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5  Materieller Reichtum und der Einfallsreichtum des Lebens

 

Von der Wildnis zur vermenschlichten Natur (188)   Rohstoffe und Ressourcen (198)  
Die Vorteile der Energieverknappung (209)  Schöpferische Anpassungen und Symbiosen (222)   

 

   Von der Wildnis zur vermenschlichten Natur  

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Es gibt zwei sehr unterschiedliche Arten zufriedenstellender Landschaften. Zum einen gibt es die verschiedenen Formen der Wildnis, die sich ohne menschliche Einwirkung entwickelt haben und in denen alle Formen des Lebens spontan ein ökologisches Gleichgewicht zueinander und mit der physikalisch-chemischen Umgebung gefunden haben. Zum anderen gibt es Landschaften und Wassergebiete, die von menschlichen Eingriffen umgestaltet wurden, um menschliche Bedürfnisse und Neigungen im Einklang mit den Naturgewalten zu befriedigen.

Ich möchte mich nicht näher mit der Wildnis befassen, weil ich kaum persönliche Erfahrungen mit ihr habe, aber auch, weil sie in vielen ausgezeichneten Veröffentlichungen beschrieben, analysiert und illustriert worden ist. Ich werde statt dessen die Beziehungen zwischen den Menschen und den Naturgewalten hervorheben, weil das meiste, was wir Natur nennen, eigentlich das Ergebnis dieses Zusammenspiels ist, das in den unzähligen Formen vermenschlichter Landschaften seinen Ausdruck findet.

Das erste und letzte Kapitel von <Silent Spring> (Der stumme Frühling), jenem berühmten Buch, mit dem Rachel Carson der Allgemeinheit die Gefahren von Pestiziden ins Bewußtsein brachte, beginnt mit Bildern imaginärer Städte, deren Straßen in eine sanft geschwungene Landschaft mit Wiesen, Kornfeldern und waldbedeckten Hügeln führen.

Diese Bilder stammen aus den Erinnerungen an ihre Jugend in Pennsylvania zu Beginn dieses Jahrhunderts. In ihrem Buch beschreibt sie eine bezaubernde Gegend, in der sich jede Lebensform in Harmonie mit ihrer Umgebung befand:

»Die Stadt lag inmitten eines Schachbretts reicher Bauernhöfe mit Kornfeldern und hügeligen Obstgärten... Das Land war bekannt für seine artenreiche Vogelwelt...; die Flüsse kamen kalt und klar aus den Hügeln und speisten schattige Teiche, in denen Forellen laichten. So war es in jenen Tagen vor vielen Jahren, als die ersten Siedler ihre Häuser errichteten, ihre Brunnen bohrten und ihre Scheunen bauten.«

Rachel Carsons Wunschlandschaft besitzt ein weitverbreitetes, wenn nicht universales Antlitz. Die meisten von uns haben ein ästhetisches Ideal von der Natur, das wahrscheinlich die Folge der visuellen Konditionierung ist, die durch unser Leben in einer Savannenlandschaft während der Steinzeit entstand. Glücklicherweise steht die Kombination von Wald, Weiträumigkeit, Wasserlandschaft und Horizont, die charakteristisch für die Savanne ist, auch im Einklang mit vielen von der Landwirtschaft geprägten Gegenden. Diese Kombination kann erreicht werden im klassischen französischen Landschaftsstil, in der eher romantischen englischen Ausprägung des Landes, in der komplexen und symbolträchtigen Gestalt orientalischer Parks und auch in den gewaltigen Schauplätzen der amerikanischen Nationalparks.

Wir beginnen erst jetzt mit der Sammlung genauer Informationen über das, was die Menschen wirklich so anziehend an Landschaften finden. Tests mit Angehörigen verschiedener sozialer Schichten haben eine fast durchgängige Bevorzugung ordentlicher Landschaften, in denen die Natur gezähmt und sogar unterdrückt worden ist, ergeben. Die meisten von uns sehnen sich nicht nach der Wildnis an sich, sondern nach einem Hauch Wildheit in den von uns bewunderten und vermenschlichten Landschaften.

Die Menschen haben nahezu auf der ganzen Welt künstliche Umgebungen aus der Wildnis geschaffen, wo sie sich auch niederließen. In Europa und Asien sind einige dieser vermenschlichten Landschaften fruchtbar und seit Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden ästhetisch ansprechend geblieben.

* (d-2015:)  Frau Rachel Carson bei detopia

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Sie sind jetzt eine wirkliche Heimat für die Menschheit. Wir haben uns so an sie gewöhnt, daß wir beinahe ihren Ursprung vergessen; wir betrachten sie in einer gleichgültigen oder träumerischen Stimmung, ohne je einen Gedanken an die riesigen Gebiete urzeitlicher Natur zu verschwenden, die grundlegend umgestaltet oder zerstört werden mußten, ehe sie unseren biologischen Bedürfnissen und auch unseren ästhetischen Sehnsüchten entsprachen.

Bis auf die gegenwärtige Generation waren die meisten Menschen sehr stolz auf ihre Fähigkeit, das Antlitz der Erde verändert zu haben. Zum Beispiel bemerkte der englische Naturalist William Marshall am Ende des 18. Jahrhunderts: »Die Natur weiß nichts von dem, was wir Landschaft nennen, denn dies bezieht sich auf Lebensräume, die vom Menschen für seine eigenen Zwecke zurechtgemacht wurden.«

Über Großbritannien schrieb er: »Von keinem Fleckchen auf dieser Insel kann behauptet werden, daß es sich in einem natürlichen Zustand befände. Es gibt keinen Baum, vielleicht noch einen Busch, auf dieser Erdoberfläche, der seine Identität allein der Natur verdankt. Wo auch immer die Kultur ihren Fuß hingesetzt hat, ist die Natur erloschen... Wer die Natur in einem Zustand totaler Vernachlässigung wünscht, muß seinen Wohnsitz in den Wäldern Amerikas aufschlagen.«

Und er meint damit, daß die Natur nur Perfektion erreichen und ihre potentiellen Werte nur dann entwickeln kann, wenn der Mensch Hand an sie gelegt hat.

Während die Leute früher auf die Veränderungen stolz waren, die die Menschen an der Natur vorgenommen hatten, ist es im Gegenteil dazu heute modern geworden, zu beteuern: »Die Natur weiß es besser« und daß jeder menschliche Eingriff in die Umwelt wahrscheinlich zu schädlichen oder gar verheerenden Folgen führe. Wir haben uns selbst so in den Glauben hineingesteigert, eine gute Behandlung der Umwelt beruhe auf ein paar wissenschaftlichen Grundprinzipien der Ökologie, daß wir gemeinhin den Ausdruck ökologische Bewegung gebrauchen, um die moderne Umweltbewegung zu kennzeichnen - als ob das Adjektiv »ökologisch« uns eine für das menschliche Leben und die Erde befriedigende Umwelt schenken würde.

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Die Wahrheit ist jedoch, daß die meisten Dinge des Menschenlebens irgendeinen Konflikt mit dem natürlichen Ökosystem beinhalten und deswegen mit den Lehren der Ökologiehandbücher nicht zu vereinbaren sind.

Man denke zum Beispiel nur an den Stolz der Hausbesitzer auf ihren Rasen vor dem Haus, seien es Bungalows oder Mietshäuser. Der Rasen erscheint ihnen als friedliches und schönes Stück Natur, in Wirklichkeit stellt er vom Standpunkt der Ökologie eine Monstrosität dar. Fast überall und besonders in der gemäßigten Zone erfordert die Anlage und die Pflege eines Rasens viel Energiekosten und andere Hilfsmittel, um das Unkraut zu vernichten und die Büsche und Bäume im Zaum zu halten, die dort ungehindert wachsen würden, wenn sie nicht ständig beseitigt würden. Sie finden sich denn auch sofort wieder ein, sobald der Rasen vernachlässigt wird.

Ein Blumen- oder Gemüsegarten ist rein ökologisch betrachtet ebenfalls völlig unnatürlich. Nur wenige der dort gezogenen Pflanzen könnten in der Wildnis lange überleben. Nach ihrer Anpflanzung können Gartenpflanzen nur dann gedeihen, wenn sie ständig gegen Unkraut, Insekten, Tiere jeglicher Größe und Naturkräfte geschützt werden, die sie zerstören oder zumindest in ihrem Wachstum behindern würden.

So paradox es klingen mag, auch die Tätigkeiten der Bauern führen zur Zerstörung des natürlichen Ökosystems. Auf der ganzen Erde wurde Ackerland mit Hilfe verschiedenster Techniken und mit hohen Energiekosten aus der Wildnis geschaffen. Das gute Gedeihen der Feldfrüchte und des Weidelands sowie die Erhaltung fruchtbaren Bodens erfordern einen endlosen Kampf gegen die ursprüngliche Fauna und Flora, die in ihrer wildwüchsigen Form zurückkehrt, wenn sie nicht reguliert wird. Eine erfolgreiche Landwirtschaft ist, genau wie der Gartenbau, unvereinbar mit dem ökologischen Gleichgewicht, das unter natürlichen Bedingungen vorhanden wäre.

Die Erfahrung zeigt, daß Veränderungen im natürlichen Ökosystem nicht unbedingt zerstörend wirken müssen, sondern durchaus auch höchst kreativ sein können.

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Das Urprinzip des Erfolges ist, daß künstliche Ökosysteme soweit wie möglich im Einklang mit den vorherrschenden ökologischen Merkmalen der Gegend stehen sollten, in die sie integriert werden. Rasen war zum Beispiel auf den Britischen Inseln lange populär und wurde erfolgreich kultiviert, weil das lokale Klima und besonders die Niederschlagsmenge günstig für Rasenanlagen sind. Im Gegensatz dazu ist die Anlage und Erhaltung guter Rasenflächen in den meisten Teilen Nordamerikas sowie in vielen anderen Teilen der Erde viel zu aufwendig.

In den meisten Teilen der Welt, in denen Bauern landwirtschaftliche Verfahrensweisen angewandt haben, die den lokalen natürlichen Bedingungen angepaßt waren, ist das Land, das ursprünglich Wildnis war, im allgemeinen ertragreich geblieben und vielerorts sogar noch fruchtbarer geworden. Gewisse heutige Praktiken stehen jedoch in scharfem Kontrast zur empirisch belegten ökologischen Weisheit. In einigen Teilen von Texas und des Westens von Amerika zum Beispiel sind sehr hohe Erträge verschiedener Feldfrüchte dadurch erzielt worden, daß man versandetes Land mit Grundwasser (das an vielen Stellen aus fossilem Wasser besteht) bewässerte. Dieses Wasser muß mit einem hohen Kostenaufwand hochgepumpt werden. Da jedoch die Grundwasservorräte bald erschöpft sein werden und durch die Bewässerung das Wasser beim Verdampfen die Erde mit verschiedenen Salzen verseucht, wird man dieses Anbauverfahren wohl aufgeben müssen und das Vermächtnis eines heruntergekommenen Landstrichs hinterlassen.

Glücklicherweise können die Menschen aus Erfahrungen lernen, wie sich an der derzeitigen Auseinandersetzung über die Zukunft der Landwirtschaft im westlichen Kansas zeigt. Bis vor ein paar Jahrzehnten meinten die Bauern, daß Westkansas zu trocken und heiß sei, um etwas anderes anzubauen als Weizen und Futtergetreide, die beide wenig Wasser benötigen. Die Lage änderte sich jedoch, als entdeckt wurde, daß man ohne weiteres Mais in dieser halbtrockenen Gegend anbauen und durch umfangreiche Bewässerung hohen Gewinn erzielen könnte, wenn das fossile Wasser des artesischen Ogallala-Grundwassers, das unter Teilen der Hochebenen von Texas und Wyoming liegt, benutzt wird.

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Die nationale Bedeutung dieses künstlich bewässerten Maisanbaus wird aus der Tatsache ersichtlich, daß vierzig Prozent des in den USA verzehrten Rindfleischs von Vieh stammt, das mit Futtergetreide aus diesen Gegenden gemästet wurde. Das Ergebnis dieser umfangreichen Bewässerungspraxis ist jedoch, daß der Grundwasserspiegel in der gesamten Gegend dermaßen schnell sinkt, daß die Grundwasserreserven in wenigen Jahren erschöpft sein werden.

Die neuen Methoden, Landwirtschaft größten Stils zu betreiben, mit riesiger und komplizierter Mechanisierung, haben die ländlichen Idyllen gründlich dezimiert. In der Öffentlichkeit wird jedoch der Abbau der natürlichen Umwelt mit den durch die industrielle Revolution verursachten Schäden in Verbindung gebracht. Mit dem Beginn der umfangreichen Industrialisierung und Verstädterung in England setzten auch die Umweltverschmutzung und Proteste gegen diese Vergewaltigung der Natur ein. William Blake umschrieb die rauchenden Fabriken mit dem Begriff teuflische Mühlen. Seit dem 18. Jahrhundert und besonders heutzutage sehen immer mehr Menschen in der Industrialisierung den Bösewicht, der für die Verschlechterung der Umweltqualität verantwortlich ist. Aber in Wirklichkeit haben auch andere Veränderungen unserer Lebensweisen eine große Rolle bei der Zerstörung des ländlichen Charmes gespielt.

Das kleine Dorf Saint Brice-sous-Foret, in dem ich geboren bin, liegt am Rande des Waldes von Montmorency, einige Meilen nördlich von Paris. Als sich die amerikanische Schriftstellerin Edith Wharton in Saint Brice niederließ, wo sie von 1918 bis zu ihrem Tode im Jahre 1937 lebte, war die Ebene zwischen Paris und dem Dorf überzogen von höchst ertragreichen Gemüsegärtnereien, insbesondere von Obstgärten, in denen Kirsch-, Birnen- und Apfelbäume wuchsen. Die Obstgärten entlang der Straße waren so zahlreich, daß, mit ihren Worten, »wir einen rosafarbenen Schneesturm zu durchqueren schienen, wenn wir im Frühjahr verreisten«. Ich bin in den vergangenen dreißig Jahren oft auf der Straße von Paris nach Saint Brice gefahren, jedoch ohne große Freude, weil die Gärten und Obstgärten mittlerweile einem grauen Vorstadtgebiet Platz gemacht haben.

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Kleine Rasenflächen und nur wenig blühende Bäume neben den Häusern sind der erbärmliche Ersatz für den endlos reichenden Blick, den man von der Straße aus genießen konnte, als Edith Wharton hier noch lebte.

