeutete Intelligenz, von vielem »gehört zu haben«, und nicht, es zu »verstehen«.

So kam es, daß die ehrerbietige Frage, die Morse bei seiner ersten Demonstration des Telegraphen übermittelt hatte — »Was hat Gott geschaffen?« —, eine höchst irritierende Antwort fand: eine Nachbarschaft aus lauter Fremden und eine sinnlose Fülle; eine Welt aus Bruchstücken und Diskontinuitäten. Aber Gott hatte damit natürlich nichts zu tun. Und doch, hätte der Telegraph als Metapher für eine neue Form des Diskurses allein gestanden, so hätte die Buchdruckkultur seinen Ansturm wahrscheinlich abgewehrt oder zumindest ihre Stellung behauptet. Aber fast zur gleichen Zeit, da Morse der Information eine neue Bedeutung gab, schickte sich der Franzose Louis Da-guerre an, der Natur, ja, man könnte fast sagen, der Wirklichkeit selbst eine neue Bedeutung zu geben. In einer Erläuterung seines Verfahrens, mit der er Geldgeber anlocken wollte, stellte er 1838 fest: »Die Daguerreotypie ist nicht nur ein Instrument zum Nachzeichnen der Natur, [...] sie verleiht ihr die Fähigkeit, sich selbst zu reproduzieren.«4

Mit dem Bedürfnis und der Fähigkeit, die Natur abzubilden, war natürlich schon immer die Reproduktion dieser Natur verbunden, ihre Neugestaltung mit dem Ziel, sie verstehbar und handhabbar zu machen. Die frühesten Höhlenbilder waren wahrscheinlich visuelle Vorgriffe auf eine Jagd, die noch nicht stattgefunden hatte, Wunscherfüllungen einer vorweggenommenen Unterwerfung der Natur.

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Mit anderen Worten, der Gedanke, die Natur zu reproduzieren, ist sehr alt. Aber für Daguerre bedeutete »Reproduzieren« etwas anderes. Er wollte ankündigen, daß die Photographie jedermann die Fähigkeit verleiht, die Natur, wo und wann es ihm gefällt, zu verdoppeln. Er wollte sagen, daß er das erste Verfahren zum »Klonen« der Realität erfunden habe, daß sich die Photographie zur visuellen Erfahrung so verhalte wie die Druckpresse zum geschriebenen Wort.

In Wirklichkeit wurde die Daguerreotypie (deren Bilder stets Unikate waren) dieser Gleichung noch nicht ganz gerecht. Erst als der englische Mathematiker und Sprachforscher William Henry Fox Talbot ein Verfahren zur Herstellung von Negativen erfunden hatte, von denen sich beliebig viele Positivabzüge herstellen ließen, wurde die Anfertigung und Verbreitung von Photographien in großen Massen möglich.5

Es war der berühmte Astronom Sir John F. W. Herschel, der dieses Verfahren auf den Namen »Photographie« taufte. Ein merkwürdiger Name, denn eigentlich bedeutet er »Schreiben mit Licht«. Vielleicht meinte Herschel das ironisch, denn es muß von Anfang an klar gewesen sein, daß die Photographie und das Schreiben (wie überhaupt jede Form von Sprache) nicht im gleichen Diskurs­universum beheimatet sind.

Dennoch ist es, seit das Verfahren einen Namen bekommen hat, üblich geworden, die Photographie als eine »Sprache« zu bezeichnen. Diese Metapher ist riskant, denn sie neigt dazu, den fundamentalen Unterschied zwischen diesen beiden Modi des kommunikativen Austauschs zu verwischen. Die Photographie ist eine Sprache, die nur in Einzelheiten spricht. Ihr Bildvokabular beschränkt sich auf die konkrete Darstellung. Anders als Wörter und Sätze liefert uns das Photo keine Idee und keinen Begriff von der Welt, es sei denn, wir bedienen uns wiederum der Sprache, um das Bild in eine Idee zu verwandeln. Das Photo als solches kann mit dem Unsichtbaren, dem Entrückten, dem Inneren, dem Abstrakten nichts anfangen. Es spricht nicht vom »Menschen«, sondern von »einem Mann« oder »einer Frau«; es spricht nicht von »Baum«, sondern von einem Baum.

