6 Trotz allem — Optimismus
Dubos 1981
Zivilisation und Zivismus
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Es ist irgendwie beruhigend, daß das Wort Zivilisation in einer Periode aufkam, die sogar noch geplagter war als unsere, nämlich kurz vor der Französischen und amerikanischen Revolution.
Der Marquis de Mirabeau scheint es zuerst in einer Abhandlung, die um 1757 in Paris veröffentlicht wurde und den Titel <L'Amy des Hommes ou Traue de la Population> (Der Menschenfreund oder: Eine Abhandlung über die Bevölkerung) trug, benutzt zu haben. In einem weiteren — unveröffentlichten — Aufsatz, <L'Amy des Hommes ou Traue de la Civilisation> (Der Menschenfreund oder: Eine Abhandlung über die Zivilisation), rühmte er die maßgeblichen Beiträge der Frauen, die das verfeinert hätten, was er das zivilisierte Leben nannte.
Bei ihm besaß das Wort Zivilisation eine sehr viel engere Bedeutung als heute. Für ihn wie für die meisten Philosophen der Aufklärung kennzeichneten eine Zivilisation menschliche Gesetze, Begrenzung der Kriege, ein hohes Maß an Vernunft und Gesittung, höfliche Umgangsformen — kurz, Qualitäten, die als höchster Ausdruck der Humanität im 18. Jahrhundert galten.
Samuel Johnson weigerte sich, das neue Wort in der Ausgabe seines Wörterbuches von 1772 anzuführen, denn er empfand, daß es nicht mehr als das ältere englische Wort Zivismus vermittelte.
Die Bedeutung des Begriffs Zivilisation hat sich mit der Zeit geändert, oder besser gesagt, er umfaßte immer verschiedenere Manifestationen des menschlichen Lebens — vom griechischen Rationalismus zur venezianischen Sinnlichkeit, vom künstlerischen Expressionismus zur wissenschaftlichen Technologie, von Thomas Jeffersons einfachem Landleben zur weltweiten Verstädterung.
Eine sich vom 18. Jahrhundert noch weiter unterscheidende Betrachtungsweise des zivilisierten Lebens trat mit den Erfolgen der industriellen Revolution in den Vordergrund. In dem Maße, wie die neuen technologischen Entwicklungen einen eindrucksvollen Anstieg des Wohlstands bewirkten, wurde der Zivilisationsgrad an ökonomischen Begriffen wie Quantität und Vielfalt der erhältlichen Lebensmittel oder der produzierten Güter gemessen. Die Betonung dieser materiellen Werte war wohl berechtigt, weil der landwirtschaftliche und der industrielle Fortschritt das Leben der meisten Menschen bequemer, gesünder, länger und vielleicht sogar reicher an Erfahrungen machte. Man nahm auch an, daß ein größerer ökonomischer Wohlstand unausweichlich die geistige Qualität des menschlichen Lebens verbessern würde.
Selbst der optimistischste Mensch erkennt heute, daß die technologische Zivilisation zwar vielen Menschen größeren Wohlstand und bessere Gesundheit gebracht hat, sie jedoch kein größeres Glücksgefühl oder bessere Bedingungen für ein harmonisches menschliches Zusammenleben erzeugt hat — das, was Samuel Johnson Zivismus nannte. Mirabeau wäre sicherlich überrascht, wüßte er, daß unsere Hauptkriterien bei der Beurteilung des Zivilisationsgrades einer Gesellschaft die sind, ob sie ihre Außenaborte ins Haus verlegt hat, mit Elektroenergie heizt und kühlt, mehr Autos, Waschmaschinen, Kühlschränke, Telefone oder andere Apparate besitzt, als sie braucht.
Höfliches Benehmen, Begrenzung der Kriege, ein hohes Maß an Vernunft und Gesittung sind kaum in den Kriterien enthalten, die man mit dem Wort Zivilisation verbindet. Auf Kunst und Literatur wird immer noch Gewicht gelegt, aber mehr wegen ihres Unterhaltungswertes und weniger als Beitrag zum Zivismus.
Humanisten, viele Soziologen und sogar Naturwissenschaftler sind zu der Auffassung gelangt, daß die wissenschaftliche Technologie einen Dämon in sich trägt, der zur Zerstörung entschlossen ist — wenn schon nicht der Menschheit, so doch wenigstens vieler menschlicher Lebensqualitäten.
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Zum Beispiel hat Jacques Ellul die Übernahme der Gesellschaft durch das, was er la technique nennt, nämlich jene Kräfte, die unabhängig von der menschlichen Kontrolle wirken, als fait accompli bezeichnet. Auch J. Galbraith behauptet, daß die moderne technologische Gesellschaft ein nahezu in sich geschlossenes System ist, das nur noch auf die Anweisungen einer im wesentlichen autonomen und anonymen Technostruktur reagiert. Obwohl das System noch von der Öffentlichkeit abhängt, sichert es die Abnahme seiner Produkte durch eine über private Agenturen und Regierungsinstitutionen künstlich geschaffene Nachfrage.
Es gibt tatsächlich wenig neue Produkte und Verfahren der modernen Technologie, die fundamentale Bedürfnisse der Menschheit befriedigen. Die meisten von ihnen berufen sich statt dessen auf den Wunsch nach Veränderung um der Veränderung willen; meist befriedigen sie Wünsche, die auf der Basis kommerzieller Kriterien künstlich erzeugt werden. Aber die künstliche Erzeugung von Wünschen gab es die ganze Geschichte hindurch und ist meiner Ansicht nach nicht notwendigerweise schlecht. Als Mitglieder der biologischen Spezies Homosapiens sind unsere wesentlichen Bedürfnisse begrenzt und kaum von Belang, aber als gesellschaftliche Menschen entwickeln wir ständig neue Wünsche, von denen einige zur Entfaltung der Zivilisation beitragen. Elegante Kleider, schöne Möbel, werkgetreue Musikaufnahmen sind keine biologischen Bedürfnisse, sondern Wünsche, die unsere Art von anderen Tierarten unterscheiden.
Die Hauptgefahren der Technologie bestehen in unserer Anfälligkeit, unser Leben von Maschinen gestalten zu lassen. Henry Adams hat diesen Trend erkannt, als er das »Palais des Machines« auf der Pariser Weltausstellung im Jahre 1900 besuchte. Nach seiner Darstellung sind die biologischen und geistigen Kräfte, die das menschliche Leben in der Vergangenheit motiviert haben, von der Dampfmaschine und der Elektrizität abgelöst worden; der Dynamokult hat den Marienkult ersetzt.