Die wuchernden Vororte sind nicht der einzige Faktor, der die Qualität der stadtnahen Gebiete vermindert hat. An einem Wochenende stiegen meine Frau und ich in Peekskill, 40 Meilen nördlich von New York, aus dem Zug und liefen in Richtung Norden die Old Albany Post Road entlang. Das war einst die Straße, die Manhattan und Albany verband, jetzt ist sie weitgehend vom Highway 9 ersetzt worden. Wir liefen auf den wenigen Meilen, die noch immer in ihrer ursprünglichen Form als Schotterstraße existieren. Unser Weg führte uns erst durch Wälder und dann in ein kleines abgeschlossenes Tal, das von einem schmalen, munteren Bach durchquert wurde. Dort gab es Gärten und Wiesen, in voller Blüte stehende Apfelbäume an den westlichen Hängen, ein paar Kühe und an jedem Ende des Tals einen Bauernhof mit Wirtschaftsgebäuden. Für den Städter war das »Natur« von reizvollster Anziehungskraft. Wir kauften rund 2,8 Hektar verlassenes Farmland, das, abgesehen vom Schwemmland am Bach, steinig war, und bauten uns auf einem der Hügel ein Haus aus Felssteinen.

Heute hat sich die Gegend außerordentlich verändert. Die Farmer, die in den beiden alten Häusern lebten, sind gestorben, sie hatten schon einige Jahre vor ihrem Tod die Landwirtschaft aufgegeben. Im Tal, das einst intensiv kultiviert war und viele Menschen versorgte, leben nur noch wenig Einheimische, die aber keine Landwirtschaft mehr betreiben. Gestrüpp, Bäume und Brennesseln haben sich in den Obstgärten, Wiesen, auf den Hängen und im Tal breitgemacht. Ungehinderte Aussicht gibt es nur da, wo wir und zwei Nachbarn die wilde neue Vegetation mit großen physischen und finanziellen Anstrengungen einzudämmen versuchen. Genauso wie das Wachstum anonymer Vororte das Verschwinden erfreulicher Landschaftsbilder an der Straße von Paris nach Saint Brice mit sich brachte, so schädigte die unkontrollierte Verbreitung von Gestrüpp und Bäumen den idyllischen Charme unseres Paradieses.

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Nan Fairbrother schrieb vor ein paar Jahren über ländliche Gegenden und große englische Parks: »Die weiträumige und methodische Planung, der heitere Ausblick ins weite Land, sie bekunden die Sicherheit einer Gesellschaft, die auf ihre Macht vertraut, die Umwelt durch ihre eigene intellektuelle Kraft beherrschen zu können...« Im Gegensatz dazu verkörpern die jüngsten Veränderungen an der Straße von Paris nach Saint Brice und an der Old Albany Post Road die Unfähigkeit der modernen Gesellschaften, visuelle und andere sinnliche Qualitäten der zivilisierten Umwelt zu erhalten. Dies sind lediglich zwei unbedeutendere Beispiele der vielen Arten von Landschaftsverschandelung, die nicht von William Blakes »teuflischen Mühlen« oder modernen industriellen Entwicklungen hervorgebracht wurden, son-

ern auf Veränderungen in der Lebensweise und auf die Vernachlässigung der Landwirtschaft zurückzuführen sind. Abgesehen von der wirklichen Wildnis sind die ansprechendsten Naturerscheinungen jetzt in Agrargebieten und auf großen Gütern zu finden. Die Landwirtschaft kann aber unter den gegenwärtigen Umständen in der Nähe großer Städte kaum überleben. Darum ist es dringend erforderlich geworden, Richtlinien für die Landschaftsgestaltung zu formulieren, die die Aufrechterhaltung der Umweltqualität rings um die großen Stadtgebiete berücksichtigen. In manchen Gegenden der Niederlande erhalten zum Beispiel die Bauern für die Erhaltung von Kanälen, Hecken und Windmühlen auf ihrem Grundbesitz Subventionen; solche Schutzmaßnahmen mögen zwar irgendwie die ökonomische Ertragfähigkeit der Landwirtschaft mindern, auf der anderen Seite gewähren sie aber das Überleben der beliebten Landschaften

es 18. Jahrhunderts. Aufgrund ähnlicher Überlegungen werden bayrische Schäfer dafür subventioniert, daß sie ihre Schafe auf den hochgelegenen Almen grasen lassen; die damit verbundenen großen Entfernungen erhöhen zwar die Weidekosten, das Verfahren jedoch hat ökonomische Vorteile: Wenn das Gras nicht kurz gehalten wird, kann es vom schmelzenden Frühjahrsschnee herausgerissen und zu Tal befördert werden.

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Ein ganz anderes Beispiel, der Vergleich zwischen den beiden größten bekannten Vulkanausbrüchen - auf Krakatau und auf Santorin (auch Thera genannt) -, wird noch umfangreicher belegen, wie menschliche Eingriffe Umweltverhältnisse hervorbringen können, die nicht spontan aus natürlichen Prozessen hervorgegangen wären.

Im Jahre 1883 zerstörte ein gewaltiger Vulkanausbruch zwei Drittel der Insel Krakatau, die zwischen Sumatra und Java im Malaiischen Archipel liegt. Die Explosion war mit der Gewalt von einer Million Wasserstoffbomben vergleichbar und setzte Unmengen von Vulkanstaub frei, der sich in der gesamten Erdatmosphäre verbreitete. Alles Leben wurde auf Krakatau vernichtet, und man weiß, daß mehr als 37 000 Menschen auf Krakatau selbst und den Nachbarinseln getötet wurden, hauptsächlich von der Flutwelle, die dem Ausbruch folgte. Nach dem Ausbruch waren die Überreste der Insel mit einer dicken, erstarrten Lavaschicht bedeckt. Nach und nach jedoch brachten Wind und Wellen eine Reihe von Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren an die Küsten, und das Leben faßte wieder Fuß auf der Lava. Das neue Ökosystem ist im Vergleich zum vorangegangenen Zustand zwar minderwertig, aber es gibt immerhin hundert Jahre nach dem Ausbruch ein artenreiches Tier- und Pflanzenleben, das vom Malaiischen Archipel stammt. Die Menschen jedoch gingen nicht mehr auf die Insel zurück; sie kamen nur zu kurzen Besuchen, um periodisch den Fortschritt der wiederkehrenden Lebensformen zu beobachten.

Im Ägäischen Meer wurde vor 3500 Jahren die Insel Santorin von einem Vulkanausbruch zerstört, der nach Schätzungen viermal stärker als auf Krakatau gewesen sein soll. Die Reste von Santorin verschwanden unter einer stellenweise 61 Meter hohen Bimssteinschicht. Jedes Leben muß damals zerstört worden sein. Dennoch gingen die Menschen schließlich auf die Insel zurück, betrieben Landwirtschaft und leben seitdem ständig dort. Santorin ist im Laufe der Geschichte von weiteren Vulkanausbrüchen vernichtet worden; noch am 9. Juli 1956 wurden die Hälfte der 5000 Häuser zerstört und

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53 Menschen getötet. Trotz dieser wiederholten Naturkatastrophen bietet Santorin das vielleicht bemerkenswerteste Beispiel dafür, wie die menschliche Haltung die Schöpferkraft der Natur unterstützen kann.

Das Schiff, auf dem ich die Ägäis bereiste, erreichte spät in der Nacht Santorin, und ich sah die Insel erst am frühen Morgen in ihrer ganzen Pracht. Obwohl ich viel über sie gelesen hatte, war ich von der 305 Meter hohen Steilküste überwältigt, die mit ihrem unglaublich intensiven Weiß in das 365 Meter tiefe und dunkelblaue Meer stürzt - Zeugnis des Ausbruchs, der Santorin vor 3 500 Jahren auseinandergerissen hat. Es gibt außer dem Regenwasser, das in großen unterirdischen Zisternen gesammelt wird, kein Wasser auf der Insel. Der Boden des vulkanischen Tuffsteins ist so karg, daß nur einige wenige Sträucher und Bäume darin Wurzeln schlagen können. Dennoch überziehen bebaute Felder jeden Flecken ebenen Landes, und Santorin liefert die besten Tomaten und den berauschendsten Wein Griechenlands. Als sichtbarer Beweis kulturellen Aufschwungs heben sich auf der äußersten Kante der Steilküste in der Sonne glänzende weiße Häuser und farbenfrohe Kirchenkuppeln vom leuchtenden Himmel ab.

Die völlig unterschiedlichen Arten der Überwindung der vulkanischen Verheerungen auf Krakatau und Santorin zeigen den scharfen Kontrast zwischen den spontanen, blinden Prozessen der Natur und den Veränderungen, die von menschlichen Entscheidungen herbeigeführt oder erzwungen wurden. Nach der Explosion von 1883 stellte sich das Leben in Krakatau wieder ein, aber diese Wiederherstellung war ein reines Zufallsprodukt und stellt nur eine schwache Kopie der ursprünglichen Fauna und Flora dar. Ungestört belassen, hätte die Natur in ähnlicher Weise einige der gewohnten ägäischen Lebensformen auf Santorin wieder eingeführt, aber während Krakatau unbewohnt blieb, kamen die Menschen nach Santorin zurück und nahmen den Prozeß der sozialen und kulturellen Evolution wieder auf. Die Einwohner von Santorin haben viele Zerreißproben durchgemacht, haben aber schließlich erfolgreich auf dem Tuffstein und dem heimgesuchten ägäischen Felsen neue Produkte und neue Zivilisationsformen geschaffen. Die kleinen schmackhaften Tomaten, der Wein und die eindrucksvolle Architektur der glänzenden Häuser und farbenfrohen Kirchenkuppeln am Rande der Steilküste hätten ohne menschliche Phantasie und Beharrlichkeit unmöglich hervorgebracht werden können.

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     Rohstoffe und Ressourcen   

 

In seiner ursprünglichen Form basierte das Malthusische Gesetz auf der Theorie, daß Unterernährung und Krankheit die unvermeidlichen Folgen des ständigen Bevölkerungswachstums sein würden. Die jüngeren Fassungen, wie sie zum Beispiel in den Büchern <Grenzen des Wachstums> und <Global 2000 Report> dargelegt werden, betonen zusätzlich, daß die Wirtschaften der Industrieländer bald in ernsthafte Notlagen geraten werden, die sich aus dem zunehmenden Mangel an Bodenschätzen ergeben könnten. Diese düstere Zukunftsprognose stützt sich auf eine Unmenge von Annahmen, die den Bestand bestimmter Rohstoffe in der Erdrinde und den Verbrauch der Ressourcen, die aus diesen Rohstoffen gewonnen werden, betreffen.

Die Erde war immer arm an »Bodenschätzen«. Stoffe werden erst dann zu Ressourcen, wenn sie aus den Rohstoffen, in denen sie enthalten sind, gewonnen und für irgendeinen menschlichen Zweck aufbereitet werden. Ackerland existiert kaum als natürlicher Bodenschatz, es muß mit Hilfe menschlicher Arbeitskraft aus irgendeiner Wildnis geschaffen werden. Aluminium kommt in der Natur nicht als reines Metall vor, es muß mit Hilfe raffinierter chemischer Verfahren von Bauxit oder anderen aluminiumhaltigen Erzen getrennt werden. Erdöl und Uran sind als solche nicht brauchbar; sie werden erst durch die Einbindung in komplexe technologische Systeme zu Energiequellen. Das betrifft eigentlich alle sogenannten Bodenschätze.

Der Begriff »Rohstoffreserven« führt auch zu großer Verwirrung. Einige Experten verstehen unter Reserven die nachgewiesenen Vorräte, während andere die absoluten Mengen dieser Stoffe auf der Erde meinen.

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Der Begriff »nachgewiesene Reserven« hat eine ökonomische Bedeutung; er impliziert Vorräte, von denen bekannt ist, daß sie innerhalb eines bestimmten Zeitraumes, in dem die Industrieunternehmen unter profitablen Bedingungen arbeiten können, zur Verfügung stehen. Im Gegensatz dazu ist der Ausdruck »absolute Reserven« ein geologischer Begriff, er bezieht sich nämlich auf die gesamte Menge eines bestimmten vorhandenen Stoffes irgendwo auf der Welt. Aus ökonomischen Gründen sind die Anstrengungen, die absoluten Reserven zu entdecken, im allgemeinen auf den Bedarf der Gegenwart und der unmittelbaren Zukunft begrenzt. Schätzungen über die absoluten Reserven sind aus diesen Gründen extrem problematisch. Bis jetzt sind neue Reserven immer dann entdeckt worden, wenn ein Bedarf nach ihnen bestand.

Eine äußerst optimistische Betrachtungsweise des Ressourcenproblems tauchte in einer anonymen Bemerkung auf, die vor einigen Jahren im Laufe einer allgemeinen Diskussion gemacht wurde: »Weil der gesamte Planet aus Mineralien besteht ... ist der bloße Gedanke, irgendwann keine mineralischen Vorräte mehr zu haben, einfach lächerlich.« Selbst wenn man zugibt, daß der überwiegende Teil der Erdmasse außerhalb des menschlichen Zugriffs liegt, sind riesige Gebiete der Erdrinde und der Ozeane ziemlich gut zugänglich. Berichte des U. S. Geological Survey und des Battelle-Memorial-Instituts behaupten, daß sich ungefähr 400 Billionen Tonnen verwertbarer Grundstoffe in der 1 Kilometer dicken Erdrinde befinden, die mit Hilfe moderner Technik erreicht werden können. Da der gesamte Weltverbrauch von Sand, Kies, Öl und Metallen nur rund 22 Milliarden Tonnen jährlich beträgt, »... sollten wir uns mindestens 20000 Jahre versorgen können - Zeit genug, sollte man meinen, unsere Ordnung und das Bevölkerungswachstum an die verfügbaren Ressourcen anzupassen«.

Mit anderen Worten: Die Anhänger der Überflußgesellschaft setzen praktisch die gesamte Erdoberfläche mit verfügbaren Ressourcen gleich. Vor kurzem ist diese optimistische Sichtweise von der Hypothese bestärkt worden, daß viele Rohmaterialien vom Mond und anderen Planeten gewonnen werden und sogar im Weltraum verwandelt und weiterverarbeitet werden könnten.