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 Man kann von »der Natur« kein Photo machen, ebensowenig von »dem Meer«. Man kann nur ein bestimmtes Bruchstück des Hier und Jetzt photographieren — eine Klippe in einer bestimmten Gegend, unter bestimmten Lichtverhältnissen; eine Welle in einem Augenblick, aus einem bestimmten Blickwinkel. Und so wie man »die Natur« und »das Meer« nicht photographieren kann, so kann man im Lexikon der Bilder auch nicht über ausgreifende Abstraktionen, etwa Wahrheit, Ehre, Liebe, Falschheit, sprechen. Denn »etwas zeigen« und »über etwas sprechen« sind zwei ganz verschiedene Prozesse. »Bilder«, so hat Gavriel Salomon geschrieben, »muß man erkennen, Wörter muß man verstehen.«

Damit will er sagen, daß die Photographie die Welt als Gegenstand präsentiert, während die Sprache sie als Idee präsentiert. Denn noch das einfachste Benennen eines Dinges ist ein Denkakt — zu ihm gehört, daß man ein Ding mit anderen vergleicht, daß man bestimmte gemeinsame Merkmale auswählt, daß man das Unterscheidende außer acht läßt und in der Vorstellung Kategorien schafft. In der Natur gibt es weder »den Menschen« noch »den Baum«. Das Universum enthält solche Kategorien oder Allgemeinbegriffe nicht; es kennt nur ständigen Wandel und unendliche Vielfalt. Die Photographie dokumentiert und zelebriert die Einzelheiten dieser unendlichen Vielfalt; Sprache macht sie begreiflich.

Der Photographie fehlt auch eine Syntax, so daß sie nicht imstande ist, mit der Welt zu diskutieren. Als ein »objektives« Stück Raum-Zeit bezeugt sie, daß jemand an einem bestimmten Ort war oder daß dort etwas geschehen ist. Ihr Zeugnis ist gewichtig, doch es umfaßt keine Stellungnahme — keine Aussagen darüber, wie es hätte sein sollen oder wie es hätte sein können. Die Photographie hat es vor allem mit der Welt der Fakten zu tun, nicht mit Meinungsverschiedenheiten über diese Fakten oder mit Schlußfolgerungen, die man aus ihnen ziehen könnte. Damit ist nicht gesagt, daß die Photographie keine bestimmte epistemologische Tendenz oder Perspektive aufwiese. Wie Susan Sontag gesagt hat, setzt eine Photographie voraus, »daß wir über die Welt Bescheid wissen, wenn wir sie so hinnehmen, wie die Kamera sie aufzeichnet«.

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Aber, so fährt sie fort, alles Begreifen fängt damit an, daß wir die Welt nicht so hinnehmen, wie sie uns erscheint. Natürlich ist die Sprache das Medium, mit dem wir das, was in den Blick kommt, was sich an der Oberfläche befindet, in Zweifel ziehen, bestreiten und ins Kreuzverhör nehmen. Die Wörter »wahr« und »falsch« kommen aus dem Universum der Sprache und aus keinem anderen. Im Hinblick auf ein Photo bedeutet die Frage »Ist es wahr?« nur, ob es die Wiedergabe eines wirklichen Stücks Raum-Zeit ist. Lautet die Antwort »ja«, so gibt es nichts weiter zu sagen, denn es hat keinen Sinn, ein Photo, das nicht gefälscht ist, zu bestreiten. Das Photo selbst macht keine Aussagen, über die sich diskutieren ließe, es gibt keine ausführlichen, unmißverständlichen Kommentare. Es stellt keine Behauptungen auf, die man widerlegen könnte, und ist insofern unwiderleglich.