* (d-2015:) wikipedia Jacques_Ellul *1912 in Bordeaux bis 1994 in Bordeaux
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1893 gab es in Chicago eine Weltausstellung in der klassischen Tradition der Beaux Arts (schönen Künste); sie bezog sich kaum auf die industriellen Aspekte der Zivilisation, die in den Vereinigten Staaten bereits gut entwickelt waren. Nur europäische Besucher bemerkten die funktionale Schönheit der ausgestellten modernen Geräte und Möbel. Vierzig Jahre später hatte sich jedoch die öffentliche Meinung geändert. Die Organisatoren der Chicagoer Weltausstellung von 1933 wollten nicht die klassische Zivilisation, sondern die Rolle der wissenschaftlichen Technologie in der modernen Welt feiern und betrachteten es als selbstverständlich, daß von nun an Maschinen das menschliche Leben weitgehend formen würden. Der Ausstellungsführer verkündete stolz: »Die Wissenschaft entdeckt, das Genie erfindet, die Industrie verwertet, und der Mensch paßt sich an oder wird geformt von neuen Dingen ... Individuen, Gruppen, Rassen fassen Tritt mit ... der Wissenschaft und Industrie.«
Eine große Plastik in der Halle der Wissenschaften auf der Chicagoer Ausstellung von 1933 enthüllte sogar noch ausdrücklicher als der Ausstellungskatalog die Ansicht, daß Maschinen jetzt für das Wohl der Menschheit wesentlicher seien. Die Skulptur stellte einen Mann und eine Frau mit ausgestreckten Händen dar, in einem Zustand der Angst oder wenigstens Unsicherheit. Zwischen ihnen stand ein riesiger, eckiger Roboter, nahezu zweimal so groß wie sie, der sich mit einem angewinkelten Metallarm über sie beugte und ihn beruhigend um ihre Körper legte. Das Ausstellungsthema war eindeutig: Maschinen können jetzt Menschen schützen und leiten.
Folglich sind die Gefahren der Technologie nicht auf eine soziale Komplexität zurückzuführen, die sie zu einem der gesellschaftlichen Kontrolle entzogenen Frankensteinmonster macht — wie Ellul, Galbraith und andere zeitgenössische Soziologen behaupten —, sondern vielmehr auf die Tatsache, daß wir die technologischen Imperative hinnehmen, statt nach anderen wünschenswerteren, menschlichen Werten zu streben.
Es gibt glücklicherweise viele Anzeichen dafür, daß die Zukunft von mehr Sorge um den Menschen geprägt sein wird als die jüngste Vergangenheit. Ein Gefühl liegt in der Luft, daß es nicht mehr gesund ist, wenn wir immer noch mehr tun, als wir schon getan haben, nur größer und noch schneller, und daß die Zivilisation eine Obszönität werden kann, wenn sie technologisch überentwickelt ist.
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Wir sind auch zu der Einsicht gelangt, daß aufgrund der jetzt so umfassenden, intensiven und mannigfaltigen menschlichen Aktivitäten weltweite Katastrophen innerhalb der nächsten Jahrzehnte eintreten werden, wenn die Industriegesellschaften so weitermachen wie in den letzten hundert Jahren. Wie bereits in einem früheren Abschnitt ausgeführt, gibt es in dieser Hinsicht jedoch Gründe zu der Hoffnung, daß die Zukunft nicht so schwarz aussehen wird, wie es in den sechziger und siebziger Jahren unseres Jahrhunderts schien.
Die Weltbevölkerung nimmt immer noch zu, aber nicht mehr so schnell. Die Industrialisierung expandiert weiter, jedoch mit weit weniger zerstörerischen Technologien als den alten. Die rauchenden Schornsteine, die Flut umweltverschmutzender Abwässer werden in den modernen Ländern nicht mehr länger geduldet. Die radioaktive Verseuchung wird, außer bei einem Nuklearkrieg oder wirklich katastrophalen Unglücksfällen, wahrscheinlich keine ernste Gefahr mehr sein, selbst dann, wenn die Kernreaktoren zahlreicher werden. Obwohl der Ausstoß giftiger Substanzen niemals völlig vermieden werden kann, werden die Gefahren für die Umwelt wahrscheinlich abnehmen oder schneller ermittelt werden können, weil es bessere technische Anlagen geben wird und weil Abfallprodukte, statt nachlässig in der Umwelt gelagert zu werden, als Ressourcen betrachtet und für einen positiven Zweck genutzt werden müssen.
Große Fortschritte wurden bei der Bekämpfung von Umweltschäden erzielt. Die Elastizität der Natur ist viel größer, als man noch vor ein paar Jahrzehnten dachte, und wir sind dabei, ihre normalen Widerstandskräfte nutzen zu lernen. Wir können Umweltschäden auch künstlich korrigieren, zum Beispiel, wenn Abraumhalden und andere heruntergekommene Gebiete regeneriert und für die Landwirtschaft oder andere Tätigkeiten nutzbar gemacht werden. Es ist vollkommen sicher, daß dies die universelle Praxis in den entwickelten Industrieländern sein wird.
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Die materiellen Faktoren der Zukunft sollten daher keinen Pessimismus verursachen; sie stellen den Problemkreis dar, den die technologische Zivilisation zu lösen vermag, vorausgesetzt, es existiert der gesellschaftliche Wille dazu. Die menschlichen Gesichtspunkte dieser Probleme sind jedoch viel schwerer zu erfassen, als John Ruskin meinte, der nichts gegen die Industrie an sich hatte, aber viel gegen den Verlust der Arbeitsfreude, den er mit der Fabrikarbeit verband. Ruskin hatte rasch begriffen, daß die industrielle Revolution die, wie er es nannte, Fragmentierung des Menschen bewirkte. Sie hat die Menschen entwürdigt und versklavt, indem sie den Handwerker, der stolz auf seiner Hände Arbeit war, in einen seelenlosen Handlanger von Maschinen verwandelte. Diese Überlegung brachte ihn von der Kritik an der Malkunst zu der Kritik an der Formgebung überhaupt, und er stellte fest, daß die einzig richtige Frage zu einem Beruf schlicht lauten muß: »Wurde er mit Vergnügen ausgeübt — war der Schnitzer glücklich dabei?«
Wie wir noch sehen werden, schafft unsere Gesellschaft immer noch eine Umwelt und Lebensformen, in der viele Menschen, sogar der privilegierten Klassen, unter der Erfahrung leiden, nirgendwo hinzugehören. Diese Erfahrung wird gewöhnlich mit den vagen Begriffen Anomie oder Entfremdung umschrieben, um die Haltung von Menschen zu kennzeichnen, die sich nicht richtig als Teil einer Gruppe fühlen, in denen sie fungieren, weil sie ihre Normen oder Werte nicht teilen.
