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403 - Sub specie aeternitatis  

( Im Anblick kosmischer Ewigkeit )

 

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Im ersten Augenblick glaubt man, ein groteskes, nicht zu überbietendes Mißverhältnis von Aufwand und Ergebnis vor sich zu haben. Wenn ich die menschliche Umwelt, die ich während meines Lebens vorgefunden habe, und mich selbst mit allen unseren unleugbaren Mängeln und Schwächen in Beziehung setze zu der ungeheuren kosmischen Anstrengung, welche die Naturwissenschaft als die Voraussetzung unserer Existenz entdeckt hat, dann ist das erste Gefühl, das mich überkommt, ratlose Verwunderung.

Da ist vor dreizehn (oder fünfzehn) Milliarden Jahren ein das Fassungsvermögen unserer Phantasie und unserer Physik übersteigendes singuläres Etwas aus dem Nichts heraus explodiert und zum Keim von allem geworden, was heute als Welt existiert. Es ist nicht im Raum explodiert, denn das Nichts ist noch weniger als bloßer leerer Raum. Es hat mit dem Beginn seines explosiven Auftritts vielmehr den Raum erst geschaffen und ebenso die Zeit. Es gab auch kein Zentrum der Explosion. Denn der Raum, den das eben geborene Universum mit großer, der des Lichts nahekommender Geschwindigkeit ausspannte, ist ein »nichteuklidischer« Raum, der sich von dem Raum unserer Vorstellung durch uns unzugängliche Eigenschaften radikal unterscheidet.

Aus Gründen, die uns ebenfalls rätselhaft sind und für immer bleiben werden, waren in dem neugeborenen Universum vom ersten Anfang an Naturgesetze und Konstanten wirksam, die ihm die Fähigkeit verliehen, sich zu einer geordnet aufgebauten Welt zu entfalten. Unter ihrem Einfluß entstand aus dem superheißen struktur­losen Plasmabrei der ersten Minuten nach dem Weltbeginn das einfachste aller Atome: das des Wasserstoffs.

Im weiteren, sich über die Äonen vieler Jahrmilliarden hinziehenden Ablauf der kosmischen Geschichte ballten sich gigantische Wasserstoffwolken kugelförmig zusammen und entfachten durch das Gewicht der eigenen Masse in ihrem Zentrum ein atomares Feuer. Die Sterne der ersten Generation waren entstanden. In dem atom­aren Feuer ihres Inneren wurde das Wasserstoffatom zu Elementen immer höherer Ordnungszahl zusamm­en­gebacken, die, bei der anschließenden Explosion des ganzen Sterns freigesetzt, die Bausteine des Kosmos bildeten, den wir heute kennen.

Nachdem seit dem Anfang der Welt schon acht oder auch zehn Jahrmilliarden verflossen waren, kreisten endlich Planeten, die alle physikalisch möglichen Elemente als Material enthielten, um strahlende Sonnen, die sie mit Energie für den weiteren Ablauf der Geschichte belieferten. Diese Strahlungsenergie brachte auf ihrer erkalteten Oberfläche eine chemische Evolution in Gang, die immer kompliziertere Moleküle entstehen ließ.

Dabei kam zutage, daß atomare Strukturen und natürliche Gesetze von Anfang an so angelegt gewesen waren — durch wen oder was, bleibt wiederum unbeantwortbares Geheimnis —, daß die chemische Evolution wie vorgezeichnet die Schwelle überschreiten konnte, jenseits derer eine biologische Evolution einsetzte. Diese erzeugte nunmehr materielle Systeme, die wir aufgrund bestimmter charakteristischer Eigenschaften — Vermehrung durch identische Reduplikation, Stoffwechselaktivität, zweckmäßige Reaktionen auf Umweltreize — als »belebt« bezeichnen. 

Am (vorläufig) letzten Ende dieser biologischen Phase der kosmischen Geschichte stehen heute wir selbst als deren jüngste und am meisten fortgeschrittene Geschöpfe.