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Die Menschen haben zu jeder Zeit praktisch nur diejenigen Teile der Erdrinde ausgebeutet, die sie leicht erreichen und in den Griff bekommen konnten. Die Menschen der Steinzeit suchten geeignete Steine, die zu Waffen und Werkzeugen verarbeitet werden konnten. Sie benutzten auch Ton, Naturfasern, Holz und Leder - Materialien, die fast überall vorhanden waren. Goldmetall ist leicht vom Erz zu trennen und kommt sehr oft als reines Metall in der Natur vor, ist aber zu selten, um für eine großangelegte industrielle Verarbeitung in Frage zu kommen. Kupfer war das erste Metall, das weitverbreitete Verwendung fand, weil es bei niedriger Temperatur leicht von den Erzen geschieden werden kann. Der Nutzwert des Kupfers stieg gewaltig, als es mit Zinn zur Bronzeherstellung legiert werden konnte, der Metallegierung der ersten großen Zivilisationen. Die römischen Legionen beherrschten die westliche Welt mit Bronzewaffen, die aus spanischem Kupfer und Zinn aus Cornwall hergestellt wurden.

Eisen ist reichlicher als Kupfer vorhanden, kann aber nur bei hohen Temperaturen und mit komplizierten Verfahren auf die metallische Form reduziert werden. Deshalb wurde Eisenmetall erst einige Jahrhunderte nach Kupfer und Bronze im großen Umfang verwendet. Seitdem ist Eisen zum wichtigsten Metall für die Waffen- und Werkzeugherstellung geworden. Eisengeräte machten es innerhalb weniger Jahrhunderte während des Mittelalters möglich, die meist dichtbewaldeten Gebiete Europas in fruchtbares Ackerland zu verwandeln.

Aluminium ist sogar noch reichlicher als Eisen vorhanden, aber seine Aufbereitung in den metallischen Zustand und seine Bearbeitung werfen schwere technische Probleme auf und erfordern einen hohen Energieaufwand. Als reines Metall war Aluminium bis zum frühen 19. Jahrhundert nicht bekannt und wurde erst einige Jahrzehnte später ein bedeutendes technisches Hilfsmittel.

Eisen macht jetzt achtzig Prozent des gesamten Metallverbrauchs in den Vereinigten Staaten aus, Aluminium rund zehn Prozent, und Kupfer liegt an dritter Stelle. Im Falle dieser und anderer Metalle waren die ersten Rohstoffe, aus denen sie gewonnen wurden, natürlich die leicht zugänglichen und unkompliziert zu verarbeitenden.

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Prähistorische Menschen stellten Kupfer zuerst aus Malachitkristallen her, die leicht zu erkennen waren und einfach aufgehoben werden mußten. Als diese Quelle knapper wurde, benutzte man Erze mit immer niedrigerem Kupfergehalt. Um die Jahrhundertwende betrachtete man nur Erze mit mindestens fünf Prozent Kupferanteil als lohnend, heute gelten hingegen Anteile von nur 0,4 Prozent und niedriger als wirtschaftlich tolerierbar. Ein ähnlicher Abwärtstrend des nutzbaren Gehalts von Erzen hat auch bei anderen Metallen stattgefunden, so zum Beispiel, als die Industrie vom hochwertigen Magnetit zu dem viel geringerwertigen Taconit übergehen mußte. Aluminium wird heute aus Bauxit gewonnen; wenn dieser Rohstoff jedoch knapp wird, muß man wahrscheinlich auf Tonerde oder andere aluminiumhaltige Stoffe ausweichen, die praktisch unerschöpflich sind.

Theoretisch ist es möglich, fortschreitend auf immer geringerwertige, dafür aber reichlicher vorhandene Erze zurückzugreifen. Mit den Worten von Harrison Brown:

»Der Mensch könnte, wenn es sein muß, bequem von ganz gewöhnlichem Felsgestein leben. 1 Tonne Granit enthält leicht extrahierbares Uran und Thorium, was einer Menge von ungefähr 15 Tonnen Kohle plus allen für die Aufrechterhaltung einer hochtechnisierten Zivilisation notwendigen Elementen entspricht. Es sieht tatsächlich fast so aus, als ob wir uns auf ein neues Steinzeitalter zubewegten.«

Der Haken bei der Sache ist natürlich, daß die Probleme der Umweltverschlechterung, des Energieverbrauchs und der Kapitalkosten immer ernster werden, wenn weniger interessante Erze verwendet werden. Obwohl die oberste Meile der Erdrinde eine riesige Menge und Vielfalt brauchbarer mineralischer Grundstoffe enthält, birgt sie gleichzeitig auch viel mehr wertlose oder sogar gefährliche Stoffe, die mit hohem Kapital- und Energieaufwand weggeräumt werden müßten.

Eine Antwort auf das Ressourcenproblem besteht in der Überlegung, welche Funktionen erfüllt werden müssen, um dann nach dem entsprechenden Ersatz zu suchen. Bei den jetzigen industriellen Verfahrensweisen gibt es nur wenig Funktionen, die nur von einem Stoff erfüllt werden können.

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Selbstverständlich kann es vorkommen, daß der zuerst gewählte Ersatzstoff die Funktion nicht so gut erfüllt wie das Metall, das er ersetzen soll; aber die Fortschritte in der Technologie erweitern ständig die Palette austauschfähiger Produkte.

Zum Beispiel wird heutzutage Elektrodraht aus Kupfer hergestellt. Aluminium könnte ihn heute in vielerlei Hinsicht ersetzen, auch wenn der Wandel Änderungen erforderlich macht, die in gewisser Weise störend wirken könnten. Glasfiberfasern könnten im Telefonsystem auf breiter Basis Verwendung finden und vielleicht sogar Vorteile gegenüber dem Kupfer bieten, da sie viel mehr Informationen auf viel kleinerem Raum übermitteln können. Der Quecksilbermangel könnte auch bewältigt werden, weil für alle Hauptfunktionen dieses Metalls Ersatz vorhanden ist. Darüber hinaus haben die giftigen Bestandteile des Quecksilbers die öffentlichen Gesundheitsbehörden veranlaßt, es aus vielen früheren Verwendungsgebieten zu verbannen. Von den 2000 Tonnen Quecksilber, die 1968 von den Vereinigten Staaten importiert worden sind, war der größte Teil für die Produktion von Ätzmitteln und Chlor bestimmt, Substanzen, die nahezu ebensogut mittels des Dialyseverfahrens hergestellt werden können, das vor der Einführung der Quecksilberzelle gebräuchlich war und nur ganz gewöhnliche Materialien erfordert.

Zu den vielseitigsten und wichtigsten Ersatzstoffen zählen die verschiedenen Kunststoffe, die nicht nur aus Erdöl und Erdgas synthetisiert werden, sondern auch aus Pflanzenprodukten. Kunststoffe sind den Metallen in vielen Anwendungsbereichen überlegen; wie man weiß, finden sie zunehmend Eingang in viele Bereiche des Haushalts und der Technik. Ein experimentelles Flugzeug, das fast vollständig aus Kunststoff bestand, soll vor dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich in England erprobt worden sein. Die Verwendung von Kunstfasern anstelle von Baumwolle und Wolle war nicht die Folge einer Verknappung dieser Naturprodukte, sondern lag eher an gewissen Eigenschaften synthetischer Ersatzstoffe, die sie beliebter oder zumindest praktischer als Naturfasern machen.

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Ähnlich war die Verdrängung von Stahl und Holz durch Aluminium und Kunststoff in vielen Fällen von der überlegeneren Qualität dieser Ersatzstoffe im Hinblick auf bestimmte Anwendungsgebiete bestimmt. Das Zeitalter der Ersetzbarkeit hat als Aluminium- und Plastikzeitalter begonnen.

Technologische Lösungen könnten für die meisten Ressourcenprobleme gefunden werden, jedoch wird ihr Nutzeffekt vom umfassenderen Einsatz sowohl natürlicher Ressourcen als auch synthetischer Ersatzstoffe zunehmend in Frage gestellt werden. Die Massenproduktion von Aluminium und synthetischen Kunststoffen zieht nicht nur große Energieausgaben nach sich, sondern auch ökologische Belastungen und nur zu oft eine Verschmutzung der Landschaften und Wassergebiete mit nicht biologisch abbaubaren Abfällen. Die meisten Ressourcenprobleme beinhalten deshalb Fragen nach dem Verhältnis ökonomisch wichtiger Faktoren zur ebenso wichtigen Qualität der Umwelt.

Insofern werden die »Grenzen des Wachstums« wahrscheinlich nicht nur von Computermodellen über Luftverschmutzung, Konsumtion, Rohstoffsicherung und Bevölkerungswachstum enthüllt, sondern vermutlich eher von gesellschaftlichen Entscheidungen, die sich auf die Umweltqualität und die Lebensweise beziehen. Wissenschaftlich orientierte Gesellschaften wissen es schon oder können es noch lernen, wie man die meisten materiellen Probleme des Lebens angehen muß, aber sie können nicht mit dem Dilemma umgehen, das sich aus den Konflikten zwischen technischen Lösungen und humanistischen, kulturellen Werten ergibt. Das wird in den politischen Richtlinien deutlich, die sich mit dem Problem der Abfälle und ihrer Wiederverwendung befassen.

Abfälle sind ein unvermeidlicher Bestandteil des Lebens, und ihre Beseitigung hat viele Bereiche vergangener und gegenwärtiger Gesellschaften beschäftigt. Durch sie erhalten Archäologen Informationen über Lebensformen des Altertums, Kliniker die Gelegenheit zur Krankheitsbekämpfung, Energiesparer Anlaß zur Rückgewinnung ansonsten verschwendeter Ressourcen, Techniker die Aussicht auf finanzielle Profite, Ästheten die Rechtfertigung für Proteste gegen das moderne Leben und Ökologen Bauchschmerzen angesichts der Umwelt.

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Müllkippen mit erstklassigem Abfall sind die Wahrzeichen der Industriegesellschaft, insbesondere in den Vereinigten Staaten. Verschwendungssucht ist aber nicht nur eine Eigenschaft unserer Zeit oder gar der menschlichen Gattung. Viele Lebewesen sind verschwenderisch und sorglos, sobald sie ohne viel Anstrengung alles bekommen können, was sie wollen, und mehr haben, als sie gebrauchen können. Die Natur hat ihre eigenen Müllkippen.

Die menschlichen Merkmale, die sich in der heutigen Konsumgesellschaft herauskristallisiert haben, wurzeln tief in unserer evolutionären Vergangenheit. Wie wir gehen auch die Großaffen in freier Natur verschwenderisch mit der Nahrung um und beschmutzen ihren Lebensraum. Jäger der Altsteinzeit haben oft mehr Tiere erlegt, als sie zum Verzehr brauchten; in ihren Behausungen wurden herumliegende Steingeräte, Tierknochen und Essensreste gefunden. In der Olduvai-schlucht in Ostafrika wurde eine niedrige, halbkreisförmige Mauer, die wahrscheinlich vor eineinhalb Millionen Jahren unseren "Vorfahren als Windschutz diente, gefunden. Sie war von einer riesigen Menge tierischer Knochen und Steinwerkzeuge umgeben, die offensichtlich über die Mauer geworfen worden sind. Archäologische Fundorte späterer Perioden enthalten auch von Menschen hergestellte Gerätschaften, die sich über Generationen hinweg ungehindert anhäuften. Gegenstände aus Stein, Elfenbein, Töpfer- und Korbwaren sind die Steinzeitäquivalente zu den Aluminiumbüchsen, Plastikbehältern, Autoreifen und anderen „Kinkerlitzchen«, die unsere Landschaften und Gewässer verschandeln. Die Paläontologie verläßt sich weitgehend auf den nachlässig weggeworfenen festen Abfall der vorgeschichtlichen Menschen.

Die Bauerndörfer, die sich nach der neolithischen Agrarrevolution entwickelten, scheinen weniger soliden Abfall angesammelt zu haben als die paläolithischen Niederlassungen -ein Unterschied, der wahrscheinlich bis in die jüngste Zeit in ländlichen Dörfern zu beobachten war. Aber die vergleichsweise Ordnung in den Dörfern ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, daß das Leben der Bauern armseliger als das der Jäger und Sammler war. Armut schließt Verschwendung aus.

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Während altsteinzeitliche Jäger und Sammler neue Steinwaffen und -gerate herstellten, wenn sie sie benötigten, und die anderen nachlässig aufgaben, besaßen die Menschen in der agrarisch ausgerichteten Wirtschaft nur ein paar Utensilien, die sie sorgfältig behandelten und an die nächste Generation weitergaben. Fleisch war für die europäischen Bauern lange Zeit ein Luxus, und Knochen wurden im heimischen als Potaufeu oder Tierfutter verwendet. Die europäischen Wälder wirkten bis vor kurzem außerordentlich gepflegt, weil Reisig der einzige Brennstoff für die Menschen auf dem Lande war.

Der in der Vergangenheit in städtischen Gebieten weggeworfene Müll war überwiegend organischer Natur und wurde daher von Mikroorganismen zersetzt oder von Tieren gefressen. Schweine trieben sich noch bis ins 19. Jahrhundert auf dem Broadway in New York herum und ernährten sich vom Müll der Stadt. Aber das Abfallproblem war Ende des 19. Jahrhunderts dennoch schon bedenklich, wie die Ausführungen vom Jahre 1887 in einer Ausgabe des Scientific American aufzeigen:

»Die Gewohnheiten der jetzigen Generation verursachen das Aufkommen von noch mehr Abfall und giftigen Stoffen, als dies in vorangegangenen Zeiten der Fall war. Die Brennstoffe, die wir benutzen, die Artikel, die wir herstellen, und die Abwässer schaffen gemeinsam mehr Verschmutzungen, als unseren Vorvätern bekannt war ... (die beste Lösung) wäre, alle tierischen Stoffe mit trockener Erde zu desinfizieren und niemals zuzulassen, daß sie unsere Gewässer verunreinigen.«

Weil Sorglosigkeit und Verschwendung ein Bestandteil der menschlichen Spezies sind, manifestieren sie sich, wo immer Industriegesellschaften mehr materielle Güter produzieren, als sie wirklich benötigen. In Wahrheit sind wir nicht verschwenderischer oder nachlässiger als die Menschen der Vergangenheit, aber die Natur unserer Abfälle hat sich verändert, und ihre Menge hat zugenommen. Wir würden bald unter Müllbergen begraben sein, wenn wir die Abfälle nicht verbrennen oder so weit wie möglich von menschlichen Ansiedlungen entfernt lagern, sie ins Wasser kippen oder vergraben würden. Aber es gibt Grenzen für diese Beseitigungsmethoden, und das Abfallproblem hat in allen Industrieländern ein Krisenstadium erreicht.

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Das Erfordernis neuer Beseitigungsmethoden hat der Tatsache, daß die meisten Abfälle wertvolle Bestandteile enthalten und als verschwendete Ressourcen anzusehen sind, die nicht weggeworfen, sondern wiederverwendet werden können, Beachtung geschenkt.