Die Art, wie das Photo Erfahrung aufzeichnet, unterscheidet sich ebenfalls von der Art, in der die Sprache dies tut. Die Sprache ergibt nur dann Sinn, wenn sie als eine Abfolge von Sätzen präsentiert wird. Die Bedeutung wird verzerrt, wenn man ein Wort oder einen Satz »aus dem Zusammenhang reißt«; wenn man dem Leser oder Zuhörer vorenthält, was vorher gesagt worden ist und nachher gesagt wird. Aber so etwas wie eine aus dem Zusammenhang gerissene Photographie gibt es gar nicht, denn ein Photo verlangt keinen Zusammenhang, keinen Kontext. Der Witz der Photographie liegt geradezu darin, Bilder aus Zusammenhängen herauszulösen, um sie auf andere Weise sichtbar zu machen. In einer Welt der photographischen Bilder, so schreibt Susan Sontag, »erscheinen alle Grenzen [...] willkürlich. Alles kann von allem getrennt werden. Es ist lediglich erforderlich, jedesmal einen anderen Ausschnitt zu zeigen«.8 Sie weist darauf hin, daß Photos die Realität auf eine eigenartige Weise zu zerstückeln, Augenblicke aus ihren Zusammenhängen herauszusprengen und Ereignisse und Dinge nebeneinanderzustellen vermögen, zwischen denen kein logischer oder historischer Zusammenhang besteht.

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Wie die Telegraphie erschafft auch die Photographie die Welt neu und macht aus ihr eine Reihe beliebiger, vereinzelter Ereignisse. In der Welt der Photographie gibt es genausowenig einen Anfang, eine Mitte und ein Ende wie in der Welt der Telegraphie. Ihre Welt ist atomisiert. Es gibt nur die Gegenwart, und sie braucht nicht Teil einer erzählbaren Geschichte zu sein.

Daß Bild und Wort unterschiedliche Funktionen haben, daß sie auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen operieren und unterschiedliche Reaktionen herausfordern, dürfte niemandem neu sein. Die Malerei ist mindestens dreimal so alt wie das Schreiben, und darüber, daß dem Bild ein bestimmter Platz im Repertoire der Kommunikationswerkzeuge zukommt, war man sich im 19. Jahrhundert durchaus im klaren. Neu war um die Mitte des 19. Jahrhunderts das plötzliche, massive Eindringen der Photographie und anderer Bildformen in die symbolische Umwelt.

In seinem wegweisenden Buch The Image (Das Image oder Was wurde aus dem amerikanischen Traum?) hat Daniel Boorstin dieses Ereignis als »optische Revolution« bezeichnet. Boorstin will mit diesem Begriff auf den heftigen Angriff aufmerksam machen, den verschiedene Formen von technisch reproduzierten Bildern, die sich in der amerikanischen Kultur ungehindert ausbreiteten Photos, graphische Blätter, Plakate, Annoncen , gegen die Sprache führten. Ich verwende das Wort »Angriff« hier mit Vorbedacht, um den Kern dessen, was Boorstin mit seiner »optischen Revolution« andeutet, noch mehr hervorzukehren. Die neuen Bildformen mit der Photographie in vorderster Linie traten nicht als bloße Ergänzung von Sprache auf, sie waren vielmehr bestrebt, die Sprache als unser wichtigstes Instrument zur Deutung, zum Begreifen und Prüfen der Realität zu ersetzen. Was Boorstin im Hinblick auf die optische Revolution nur andeutet, möchte ich hier ausdrücklich feststellen: Dadurch, daß das Bild in den Mittelpunkt des Interesses trat, wurden die überkommenen Definitionen der Information, der Nachricht und in erheblichem Umfang der Realität selbst untergraben.

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Zunächst auf Anschlagbrettern, auf Plakaten und in Annoncen, später in Nachrichtenmagazinen und Zeitungen wie Life, Look, New York Daily Mirror oder New York Daily News drängte das Bild die Erörterung in den Hintergrund und tilgte sie in einigen Fällen ganz und gar. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten Inserenten und Zeitungsleute erkannt, daß ein Bild nicht nur tausend Worte aufwog, sondern — wo es darum ging, etwas zu verkaufen — noch viel mehr wert war. Für zahllose Amerikaner wurde das Sehen, statt des Lesens, zur Grundlage ihrer Überzeugungen.