Gemessen an dem zurückliegenden kosmischen Aufwand, ist man versucht, von einem erbärmlichen Ergebnis zu sprechen. Ein ganzes Universum explodierte und dehnt sich mit heute noch meßbarer Geschwindigkeit aus. Seine Kreativität, die nicht nur Milchstraßensysteme, Sterne und Planeten, sondern auch Leben, Gehirne und unser menschliches Bewußtsein hervorbrachte, ist über alle Maßen wunderbar und geheimnisvoll. Aber: 

»Man möchte toll werden, wenn man die überschwänglichen Anstalten betrachtet, die zahllosen flammenden Fixsterne im unendlichen Räume, die nichts weiter zu thun haben, als Welten zu beleuchten, die der Schauplatz der Noth und des Jammers sind.«

Kann jemand Schopenhauer widersprechen? Oder der Schlußsentenz seiner bitteren Diagnose, daß nämlich die Welt eine Hölle sei, in welcher die Menschen nicht nur die Rolle der gequälten Seelen, sondern gleichzeitig auch noch die der Teufel übernommen hätten?*    * Arthur Schopenhauer, a.a.O., S. 3251.   

In der Tat, es gibt nicht viel, was das Urteil mildern könnte. Die von Schopenhauer mit unbestreitbarem Recht sowohl Bejammerten als auch Angeklagten haben zu dieser Welt zwar einiges beigesteuert, was es ohne sie nicht gäbe und was auch »sub specie aeternitatis«, im Anblick kosmischer Ewigkeit, Bestand hat.

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Die Musik, die Vivaldi, Bach und Mozart sowie einige andere in diese Welt brachten, ist in ihrem Rang dem Aufwand gewiß ebenbürtig, den der Kosmos zur Entstehung unserer Art getrieben hat. Aber kann alle Kunst diesen Aufwand etwa aufwiegen, wenn auf die andere Waagschale die Hekatomben der Unglücklichen zu legen sind, denen durch ihre Lebensumstände ein menschenwürdiges Dasein versagt blieb? Die Leichen all der Opfer, die seit den Tagen Kains und Abels die Spur des Menschen durch seine Geschichte markieren?

Ist es nicht die Summe menschlicher Unvernunft und Schlechtigkeit allein, die dem Aufwand entspricht, der zur Entstehung unserer Art notwendig war — nur leider eben mit umgekehrtem Vorzeichen auf dem Maßstab der Bewertung? Was ist denn von der Vernunft einer Kreatur zu halten, die in ihrer Geschichte fortwährend — und mit regelmäßig fürchterlichen Folgen — von einer Ideologie in die nächste taumelt, weil sie die »Gesetze«, die sie in den von ihr selbst produzierten Weltbildern zu entdecken wähnt, unbelehrbar als verläßliche, wenn nicht gar als verbindliche Handlungsanleitungen anzusehen pflegt?

Und was ist angesichts der »überschwänglichen Anstalten« des Kosmos eigentlich von der eigenen, individuellen Existenz zu halten? Der Gedanke an die Möglichkeit, diese »Anstalten« im Laufe des eigenen Lebens rechtfertigen zu können, ist von wahrhaft tollkühner Absurdität. Gilt also auch für uns selbst, jeden einzelnen von uns — eine Handvoll Heiliger allenfalls ausgenommen — das Verdikt des Mephisto: »Denn alles alles, was besteht, ist wert, daß es zugrunde geht«? Sind wir nichts als die Mitglieder einer vom Zufall der Evolutionsgeschichte in diese Welt verschlagenen, mißlungenen Art? So etwas wie kosmische Versager?

Allem Augenschein zum Trotz (wieder einmal!) ist dies nun eine par excellence pessimistische, nämlich eine die viel tröstlichere Wahrheit entstellende Sicht der Dinge. Ironischerweise ist ihr Hintergrund unsere unausrottbare, anthropozentrische Hybris. Wobei, dem roten Faden der ganzen Darstellung angemessen, hinzuzufügen ist, daß auch diese nicht überwindbare Neigung, das erlebende Subjekt (sich selbst) immer im Mittelpunkt des Geschehens zu wähnen, einen angeborenen Bestandteil unserer biologischen Wesenshälfte darstellt.