In der Natur werden organische Abfälle von Mikroben zersetzt, die sie nach und nach in ihre Grundbestandteile zerlegen, die dann noch einmal in den Lebenszyklus treten können. Holz, Papier und die meisten anderen Abfälle werden so durch biologische Mechanismen wieder in den Kreislauf aufgenommen, die aber unwirksam werden oder insgesamt nicht funktionieren können, wenn die Abfälle zu konzentriert oder die Bedingungen zu unnatürlich sind, wie das gewöhnlich in normalen industriellen und städtischen Gegenden der Fall ist.

Es gibt darüber hinaus keine biologischen Mechanismen, die gegen Aluminium, Stahl und eine Unmenge von Kunststoffen ankommen, weil die Natur keine Erfahrung mit ihnen hat, denn in der evolutionären Vergangenheit gab es sie nicht. Viele verschiedene Mikrobenarten können Naturfasern wie Baumwolle oder Wolle abbauen, aber keine künstlichen wie Nylon. Aus Holz oder Pappe gefertigte Behälter sind biologisch abbaubar, nicht aber die aus Aluminium oder bestimmten Kunststoffen hergestellten Artikel. Deshalb müssen neue natürliche Wege gefunden werden, wie mit den Abfällen des modernen Zeitalters zu verfahren ist. Unter natürlichen Bedingungen werden Abfälle außerdem durch die Bewegungen von Luft und Wasser abgeschwächt oder dadurch, daß sie über große Land- oder Wasserflächen verteilt werden, während sie in der modernen Abfallbeseitigung zunächst konzentriert werden. Nichts ist weiter von den natürlichen Abläufen entfernt als die Zusammenpressung festen Abfalls, die anschließende mechanische Zerpflückung und die Zerlegung seiner Bestandteile mit Hilfe hochentwickelter physikalisch-chemischer Prozeduren. Recycling-Verfahren erfordern zunächst die Sammlung und Sortierung des Mülls.

Wertvolle Metalle machen offensichtlich am wenigsten Mühe, da Gegenstände aus Gold, Silber oder Platin nicht sorglos weggeworfen werden.

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Sie werden in der Tat gewöhnlich aus Metallen hergestellt, die erstmalig vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden geschürft und verfeinert wurden und die immer wieder in andere Gegenstände verwandelt oder einem anderen Verwendungszweck zugeführt werden. Die Seltenheit und der ökonomische Wert kostbarer Metalle machen es unumgänglich, daß sie größtenteils immer wieder verwendet werden. Nichteisenhaltige Metalle wie Kupfer, Blei, Zink, Aluminium, Zinn und andere, die korrosionsbeständig sind, können wiedergewonnen und wiederverwendet werden, vorausgesetzt, daß der Zustand ihrer Auflösung ihre Wiedergewinnung nicht so kostspielig macht, daß das Recycling ökonomisch unannehmbar wird. Eisen ist das in größtem Umfang regenerierbare Metall, meist in Form von abgelegten Ausrüstungsgegenständen aus Stahl; große Mengen Schrott stehen in dichtbesiedelten Gebieten mit Schwerindustrie zur Verfügung.

Die Entscheidung für oder gegen Recycling wird somit von einer Vielfalt ökonomischer und sozialer Faktoren bedingt. Während des Krieges wurden in den USA Sammelstationen für Zinndosen errichtet, um die Rückgewinnung von Zinn zu erleichtern, denn dieses Metall mußte importiert werden und war damals Mangelware. Das Recycling von Zinndosen ist heute ökonomisch nicht mehr zu vertreten, aber Aluminiumdosen zu sammeln könnte profitabler sein, weil die Produktion dieses Metalls große Energiekosten verursacht.

Der Wert des wiedergewonnenen Materials und der Nettoenergiegewinn sind somit zwei der wesentlichen Faktoren zur Bestimmung der gesellschaftlichen Bedeutung des Recyclings, aber die Notwendigkeit, Abfälle zu verwenden, ist ein anderer bedeutender Faktor. Das gegenwärtige Verfahren, Abfälle einzugraben, in Gewässern zu versenken oder zu verbrennen, kann nicht länger fortgesetzt werden und wird auch zunehmend teurer, weil Müll und Abwässer immer weiter weg von besiedelten Gebieten geschafft werden müssen. Da die Beseitigungskosten von den Recyclingkosten abgezogen werden müssen, kann man letzteres Verfahren zunehmend ökonomisch rechtfertigen.

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Zwei Bereiche der Technik - zugegebenermaßen ziemlich einfache -, die im Bereich meiner fachlichen Kompetenz liegen, werden verdeutlichen, wie moderne Industriebetriebe im Vergleich zur Vergangenheit weniger umweltverschmutzend und weniger unwirtschaftlich arbeiten können. Kurz nach meinem Ausscheiden aus der Rockefeller-Universität wurde ich von einer großen Brauerei gebeten, als Berater für Umweltprobleme, die bei der Bierherstellung entstehen, zu fungieren. Die Abfallprodukte, die während der Gärung im Brauprozeß entstehen, sind reich an organischen Stoffen und anderen Chemikalien und verunreinigen die Flüsse oder Seen, in die sie geleitet werden, sehr stark. Weil die fragliche Firma eine riesige Brauerei ganz in der Nähe eines Naturschutzgebietes mit artenreicher Gewässerflora und -fauna errichten wollte, war sie darauf erpicht, den Brauereibetrieb so zu organisieren und die Brauerei so zu gestalten, daß die Wasserverschmutzung vermieden werden konnte. Dieses Ziel wurde nicht nur durch eine sorgfältige Bauausführung erreicht, sondern auch dadurch, daß in der Fabrik selbst alle Abfälle in nützliche Produkte wie Düngemittel und Tierfutter umgewandelt werden. Selbst das während der Fermentierung entweichende Kohlendioxyd wird zur weiteren Verwendung aufgefangen. Die Brauerei ist jetzt einige Jahre in Betrieb, und das Naturschutzgebiet blüht und gedeiht wie eh und je.

Ich habe auch Erfahrung mit den Umweltproblemen, die in der Holzindustrie auftreten. Einige Stadien der Holzverarbeitung erfordern die Verwendung großer Mengen von Chemikalien, wie zum Beispiel Schwefel, die immer in die Gewässer geleitet werden und das Tier- und Pflanzenleben in den Flüssen und Seen zerstören. Vielerorts wird dies nicht mehr gestattet, und es gibt Anzeichen dafür, daß die Abwässer der Holzindustrie jetzt wiederaufbereitet oder grundlegend unschädlich gemacht werden können. Außerdem erzeugt die Holzindustrie im großen Umfang Holzspäne, Sägemehl und andere Abfälle, die stets in abgelegenen Gegenden, einschließlich Felsschluchten in der Wildnis, gelagert wurden. Diese Holzabfälle werden jetzt als Energiequellen in den Produktionsabschnitten eingesetzt.

Im Grunde jedoch ist die beste Lösung des Abfallproblems die Verminderung der Produktmenge, zum Beispiel durch vernünftige Änderungen der Lebensweise und insbesondere durch die Verbesserung der Langlebigkeit von Fertigwaren.

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In bezug auf die Energiekosten ist es immer besser, ein langlebiges Produkt herzustellen, als es wiederaufzubereiten. Wenn die Entwicklung von Recycling-Verfahren der schnellen Veralterung Vorschub leisten sollte, wäre die langfristige Folge eine weitere Verminderung der Kunst, Güter von dauerhaftem Wert zu produzieren. Eine Abnahme der pro Kopf produzierten Abfallmenge aber trägt sicherlich zur Qualität der Zivilisation bei.

 

     Die Vorteile der Energieverknappung   

 

Die meisten Auseinandersetzungen über Energiefragen konzentrieren sich auf Verknappung, Kosten, neue Quellen und rationellere Verfahrenstechniken, wobei die allgemeine Annahme die ist, daß es uns um so besser geht, je mehr Energie wir uns leisten können. Wie jede andere Ressource ist Energie jedoch nur ein Mittel, ein gewähltes Ziel zu erreichen oder ein erwünschtes Ergebnis zu erzielen. Wenn dies mit weniger Energie und effektiver erreicht werden kann, um so besser. Der gestiegene Energieverbrauch pro Kopf, der in den meisten Teilen der Welt eingetreten ist, ist für die Mehrheit der Menschen wahrscheinlich von Vorteil und würde sicher das Leben in den unterentwickelten Ländern erleichtern. Aber es gibt Faktoren, die anzeigen, daß die Verbrauchsrate den Punkt sinkender Gewinne und in den meisten wohlhabenden Ländern sogar den Punkt der Negativbilanz erreicht hat.

Bis zum 19. Jahrhundert waren menschliche und tierische Muskelkraft, Wassermühlen, Windmühlen und Holz die einzigen bedeutenden Energiequellen. Die industrielle Revolution begann mit solchen Energiequellen, die erneuerbar, aber in der Menge begrenzt waren. Holz, das die ersten Dampfmaschinen und Lokomotiven antrieb, wurde bereits Anfang des 19. Jahrhunderts in England knapp. Trotz des Erfindungsreichtums von Technikern und Wissenschaftlern wäre die industrielle Revolution nicht weit gekommen, wenn die Kohle nicht ohne weiteres als Ersatz für Holz zur Verfügung gestanden hätte.

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Von den Kohlevorräten nahm man zunächst an, daß sie praktisch unbegrenzt seien, und der Glaube, es könne mit dem industriellen Wachstum unendlich so weitergehen, wurde noch bestärkt, als im Laufe des 20. Jahrhunderts Erdöl und Erdgas fast überall und im großen Umfang eingesetzt wurden.

Der Überfluß an fossilen Brennstoffen hat nicht nur die umfangreiche praktische Anwendbarkeit mechanischer und chemischer Entwicklungen in der Industrie möglich gemacht, er hat auch die Anzahl der für diese Prozesse geeigneten Materialien vergrößert. Wenn zum Beispiel einige Metalle knapp werden, können sie mit Hilfe von Energie aus minderwertigen Erzen gewonnen werden, oder es können durch chemische Synthese Ersatzstoffe hergestellt werden. Wenn Schadstoffe im Produktionsprozeß entstehen, kann Energie benutzt werden, um sie aufzufangen und unschädlich zu machen, oder es werden Schutzmaßnahmen gegen ihre Auswirkungen entwickelt. Der Fortschritt in den landwirtschaftlichen Produktionsverfahren und der Lebensmittelproduktion erfordert ebenfalls einen hohen Energieaufwand. Eigentlich kann unser Wohlstand zum großen Teil auf den Einsatz von Erdöl und Erdgas zurückgeführt werden, die seit mehr als einem Jahrhundert Energie zu niedrigsten Kosten und auf bequeme Weise geliefert haben. Erst jetzt beginnen wir zu begreifen, wie grundlegend der massive Einsatz unersetzlicher fossiler Brennstoffe, der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zunahm, die Länder der westlichen Zivilisationen getroffen hat.

Die Vorteile hohen Energieverbrauchs sind offensichtlich: ein beispiellos hohes Niveau des leiblichen Wohls, eine längere durchschnittliche Lebenserwartung, eine nie dagewesene Mobilität, gerechtere Chancen bei der Ausbildung, Freizeit und Kultur. Diese Privilegien werden inzwischen als angeborene Rechte betrachtet, ohne den Preis richtig einschätzen zu können, den wir für unsere superschnelle, erfolgsorientierte »Hyper«-Zivilisation zahlen. Die Beherrschung eines 150 PS starken Autos entspricht hinsichtlich der Energie der Macht eines ägyptischen Pharaos, der 150 Pferde oder 1500 Sklaven sein eigen nannte.

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Die Menschen in Gesellschaften mit hohem Energieverbrauch scheinen beinahe um jeden Preis bereit zu sein, die Aufrechterhaltung der Macht über dieses Äquivalent von Pferden und Sklaven zahlen zu wollen; es ist aber angesichts der steigenden Brennstoffpreise nur zu wahrscheinlich, daß sie in Zukunft mit einer etwas kleineren Equipage auskommen müssen.

In der Öffentlichkeit setzte die Sorge um die Energieversorgung in den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts ein, als erkannt wurde, daß sowohl die Produktion als auch der Einsatz von Energie Verschmutzung erzeugen und das ökologische Gleichgewicht umstoßen. Dann lenkte 1973 das arabische Ölembargo, gefolgt von einschneidenden und wiederholten Preissteigerungen, die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß die Versorgung mit fossilen Brennstoffen nicht nur begrenzt, sondern auch regional sehr gebunden ist. Eine tiefe Niedergeschlagenheit begann daraufhin die Welt zu erfassen, denn viele Menschen waren davon überzeugt, daß die Dämmerung des Energiezeitalters und mit ihr der Abstieg der industriellen Zivilisation unvermeidlich nahen würden.

Eine der Hauptschwierigkeiten unserer Zeit ist auf unsere mangelnde Einsicht zurückzuführen, daß die sogenannte „industrielle Revolution« in Wirklichkeit keine ausgeprägt wissenschaftliche Revolution war, sondern eher eine Serie großer technologischer Errungenschaften darstellt, die durch den verschwenderischen Einsatz billiger fossiler Brennstoffe möglich wurde. Hätte man dies früher begriffen, wäre es Natur- und Sozialwissenschaftlern leichter gefallen, die in unserer Gesellschaft wirkenden Kräfte besser zu definieren, um sie auf die Endphase des Erdölzeitalters vorzubereiten.

Ich verbrachte meine Jugend in französischen Dörfern und Kleinstädten, in denen die Elektrizität mein Heim nicht erreichte. Deshalb begrüße ich die Annehmlichkeiten und abwechslungsreichen Erfahrungen, mit denen die elektrischen Geräte zum modernen Leben beitragen. Aus demselben Grunde jedoch weiß ich sehr wohl, daß Lebensweisen, die einen geringen Energiebedarf erfordern, nicht unbedingt elend und primitiv sein müssen. Ich neige sogar zu der Ansicht, daß die sich jetzt in vielen industrialisierten Ländern durchsetzende Verringerung des Energieverbrauchs bessere Lebensbedingungen nach sich ziehen kann.

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Ein großer Prozentsatz der heute verwendeten Energie wird einfach verschwendet, und ihr exzessiver Einsatz hat eine Menge unerwünschter Auswirkungen auf die Strukturen und Institutionen unserer Gesellschaft und auf das ökologische System.