Die Suche nach Gewißheit
1978 organisierte die Rockefeller-Stiftung ein Treffen von Ärzten und Medizinwissenschaftlern, um die gegenwärtige Gesundheitslage in den Vereinigten Staaten einzuschätzen. Alle Teilnehmer stimmten darin überein, daß der nationale Gesundheitszustand in den letzten Jahrzehnten sehr verbessert wurde und wahrscheinlich besser denn je zuvor sei.
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Die Kindersterblichkeit ist sehr zurückgegangen, die Lebenserwartung steigt bei Männern und Frauen aller ethnischen Gruppen immer noch an, einige Infektionskrankheiten sind praktisch ausgerottet oder können schnell geheilt werden; große Fortschritte sind in der Behandlung chronischer Krankheiten, die noch nicht geheilt werden können, erzielt worden, wie zum Beispiel bei Diabetes, Bluthochdruck, Arthritis und perniziöser Anämie; entgegen der allgemeinen Ansicht ist die Sterberate sogar bei Herzkrankheiten, Schlaganfällen und vielen Krebserkrankungen gesunken.
Trotz dieser objektiven Kriterien eines besseren Gesundheitswesens bestätigten die Teilnehmer der Konferenz jedoch das weitverbreitete Gefühl unter den Menschen, daß der allgemeine Gesundheitszustand abnimmt. Dieses Paradoxon wurde in dem Satz ausgedrückt: »Es geht einem besser, aber man fühlt sich schlechter«, der auch der Titel des Buches über die Berichte des Symposiums wurde.
Daß es einem besser geht, aber man sich schlechter fühlt, trifft auf viele Aspekte des Lebens — auch außerhalb des Gesundheitsbereichs — in industrialisierten Ländern zu. Trotz der allgemeinen Zunahme des Wohlstands und der Befriedigung materieller Bedürfnisse scheint es eine Abnahme des Glücksgefühls zu geben, wie man an den verschiedenen Protestbewegungen der sechziger und siebziger Jahre sehen kann.
Die momentane Stimmung vieler junger Menschen bringt eine Bemerkung, die George Bernard Shaw zugeschrieben wird, in Erinnerung, der, als er die gesunden und wohlhabenden, jedoch ernüchterten jungen Erwachsenen Englands in den dreißiger Jahren beobachtete, gesagt haben soll: »Sie haben genug zu essen, sexuelle Freiheit und Innentoiletten. Warum, zum Teufel, sind sie nicht glücklich?« Ihre Haltung ist nicht von Panik oder gewalttätiger Feindseligkeit gegenüber den heutigen Bedingungen erfüllt, sondern nur von Schlaffheit und Desillusionierung, wofür man angebrachterweise, falls noch nicht im Sprachgebrauch, das Wort <Bäh-Gefühl> kreieren könnte.
Wir leben in einer schweren Zeit, aber das war in der Vergangenheit oftmals so. Der Gedanke, daß man in einer unheilvollen oder trüben historischen Periode geboren wurde, ist nicht neu. Man vollziehe zum Beispiel die Stimmung des Menschen nach, der schrieb: »Die Welt ist alt geworden und hat ihre frühere Kraft verloren ... die Berge sind ausgebrannt und geben weniger Marmor, die Bergwerke sind erschöpft und geben weniger Silber und Gold ... die Felder haben keine Bauern mehr, die Meere keine Seeleute.«
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Diese Worte passen zur Stimmung der Anhänger des Jüngsten Gerichts, aber tatsächlich wurden sie im 3. Jahrhundert n. Chr., vor rund 1700 Jahren, vom heiligen Cyprian zu einer Zeit geschrieben, als die Menschen des Römischen Reiches das Vertrauen in die Strukturen ihrer Gesellschaft verloren. Eine andere finstere Epoche war das späte 10. Jahrhundert, als die nordischen Invasionen und eine Reihe von Naturkatastrophen viele Menschen in ihrem Glauben bestärkten, daß das Jahr 1000 das Ende der Welt bedeuten würde.
Barbara Tuchman hat kürzlich in <Der ferne Spiegel, das dramatische 14. Jahrhundert> aufgezeigt, daß niemals so viel über die Misere des Menschenlebens geschrieben worden ist wie im frühen 14. Jahrhundert; das war die Zeit des Schwarzen Todes, und die Menschen lebten in täglichem Schrecken nicht nur vor der Pest, sondern auch vor Hunger, Aufruhr und Kriegen.
Obwohl die Renaissance allgemein als die Zeit ungezügelten Vertrauens in die menschliche Bestimmung angesehen wird, haben gerade ihre Triumphe viele Gelehrte der damaligen Zeit im Hinblick auf die Zukunftsaussichten aufgerüttelt.
Im Jahre 1575 veröffentlichte beispielsweise der französische Rechtsgelehrte und Philosoph Louis LeRoy ein Buch, in dem er seine Sorgen über die zerstörerischen Folgen der neuen Erkenntnisse und Erfindungen ausdrückte. Sein Buch <De la Vicissitude ou variete des choses en l'univers> wurde sofort in ganz Europa bekannt, vielleicht weil die in ihm ausgedrückte Stimmung zu den Ängsten der Zeit paßte und den damaligen <Zukunftsschock> widerspiegelte.
Perioden des Zweifels und der Niedergeschlagenheit gab es mit ähnlichen Symptomen, wie wir sie heute erleben, immer wieder in der Vergangenheit — und zwar immer dann, wenn die Lebensweisen von Umwälzungen im Allgemeinwissen oder von sozialen und technischen Neuerungen abrupt gestört wurden. Formulierungen wie »Die Zeiten sind aus den Fugen geraten«, »Alle Klarheit ist verschwunden«, »Weltschmerz« und »Le mal du siede« sind in den Sprachgebrauch eingedrungen und machen deutlich, daß die idyllischen Phasen der Zivilisation in der Vergangenheit spärlich waren.
* (d-2015:) wikipedia Barbara_Tuchman *1912 in NYC bis 1989 in Connecticut
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Ähnliche Aussprüche sind geprägt worden, um die verschiedenen Formen des Pessimismus in unserem Jahrhundert auszudrücken.