Auf eigentümliche Weise erwies sich das Photo als die vollkommene Ergänzung zu der Flut telegraphischer Nachrichten aus dem Nirgendwo, zu jenem Meer von Meldungen aus unbekannten Gegenden über unbekannte Menschen mit unbekannten Gesichtern, in dem die Leser zu ertrinken drohten. Denn das Photo verschaffte den fremdartigen Orts- und Datumszeilen eine konkrete Realität und verlieh den unbekannten Namen Gesichter. So erzeugte es zumindest die Illusion, daß »die Nachrichten« mit dem eigenen Erfahrungs­bereich etwas zu tun hätten. Es schuf einen Scheinkontext für die »Tagesnachrichten«. Und die »Tagesnachrichten« ihrerseits schufen einen Kontext für das Photo.

Aber der Eindruck von Kontext, den die Partnerschaft von Photographie und Schlagzeile erzeugt, ist natürlich ganz und gar illusorische Der Leser kann sich das vielleicht eher verdeutlichen, wenn er sich vorstellt, ein Unbekannter würde ihn davon in Kenntnis setzen, daß der Illyx eine Unterart einer wurm-förmigen Pflanze mit gerippten Blättern sei, die auf der Insel Aldononjes vorkomme und alle zwei Jahre blühe. Man stelle sich weiter vor, daß der Informant auf die Frage »Nun gut, aber wozu erzählen Sie mir das?« zur Antwort gibt: »Aber hier habe ich ein Photo, das ich Ihnen zeigen möchte«. Und nun zieht er ein Bild hervor, auf dem zu lesen ist Illyx auf Aldononjes. »Ach ja«, murmelt man dann vielleicht, »ich sehe.« Gewiß, das Photo liefert einen Kontext für den Satz, den man gehört hat, und der Satz liefert auch so etwas wie einen Kontext für das Photo, und vielleicht glaubt man auch einen Tag lang, man habe etwas gelernt.

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Aber wenn das Ereignis ganz für sich steht, ohne jede Beziehung zu dem, was man schon weiß oder für die Zukunft plant, wenn die Beziehung zu dem Unbekannten damit beendet ist, dann ist der Anschein eines durch die Verbindung von Satz und Bild erzeugten Kontextes ebenso illusorisch wie der damit verknüpfte Eindruck von Bedeutungshaftigkeit. In Wirklichkeit hat man nichts »gelernt« (außer vielleicht, daß man Unbekannten mit Photographien aus dem Weg gehen sollte), und der Illyx verblaßt in der eigenen Vorstellungswelt, als hätte es ihn nie gegeben. Bestenfalls bleibt eine amüsante Belanglosigkeit, die man auf einer Cocktail Party zum besten geben oder zur Lösung eines Kreuzworträtsels verwenden kann, aber zu nichts anderem.

Es ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich, daß sich das Kreuzworträtsel in Amerika genau um die Zeit zu einem populären Zeitvertreib entwickelte, als der Telegraph und die Photographie die Nachrichten verwandelt und aus funktionalen Informationen dekontextualisierte Fakten gemacht hatten. Dieses zeitliche Zusammentreffen deutet darauf hin, daß die neuen Technologien das jahrhundertealte Problem der Information auf den Kopf gestellt hatten: Während die Menschen früher nach Informationen suchten, um den realen Kontext ihres Daseins zu erhellen, mußten sie jetzt Kontexte erfinden, in denen sich sonst nutzlose Informationen scheinbar nutzbringend gebrauchen ließen.

Das Kreuzworträtsel ist ein derartiger Pseudo-Kontext; die Cocktail Party ist ein anderer; wieder andere sind die Radioquizsendungen der dreißiger und vierziger Jahre und die heutigen Ratespiele im Fernsehen; den Extrempunkt markiert wohl das erfolgreiche Spiel »Trivial Pursuit«. Auf diese oder jene Weise beantworten sie alle die Frage: »Was soll ich mit all diesen zusammenhanglosen Fakten anfangen?« 

Und im Grunde genommen ist die Antwort immer die gleiche: Warum benutzt du sie nicht zur Zerstreuung? Zur Unterhaltung? Um dich damit zu amüsieren? In einem Spiel? 