Mit nur sechs Prozent der Weltbevölkerung verbrauchen die Vereinigten Staaten ungefähr vierzig Prozent der Weltressourcen. Diese abstrakten Zahlen werden konkreter, wenn man bedenkt, daß jeder Bürger der Vereinigten Staaten im Durchschnitt 10000 Kilogramm Stahl, 160 Kilogramm Kupfer, 150 Kilogramm Blei, 125 Kilogramm Aluminium, 125 Kilogramm Zink und 20 Kilogramm Zinn während seines Lebens »konsumiert«. Das Verhältnis zwischen Energieverbrauch und Lebensqualität ist natürlich so komplex, daß Vergleiche zwischen Ländern oder verschiedenen historischen Epochen schwer zu ziehen sind. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel wird ein bedeutender Prozentsatz der Energie nicht für die alltägliche Bedürfnisbefriedigung verwendet, sondern zur Herstellung von Nahrungsmitteln und Fertigwaren für den Export. Darüber hinaus führen die Weite des Landes und die größeren Entfernungen zwischen den Städten zu einem viel höheren Energieverbrauch beim Transport, als dies in den dichter besiedelten europäischen Ländern der Fall ist. Schließlich waren die Vereinigten Staaten bis jetzt mit reichlich im Lande vorhandenen und billigen Energievorräten begünstigt: Holz, Kohle, Erdöl und Erdgas. Ein Umstand, der die Amerikaner weniger energiebewußt gemacht hat als andere Völker, die mit geringeren Brennstoffmengen auskommen müssen. Schon vor einem Jahrhundert war der Energieverbrauch pro Kopf in Nordamerika viel höher als in Europa.

 

Auch wenn es zwischen den industrialisierten Ländern merkliche Unterschiede im Energieverbrauch gibt, hatte der massive Einsatz von Erdöl und Erdgas in allen Teilen der Welt, die westlich orientiert sind, ähnliche Auswirkungen.

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Diese Folgen beschleunigten und verschlimmerten sich im und nach dem Zweiten Weltkrieg, in einer Zeit, in der der Verbrauch von Öl und Gas im Zusammenhang mit der Zunahme des Auto- und Lastwagenverkehrs in die Höhe schoß. Er hing ebenfalls zusammen mit der Abwanderung der Mittelschicht in die Vororte und mit der Mechanisierung der Landwirtschaft, die eine ungeheure Menge von Pächtern auf der Suche nach Arbeit in die Städte trieb.

Die Meinungen über die Gefahren und die Vorzüge der sozialen Veränderungen, die durch den massiven Energieverbrauch entstanden, gehen weit auseinander. Über die Auswirkungen auf das natürliche und landwirtschaftliche Ökosystem gibt es jedoch etwas mehr Einigkeit.

Während man von den fossilen Brennstoffen schon früh wußte, daß bei ihrer Verbrennung eine Reihe umweltschädigender Stoffe entstehen, werden die Vielschichtigkeit und das Ausmaß ihrer Auswirkungen erst jetzt erkannt. Zum Beispiel werden die Säuren, die bei der Oxydierung von Schwefel und Stickstoff in Verbrennungsmotoren und Kraftwerken produziert werden, von der Luftströmung über weite Gebiete verteilt und erreichen die Erdoberfläche und die Gewässer als saurer Regen. Diese verursachen das Auslaugen bestimmter Bodenbestandteile, schädigen die Vegetation und verändern die Lebensgrundlage des Wassers.

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Dieses Phänomen trat zuerst in Skandinavien auf und wurde größtenteils dem sauren Regen zugeschrieben, der von den Industriebetrieben Englands und Deutschlands stammt. Ähnliche Erscheinungen wurden jetzt in den Seen und Wäldern Kanadas, denen im östlichen Teil der USA und an der Atlantikküste beobachtet. Wenn die Konzentration der Säure im Regen über Neuengland weitere zehn Jahre anhält, wird die Produktivität der Land- und Forstwirtschaft nach jüngsten Berechnungen um rund zehn Prozent abnehmen - ein Verlust der Photosynthese, der allein in dieser Region einem Energieertrag von 15 1000-Megawatt-Kraftwerken entspricht. Zusätzlich zum sauren Regen bedrohen Unmengen von Schadstoffen, die in Anschwemmungen vorhanden sind, viele Bereiche des Meereslebens. Die Verringerung der Photosynthese im Meeressystem hätte weltweite und katastrophale Folgen für die Ökologie.

Man könnte Verfahren entwickeln, die die chemische Luftverschmutzung auf ein erträgliches Maß reduzieren. Aber es gibt keinen Weg, die Störungen, die aufgrund der Abwärme entstehen, zu vermeiden, weil sie eine unausweichliche Konsequenz sowohl der Produktion als auch des Verbrauchs von Energie sind. Sogar die sogenannten alternativen Energiequellen - Sonnenstrahlen, Wind, Wasserfälle, Gezeiten oder Wellen - sind nicht so sicher, wie gemeinhin angenommen wird. Obwohl diese Quellen zwar nicht zur gesamten Wärmebelastung des Planeten beitragen, könnten sie dennoch ökologische Störungen durch eine veränderte Wärmeverteilung verursachen. Alle auf großer Basis genutzten Energieformen werden die natürlichen Abläufe der Energiebewegung im Gesamtsystem stören. Wie auch immer zum Beispiel die Kraftwerktypen auf beiden Seiten des Nordatlantiks aussehen mögen, so können sie doch bald so zahlreich werden, daß sie so viel Abwärme an den Golfstrom abgeben, daß die Außenränder der eisbedeckten subpolaren Gebiete beeinträchtigt werden und ein Prozeß in Gang gesetzt wird, der das Schmelzen der polaren Eisdecke verursachen könnte.

Es wird, obwohl weder überzeugend bewiesen noch umfassend verstanden, weithin angenommen, daß der Verbrauch fossiler Brennstoffe das Klima verändern kann, da die atmosphärische Konzentration von Kohlendioxyd und kleinsten Materieteilchen ansteigt.

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Kohlendioxyd und Materieteilchen haben wahrscheinlich gegensätzliche Auswirkungen auf die Wärmeentwicklung auf der Erde, aber man weiß nicht genug über ihr relatives Ausmaß, um die klimatischen Veränderungen, die sich vielleicht aus dem gegenwärtigen Energieverbrauch ergeben, voraussagen zu können. Experten stimmen im allgemeinen jedoch darin überein, daß bei unserem jetzigen Konsumniveau fossiler Brennstoffe globale klimatische Störungen um das Jahr 2000 erwartet werden können und regionale Störungen wahrscheinlich schon viel eher von Bedeutung sein werden. Eine weitere Verdoppelung des Energieverbrauchs in den Vereinigten Staaten würde wahrscheinlich zu regionalen Katastrophen führen und eine weltweite Verdoppelung sicherlich das globale Ökosystem umstoßen.

Klinische Erfahrungen, epidemiologische Gutachten und Tierexperimente besagen übereinstimmend, daß eine genügsame Ernährungsweise und ein aktives körperliches Training während der gesamten Lebensspanne von Nutzen für die Lebenserwartung und Gesundheit sind. Der Alltag der Menschen in vielen armen Ländern wird von ausgedehnter körperlicher Arbeit bestimmt. Sie überstehen diese Arbeit mit weit weniger Nahrung, als wir gewöhnlich zu uns nehmen. Darüber hinaus besteht ihre Ernährung hauptsächlich aus Kohlehydraten und Gemüsen und nicht aus Zucker und Fleisch. In vielen Gegenden mit einem hohen Prozentsatz alter Menschen, von denen viele körperlich und sexuell aktiv bleiben, ist die Nahrungsmenge relativ begrenzt, und ständige körperliche Arbeit ist bei Männern und Frauen die Regel. Zahlreiche Menschen in den wohlhabenden Industrieländern könnten daher auch ihren Energieverbrauch senken und ihre Gesundheit verbessern, wenn sie ihren Fleisch- und Zuckerkonsum einschränken und sich weniger abhängig von Maschinen machen, die sie zur Arbeit, zur Beförderung, für Freizeitaktivitäten und andere Beschäftigungen des Alltags nutzen.

Die seelisch-geistige Gesundheit kann wahrscheinlich auch durch übermäßigen und unvernünftigen Energieverbrauch unterwandert werden, weil er unseren Kontakt zur Außenwelt verarmen läßt.

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Jede Erfahrung ist wahrscheinlich abgeschwächt und verzerrt, wenn sie passiver Natur ist, wie zum Beispiel die Betrachtung der Natur durch ein Autofenster oder die Illusion, an menschlichen Begegnungen teilzunehmen, wenn man auf den Bildschirm starrt. Energien aus externen Ressourcen können natürlich unsere Kontakte zur Welt erweitern und abwechslungsreich gestalten, aber nur allzuoft sind wir geneigt, sie überwiegend einzusetzen, um unsere Anstrengungen zu vermindern. Wir machen uns damit um die Erfahrung der Realität ärmer. Unsere Fähigkeiten zu intellektuellen Leistungen oder emotionalen Erfahrungen werden durch die Betrachtung des Fernsehprogramms genausowenig entwickelt wie unsere Muskeln bei der Beobachtung einer Sportveranstaltung.

Früher mußte man bei der Gestaltung menschlicher Ansiedlungen das Klima, die Topographie und andere physische Eigenheiten der Region berücksichtigen. Diese natürlichen Einschränkungen führten zu einer großen Vielfalt in der Architektur und Planung, was sehr zu Charme, Reiz und Behaglichkeit der regionalen Lebensbedingungen beitrug. Die praktische und ästhetische Qualität der »Architektur ohne Architekten« war ein Produkt der Notwendigkeit, mit der natürlichen Umgebung fertig zu werden.

Im Gegensatz dazu können Planer heute die Intensität der Sonne, die kalten Wintertemperaturen und die Auswirkungen von Regen oder Schnee auf die Gebäude nahezu ignorieren. Das gilt auch für die einstige Notwendigkeit, die Dachneigung klimatischen Bedingungen anzupassen. Der Häuser-abstand und auch die Entfernung von der Wohnung zur Arbeitsstelle spielen bei der modernen Planung keine große Rolle. Statt sich mit den regional bindenden Zwängen zu befassen, setzen Architekten und Planer heute ihr Vertrauen in immer mehr Energie zur Heizung und Klimatisierung der Gebäude. Sie vertrauen ebenfalls darauf, Menschen gegen Umweltreize abschirmen, von einem Ort an den anderen bewegen und überall dort Dienstleistungsbetriebe errichten zu können, wo sie gerade benötigt werden.

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Wenn lokal gegebenen Zwängen aus dem Wege gegangen wird, erzeugt dies höhere Gebäudekosten und einen höheren Energieverbrauch. Vielleicht am wichtigsten ist jedoch dabei, daß die ästhetische Vielfalt der Architektur und die Qualität menschlicher Beziehungen gemindert werden. Landschaften werden von schäbigen Häusern verschandelt, Gebäude werden eintönig, ihre Bewohner verlieren den Kontakt zu anderen Menschen und zur Umgebung, Gemeinschaften lösen sich auf.

Ein freistehendes Haus, das von möglichst viel unbebautem Raum umgeben ist, war schon immer ein Ideal des amerikanischen Lebens. Dieses Ideal befand sich im Einklang mit den sozialen und ökonomischen Bedingungen der Vergangenheit, als es viel unbebautes, billiges Land gab und als der Familienhaushalt im wesentlichen selbstversorgend war -mit eigenem Wald, Wasser aus dem Brunnen oder Bach, Nahrungsmitteln aus dem Garten, von Haustieren und der Natur sowie mit geringen Problemen der Abfallbeseitigung. Aber die Bedingungen haben sich geändert. Das freistehende Haus ist zunehmend auf öffentliche Dienstleistungen angewiesen - auf Elektrizität, Telefon, Be- und Entwässerung. Es ist ebenfalls abhängig von der Brennstoffversorgung, Beförderungsmitteln, Straßenwartung, Schneebeseitigung - praktisch allen Annehmlichkeiten des modernen Lebens.

In der modernen Welt beinhaltet der Lebensstil in einem alleinstehenden Haus so hohe gesellschaftliche Kosten, insbesondere Aufwands- und Energiekosten, daß es zu einer wirtschaftlichen Belastung werden kann, die für den Durchschnittsmenschen zu hoch und vielleicht auch in gesellschaftlicher Hinsicht untragbar ist. Der Anstieg der Energiekosten könnte als Katalysator wirken für die Entwicklung von Häusern, die der natürlichen Umgebung angepaßt sind, und für eine Umstrukturierung menschlicher Ansiedlungen, die vielleicht auf dichter gruppierten Wohneinheiten basiert. Das würde zur Wirtschaftlichkeit des Brennstoffverbrauchs und der Straßenwartung beitragen sowie die Kosten für den Anschluß an das Ver- und Entsorgungssystem, an die Schulen und Geschäfte senken. Es würde ferner die Gruppenaktivitäten erleichtern und damit das Gemeindeleben fördern.

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Eine dichte Konzentration von Wohneinheiten in vorstädtischen und ländlichen Gegenden würde wieder Land für die Land- und Forstwirtschaft und sogar für die Wiederentstehung wildnisartiger Gebiete freigeben. Viele Architekten und Soziologen versuchen jetzt, menschliche Ansiedlungen zu entwickeln, die sowohl die technologischen Vorteile zusammenstehender Häuser bieten als auch das Gefühl von Privatsphäre und Weiträumigkeit, die mit einem freistehenden Wohnhaus verbunden werden.

Die moderne Landwirtschaft hängt zunehmend von den mannigfaltigen Formen industrieller Energie zur Herstellung und Verwendung von Landwirtschaftsmaschinen, chemischen Düngemitteln, Insektiziden und Herbiziden, Be- und Entwässerungssystemen ab. Wissenschaftlich betriebene Landwirtschaft kann daher als eine komplexe Technologie angesehen werden, die sozusagen fossile Brennstoffe in Feldfrüchte umwandelt, die danach wieder zu Nahrungsmitteln verarbeitet werden. Ihre Erfolge drücken sich im phänomenalen Anstieg der Agrarproduktion aus sowie in der Umwandlung billiger Wärmeeinheiten in andere Kalorien wie Nahrungsmittel und Fasern, die für den Menschen viel wertvoller sind. Aber die Landwirtschaftstechnologie verursacht indirekte Kosten.

Je mehr die Landwirtschaft auf industrieller Energie aufbaut, desto kleiner sind ihre wahren Gewinne, gemessen an der Anzahl industrieller Wärmeeinheiten, die zur Produktion einer Mengeneinheit nötig sind. Zum Beispiel wurde die zwischen 1951 und 1966 in den Vereinigten Staaten um 34 Prozent gesteigerte Nahrungsmittelproduktion von einem um 146 Prozent gestiegenen Nitratverbrauch und einem um 300 Prozent gestiegenen Pestizidenverbrauch begleitet. Die Energieausgaben pro Mengeneinheit können noch steigen, wenn das bewirtschaftete Land weniger fruchtbar ist. Es gibt auch nicht viel Hoffnung, daß sich diese Situation verbessern könnte, denn, wie aus einem kürzlich erschienenen Bericht hervorgeht, haben gerade der Einsatz fossiler Brennstoffe anstelle menschlicher Arbeitskraft und die Verwendung chemischer Düngemittel und Pestizide die gegenwärtigen Formen der Landwirtschaft so effektiv gemacht. Die Produktionskosten landwirtschaftlicher Erzeugnisse werden deshalb mit den Energiekosten steigen.