Audens Gedichtzyklus »Das Zeitalter der Angst«, der 1947 veröffentlicht wurde, zeigt, in welchem Umfang das Nachkriegsleben von den undefinierbaren Gespenstern vernichtender Schuld und von einem Gefühl der universellen Scham verfolgt wurde. James Reston führte 1967 den Begriff »neuer Pessimismus« ein, um die Ängste anzudeuten, die aus dem weitverbreiteten Gefühl resultieren, daß viele Probleme der modernen Welt von der wissenschaftlichen Technologie verursacht wurden, aber der wissenschaftlichen Kontrolle noch nicht zugänglich sind. Der aktuelle Begriff für die Verwirrung unserer Tage scheint »Das Zeitalter der Unsicherheit« von J. K. Galbraith zu sein, den er als Titel seines Buches über seine letzten Fernsehsendungen wählte. Bis zum Ersten Weltkrieg fühlten sich, behauptet er, »Aristokraten und Kapitalisten in ihren Positionen sicher, und selbst Sozialisten fühlten sich in ihrem Glauben sicher«, aber diese uralten Gewißheiten wurden durch die beiden Weltkriege und die große Depression erschüttert.
Auf die Kritik eines Buddhisten, daß seinem Werk ein zentrales Leitprinzip fehle, konterte Galbraith, daß es ein solches Prinzip kaum geben könne, weil das Leben wie ein Fluß ohne Orientierung dahinfließe. In diesem Licht besehen, besteht die einzige erfolgreiche Herangehensweise an eine Verbesserung darin, die sozialen Systeme schrittweise und mehr oder weniger empirisch zu verändern, in der Hoffnung, sie in die Richtung einer größeren Harmonie zwischen den Menschen, besseren körperlichen Wohlbefindens und damit größeren Glücks zu bewegen. Wenn diese Anstrengungen fehlschlagen, können sie auf der Basis von Erfahrungswerten in eine neue Richtung gelenkt werden.
Empirische Herangehensweisen an gesellschaftliche Probleme werden von einer grundsätzlichen Schwierigkeit behindert. In Abwesenheit eines zentralen Leitprinzips neigen menschliche Handlungsweisen dazu, an die eigenen Grenzen zu stoßen; sie schreiten auf ihrem eigenen Kurs voran und verlieren zunehmend die Beziehung zu den allgemeinen menschlichen Belangen.
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Doch die meisten Menschen sind mit einem rein materiellen Wohlbefinden nicht zufrieden, sie sehnen sich, wenn auch nebelhaft, nach beständigen Werten. Selbst beim Genuß flüchtiger und trivialer Befriedigungen wollen sie ihr Leben auf dauerhaften, für sie wichtigen Gewißheiten gründen. Galbraith stellte selbst fest: »Ich sehe keinen Sinn darin ... ein Ökonom als solcher zu sein. Das ist ein sehr fades Leben. Der einzige Sinn, Ökonom zu sein, besteht in dem Versuch, dem Lauf des Glücks etwas hinzuzufügen.«
Die Unsicherheiten, auf die sich Galbraith bezieht, liegen hauptsächlich im Bereich der Ökonomie und Politik, aber verschiedene Veränderungen der Sozialstrukturen tragen auch zu einer Atmosphäre der Angst und Unsicherheit der modernen Welt bei. Zum Beispiel war die Familie, als Kleinoder Großfamilie, schon immer für die Vermittlung erzieherischer und ethischer Werte sowie für viele andere Gesichtspunkte der Sozialisation verantwortlich. Diese Rollen werden jedoch nach und nach von anderen gesellschaftlichen Institutionen übernommen mit dem Ergebnis, daß eine entsprechende Abnahme der Sicherheiten, die mit Familienbanden und Zugehörigkeitsgefühlen verbunden werden, zu verzeichnen ist. Keine unserer sozialen Institutionen erfüllt noch in adäquater Weise die Rollen, die früher der Familie und Kirche zukamen.
Darüber hinaus werden in der gesamten industrialisierten Welt politische, ökonomische und soziale Organisationen so groß und komplex, daß sie vom menschlichen Verstand nicht länger erfaßt werden können, mit dem Ergebnis, daß sich die Menschen wie anonyme, entbehrliche Rädchen in der gesellschaftlichen »Megamaschine« fühlen. Unter den häufigsten Angst- und Unsicherheitssymptomen findet man das Gefühl der Hilflosigkeit angesichts der Geschehnisse, die über unseren Verstand gehen, und das Gefühl der Einsamkeit, das auf den unpersönlichen Charakter vieler sozialer Beziehungen zurückzuführen ist. Die moderne Wissenschaft trägt noch weitgehender zu der Atmosphäre von Verwirrung bei, indem sie den Eindruck erweckt, daß das menschliche Verhalten weniger von Rationalität als von Kräften gesteuert wird, die wir nicht beherrschen können.
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Eine der unglücklichen Auswirkungen einer weitverbreiteten, aber nur halb wahren wissenschaftlichen Information ist das Gefühl vieler Leute, daß der Stolz, Mensch zu sein, unbegründet ist. Nach ihnen beschränken die Macht festgelegter biologischer Kräfte sowie die Unermeßlichkeit von Zeit und Raum die menschlichen Qualitäten auf die einer Marionette.
Nachdem viele hochgebildete Menschen den früheren Glauben verloren haben, die Welt sei für das menschliche Leben bestimmt, versuchen sie intellektuellen und emotionalen Ersatz für die verlorenen Gewißheiten zu finden. Sie eignen sich astrologische oder mystische Lehren an, die als Ausdruck großer Weisheit gelten, da sie ihren Ursprung in alten Zeiten und fernen — vorzugsweise fernöstlichen — Orten haben. Die Anziehungskraft sozialer oder religiöser Sekten, selbst wenn diese blinden Gehorsam gegenüber einem Führer fordern, besteht darin, daß sie die Wärme enger menschlicher Beziehungen und auch eine Art Gewißheit wiederherstellen, die für innere Ruhe sorgen.
Obwohl unsere Zeit das Zeitalter der Unsicherheit genannt wurde, kennzeichnet sie paradoxerweise auch eine Zunahme von Gewißheiten hinsichtlich bestimmter fundamentaler Gesichtspunkte des Lebens, insbesondere der Menschenrechte und Umweltqualität. Darüber hinaus erfuhren alte Gewißheiten, die auf klassischen Wertsystemen fußten, neue Bestärkung durch moderne wissenschaftliche Erkenntnisse, was einige Beispiele verdeutlichen.