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Biologisch ist es äußerst zweckmäßig, wenn in die Nervennetze eines Organismus spezielle Verknüpfungen eingebaut werden, die dem Verhalten die Tendenz einprogrammieren, alles, was in der Umwelt geschieht, auf sich selbst zu beziehen.

Die Überlebenschancen erhöhen sich, wenn Sorge dafür getragen ist, daß bei allem Geschehen die Möglichkeit eigener Betroffenheit einkalkuliert wird. Deshalb verkriechen sich Hunde bei einem Gewitter mit einge­klemmtem Schwanz in eine schützende Ecke. Deshalb kann man beobachten, daß kleine Kinder ängstlich zu weinen anfangen, wenn in ihrer Umgebung ein lauter Streit ausgefochten wird. (Sie reproduzieren damit in einem noch un-ausgereiften Stadium ihrer ontogenetischen Entwicklung ein einer archaischen Entwicklungs­ebene ihrer Stammesgeschichte entsprechendes Verhalten.)

Aber, wie aufmerksame Introspektion einen belehren kann, auch in uns selbst gibt es immer noch Relikte dieser anachronistischen, mit der Annahme rationalen Welterlebens nicht in Einklang zu bringenden Neigung. Die verbreitete Gewitterfurcht ist ein Beispiel von vielen. Der in der Tiefe unseres Stammhirns spukende Neandertaler suggeriert uns auch heute noch, daß der in den Gewitterwolken hausende Dämon aller Einsicht unserer Vernunft zum Trotz auf uns ganz persönlich ziele. Daß wir uns seinen Einflüsterungen innerlich auch in diesem Falle nicht ganz und gar entziehen können, erinnert uns abermals daran, auf wie wackligen Säulen unsere Rationalität ruht.

Es war schon ausführlich davon die Rede, daß (und mit welchen Konsequenzen) dieser angeborene »Subjekt­zentrismus« auch in unserer Historie seinen Niederschlag gefunden hat. Erst vor wenigen Jahrhunderten haben wir uns, mit heftigem Sträuben, die Wahnidee austreiben lassen, daß unsere Erde den Mittelpunkt des ganzen Kosmos bilde. Auch auf diesen aberwitzigen Gedanken war der Mensch verfallen, weil er den sich aus seiner subjektiven Perspektive ergebenden Anblick der Welt in aller Unschuld mit ihrer objektiven Ordnung gleichsetzte. Und auch die hartnäckige Weigerung vieler Zeitgenossen, die von der Evolutionsforschung zutage geförderten Fakten und Einsichten zur Kenntnis zu nehmen,* hat hier ihre eigentliche Wurzel: Ihre anthropozentrische Grundhaltung läßt ihnen den Gedanken unannehmbar erscheinen, daß wir mit allen anderen Lebewesen auf der Erde eines Stammes sind.

* In der vulgären Diskussion kleidet sich der Protest auch heute gelegentlich noch in die Formel, daß der Mensch »nicht vom Affen abstammen« könne. Das freilich hat niemand behauptet, auch Darwin nicht. Daß die heutigen »Menschenaffen« dagegen die unserer Art nächstverwandte Tierart repräsentieren und daß es — vor etwa sechs Millionen Jahren — einen gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Affen gegeben haben muß, daran ist kein Zweifel mehr möglich.

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Dieser gleiche Mittelpunktwahn steckt nun auch in der Weltsicht, die uns die eigene Spezies als einen, gemessen an den »überschwänglichen Anstalten« des Kosmos, kläglich mißlungenen Entwurf der Evolution erscheinen lassen will. Denn zu diesem Urteil kommen wir allein bei der Anlegung eines Maßstabs, den »anthropozentrisch« zu nennen eine gewaltige Untertreibung ist. Indem wir es fällen, gehen wir doch, uneingestanden, aber eindeutig, von der mittelpunktwahnsinnigen Unterstellung aus, daß alle noch so »überschwänglichen Anstalten« des ganzen Kosmos keinem anderen Zwecke gedient hätten, als uns Heutige hervorzubringen! Von einem Mißverhältnis zwischen Aufwand und Resultat zu reden kann einem doch nur in den Sinn kommen, wenn man das dabei ins Auge gefaßte Resultat als den alleinigen Sinn und Zweck des Unternehmens ansieht. In dieser Sicht aber steckt Hybris von einem Kaliber, das alles in den Schatten stellt, was der Mensch sich an Selbstüberschätzung jemals geleistet hat.