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Andererseits ist es wahrscheinlich, daß Energieengpässe und hohe Energiekosten wohltuende Veränderungen der landwirtschaftlichen Methoden bewirken werden. Der massive Einsatz schwerer Maschinen, chemischer Düngemittel und synthetischer Pestizide führt zu großen ökologischen Schäden; die Erde wird zusammengepreßt, und die Humusschicht leidet darunter, Gewässer werden durch Erosion und chemische Abwässer verunreinigt, die Bindung von Stickstoff durch Bakterien wird durch stickstoffhaltige Düngemittel reduziert.

Eine auf den modernen ökologischen Erkenntnissen beruhende vorrangige Behandlung umweltlicher und biologischer Fragen könnte zur Verringerung des Energieverbrauchs in der Landwirtschaft führen und auf eine wissenschaftliche Weise das Äquivalent zu den auf Erfahrungswerten beruhenden Methoden herstellen, mit denen der Bauer früher die Bodenfruchtbarkeit von Generation zu Generation bewahrt hat. Das könnte auch zusätzlich den Vorteil bringen, daß die Schönheit der Landschaften im Wege einer besseren Anpassung der Landwirtschaft an die geologischen, topographischen und anderen natürlichen Merkmale jeder einzelnen Region verbessert wird.

Die erwähnten Beispiele dieses Abschnitts haben, so verschieden sie auch sind, einen gemeinsamen Nenner. Bei allen wird die Energie zur Verminderung oder Ausschaltung der Kraftanstrengungen eingesetzt, die vom Organismus oder dem System zur Erhaltung seiner Funktionsfähigkeit gefordert werden. Ein großer Prozentsatz des Energieverbrauchs dient keinen wirklich schöpferischen Handlungen, sondern vermindert nur die Anstrengungen, die bei der Anpassung an die Herausforderungen der natürlichen Umwelt vorgenommen werden müssen. Diese Verwöhnungsphilosophie macht das Leben leichter, führt jedoch in den meisten Fällen zu einer Verarmung der Lebenserfahrungen. Wir führen menschlichen und natürlichen Systemen Energien als Ersatz für angepaßte Reaktionen zu, die diese Systeme andererseits bewirken würden. Diese Haltung verursacht eine tendenzielle Verkümmerung der Reaktionsmechanismen, die alle lebenden Systeme besitzen, und vermindert daher die gestaltenden Effekte, die sich aus der Anpassung an Umwelt­heraus­forderungen ergeben.

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Gene bestimmen die Charakterzüge nicht; sie lenken nur die Reaktionen der Organismen auf Umweltreize. Alle Organismen besitzen Anlagen, die sich erst dann zu zweckgerichteten Eigenschaften entwickeln, wenn das Bedürfnis nach ihnen entsteht. Dieser Umstand wurde hinsichtlich der physischen und geistigen Eigenschaften der Menschen klar erkannt, aber er trifft selbst auf das Mikrobenleben zu.

Dieses allgemeine Prinzip trifft auch auf soziale und ökologische Systeme zu. Architekten und Planer neigen zu weniger Erfindungsreichtum, wenn der Energieüberfluß sie in die Lage versetzt, sowohl die Zwänge als auch die Entwicklungsmöglichkeiten der regionalen Umwelt ignorieren zu können. Natürliche Anpassungsmechanismen, die zur ökologischen Vielfalt, zur regionalen Eigenständigkeit und zur Bodenfruchtbarkeit beitragen, werden durch übertriebenen Energiekonsum behindert. Demnach kann man nicht alle Faktoren abschätzen, die bei der Einführung eines hohen Energieniveaus in einem System auftreten könnten, ehe man nicht auch das Ausmaß der störenden Folgen für die adaptiven und schöpferischen Reaktionen in Rechnung stellt, die das System ansonsten unter natürlicheren und wahrscheinlich härteren Bedingungen vornehmen würde.

Die Energiekrise wird ein Segen sein, wenn sie uns dazu zwingt, gesündere und bereicherndere Lebensformen zu finden, indem wir den adaptiven und kreativen Entwicklungsmöglichkeiten des natürlichen Systems und des menschlichen Organismus mehr Nachdruck verleihen. Trends in diese Richtung können in den gegenwärtigen Diskussionen um die Vor- und Nachteile der Zentralisierung oder Dezentralisierung des Energieproduktionssystems gesehen werden.

Kohleförderungsanlagen, Ölraffinerien, riesige hydroelektrische Anlagen, Kernkraftwerke und Hochspannungs-Überlandleitungen werden von vielen Menschen als Beweise des Fortschritts angesehen; für andere hingegen verkörpern sie die Bedrohungen der persönlichen Freiheit und des Zivilisationsgeistes. Im Gegensatz dazu gefallen alle Arten der alternativen Energie den Menschen, die eine mit Hochleistungstechnologien verbundene Gefängnisatmosphäre fürchten.

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Es gibt tatsächlich grundlegende Unterschiede zwischen den sozialen Auswirkungen, die sich aus dem Einsatz von Energie ergeben, die aus fossilen Brennstoffen oder Kernspaltung gewonnen wird, und andererseits den verschiedenen Formen der alternativen Energie. Erstere wird wahrscheinlich Zentralisierung, letztere Dezentralisierung zur Folge haben. Fossile Brennstoffe stellen hochkonzentrierte Energieformen dar, die jederzeit an irgendeinen Punkt der Erde transportiert werden können. Kernreaktoren erzeugen riesige Mengen von Elektrizität, wo auch immer sie aufgestellt werden. Diese beiden Methoden der Energieproduktion eignen sich deshalb für technologische, ökonomische und soziale Systeme mit einem hohen Grad gesellschaftlicher Zentralisierung.

Im Gegensatz dazu gibt es wenig Regionen mit ständig wolkenlosem Himmel, mit gleichmäßig starkem Wind, mit großen gefällereichen Wassermengen oder mit ausreichender Biomasse, die für großangelegte Unternehmen ausreichen würden. Da die alternativen Energien gewöhnlich nur in geringen Mengen am jeweiligen Ort vorhanden sind, müssen die ersten Schritte zu ihrer Nutzung in ziemlich kleinen industriellen Einheiten vorgenommen werden, eine Notwendigkeit, die die gesellschaftliche Dezentralisierung begünstigt. Alternative Energiequellen, inklusive Biomasse, eignen sich daher am besten für solche Sozialstrukturen, die sich von denen unterscheiden, die auf den großen Energiequellen der fossilen Brennstoffe oder Kernreaktoren beruhen.

Heutzutage zieht es die Mehrheit der Menschen in den Industriestaaten sicherlich vor, im Überfluß Strom aus der Steckdose zu beziehen, ohne an seine Herkunft, die Umweltgefahren und die indirekten gesellschaftlichen Kosten zu denken. Aber ein offensichtlich zunehmender und bemerkenswerter Prozentsatz der Allgemeinheit neigt dazu, angepaßte Technologien im kleineren Rahmen zu bevorzugen, die mehr im Einklang mit gesellschaftlicher Dezentralisierung und kulturellem Pluralismus stehen. Die Entscheidung für bestimmte Energiequellen wird deswegen eine Wahl sein, die nicht nur auf wissenschaftlichen Überlegungen und Kosten-Nutzen-Analysen fußt, sondern auch auf der Abwägung von Werten, die die ideale Gesellschaftsform betreffen.

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Das Endergebnis wird wahrscheinlich eine Mischung von zentralisierten und dezentralisierten Energiequellen sein, den vielfältigen Erscheinungsformen des menschlichen Lebens angepaßt und dazu bestimmt, den vorherrschenden Bedingungen im jeweiligen Teil der Welt zu entsprechen. Es ist nahezu sicher, daß wir schließlich mit zwei sich ergänzenden Energiearten leben werden: Die eine ist für großangelegte Unternehmensformen geeignet, die andere steht im Einklang mit den Bestrebungen und Neigungen kleiner Menschengruppen und den Besonderheiten der Region.

Je mehr Energie wir uns leisten können, desto besser geht es uns - an diesen Glauben haben wir uns so sehr gewöhnt, daß jeder Gedanke an Konsumverzicht eine Stimmung von Niedergeschlagenheit oder sogar Panik hervorruft. Doch sollte das Energiesparen nicht als letzter Ausweg einer Politik angesehen werden, die nur im Hinblick auf die unerfreulichen Auswirkungen schmerzlicher Engpässe in der Zukunft hingenommen wird, sondern besser als Möglichkeit, die Umweltqualität zu fördern und das menschliche Leben zu bereichern.

Ein geringerer Energie- und Ressourcenverbrauch wird unweigerlich die Industrie- und Beschäftigungsstruktur umstoßen, aber er wird auch neue Berufssparten schaffen, weil neue Gewohnheiten entstehen und die Produktion von Ersatzgütern angeregt wird. Wichtiger noch ist, daß die Notwendigkeit eines Wandels die Phantasie anregen wird, die Gesellschaft neu zu überdenken, um sie menschlicher zu machen. Die Lebensqualität wird weniger von den Mineralien und Energiequellen, die der Gesellschaft zur Verfügung stehen, bestimmt, sondern von den Ressourcen und Energien des menschlichen Geistes.

 

     Schöpferische Anpassungen und Symbiosen   

 

Auf vielen Seiten der vorangegangenen Kapitel habe ich mich auf die Anpassungsmechanismen bezogen, mit deren Hilfe die Menschen in der Lage waren, unter einem großen Spektrum von Bedingungen leben und eine ungeheure Vielfalt von Kulturen und Lebensweisen schaffen zu können.

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Das Wort Anpassung jedoch hat einige unterschiedliche Bedeutungen, weil Lebenseignung auf vielen verschiedenen Wegen erreicht werden kann.

Einerseits kann Anpassung über die Darwinsche Evolution entstehen und daher aus bestimmten Veränderungen in den DNS-Molekülen resultieren - ein Prozeß, der gewöhnlich viele Generationen erfordert. Andererseits kann Anpassung viel schneller durch physiologische Reaktionen als auch durch soziokulturelle Einflüsse, die keine Veränderung des Erbgefüges bewirken, erreicht werden. Wir Menschen sind voraussichtlich am ehesten zufrieden und erfolgreich, wenn wir bewußte individuelle Anstrengungen unternehmen, physiologische und soziale Lebenseignung an den Orten zu erreichen, wo wir leben, arbeiten und spielen. Das schließt das Klima, die Nahrung, die wir essen, die Kleidung, die wir tragen, und besonders die Menschen, mit denen wir es zu tun haben, ein. Im heutigen menschlichen Leben sind die physiologischen und soziokulturellen Anpassungsmechanismen von viel größerer praktischer Bedeutung als die genetischen Mechanismen.

Aber Anpassung bedeutet noch mehr, als Lebenseignung zu erreichen. In den meisten Fällen schließt das erfolgreiche Zusammenspiel zwischen Menschen und der physischen und sozialen Umgebung, in der sie sich entwickeln und funktionieren, das Entstehen von Einstellungen, Qualitäten und Strukturen ein, die auf einen wirklich schöpferischen Prozeß hinauslaufen. Zum Beispiel passen wir uns gefährlichen Umgebungen oder schwierigen Aufgaben an, indem wir eine größere Widerstandskraft und neue Fertigkeiten entwickeln. Diese schöpferischen Auswirkungen adaptiver Prozesse wurden weitgehend vernachlässigt. Da sie für die Geschichte des Lebens von äußerster Wichtigkeit sind, schalte ich an dieser Stelle einen Exkurs ein, um einige Beispiele schöpferischer Anpassungen vorzustellen, die in vielen natürlichen Formen geschehen und sogar in Systemen, die die meisten Menschen im wesentlichen für leblos halten.

Man stelle sich zum Beispiel eine Handvoll Gartenerde vor.

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Die allgemeine Annahme ist, daß der Boden ausschließlich aus nichttierischen, unorganischen Bestandteilen der Erde besteht, außer natürlich den Würmern und Insekten, die in ihm leben. In Wirklichkeit jedoch enthält jedes Körnchen Erde Milliarden über Milliarden verschiedener Mikrobenarten. Ich weiß dies, weil ich zu Anfang meiner wissenschaftlichen Laufbahn, in den zwanziger und dreißiger Jahren, Bodenmikrobiologe war. Tatsächlich ließen mich meine Erfahrungen als Bodenmikrobiologe erstmalig Probleme der Lebenseignung und Anpassung aus ökologischer Sicht erkennen. Ich lernte zum Beispiel, daß die Mikrobenarten, die in guter reicher Gartenerde leben, in einem sandigen, sauren Boden oder in einem Boden unter Wasser sich kümmerlich entwickeln oder sogar sterben würden. Die adaptiven Beziehungen zwischen irgendeiner Bodenart und ihrem mikrobiologischen Leben sind äußerst komplex und von großer theoretischer und praktischer Wichtigkeit, weil sie die ganze Schöpfung der Erdoberfläche ausmachen.

Wir hätten keinen richtigen Ackerboden auf der Erdoberfläche, wenn es das Mikrobenleben nicht gäbe; es gäbe nur die nichttierischen chemischen Bestandteile des Planeten wie jetzt im Fall der Oberflächen von Mars und Mond. Ohne Leben sähe die Oberfläche der Erde ebenso rauh und abstoßend aus wie die anderer Himmelskörper. Der Humus, der die chemischen Bestandteile der Erdoberfläche in fruchtbaren Boden umwandelt und das Grundgestein bedeckt, wird vom mikrobiellen Leben geschaffen.