Als wichtigste Hervorbringung der optischen Revolution bezeichnet Boorstin in <The Image> das »Pseudo-Ereignis«. Er versteht darunter ein Ereignis, das eigens inszeniert wird, damit darüber berichtet wird — etwa die Pressekonferenz.

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Ich möchte darauf hinweisen, daß ein vielleicht noch bedeutsameres Vermächtnis des Telegraphen und der Photographie der Pseudo-Kontext ist. Der Pseudo-Kontext ist eine Struktur, die erfunden wird, um bruchstückhaften, belanglosen Informationen einen Scheinnutzen zuzuordnen. Aber die Nutzanwendung, die sich aus dem Pseudo-Kontext ergibt, zielt nicht auf Handeln, auf das Lösen von Problemen oder auf Veränderung. Sie zielt auf das einzige, was man mit Informationen ohne wirkliche Beziehung zu unserem Dasein tun kann — sich amüsieren. Der Pseudo-Kontext ist gleichsam die letzte Zuflucht einer von Belanglosigkeit, Inkohärenz und Ohnmacht überwältigten Kultur.

Natürlich haben Photographie und Telegraphie das weitläufige Gebäude der vom Buchdruck geprägten Kultur nicht auf einen Schlag niedergerissen. Die Gepflogenheiten der Erörterung hatten, wie ich zu zeigen versucht habe, eine lange Geschichte, und noch um die Jahrhundertwende bestimmten sie weitgehend das Denken der Amerikaner. Die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts waren sogar durch eine Fülle großartiger sprachlicher und literarischer Leistungen gekennzeichnet. Auf den Seiten von Zeitschriften wie American Mercury und The New Yorker, in den Romanen und Erzählungen von Faulkner, Fitzgerald, Steinbeck und Hemingway und selbst in den Spalten der Zeitungsriesen — des Herald Tribune, der New York Times — konnte man eine Prosa lesen, die vor Spannkraft und Intensität bebte und Auge und Ohr entzückte. 

Aber das war der Abgesang auf das Zeitalter der Erörterung, der Nachtigallengesang, der am wundervollsten und lieblichsten dann klingt, wenn dem Sänger der Augenblick des Todes naht. Nicht von neuen Anfängen erzählte dieser Gesang, sondern vom Ende. Unter seiner ersterbenden Melodie erklang eine neue, und Photographie und Telegraphie bestimmten die Tonart. Ihre »Sprache« negierte jeden Zusammenhang, operierte ohne Kontext, behauptete die Irrelevanz von Geschichte, erklärte nichts und bot Faszination anstelle von Komplexität und Kohärenz. 

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Sie formten ein Duett aus Bild und Augenblicklichkeit und spielten die Melodie einer neuen Art von öffentlichem Diskurs in Amerika. Alle Medien, die sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts am elektronischen Austausch zu beteiligen begannen, schlugen den Weg ein, den ihnen der Telegraph und das Photo gewiesen hatten, und verstärkten deren Tendenz. Einige, etwa der Film, neigten schon aufgrund ihrer inneren Beschaffenheit dazu. Andere, deren Tendenz eher in Richtung einer Verstärkung der rationalen Sprache ging, etwa das Radio, erlagen dem Druck der neuen Epistemologie und trugen schließlich zu ihrer Stützung bei. Insgesamt brachte dieser Komplex elektronischer Technologien eine neue Welt hervor — eine Guckguck-Welt, in der mal dies, mal das in den Blick gerät und sogleich wieder verschwindet. In dieser Welt gibt es kaum Zusammenhänge, kaum Bedeutung; sie fordert uns nicht auf, etwas zu tun, ja, sie läßt es gar nicht zu; wie das Guckguck-Spiel der Kinder ruht sie abgeschlossen in sich. Und zugleich ist sie, wie das Guckguck-Spiel, überaus unterhaltsam.