Daß die Schöpfungspotenz des Urknalls, des Ensembles von Naturgesetzen und Naturkonstanten, die Bedeutung der Entstehung unzählbar vieler Galaxien und einer den ganzen Kosmos einbeziehenden Evolution, daß also die Bedeutsamkeit der ganzen, dreizehn oder fünfzehn Milliarden Jahre umfassenden kosmischen Geschichte an uns und unseren Mängeln abgelesen werden könnte, ist wahrhaftig ein größenwahnsinniger Einfall. Das Bild entzerrt sich aus einer anderen, objektiven Perspektive sofort zu seinen wahren Proportionen. Das pessimistische Fehlurteil kam doch auch dadurch zustande, daß wir höchst subjektiv die durch den Zufall unserer Existenz aus dem Strom der Zeit scheinbar herausgehobene Gegenwart stillschweigend als den End- und Zielpunkt allen kosmischen Geschehens vorausgesetzt hatten. Unvergleich­lich plausibler ist es aber doch, daß wir unseren Wert nicht nur an der Vergangenheit, sondern auch an der Zukunft der kosmischen Geschichte zu messen haben. Dann aber ergibt sich sogleich ein ganz anderes, viel hoffnungsvolleres Bild.

Dann fällt es uns wie Schuppen von den Augen, und uns geht auf, daß wir die Zeitgenossen eines welt­geschichtlichen Äons sind, in dem sich die Welt als noch unfertig präsentiert. Seit Milliarden von Jahren entwickelt diese Welt sich in einer den ganzen Kosmos umfassenden Evolution.

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Mindestens sechzig Jahrmilliarden kosmischer Zukunft stehen ihr für ihre weitere Evolution noch zur Verfügung. In aller bisherigen Zeit hat sie sich, mit dem Urknall beginnend, zu immer höheren Stufen der Entwicklung emporgeschwungen. Selbst als die wunderbare Ordnung eines Kosmos erreicht war, den unzählige Galaxien mit ihren Myriaden von Sonnen erfüllten, ist sie nicht zum Stillstand gekommen. Mit ihren nächsten beiden Schritten brachte sie organisches »Leben« hervor und dann noch das menschliche Bewußtsein.

Wäre es etwa nicht bloß eine neue Verkleidung des alten anthropozentrischen Wahns, wenn wir es für möglich hielten, daß unsere menschliche Gegenwart den Endpunkt dieses den ganzen Kosmos umfassenden und auch unsere menschliche, planetare Historie einbegreifenden Geschichtsprozesses markieren könnte? Mit vielleicht fünfzehn Milliarden Jahren im Rücken und gut sechzig Milliarden Jahren vor der Nase ist doch eine ganz andere Deutung unserer Situation viel plausibler: Die Welt ist noch nicht fertig. Sie hat das Ziel ihrer Geschichte noch vor sich. 

Und auch wir selbst sind »unfertige Wesen«. Denn auch die biologische Stammeslinie, als deren bislang höchstentwickelte Vertreter wir uns mit gutem Recht ansehen dürfen, ist bei weitem noch nicht am Ende ihrer Entwicklungsmöglichkeiten angekommen. Dieses Ende liegt vielmehr in einer Zukunft, von der wir nichts wissen können und an der wir nicht teilhaben werden. Wieder drängt sich hier die Erinnerung auf an das archetypische Bild des Moses, der einen Blick in die für ihn selbst unerreichbare Zukunft seines Volkes tun durfte. Das Wissen über den Menschen, das aus den alten Texten zu uns spricht, ist an Tiefgründigkeit wahrlich nicht zu übertreffen.