Früher wurden Verhaltensregeln weitgehend aus den in einer Gemeinschaft vorherrschenden religiösen und ethischen Systemen abgeleitet. Heute werden viele dieser Regeln durch sachliche, wissenschaftliche Informationen unterstützt. Die biblische Lehre zum Beispiel, daß alle Menschen Nachkommen von Adam und Eva sind, steht im Einklang mit der wissenschaftlichen Tatsache, daß alle Menschen dasselbe fundamentale genetische Erbgefüge besitzen. Die Bürgerrechtsbewegung und, noch allgemeiner, die Menschenrechtsbewegung erhalten ihre wissenschaftliche Berechtigung aus dem Wissen, daß alle Menschen zu einer festumrissenen biologischen Spezies gehören.
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Wissenschaftliche Erkenntnisse haben das Konzept, daß der Homo sapiens nur dann wirklich menschlich werden kann, wenn er in einer menschlichen Gesellschaft fungiert, bestätigt und erweitert. Alle Menschen sind darüber hinaus von Geburt an mit vielen Entwicklungsmöglichkeiten ausgestattet, aber sie können nur in dem Umfang zum Ausdruck gebracht werden, wie ihre Entwicklung von geeigneten Umweltbedingungen gestattet und angeregt wird. Eine gute Umgebung schließt also nicht nur Bedingungen ein, die für das Wachstum und die Körperfunktionen geeignet sind, sondern auch für die Entwicklung und Äußerung geistiger Eigenschaften. Das Bedürfnis nach Erziehung und einem Beruf in einer geeigneten Umgebung ist deshalb ein unveräußerliches Menschenrecht.
Unser Erbgut deutet stark darauf hin, daß die menschliche Spezies aus der subtropischen Savanne stammt, und unsere physiologischen Bedürfnisse zeigen, daß wir noch heute biologisch an diese Umweltbedingungen angepaßt sind. Da die meisten Menschen nicht lange in Gegenden überleben könnten, in denen sie sich niedergelassen haben, müssen sie gezwungenermaßen aus der natürlichen Umgebung heraus die Bedingungen und Ressourcen schaffen, die für die menschliche Existenz nötig sind. Umweltforscher finden es vielleicht intellektuell oder moralisch schockierend, daß die biblische Lehre dem Menschen die Herrschaft über die Natur gibt, aber in der Praxis läßt die wissenschaftliche Erkenntnis keinen Zweifel daran, daß der Fortbestand menschlichen Lebens auf die Humanisierung eines großen Teils der Erde hinausläuft. Andererseits stimmen die Lehren aller großen Religionen mit den modernen ökologischen Erkenntnissen überein, wenn sie empfehlen, die Erde nicht wie einen Steinbruch auszubeuten, sondern im Sinne einer Treuhänderschaft zu nutzen.
Vom 17. Jahrhundert an standen Wertsysteme außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Wissenschaftsforschung. Es wird heute jedoch erkannt, daß dies zu einer Kenntnisfülle geführt hat, die viele und sehr wichtige Erscheinungsweisen des menschlichen Lebens außer acht läßt — von der Liebe zum Haß, von der Hoffnung zur Verzweiflung, von der Erlösung zur Verdammung.
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Bisher ist kein verläßlicher Weg gefunden worden, die Methoden der Naturwissenschaften auf diese Gesichtspunkte menschlicher Gefühle anzuwenden. Trotz ihrer kühnen Behauptungen hat die Soziobiologie bis jetzt noch kaum signifikante Verbindungen zwischen den rein biologischen Aspekten des Lebens und denjenigen, die ausschließlich menschlich sind, hergestellt. Auf der anderen Seite benutzen wissenschaftliche Zeitschriften in einigen Artikeln immer häufiger den Begriff Pflicht. Auf gesellschaftliche Belange angewandt, hat dieses Wort nur innerhalb eines gegebenen Wertsystems Bedeutung. Tatsächlich beinhaltet es eine Rückkehr zu einer Werthierarchie, die der Würde einer Person und der verantwortlichen Führung von Gesellschaften den Vorrang gibt.
Eine der neuen Gewißheiten unseres Zeitalters ist, daß die Wissenschaft nicht rein objektiv sein kann, wie immer angenommen wurde. Alle Wissenschaftler werden in der Auswahl der Probleme, in ihrer Herangehensweise und in der Anwendung ihrer Entdeckungen — unbewußt, wenn nicht sogar bewußt — von Überlegungen hinsichtlich ihrer Bedeutung für Wertsysteme beeinflußt. Wir befassen uns nicht nur mit dem menschlichen Leben, sondern auch mit dem Leben als Prinzip, nicht nur mit der Qualität unserer regionalen Umwelt, sondern auch mit der Erde als Ökosystem. Wir beginnen uns von dem abstrakten Gesellschaftskonzept wegzubewegen, hin zu den verlockenderen moralischen Werten der menschlichen Gemeinschaften.
Menschliche Gemeinschaften
Überall auf der Erde lebten in prähistorischen und frühen historischen Zeiten die meisten Menschen in kleinen Gruppen zusammen, entweder in festen Dörfern oder als Nomaden. In einer neuen Untersuchung der primitiven Yonomamo in Venezuela und Brasilien entdeckte der Anthropologe Napoleon Chagnon, daß ein Dorf im Streit auseinanderbricht, wenn es über die Anzahl von hundert Bewohnern hinauswächst. Spannungen entwickeln sich auch in den Amish-Dörfern, wenn ihre Bevölkerungszahl 500 Personen übersteigt.
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Überall auf der Erde bestand die typisch menschliche Gemeinschaft zumeist aus nur wenigen hundert Menschen. Es mag überraschen, daß dies auch heute noch auf die riesigen modernen Städte in Form der Nachbarschaften zutrifft. Viele Romane und wissenschaftliche Abhandlungen sind über die sozialen und emotionalen Gesichtspunkte kommunalen Lebens geschrieben worden, hauptsächlich aber von Städten und Großstädten. Wahrscheinlich vernachlässigten Schriftsteller und Soziologen die Dörfer, weil sich zwar das menschliche Leben in kleinen Gemeinden abgespielt hat, die Zivilisation aber weitgehend in den Städten, ob groß oder klein, entstand.