Gegen das Guckguck-Spiel ist natürlich nichts einzuwenden. Und gegen die Unterhaltung ebensowenig. Oder wie ein Psychologe einmal gesagt hat: Luftschlösser bauen wir alle, problematisch wird es erst, wenn wir versuchen, in ihnen zu wohnen. Die Kommunikationsmedien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, mit der Telegraphie und der Photographie im Mittelpunkt, brachten die Guckguck-Welt hervor; doch erst mit dem Aufkommen des Fernsehens gingen wir daran, diese Welt zu beziehen und in ihr zu wohnen. 

Das Fernsehen verschaffte den epistemologischen Tendenzen des Telegraphen und des Photos ihren mächtigsten Ausdruck, indem es das Wechselspiel zwischen Bild und Augenblicklichkeit zur äußersten Perfektion trieb. Und es verschaffte ihnen Eingang in die Privatsphäre. Längst haben wir es mit einer zweiten Generation von Kindern zu tun, für die der Fernseher der erste und zugänglichste Lehrer und vielfach auch der verlaßlichste Kamerad und Freund gewesen ist. Um es ganz deutlich zu sagen: Das Fernsehen ist die Leitstelle der neuen Epistemologie.

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Kein Publikum ist so jung, daß es vom Fernsehen ausgeschlossen wäre. Keine Armut so tief, daß sie auf das Fernsehen verzichten müßte. Keine Erziehung so erhaben, daß sie vom Fernsehen nicht beeinflußt würde. Und es gibt vor allem kein Thema von öffentlichem Interesse — Politik, Nachrichten, Erziehung, Religion, Wissenschaft, Sport —, das im Fernsehen nicht vorkäme. Und dies bedeutet, daß das Verständnis der Öffentlichkeit für diese Themen durch die Perspektive des Fernsehens geprägt wird.

Auch auf subtilere Weise fungiert das Fernsehen als epistemologische Leitstelle. So wird zum Beispiel die Art, wie wir andere Medien nutzen, in starkem Maße vom Fernsehen bestimmt. Das Fernsehen sagt uns, welches Telephonsystem wir benutzen. welche Filme wir uns ansehen, welche Bücher, Schallplat-„ten und Zeitschriften wir kaufen und welche Radiosendungen wir hören sollen. Kein anderes Medium hätte die Macht, unsere Kommunikationsumwelt so nachhaltig zu organisieren, wie es das Fernsehen tut.

Zur Veranschaulichung ein ironisches Beispiel: In den letzten Jahren haben wir erfahren, daß der Computer die Technologie der Zukunft ist. Man sagt uns, unsere Kinder würden in der Schule versagen und im Leben zurückbleiben, wenn sie nicht »computer-gebildet« sind. Man sagt uns, ohne Computer seien wir nicht imstande, unserem Beruf nachzugehen, unsere Einkaufsliste zusammenzustellen oder unser Scheckbuch in Ordnung zu halten. Vielleicht ist etwas Wahres daran. Aber das Wichtigste im Hinblick auf den Computer und seine Bedeutung für unser Leben ist, daß wir dies alles aus dem Fernsehen erfahren. Das Fernsehen hat den Status eines »Meta-Mediums« erlangt — es ist zu einem Instrument geworden, das nicht nur unser Wissen über die Welt bestimmt, sondern auch unser Wissen darüber, wie man Wissen erlangt.

Gleichzeitig hat das Fernsehen den Status eines »Mythos« im Sinne von Roland Barthes erreicht. Barthes versteht unter Mythos eine Form von Weltverständnis, die unproblematisch ist, deren wir uns nicht völlig bewußt sind, die uns, um es mit einem Wort zu sagen, natürlich erscheint.

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Ein Mythos ist eine Denkfigur, die so tief in unserem Bewußtsein verankert ist, daß sie unsichtbar wird. So verhält es sich heute mit dem Fernsehen. Der Apparat als solcher fasziniert uns nicht mehr, setzt uns nicht mehr in Erstaunen. Wir machen kein großes Aufheben von diesem Wunderwerk der Technik. Wir stellen unsere Fernsehgeräte nicht in besonderen Zimmern auf. Wir zweifeln nicht an der Realität dessen, was wir im Fernsehen sehen, und sind uns seines speziellen Blickwinkels kaum bewußt. 