 

Wir sind, mit anderen Worten, Wesen des Übergangs. So, wie alle uns vorangegangenen biologischen Vertreter der gleichen Stammeslinie es auch gewesen sind. Deshalb braucht man die liebgewonnene Vorstellung von einer »Sonderstellung« des Menschen keineswegs gleich über Bord zu werfen. Selbst die mit dem Begriff »Krone der Schöpfung« angedeutete Selbsteinschätzung könnte man auch bei dieser Sicht der Dinge durchgehen lassen, wenn man nur bereit ist, sie mit dem Zusatz »vorläufig« zu versehen. Grundsätzlich aber ist unsere Rolle keine andere als die, welche allen unseren biologischen Vorläufern auch zugefallen ist, von der Urzelle zu den ersten Vielzellern, archaischen Meeresbewohnern, Amphibien und dann Reptilien, Sauriern und ersten Warmblütern, von den spitzhörnchenähnlichen Nagern der Vorzeit bis zu den baumbewohnenden ersten Primaten, von Homo habilis über den Heidelberg-Menschen, Cro-Magnon-Frühmenschen, Neandertaler bis zu uns. Sub specie aeternitatis* haben wir uns als die Neandertaler der Zukunft zu betrachten.

* (d-2014:) im Anblick kosmischer Ewigkeit

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Um diese Sicht der Dinge akzeptieren zu können, braucht ein gläubiger Mensch auch keineswegs etwa den Glauben daran aufzugeben, daß er im Mittelpunkt der fürsorglichen Aufmerksamkeit eines persönlichen Gottes steht.

Wobei ich der Ehrlichkeit halber allerdings gleich gestehen will, daß für mich selbst das Reden von einem persönlichen Gott eine unzulässige Konkretisierung des Gottesbegriffs darstellt.

Jedenfalls aber zwingt die Anerkennung eines Übergangscharakters unserer Art, die Einsicht, daß sie in ihrer »gegenwärtigen« Beschaffenheit nicht »das letzte Wort« der Stammeslinie bleiben wird, als deren fortschrittlichsten Vertreter sie sich heute mit Recht ansehen kann, nicht dazu, den Glauben daran aufzugeben, daß das »Auge Gottes« gnädig auf diesem unfertigen Wesen Homo sapiens sapiens ruht. Schließlich hat die mindestens ebenso revolutionäre Erkenntnis, daß die Erde mit ihren Bewohnern nicht im Mittelpunkt der Welt gelegen ist, an der »Gottesnähe« des gläubigen Menschen letztlich — auch wenn das anfänglich die Sorge war — nicht das mindeste geändert. Hoffen wir, daß die Einsicht sich diesmal mit geringeren Turbulenzen durchsetzen wird.

»Der Herr« — wie immer man ihn sich denken mag — hat mit der Welt, die er geschaffen hat, sicher noch sehr viel mehr vor, als Homo sapiens sich träumen läßt. Diese Einsicht nimmt uns nichts von unserer vielbeschworenen »Würde«. Sie reduziert diese Würde jedoch heilsam auf ein unterhalb hybriden Narzißmus gelegenes Maß. Und sie gibt denen, die uns vorangegangen sind und deren vorübergehendem Erscheinen auf der Weltbühne wir unseren Auftritt verdanken, die Würde zurück, die wir ihnen absprechen, solange wir sie durch die anthropozentrische Brille nur als »unsere Vorläufer« betrachten. Wir selbst sind nichts anderes als die Vorläufer zukünftiger evolutiver Nachfahren, die den Entwicklungsabstand zwischen ihnen und uns für ähnlich abgrundtief halten werden wie wir den Abstand, der unsere Art von der des Neandertalers trennt.

Indem wir uns auf unsere wahre Rolle besinnen, auf unseren Charakter als Übergangswesen in einem Augen­blick, in dem die Welt noch jung ist, befreien wir uns auch von der maßlosen Bürde eines uns prinzipiell überfordernden Anspruchs, den wir uns in anthropozentrischem Übermut höchst unnötigerweise selbst auferlegen könnten.