Viele weltberühmte Städte begannen nicht als Landwirtschaft betreibende Dörfer, die mit der Zeit größer wurden, sondern eher als Handelszentren, in die die Menschen aus anderen Teilen der Welt kamen, um Güter und Informationen auszutauschen. Großstädte haben oft als Stätten angefangen, an denen sich Menschen versammelten, um einen besonderen Gott oder eine besondere Göttin zu verehren, und wo sie ein gewisses Glaubenssystem entwickelten und praktizierten. Von Anfang an waren Städte daher Plätze, die die verschiedenen menschlichen Begegnungen begünstigten, damit wurden sie nicht nur Schaltstellen politischer Macht, sondern auch regionale Zentren der Zivilisation.
Die Städte gewannen an Größe und Bedeutung im Laufe der verschiedenen historischen Epochen, aber die Entwicklungsgeschwindigkeit nahm mit der industriellen Revolution zu. Die augenfälligsten Gründe für diese Beschleunigung waren der erhöhte Bedarf an Arbeitskräften für die wie Pilze aus dem Boden schießenden Fabriken in den Industriezentren; die Leichtigkeit, mit der Nahrungsmittel und andere Materialien mittels des neu entwickelten Schienensystems über weite Strecken transportiert werden konnten; die Mechanisierung der Landwirtschaft, die fortlaufend die Zahl der ländlichen Arbeitskräfte freisetzte; das ständig zunehmende Bedürfnis nach bürotechnischen Arbeiten und anderen Dienstleistungen, die sich aus der größeren Komplexität administrativer Anforderungen innerhalb der Unternehmen selbst und ihrer Beziehungen zu den Regierungsstellen ergaben.
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In unterschiedlichem Maße sind diese Faktoren auch heute noch wirksam, und ihre Auswirkungen auf die Landflucht haben aufgrund der weltweit vorherrschenden Arbeitslosigkeit noch zugenommen und das Gefühl arbeitsloser Menschen verstärkt, Arbeit und nötigenfalls Wohlfahrtshilfe in größeren Städten eher finden zu können als in Dörfern.
Aufgrund dieser und noch vieler anderer Ursachen gab es zahllose Weltstädte, die 1978 mehr als eine Million Einwohner zählten. In den sogenannten Entwicklungsländern, die eigentlich die armen Länder der Welt sind, haben mehrere Städte eine Bevölkerungszahl von zehn Millionen Menschen erreicht und damit New York und London überflügelt. Es wird gesagt, daß Mexiko-Stadt beim gegenwärtigen Bevölkerungszuwachs Anfang des nächsten Jahrhunderts eine Größenordnung von fünfzig Millionen Menschen besitzen wird.
In den meisten Fällen ist es nicht leicht, gültige Einwohnerzahlen für die Welt-Megalopolen anzugeben, weil viele von ihnen keine isolierten Städte sind, sondern eher Zentren von Gebieten mit hoher Bevölkerungsdichte. Zum Beispiel ist die exakte Zahlenangabe für die Stadt New York als Verwaltungseinheit nicht so interessant wie die Zahl, die die Bevölkerungen des Staates New York, von New Jersey und Connecticut umfaßt, die an die eigentliche Stadt New York grenzen. Dasselbe gilt für London, Paris, Tokio, Shanghai und jede andere Megalopolis. Es gibt daher keinen Zweifel daran, daß die gesamte Welt sich in einem Prozeß der Verstädterung befindet. Es ist jedoch nicht sicher, ob diese überall vorhergesagte Entwicklung unaufhörlich zunehmen wird. Wir könnten Zeugen einer der vielen historischen Tendenzen werden, die sich bis zur Absurdität steigern und zwangsläufig ihrem Ende entgegengehen, das zwar nicht unbedingt eine Katastrophe, zumindest jedoch eine Art von Zusammenbruch sein wird.
Es gibt tatsächlich viele Menschen, die glauben, daß Städte nicht mehr länger wesentlich sind und nur dann überleben können, wenn sie so gestaltet und gelenkt werden, daß sie die Lebensqualität stark verbessern.
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Das setzt voraus, daß die höchste Priorität bei der Verwaltung und Führung von Städten nicht auf ihre Leistungssteigerung gelegt werden darf, sondern eher auf ihre natürlichen Reize, da diese auf lange Sicht die einzigen Faktoren sein könnten, die ihre Existenz rechtfertigen. Wenn sich die Menschen an der städtischen Umwelt, in der sie leben, nicht mehr erfreuen, dann werden sie an Orte abwandern, wo die Medienrevolution es ihnen erlauben wird, an Erfahrungen und Begegnungen teilzunehmen, die in der Vergangenheit nur das urbane Leben verschaffen konnte.
Auf jeden Fall sehen die Stadtplaner mittlerweile einer Zeit entgegen, in der wir nicht länger gewillt sein werden, unser Geld für riesige Verkehrssysteme auszugeben, damit wir in Büros und Fabriken einer Arbeit nachgehen, die ebensogut zu Hause mit Hilfe der elektronischen Kommunikation und elektronischer Geräte durchgeführt werden könnte. Das Stadtleben hat jedoch zusätzlich subtile Vorzüge, die über wirtschaftliche Überlegungen hinausgehen.
Bestenfalls wird das Dorfleben von Kontinuität, Friedlichkeit und Behaglichkeit charakterisiert — jedoch mit wenig Anregungen für bestimmte unruhige Geister. Im Gegensatz dazu verkörpert die Stadt die Möglichkeit vielfacher Begegnungen mit neuen Menschen, Ideen und Erfahrungen — mit anderen Worten, die Wahrscheinlichkeit von lohnenswerten und risikoreichen Abenteuern. Es ist üblich, den Liebreiz des Dorflebens zu besingen, aber die Möglichkeit zu Abenteuern hat auf einen großen Prozentsatz von Menschen immer eine starke Anziehungskraft ausgeübt. Zu allen Zeiten und wann immer sie die Chance dazu hatten, haben die Menschen mit ihren Füßen gewählt und sind vom Land in die Stadt gezogen. Ich bin einer von ihnen. Obwohl ich das kleine Bauerndorf liebte, in dem ich aufgewachsen bin, habe ich während meines gesamten Lebens in Großstädten gelebt und lebe auch jetzt noch, obwohl ich vor über zehn Jahren die Universität verließ, mitten in Manhattan.
Ich bezweifle, daß sich die Menschen allein deshalb in städtischen Anballungen niederlassen, weil sie dort bessere Arbeitsmöglichkeiten finden.
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Im Verlaufe meines langen Lebens habe ich überall und insbesondere in den Vereinigten Staaten viele Söhne und Töchter erfolgreicher Farmer kennengelernt, die auf dem Hof sehr reich geworden wären, aber dennoch die Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten des Stadtlebens auf sich nahmen — aus purer Abenteuerlust. Und die Leute gehen auch nicht wegen der Denkmäler, Theater, Konzerthallen, seltenen Bäume, Blumen oder Gesteine, so schön sie auch sein mögen, in die Stadt.