Selbst die Frage, welchen Einfluß das Fernsehen auf uns hat, ist in den Hintergrund getreten. Schon diese Frage wird manchem merkwürdig erscheinen, so wie die Frage, welchen Einfluß der Besitz von Ohren und Augen auf uns hat. Vor zwanzig Jahren weckte die Frage »Formt das Fernsehen die Kultur oder spiegelt es sie nur wider?« bei vielen Wissenschaftlern und Gesellschaftskritikern beträchtliches Interesse. Das hat sich in dem Maße geändert, wie das Fernsehen selbst zu unserer Kultur geworden ist. So sprechen wir kaum je über das Fernsehen, sondern nur darüber, was im Fernsehen gebracht wird — also über seinen Inhalt. Seine Ökologie dagegen, zu der nicht nur seine äußeren Merkmale und sein symbolischer Code gehören, sondern ebenso die Bedingungen, unter denen wir uns ihm normalerweise zuwenden, betrachtet man als selbstverständlich und nimmt sie wie naturgegeben hin.

Das Fernsehen ist gleichsam zur Hintergrundstrahlung unseres Sozialen und intellektuellen Universums geworden, der kaum noch wahrnehmbare Rückstand des elektronischen »großen Knalls« aus dem letzten Jahrhundert; es ist uns so vertraut und in die amerikanische Kultur so ganz und gar integriert, daß wir das schwache Pfeifen im Hintergrund nicht mehr hören und das flackernde blaue Licht nicht mehr sehen. Das wiederum bedeutet, daß die Epistemologie des Fernsehens weitgehend unbemerkt bleibt. Und die Guckguck-Welt, die es um uns errichtet hat, kommt uns nicht einmal mehr seltsam vor.

Die beunruhigendste Konsequenz der elektronischen und optischen Revolution ist diese: daß uns die vom Fernsehen vermittelte Welt natürlich erscheint und nicht bizarr. Daß uns das Gefühl für die Seltsamkeit dieser Veranstaltung abhanden gekommen ist, ist ein Zeichen von Anpassung. Und daran, wie stark wir uns angepaßt haben, läßt sich ermessen, wie sehr wir uns verändert haben. 

Es ist durchaus nicht schwierig, die Anpassung unserer Kultur an die Epistemologie des Fernsehens zu erkennen; wir haben uns seine Definitionen von Wahrheit, Wissen und Wirklichkeit so gründlich zu eigen gemacht, daß uns die Belanglosigkeit von tiefem Sinn und die Inkohärenz von tiefer Vernunft erfüllt scheinen. Und wenn sich manche Institutionen in die Schablonen der Zeit nicht fügen wollen, nun, dann erscheinen sie uns gestört und seltsam, und nicht etwa die Schablonen.

In den folgenden Kapiteln möchte ich die Epistemologie des Fernsehens wieder sichtbar machen. Ich möchte an konkreten Beispielen zeigen, daß zwischen der Art, wie das Fernsehen mit Wissen umgeht, und der Art, wie der Buchdruck dies tut, eine unversöhnliche Gegnerschaft besteht; daß die Kommunikations­formen des Fernsehens der Inkohärenz und Trivialität Vorschub leisten; daß der Ausdruck "seriöses Fernsehen" ein Widerspruch in sich ist; und daß das Fernsehen immer im gleichen Tonfall spricht — im Tonfall der Unterhaltung. 

Außerdem möchte ich zeigen, daß in Amerika eine kulturelle Institution nach der anderen die Sprache der großen Fernsehkommunikation erlernt, um sich an ihr beteiligen zu können. Mit anderen Worten, das Fernsehen ist dabei, unsere Kultur in eine riesige Arena für das Showbusiness zu verwandeln. Es ist natürlich möglich, daß wir das am Ende ganz herrlich finden und es gar nicht mehr anders haben wollen. Genau das hat Aldous Huxley vor fünfzig Jahren befürchtet.

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