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Unser Dasein dient nicht der Rechtfertigung des Kosmos und seiner Geschichte. Unsere Aufgabe ist - wen kann es wundern - bescheidenerer Natur. Nicht Fehlerlosigkeit wird von uns verlangt oder gar Vollkommen­heit. Verlangt wird einzig und allein, daß wir den Fortgang der kosmischen Geschichte in unserem regionalen planetarischen Bereich und innerhalb unserer biologischen Stammeslinie zu sichern uns bemühen. Daß wir seine Kontinuität gewährleisten, um die Möglichkeit offenzuhalten, daß er am Ende der Evolution Vollkomm­en­heit verwirklichen könnte.

Das ist alles. Der Mensch ist kein Selbstzweck. Wir sind Wesen des Übergangs.

Wieder liefern die alten Texte, die so viel mehr vom Menschen wissen als alle anthropologische Wissenschaft, eine Bestätigung. Sie sagen uns, wir seien mit »Erbsünde« behaftet und der — in der Zukunft liegenden — Erlösung bedürftig. Das klingt im ersten Augenblick erneut widersprüchlich und provozierend. Wie soll ich eine Sünde (oder Schuld) anerkennen können, die ich nicht begangen, sondern »geerbt« habe, ohne gefragt worden zu sein? Aber angesprochen wird mit dem alten Begriff nichts anderes als jene unserer kardinalen Schwächen, auf die auch die evolutionäre Betrachtung des heutigen Menschen uns hat stoßen lassen: unsere prinzipielle, aus unserer »Natur« entspringende Unfähigkeit, das, was wir als richtig erkannt haben, auch zu tun. Auch dieser archaische Begriff also trifft den grundlegenden Mangel des heutigen, »unfertigen« Menschen in seinem Kern.

Man könnte sich versucht fühlen, es als ein unverdient schweres Geschick zu beklagen, daß wir innerhalb unserer Stammeslinie ausgerechnet an jene historische Teilstrecke verschlagen worden sind, auf welcher dieser besonders kritische Übergang auf dem Wege zur Entstehung des »wirklichen« Menschen sich abspielt.

Sie beträgt möglicherweise nur einige Jahrzehntausende — weit weniger als ein Prozent der Zeit, die seit der Abspaltung »unserer« speziellen Linie von denen der übrigen Primaten vergangen ist. Beneidenswert ist das Los wirklich nicht, das uns damit zufiel. Alle unsere vormenschlichen Ahnen dürften es leichter gehabt haben. Ihnen sind all die selbstzugefügten konkreten Leiden und der qualvolle Widerspruch zwischen hehren Zielen und schmählichem Versagen erspart geblieben, denen die Mitglieder einer Art ausgeliefert sind, in deren Köpfe schon das Wissen von Vernunft und Gerechtigkeit Eingang gefunden hat, während ihre Seele noch immer erfüllt ist von fast übermächtigen archaischen Instinkten und Triebregungen.

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Der mythologische Bericht von der »Vertreibung aus dem Paradiese« beschreibt auch diesen ersten Schritt des erwachenden menschlichen Selbstbewußt­seins und seine schmerzlichen Folgen mit unüberbietbarer Klarsicht: Die Erkenntnis von »gut« und »böse« hat die Mitglieder unserer Art aus der harmonischen Übereinstimmung, aus dem »Eins-Sein« mit der Natur vertrieben, in dem sie bis zu diesem Augenblick ihrer Geschichte (wie alle übrige Kreatur bis auf den heutigen Tag) in paradiesischer, wenn auch bewußtloser Geborgenheit existierte. Nichts unterscheidet uns endgültiger von den Tieren als dieser Schritt. Seit diesem evolutiven Augenblick verkörpern wir unwiderruflich eine neue, höhere Stufe der kosmischen Geschichte. Wir sind keine Tiere mehr.