Sie gehen hauptsächlich um der menschlichen Begegnungen willen mit ihren Möglichkeiten gesellschaftlicher Kontakte, intellektueller und emotionaler Befriedigungen dorthin — vor allem aber in der Hoffnung auf das Unerwartete. Mit wenigen Ausnahmen sind die Menschen erst dann bereit, sich mit den physischen Vorzügen wie der Architektur oder den Parkanlagen zu befassen, wenn diese Erwartungen befriedigt werden. Tatsächlich können die Vorzüge des Stadtlebens erst dann in nutzbringender Weise definiert werden, wenn ihr Beitrag zur Bereicherung menschlicher Begegnungen berücksichtigt wird.
Überall versammeln sich die Menschen wahrscheinlich eher dort, wo sich menschliche Aktivitäten entfalten, die sie entweder interessieren, gefühlsmäßig ansprechen oder gesellschaftlich einbeziehen. Kunstgewerbegeschäfte, Straßenoder Buchhändler waren üblicherweise Treffpunkte, weil sie Zurschaustellungen menschlichen Unternehmungsgeistes boten. Daß Bahnhöfe in der Vergangenheit populär waren und heute bestimmte Flughäfen, ergibt sich aus der Tatsache, daß sie aus zweiter Hand die mit Reisen und Auslandsbegegnungen verbundene Abenteuerlust verschaffen. Die meisten Baustellen und Hausabrisse ziehen gleichfalls Zuschauer an.
Ereignisse mit der größten Anziehungskraft sind jedoch diejenigen, bei denen ein Individuum einen aktiven Part im öffentlichen Leben übernehmen kann und daher sowohl Akteur als auch Betrachter ist. Piazze, Arkadengänge und Straßencafes sind Beispiele für solche Situationen.
Aufgrund komplexer historischer Ursachen sind attraktive öffentliche Plätze im Freien in den Vereinigten Staaten ziemlich selten, aber die Eingangstreppen zu den Häusern in Manhattan und die niedrigen Mauern um die Springbrunnen vor den Wolkenkratzern werden seit einigen Jahren zunehmend von Bummlern, Arbeitern, Liebenden und Stadtstreichern, selbst in den geschäftigsten Straßen, als Treffpunkte benutzt.
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Das vorbeiziehende Stadtleben stellt ein endloses Schauspiel für den Betrachter dar, der selbst durch sein Verhalten und seine Bemerkungen zu diesem Schauspiel beiträgt.
Natürliche und architektonische Höhepunkte sind selbstverständlich Aktivposten einer jeden Stadt, aber noch wichtiger sind die Schauspiele, die sich aus den alltäglichen menschlichen Vorfällen in den Straßen, Parks und anderen attraktiven öffentlichen Plätzen im Freien ergeben. Im Vergleich zum wirtschaftlichen Erfolg muß der menschliche Erfolg einer Stadt an den Möglichkeiten gemessen werden, wie die Bürger und Besucher in ihr kollektives Leben einbezogen werden. Die Städte unterscheiden sich in dieser Hinsicht weit voneinander. In einigen Städten wird jede Aktivität auf der Straße, außer Autowaschen oder Rasensprengen, als Herumlungern angesehen.
In anderen Städten ist die Straße lediglich eine Schnellstraße, die zur nächsten Stadt führt. Es wurde einmal gesagt, daß das Straßenleben in einigen Teilen von Los Angeles darin besteht, auf den Parkplätzen vor Supermärkten mit Leuten zusammenzustoßen. Im Gegensatz dazu können die meisten Weltstädte mit Stolz auf ihre Promenaden blicken; wie zum Beispiel auf die links und rechts von Buchständen gesäumte Seinepromenade in Paris; die Ramblas in Barcelona mit ihren Blumen-, Vogel- und Zeitungshändlern; II Corso in Rom und eigentlich alle anderen Straßen; die Madison Avenue in Manhattan mit ihren modisch gekleideten Menschen, die durch die Boutiquen und Kunstgalerien flanieren; die Lower East Side mit ihren lärmenden, feilschenden Käufern, Kaufleuten und Spaziergängern fast jeder Hautfarbe.
Aufgrund der biologischen Grenzen des menschlichen Gehirns ist es unmöglich, mehr als ein paar hundert Menschen wirklich zu kennen. Konsequenterweise liefert das kleine Dorf vermutlich die angenehmste soziale Lebenseinheit. Aber diese Bequemlichkeit hat ihren Preis. Der Stamm oder das Dorf bieten nur eine begrenzte Bandbreite menschlicher Beziehungen und üben darüber hinaus Verhaltenszwänge aus, die die persönliche Entwicklung einschränken. Im Gegensatz dazu bietet die Stadt größere Freiheiten und eine große Palette von Entscheidungsmöglichkeiten.
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Die Vielseitigkeit ihrer Arbeitsplätze, ihrer Unterhaltungsmöglichkeiten sowie ihrer spezialisierten Gruppierungen bietet ein breites Spektrum für menschliche Aktivitäten und Beziehungen, aus denen sich der einzelne seine eigene persönliche und menschliche Nachbarschaft wählen und schaffen kann. Wichtiger noch ist dabei, daß die Straßen, Plätze oder Alleen, die Cafes, Restaurants und andere öffentliche Einrichtungen die Gelegenheit zu zufälligen Kontakten bieten, die sehr lohnend sein können, gerade weil sie nicht planbar sind und somit eine spannende Komponente in das Leben bringen.
Da das Hauptverdienst der Stadt darin besteht, ein breites Spektrum von Möglichkeiten und Leuten anzubieten, um unter den geeigneten Umständen seinen eigenen Lebensstil verfolgen zu können, ist die Mannigfaltigkeit der städtischen Umwelt weit wichtiger als ihre Leistungsfähigkeit oder Schönheit. Die großen Weltstädte bezogen ihre reiche Vielfältigkeit aus der wechselvollen historischen Vergangenheit — das ist einer ihrer größten Vorzüge. Es mag anstrengend und traumatisierend sein, in New York, London, Paris oder Rom zu leben, aber sie bieten in weit größerem Maße jene stimmungsvollen Atmosphären und öffentlichen Plätze, die jeder Stadtbewohner als Bühne seines eigenen Lebens nutzen kann, um so seine selbstgewählte Persönlichkeit zu bilden, wie ich es in den Jardins du Luxembourg von Paris tat.