Wie alles anfing, ist ein Rätsel, aber wir wissen, daß der Humus ständig von Bodenmikroben produziert wird, wenn sie tote Lebewesen und Pflanzenprodukte, Tiere und andere Lebensformen zersetzen. Die Eigenschaften und die Mengen des Humus an einem bestimmten Ort hängen darüber hinaus von der chemischen Zusammensetzung der Erdbestandteile an diesem Ort und von anderen örtlichen Umweltfaktoren ab, die die Art der Mikroben, die an dieser Stelle gedeihen, bestimmen. Mit anderen Worten, jede Bodenart resultiert aus der Schöpfung eines Systems, in dem die Lebenseignung gemeinsam von der gesamten Umgebung und ihrem Mikrobenbestand erzielt wird - eine Lebenseignung, die wiederum be-

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stimmt, was für Tier- und Pflanzenarten am erfolgreichsten in einem bestimmten Klima überleben. Die genetische DNS bestimmt die Möglichkeiten und die Grenzen jeder Art, die in oder auf der Erdoberfläche lebt, aber alle Lebensäußerungen sind die Äußerungen von Beziehungen, die bedingt sind, nicht von den DNS-Molekülen, sondern von dem schöpferischen Wechselspiel zwischen den Mikroben und ihrem Bodenmilieu.

Ich werde diese Beziehungen mit einem Beispiel verdeutlichen, das ich ebenfalls meiner Arbeit als Medizinwissenschaftler entnehme - ein Beispiel, das eigentlich mein Interesse an der biologischen Anpassung, besonders im menschlichen Leben, geprägt hat. Ende der zwanziger Jahre forschte ich über die Lobärpneumonie im Krankenhaus des Rockefeiler Institute for Medicai Research. Wir wußten, daß die Pneumokokken, die die Lobärpneumonie verursachen, diese Fähigkeit der Tatsache verdanken, daß sie mit einer schleimigen Schicht bedeckt sind, einer Kapsel, die sie vor natürlichen Abwehrreaktionen des menschlichen Körpers schützt, und daß diese Schleimschicht aus einem kompliziert aufgebauten Zucker besteht, den wir Kapsel-Polysaccharide nannten.

Es gab damals keinen bekannten Weg, die Kapsel-Polysaccharide zu zerstören, höchstens durch Behandlung mit einer starken Säure, die natürlich nicht im Körper verwendet werden kann. Weil ich mit den Kräften der Bodenmikroben und ihrer Fähigkeit, selbst komplexe Substanzen zu zerlegen, vertraut war, nahm ich an, daß es wahrscheinlich irgendwo in der Natur eine Mikrobenart gibt, die sich von Polysacchariden ernähren kann, indem sie sie mit einem bestimmten Enzym zersetzt. Enzyme sind vom Körper produzierte Proteine, die die Körper aller Lebewesen, einschließlich der Mikroben, dazu befähigen, Nahrung zu verwerten. 1929 gelang es mir tatsächlich, dem Boden eine bestimmte Mikrobenart zu entnehmen, die sich von den Kapsel-Polysacchariden ernähren konnte. Aus einer mit dieser Mikrobe angelegten Kultur trennte ich das Enzym, das diese Substanz zu zersetzen vermochte. Mit Pneumokokken infizierte Tiere konnten dann mit Hilfe einer Injektion des Enzyms, das die Kapsel-Polysaccharide der Pneumokokken angreift, völlig geheilt werden.

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Das Anti-Polysaccharide-Enzym, das ich 1929 gewann, war das erste Antibiotikum, das auf der Grundlage einer rationalen wissenschaftlichen Methode im Labor hergestellt wurde. Obwohl es gegen Pneumokokken-Infektionen bei Tieren hochwirksam war, wurde es an Menschen aufgrund verschiedener praktischer Erwägungen jedoch niemals getestet - einmal wegen der Schwierigkeit, es in reiner Form und in großen Mengen herzustellen, zum zweiten aufgrund der in den frühen dreißiger Jahren erfolgten Entdeckung, daß Sulfonamide gegen eine große Vielfalt bakterieller Erkrankungen, einschließlich der Lobärpneumonie, eingesetzt werden können.

Nachdem ich die antiinfektiösen Aktivitäten der mikrobiellen Enzyme nachgewiesen hatte, versuchte ich, Massenproduktionsverfahren zu entwickeln. Dies führte mich zu einer unerwarteten theoretischen Entdeckung, die mein ganzes folgendes Leben beeinflußte. Ich hatte keine Schwierigkeiten, große Mengen der Bodenmikroben zu erzeugen, indem ich sie in einer reichhaltigen Bouillon kultivierte. Aber zu meiner Überraschung und Enttäuschung enthielt die auf diese Weise erzeugte mikrobielle Masse nicht das kapselzerstörende Enzym, an dem ich interessiert war. Ich entdeckte schließlich, daß dieses Enzym nur dann entstand, wenn die Bodenmikroben anderer Nährstoffe beraubt und gezwungen waren, sich von den Kapsel-Polysacchariden selbst oder einer verwandten Substanz zu ernähren. Die adaptive Reaktion auf den Zwang, Polysaccharide als Nahrung verwenden zu müssen, stellt daher eine schöpferische Reaktion dar - nämlich die Produktion eines Enzyms. Die Biochemiker und Genetiker, die später an verwandten Enzymproblemen arbeiteten, prägten aus verständlichen wissenschaftlichen Gründen den Begriff »induzierte Enzyme«, aber ich ziehe aufgrund meiner biologischen Weltanschauung den Begriff »adaptive Enzyme« vor.

Meine Entdeckung versetzte mich natürlich in Aufregung, teils wegen ihrer wissenschaftlichen Originalität, aber mehr noch, weil ich sofort ihre Relevanz für andere Lebensformen und speziell das menschliche Leben begriff.

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Die Tatsache, daß das Enzym in sehr kurzer Zeit als adaptive Reaktion auf eine bestimmte Notwendigkeit entstanden war, bewies, daß mikroskopisch kleine Organismen Anlagen besitzen, die nur unter bestimmten Bedingungen zum Ausdruck kommen, und ich setzte voraus, daß man dieses biologische Gesetz auf andere Lebensformen anwenden könnte, auch auf das menschliche Leben und das menschliche Verhalten. Dies war ein Anpassungsmechanismus, der sich sehr von dem unterschied, der durch Darwinsche genetische Prozesse erreicht wird, welche in höheren Lebensformen über viele Generationen hinweg langsam stattfinden. Ich entwickelte anschließend andere Beispiele adaptiver Enzymherstellung, und seit dieser Zeit - vor mehr als einem halben Jahrhundert! - bin ich von der Überzeugung besessen, daß jeder von uns mit potentiellen Anlagen für viele verschiedene Lebensweisen geboren wird, aber daß wir nur diejenigen entwickeln, die durch die angemessenen Bedingungen zum Leben erweckt werden können und für die wir die geeigneten Anstrengungen unternehmen, nicht selten aus Notwendigkeiten heraus.

In der Natur können schöpferische Anpassungen gewöhnlich auch aus der Tatsache resultieren, daß die verschiedenen Formen des Lebens in inniger Vereinigung mit anderen Formen existieren, die genetisch nicht miteinander verwandt sind. Solche biologischen Vereinigungen schließen Tiere, Pflanzen und Mikroben in jeder Kombinationsmöglichkeit ein; ihr Überleben hängt von Veränderungen ab, die die vereinigten Arten besser einander anpassen, gewöhnlich mit schöpferischen Folgen. In der Tat erweisen sich viele Arten von Organismen, die lange als festumrissene biologische Spezies galten, als Vereinigung mehrerer verschiedener Spezies. Zum Beispiel besteht das Meerestierchen, das »Portugiesische Galeere« (Staatsqualle) genannt wird, in Wirklichkeit aus mindestens drei verschiedenen Arten, die sich im Laufe der Evolution vereinigten, eine bildet die Schwimmglocke, eine die Fangarme, die Plankton heranstrudeln, eine dritte übernimmt die Ausscheidungsfunktionen. Die verschiedenen Organismen sind so voneinander abhängig, daß sie nicht lange leben, wenn man sie voneinander trennt.

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Der Begriff »Symbiose« wurde vor mehr als einem Jahrhundert geprägt, um die biologische Vereinigung zwischen Alge und Pilz, die die Flechte bilden, zu bezeichnen. Er wird jetzt auf viele Assoziationstypen von genetisch nicht verwandten Organismen ausgedehnt. Etymologisch bedeutet Symbiose einfach Zusammenleben, aber in der Praxis wird es heute fast ausschließlich in seiner anfänglichen historischen Bedeutung verwendet, nämlich mit dem Zusatz, daß die Organismen zum beiderseitigen Vorteil zusammenleben. Eine der umfassend erforschten symbiotischen Verbindungen ist diejenige, mit der Leguminosen und einige andere Pflanzenarten in Verbindung mit bestimmten Bakterien den Stickstoff der Luft binden können. An den Wurzeln dieser Pflanzen befinden sich Ausbuchtungen, Bakterienknöllchen genannt; sie sind auf die Zellreaktionen der Pflanze auf die Rhizobium-Bakterien im Wurzelsystem zurückzuführen. Die enorme Bakterienpopulation in den Knöllchen erhält die Nahrung von der Wirtspflanze, umgekehrt führt die Anwesenheit der Bakterien zur Produktion eines hämoglobinähnlichen Stoffes, der es dem symbiotischen Zusammenschluß von Pflanze und Bakterien ermöglicht, atmosphärischen Stickstoff in organische stickstoffhaltige Verbindungen umzuwandeln, die die Pflanze für ihr Wachstum benötigt.

Flechten gibt es in mindestens 20.000 Variationen - auf Felsen, an Baumstämmen, sogar in arktischen und antarktischen Ödgebieten und anderen unwirtlichen Gegenden, die mit dem Leben fast unvereinbar erscheinen. Jede Flechtenart besteht aus zwei verschiedenen mikroskopisch kleinen Organismen - einer Alge und einem Pilz. Ihre sich ergänzenden physiologischen Eigenschaften befähigen sie dazu, unter Umständen Nahrung zu finden, unter denen keiner der beiden Symbionten alleine leben könnte. Die Vereinigung von Alge und Pilz verleiht den Flechten darüber hinaus große Widerstandskraft gegen viele schädliche Bedingungen wie Hitze, Kälte oder Trockenheit, die ansonsten tödlich für die meisten Lebensformen und auch für die Alge und den Pilz selbst wären.

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Flechten weisen viele Formen und Eigenschaften auf, die von den einzelnen beteiligten Algen- und Pilzsorten und von den Substanzen, auf denen sie wachsen, abhängen. Das sogenannte Rentiermoos, das fast die einzige Vegetation ist, die ungeheure Gebiete der subpolaren Region bedeckt, ist eigentlich eine Flechte, genau wie die fälschlicherweise Kalifornisch-Spanisches Moos genannte Flechte, die auf Bäumen an der Westküste der Vereinigten Staaten wächst.

Ein interessanter Gesichtspunkt der Flechtenbiologie ist der, daß die adaptive Vereinigung zwischen zwei mikroskopisch kleinen Arten, der Alge und dem Pilz, zu viel größeren botanischen Strukturen führt, die lebendige Farben entfalten, eine große morphologische Vielfalt zeigen, komplizierte chemische Substanzen produzieren und andere Eigenschaften besitzen, die weder der alleinwachsende Pilz noch die Alge aufweisen würden.

In den letzten Jahren sind viele andere Fälle schöpferischer Symbiosen entdeckt worden. Ich möchte nur einige Beispiele herausgreifen. Küchenschaben können sich nicht voll entwickeln, wenn sie der Parasiten beraubt werden, die normalerweise in spezialisierten Organen ihres Körpers vorhanden sind. Wiederkäuer verdanken ihre Fähigkeit, Gras-Cellulose verdauen zu können, einem in ihren Mägen vorhandenen komplexen Mikrobenbestand. Selbst wir Menschen hängen von bestimmten Bakterienarten ab, die wir von unserer Mutter bei der Geburt zur Gesunderhaltung unseres Darms erhalten. Am überraschendsten ist dabei, daß die Infektion von Tulpen mit einem bestimmten Virus unter geeigneten Bedingungen die wunderschönen buntscheckigen Muster hervorbringen kann, die in Holland eine Art Börsenspekulation bewirkten, bekannt als die »Tulpomanie« des 17. und 18. Jahrhunderts.

In bestimmten Fällen ist das symbiotische Verhältnis zwischen den Partnern so innig geworden, daß ein Bestandteil des Systems allein nicht mehr lebensfähig ist. Jede grüne Pflanze - ein riesiger Baum, ein Kohlkopf oder eine Wasserlilie - kann die Sonnenstrahlung über einen Prozeß, der Photosynthese genannt wird, für das Wachstum nutzen. Dieses Meisterstück wird durch mikroskopisch kleine Strukturen (Organellen), bekannt als Chloroplasten, möglich, die sich in den Zellen der Pflanzen befinden und die ganz wesentlich für die Produktion des Chlorophylls sind.

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Die Chloroplasten wurden eigentlich immer nur für andere Bestandteile der Pflanzen gehalten, so wie Wurzeln, Blätter oder Blüten. Heute ist es jedoch bewiesen, daß die Chloroplasten und die Pflanzen, die sie beherbergen, verschiedene DNS-Arten besitzen, eine Tatsache, die nahezu die Gewißheit vermittelt, daß sie sich vor ihrer Vereinigung unabhängig voneinander entwickelt haben. Lebende Gewebezellen enthalten andere Organellenarten, Mitochondrien genannt, die eine entscheidende Rolle bei der Produktion der biochemischen Energie spielen, welche für alle Aspekte des Lebens von Tieren und Pflanzen erforderlich ist. Auch hier haben die Mitochondrien eine andere DNS als die Zellen, in denen sie funktionieren, und sie haben sich deswegen wahrscheinlich unabhängig von ihnen entwickelt, bevor sie wesentlich für das Leben der Kreaturen wurden, in denen sie nun zu finden sind.

Alle Versuche, Chloroplasten oder Mitochondrien außerhalb der Zellen, aus denen sie genommen wurden, zu kultivieren, sind bisher fehlgeschlagen. Diese Organellen scheinen folglich ihre Fähigkeit zu einer unabhängigen Existenz im Verlauf ihres symbiotischen Lebens verloren zu haben. Um so erstaunlicher ist es daher, daß die symbiotische Anpassung von Chloroplasten und Mitochondrien an genetisch andersartige Zellen schöpferische Auswirkungen von solch enormer Bedeutung wie die Produktion von Chlorophyll oder die Nutzung biologischer Energiequellen besitzt.

Ein neues und sogar noch raffinierteres Phänomen biologischer Anpassung kam in den vierziger Jahren zum Vorschein, als bewiesen wurde, daß einige Gene eines bestimmten Bakterientyps in einen anderen gepflanzt werden können und so der Empfänger einige Erbmerkmale des Gebers erhält. Genübertragung kann mittels unterschiedlicher Techniken erfolgen, aber die gewöhnlich als DNS-Rekombinationstechnik bekannte Methode (eine der Abläufe der Genmanipulation) war die am häufigsten erforschte und angewandte. Mit dieser Technik sind Gene von verschiedenen Lebewesen - Mikroben, Pflanzen, Tieren und sogar Menschen - auf Bakterienarten übertragen worden, die dann einige Eigenschaften des Lebewesens annahmen, von dem das Gen stammte - zum Beispiel die Fähigkeit, Insulin oder irgendein anderes Hormon zu produzieren.