Deshalb freilich sind wir bei weitem auch noch nicht das Wesen, das wir meinen, wenn wir vom »Menschen« reden. Denn wir haben zwar den Begriff der Humanitas schon entwickeln können. Aber wie verräterisch ist doch unsere Begeisterung, wenn wir konkreten Spuren dieser Humanitas im Ausnahmefall tatsächlich auch einmal begegnen. Nun hat tröstlicherweise auch diese Medaille ihre Kehrseite. Unsere zwiespältige Doppelrolle bürdet uns nicht nur die Hypothek unserer Unvollkommenheit auf. Immerhin sind wir auch die ersten Lebewesen auf diesem Planeten, die der gewaltigen Geschichte ansichtig geworden sind, die sie hervorgebracht hat. Deren Anblick aber kann uns eine neue, höhere Form der Geborgenheit vermitteln, den beruhigenden Trost einer bewußt erlebbaren Gewißheit: Wer sich als das Geschöpf und damit als ein Teil dieser alles umfassenden kosmischen Geschichte erkannt hat, ist für alle Zeit jeglichem Zweifel an dem Sinn der eigenen Existenz enthoben.

Die »überschwänglichen Anstalten« dieses Kosmos mögen in einem noch so »toll machenden« Kontrast stehen zu dem deprimierenden Anblick, den eine von der menschlichen Gesellschaft beherrschte Erde seit Jahrtausenden bietet. Das Universum mag durch seine schiere Unermeßlichkeit »unsere Wichtigkeit vernichten«, wie Kant konstatierte. Keine dieser ganz gewiß unbestreitbaren Feststellungen aber berührt die Tatsache, daß wir legitime Kinder dieses schier unermeßlichen Kosmos sind. Daß es die gleiche Geschichte ist, die ihn wie uns hat entstehen lassen.

Wir sind ein Teil des wunderbaren Geheimnisses, das sich hinter der Existenz und den sich unaufhörlich neu offenbarenden Entfaltungs­möglichkeiten dieses Kosmos verbirgt. Wir kennen zwar das Ziel nicht, auf das die kosmische Evolution zusteuert. Nicht nur die Beschränktheit unseres Erkenntnis­horizonts schließt diese Möglichkeit aus, sondern prinzipieller noch die historische Offenheit der Zukunft, in der es verborgen liegt. Aber auf eine Gewißheit können wir setzen. Eine Hoffnung ist begründet genug, um ihr vertrauen zu können. Auch wenn wir alle Wünsche streichen und allen Illusionen abschwören. So sicher es ist, daß unsere Wichtigkeit der Unermeßlichkeit dieses Kosmos nicht standhält, so sicher können wir auch sein, daß die seit dem Beginn der Zeit immer neue, immer höhere Formen der Ordnung hervorbringende kosmische Geschichte sich an ihrem Ende nicht ins Nichts verlieren wird.

Nichts von allem, was heute existiert, kann den alle Vorstellung übersteigenden Aufwand rechtfertigen oder begründen, den diese Geschichte von Anbeginn an darstellt (und den wir als die Ursache auch unserer Existenz entdeckt haben). Der Ausgang der Geschichte allein wird ihre Rechtfertigung bilden. Denn daß aller kosmische Aufwand sich zum Schluß als sinnlos erweisen könnte und daß die Geschichte einer über Äonen hinweg nicht erlahmenden kosmischen Schöpfungskraft nichts anderes sein sollte als ein unüberbietbar gigantischer Leerlauf, das wäre denn doch wohl, bei Anlegung noch so erbarmungslos selbstkritischer Maßstäbe, die am wenigsten plausible Annahme von allen.

Auch wir aber gehören zu den Geschöpfen, welche die kosmische Geschichte hervorgebracht hat. Auch wir haben daher an dem Sinn teil, den wir ihr zutrauen dürfen. Zwar kann uns niemand eine Antwort geben, wenn wir danach fragen, worin dieser Sinn besteht. Es muß uns daher genügen zu wissen, daß es ihn gibt. Sicher sein zu können, daß unser Dasein — bei aller Schuld und allem Elend, die unentrinnbare Begleiter unserer unfertigen Natur sind — dennoch nicht sinnlos ist und seinen Platz im Rahmen des Ganzen hat: das ist mehr, als mancher zu hoffen wagte.

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