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Zuerst wurde angenommen, daß Genübertragung nur ein laboratorischer Kunstgriff ist, doch wurde jetzt bewiesen, daß das Phänomen spontan in der Natur auftreten kann. Genübertragung spielt sicher in der Anpassung von Lebewesen an ihre physische und biologische Umwelt eine Rolle. Schöpferische Anpassungen und Vereinigungen mögen deshalb bedeutende Faktoren bei der Evolution unseres Planeten gewesen sein. Die Darwinsche Evolutionslehre behauptet, daß im Kampf ums Dasein der Stärkere siegt. Aber die Sanften könnten durch die Schöpferkraft ihrer Anpassungen und Vereinigungen die Erde möglicherweise auch erben.

Es ist banal, die Erde mit einem Raumschiff zu vergleichen, das ewig die Sonne umkreist, ohne Pilot und ohne Sinn, wie jedes andere leblose Objekt dieser Größe und chemischen Beschaffenheit. Wenn wir jedoch um die Welt reisen, erleben wir die überwältigende Vielfalt ihrer Landschaften und Gewässer, ihrer Lebewesen, die sie ernährt, und ihrer Lebensweisen.

Ich mag den Ausdruck »Raumschiff Erde« nicht, weil damit eine mechanische Konstruktion mit einer begrenzten Menge Treibstoff für eine genau abgesteckte Reise und ohne Möglichkeit einer wesentlichen Kursänderung assoziiert wird. Die Erde hat im Gegensatz dazu viele Eigenschaften eines lebenden Organismus, der sich ewig in einem Wandel befindet. Sie wandelt ständig Solarenergie in unzählige organische Produkte um und nimmt an biologischer Komplexität zu, während sie sich durch den Weltraum bewegt. Diese Sicht wurde seit 1972 von dem englischen Chemiker J. E. Lo-velock entwickelt, der behauptet, daß sich die Erdoberfläche wie ein voll integrierter Organismus verhält, der nicht nur seinen eigenen Aufbau, sondern auch seine Umgebung kontrollieren kann. Lovelock benutzt den Namen der griechischen Göttin der Erde, Gäa, um dieses komplizierte biologische Verhalten auf der Erde zu symbolisieren.

Die Erde als lebenden Organismus zu betrachten ist kein neuer Gedanke. Otis Mason, einer der frühen amerikanischen Umweltforscher, schrieb 1892: »Wie auch immer unsere Theorie von ihrem Ursprung aussehen mag, die Erde muß als lebendes, denkendes Wesen betrachtet werden...«

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Die Gäa-Hypothese ist konkreter und kann am besten mit Lovelocks eigenen Worten wiedergegeben werden:

»Die physische und chemische Beschaffenheit der Erdoberfläche, der Atmosphäre und der Meere wurde und wird durch die Gegenwart des Lebens selbst in aktiver Weise lebenstauglich und angenehm gestaltet. Dies steht im Gegensatz zu der konventionellen Weisheit, die besagte, daß sich das Leben an die planetarischen Bedingungen angepaßt hat, während beide sich getrennt entwickelten.«

Das Gäa-Konzept basiert auf der Tatsache, daß die chemische Zusammensetzung unserer Atmosphäre grundlegend anders wäre, wenn sie nur von leblosen physikalisch-chemischen Kräften bestimmt würde. Auf einer Erde ohne Leben würden rein physikalisch-chemische Phänomene zum Beispiel eine Atmosphäre schaffen, die ungefähr 98 Prozent Kohlendioxyd mit, wenn überhaupt, sehr wenig Stickstoff oder Sauerstoff enthält, während unsere Atmosphäre ungefähr 0,03 Prozent Kohlendioxyd, 79 Prozent Stickstoff und 21 Prozent Sauerstoff enthält.

Lovelock liefert zahlreiche andere Beispiele solch grundlegender Abweichungen vom chemischen Gleichgewicht und setzt die Existenz einer globalen Kraft als gegeben voraus, die eine sehr unwahrscheinliche Verteilung der Moleküle zustande bringt und ziemlich konstant hält. Er glaubt, daß diese hypothetische globale Kraft ihren Ursprung in den chemischen Aktivitäten der unzähligen Lebensformen hat, die durch Rückkopplungssysteme Zustände des Ungleichgewichts bewirken und aufrechterhalten.

Offensichtlich ist die Eignung eines Organismus für seine Umwelt eine wesentliche Bedingung für seinen biologischen Erfolg und sogar sein Überleben. Alle Lebewesen scheinen mit einer Vielzahl von Mechanismen ausgestattet zu sein, die sie befähigen, Lebenseignung dadurch zu erreichen, daß sie auf die Veränderungen der Umwelt mit adaptiven Reaktionen antworten. Bei höheren Lebewesen und besonders beim Menschen werden die biologischen Anpassungsmechanismen durch adaptive soziale Prozesse ergänzt.

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Anfang dieses Jahrhunderts unterstrich der Physiologe L. Henderson, daß die Lebenseignung für Lebewesen wichtiger war als die adaptiven Entwicklungs­möglichkeiten. In einem Aufsatz behauptete er, daß Lebenseignung nur erlangt werden kann, weil die irdische Umgebung gewisse physikalisch-chemische Merkmale aufweist, die zufällig genau richtig für das Leben sind. Diese Theorie scheint jetzt jedoch fehlerhaft oder zumindest unvollständig zu sein.

Die gegenwärtigen Lebensformen würden natürlich vernichtet werden, wenn die Erdoberfläche sich völlig verändern würde. Sie könnten sich nicht schnell genug anpassen, wenn der Salz- und Säuregehalt, die relativen Proportionen von Gasen, Mineralien und organischen Substanzen oder irgendwelche anderen physikalisch-chemischen Merkmale der Erde weitgehend und für eine beliebige Zeit von ihren gegenwärtigen Werten abweichen würden.

Mit anderen Worten, die gegenwärtige Umwelt weist tatsächlich Lebenseignung für die jetzigen Formen des Lebens auf, aber - und das ist es, was Henderson übersehen hat - die gegenwärtigen physikalisch-chemischen Merkmale der Erdoberfläche, ihrer Gewässer und ihrer Atmosphäre wären für die primitiven Organismen der grauen Vorzeit ungeeignet gewesen. Zum Beispiel wäre eine Atmosphäre mit 21 Prozent Sauerstoffgehalt mit größter Wahrscheinlichkeit tödlich für die frühesten Lebensformen gewesen.

Während der letzten 3,5 Milliarden Jahre hat sich die globale Umwelt nach und nach verändert, wahrscheinlich als Folge der Aktivitäten von Lebewesen; aber auch Lebewesen haben entsprechende Veränderungen durch Rückkopplungsprozesse durchlaufen. Das von Lovelock postulierte Gäa-Sy-stem scheint deswegen ein Resultat von Koevolution zu sein. Lovelock erörterte einige chemische Beispiele dieses schöpferischen Prozesses und stellt fest: »Die Luft, die wir atmen, kann man sich wie das Fell einer Katze oder das Haus einer Schnecke vorstellen, nicht lebend, aber aus lebenden Zellen bestehend, die gegen eine ungünstige Umwelt schützen.«

Vor einigen Jahren entzündeten sich Diskussionen an der Frage, ob der Mars für das menschliche Leben hergerichtet werden könnte - was soviel heißen sollte, wie daß der Mars mit Wasser, Sauerstoff, gemäßigten Temperaturen und Schutz vor ultravioletter Strahlung zu versorgen sei.

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Die allgemeine Schlußfolgerung war, daß der Mars nur durch die allmähliche Einführung lebender Arten bewohnbar gemacht werden könnte, Arten, die fähig sind, nach und nach komplexere Ökosysteme aufzubauen, die den auf der Erde in mehr als drei Milliarden Jahren entwickelten ähnlich sind. Diese Analyse hat uns die tiefen und unzähligen Veränderungen erkennen lassen, die das Leben auf der primitiven Erde durchlaufen mußte, um für die heutigen Lebewesen die Lebenseignung der irdischen Umwelt zu schaffen, die L. J. Henderson als Ausgangspunkt und völlig normale Sache vorausgesetzt hatte.

Nach der Gäa-Hypothese stellen die Biosphäre, die Atmosphäre, die Meere und der Boden der Erde ein Rückkopplungs- oder kybernetisches System dar, das zu einer optimalen physikalischen und chemischen Umwelt und zu den Besonderheiten der Lebewesen führt. Lovelock bezeichnet in seinem Buch diesen Gleichgewichtszustand wiederholt als Homöostasie - ein Wort, das vor einem halben Jahrhundert von dem Physiologen Walter B. Cannon geprägt wurde, um den bemerkenswerten Zustand der Beständigkeit zu kennzeichnen, in dem gesunde Lebewesen sich trotz der Veränderungen in ihrer Umwelt erhalten.

Das Wort Homöostasie jedoch wird dem Gäa-Konzept nicht ganz gerecht, denn es beinhaltet zusätzlich noch, daß Lebewesen die Erdoberfläche und ihre Atmosphäre grundlegend verändert haben, während sie selbst ständige Veränderungen in einem koevolutionären Prozeß durchliefen. Praktisch alle von Lovelock erörterten Beispiele beziehen sich tatsächlich auf die schöpferische Evolution und nicht auf homöostatische Reaktionen.

Zum Beispiel zerstörte die vor zwei Milliarden Jahren bedeutsame Zunahme von Sauerstoff in der Luft (als Resultat der biologischen Photosynthese) wahrscheinlich viele Lebensformen, für die dieses Gas giftig war. Lovelock jedoch meint:

»Die Genialität siegte, und die Gefahr wurde überwunden, nicht auf die menschliche Weise, die alte Ordnung wiederherzustellen, sondern auf die flexible Art der Gäa, sich an die Veränderungen anzupassen und den mörderischen Eindringling in einen mächtigen Freund zu verwandeln.«

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Kybernetische Mechanismen brachten nach und nach das Entstehen biologischer Arten hervor, die in der Anwesenheit von Sauerstoff leben und ihn für die biologische Energieproduktion nutzen konnten. In diesem Fall, wie bei den meisten anderen Umweltveränderungen, war die Gäa-Art keine automatische homöostatische Reaktion, sondern eine schöpferische koevolutionäre Antwort.

Die Gäa-Regulierung scheint nur über einen Zeitraum, der auf der evolutionären Skala kurz ist, auf eine globale Homöostasie hinauszulaufen. Eine Zahl wird genügen, um die Größe der irdischen Veränderungen, die ständig durch das Leben verursacht werden, zu verdeutlichen. Alle grünen Pflanzen zusammen binden heute fast 100 Milliarden Tonnen Kohlenstoff pro Jahr in den verschiedenen Arten der Biomasse. Ungefähr die Hälfte dieser Umwandlung von Solarenergie in chemische Energie mittels der Vegetation findet auf dem Festland statt, die andere Hälfte in den Wassermassen der Erde. Das entspricht mehr als dem Zehnfachen der Energiemenge, die die ganze Menschheit jährlich verbraucht, selbst mit den extravagantesten Technologien.

Wer will bezweifeln, daß dieser ständige Akkumulationsprozeß von organischer Materie und Energie die Erdoberfläche und die verschiedenen Lebensformen ständig weiter beeinflussen wird? Darüber hinaus weist Lovelock selbst darauf hin, daß der Veränderungsprozeß infolge menschlicher Eingriffe schneller und komplizierter werden könnte, und er zitiert mich passend, wenn er feststellt, daß auf lokaler Ebene grundlegende koevolutionäre Veränderungen in bestimmten irdischen Umgebungen und ihren biologischen Systemen schon im Laufe der Geschichte stattgefunden haben.

In allen Teilen der Welt mit großer Bevölkerungszahl haben zum Beispiel landwirtschaftliche Verfahren einen dramatischen Rückgang von einheimischen Pflanzen- und Tierarten bewirkt, gleichzeitig erhöhte sich aber aus ökonomischen Gründen die Zahl anderer einheimischer oder importierter Pflanzen und Tiere. Die Landwirtschaftsverfahren haben auch die Beschaffenheit der Landschaften und Gewässer grundlegend und wiederholt verändert.

Vor der Besiedlung durch Menschen war England größtenteils von dichten Wäldern bedeckt. Dann hat die Abholzung dazu geführt, daß die physischen und biologischen Merkmale der großen, weiten Felder entstanden. Dann wieder wurden diese Felder allmählich von einem Flickenteppich viel kleinerer Felder abgelöst, die durch Hecken und Gräben voneinander getrennt waren. Heutzutage sind jedoch die meisten dieser Umfriedungen beseitigt, um den Einsatz großer Landwirtschaftsmaschinen zu ermöglichen.

Veränderungen unterschiedlicher, aber gleichfalls grundlegender Natur haben vielerorts auf der Erdoberfläche als Folge menschlicher Handlungen stattgefunden.

Im letzten Kapitel seines Buches erforscht Lovelock die Relevanz der Gäa-Hypothese für die Folgen menschlicher Eingriffe in die Natur und stellt fest, daß Umweltforscher häufig das falsche Ziel ansteuern, weil die Elastizität der Erde, die als Organismus verstanden wird, die Ökosysteme wahrscheinlich widerstandsfähiger gegen Umweltverschmutzung macht, als gewöhnlich angenommen wird.

Ich wage die Behauptung, daß einige menschliche Eingriffe die biologische Kreativität und Vielfalt der Erde sogar erhöhen können, wie man an den vielen europäischen Agrarlandschaften oder an den »Gebirge-und-Gewässer«-Komplexen der Landwirtschaft Südchinas erkennen kann.

Ich möchte mit dem Wunsch schließen, daß Lovelock in der nächsten Ausgabe seines Werkes nicht nur die homöostatischen Gesichtspunkte der Gäa-Hypothese betont, sondern auch ihre schöpferischen. Das wäre im Sinne seiner Behauptung, das Gäa-Konzept sei eine Alternative zum »deprimierenden Bild von unserem Planeten als wahnsinnigem Raumschiff, das sich ewig, führerlos und sinnlos um einen inneren Sonnenkreis bewegt«, während die Erde sich in Wirklichkeit durch die Tätigkeit aller Lebensformen, auch der Menschen, die ein Teil ihrer sind, ständig verändert.

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(d-2015:)    J.Lovelock bei detopia

 

 

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