Während die großen Weltstädte bis zu den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts kontinuierlich an Größe und Komplexität zunahmen, gibt es jetzt Anzeichen dafür, daß die Bevölkerungszahlen in den berühmtesten Städten zurückgehen. In unzähligen Umfragen, die vor kurzem in Nordamerika und Europa durchgeführt wurden, hat sich eine große Mehrheit der Bevölkerung für ein Leben in Kleinstädten, Städten überschaubarer Größe und sogar in Dörfern ausgesprochen. Volkszählungen zeigen in der Tat, daß die Bevölkerungszahl sehr großer amerikanischer und europäischer Städte, trotz eines allgemeinen Bevölkerungszuwachses, abnimmt, während die der Kleinstädte und Dörfer ansteigt. Die Menschen sind innerlich vielleicht noch nicht bereit, in das Dorf zurückzukehren, aber sie haben zumindest in hochentwickelten Ländern wieder einmal damit begonnen, mit den Füßen zu wählen — diesmal gegen die Megalopolis.
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Diese Tendenz ist teilweise auf das spannungsreiche städtische Leben zurückzuführen, aber ich bezweifle, daß dieses häufig angeführte Argument tatsächlich eine hinreichende Begründung darstellt, da in den Kleinstädten und Dörfern andere Formen des Zwangs herrschen. Noch wichtiger ist vielleicht die Tatsache, daß Städte ab einer bestimmten Größe immer schwieriger und kostspieliger zu verwalten sind. Demographen und Stadtplaner, die von zukünftigen Städten mit fünfzig Millionen Menschen sprechen, scheinen die Nahrungsmittel- und Wasserversorgung, die Müllabfuhr und andere Versorgungsleistungen für diese Bevölkerungsmassen zu vergessen — aktuelle Probleme, für die es keine erkennbaren Lösungen gibt.
Darüber hinaus berührt das Vorhandensein von Kunstschätzen und kulturellen Aktivitäten, die durch die Größe der Stadt ermöglicht werden, ab einem gewissen Punkt kaum noch die Lebensinteressen des Durchschnittsbürgers. Der Sättigungsgrad in bezug auf Konzerthallen, Theater, kunsthistorische und technische Museen wie auch Sportereignisse, die von Städtern innerhalb einer Stunde erreicht werden können, ist schnell erreicht. Tatsächlich glauben viele Stadtplaner, daß sich eine Stadt mit 500.000 oder sogar 250.000 Einwohnern alle Errungenschaften der modernen Zeit leisten kann, wie zum Beispiel eine Universität oder ein Krankenhaus, das mit gut ausgebildetem Personal und einer Einrichtung versehen ist, die selbst für das schwierige Gebiet der Gehirnchirurgie geeignet ist. Eine Stadt dieser Größe kann mehr Stätten für Kultur, Unterhaltung und Sport bereitstellen, als der einzelne Stadtbewohner jemals ausnutzen kann.
Meiner Ansicht nach bieten die größeren Städte den Vorteil, eine größere Vielfalt der Umwelt, der Arbeitsmöglichkeiten und insbesondere der Menschen zu bieten. Der amerikanische Architekt Louis Kahn liebte es, die Stadt als den Ort zu beschreiben, an dem junge Menschen die Straßen durchstreifen können, bis sie das Finden, was sie für den Rest ihres Lebens machen wollen.
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Folglich rühmte Kahn die Straßen im übertragenen und wörtlichen Sinne als Vehikel für Entdeckungsmöglichkeiten. Das war, wie ich bereits ausgeführt habe, im wesentlichen auch der Prozeß meiner eigenen Selbstfindung in den Straßen und Parkanlagen von Paris.
Das Erlebnis der menschlichen Vielfalt in großen städtischen Ballungsgebieten kann nicht nur für junge Menschen bereichernd und unterhaltsam sein, das gilt für jedes Lebensalter. Meine Frau und ich hatten in Manhattan während der letzten Monate berufliche und dann persönliche Kontakte zu vier jungen, fast gleichaltrigen Asiatinnen, die in den Vereinigten Staaten ausgebildet worden sind. Die eine ist Thailänderin und arbeitet in einem Biolabor, die zweite ist Mongolin, sie arbeitet beim Fernsehen. Die dritte ist Japanerin und arbeitet bei einem Verlag, die vierte, eine Chinesin, arbeitet an der soziologischen Fakultät und beschäftigt sich mit dem Ahnenkult. Zwei dieser Asiatinnen sind Anhänger von zwei verschiedenen buddhistischen Glaubensrichtungen, die dritte ist Presbyterianerin, die vierte Jüdin. Diese ethnische und kulturelle Vielfalt kann vielleicht in Berlin, London, Paris, Rom und noch einigen anderen kosmopolitischen Metropolen beobachtet werden, aber kaum in Städten mit 250.000 Menschen, selbst wenn diese sich die technisch ausgereiften Errungenschaften der modernen Welt leisten können.
Einer der häufigsten Kritikpunkte, die gegen riesige moderne Großstädte gerichtet werden, ist, daß sie die Aufsplitterung in tausend spezialisierte Berufsgruppen begünstigen, was die gesellschaftlichen und menschlichen Kontakte verarmen läßt. Die Spezialisten entwickeln Kommunikationsformen, die sich so von denen anderer Menschen unterscheiden, daß sie beinahe so unverständlich wirken wie eine fremde Sprache. Die Spezialisierung hat mittlerweile so weit um sich gegriffen, daß nahezu niemand mehr in der Lage ist oder es versucht, die Megalopolis als ganze zu verstehen. Auch das volkswirtschaftlich ausgerichtete Lohnsystem großer Städte ermöglicht es Kindern praktisch nicht mehr, eine nützliche soziale Funktion zu übernehmen. Anstatt produktive Kapitalanlagen zu sein, sind sie vielmehr eine kostspielige Bürde und verschaffen möglicherweise noch nicht einmal die psychologische Erfüllung, die sich ihre Eltern erhoffen.
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Am anderen Ende der Alterskurve finanzieren die Sozialversicherung und andere Rentenversicherungen den unabhängigen Lebensunterhalt älterer Menschen und trennen sie so von ihren Kindern und Enkeln. Familienbande werden allmählich schwächer. Gegenseitige Verantwortung, einst eine der stärksten verbindenden Kräfte einer Gesellschaft, wird nicht mehr im Familienzusammenhang erlernt.
Gemeinden und Nachbarschaften reichen in ihrer auf Gegenseitigkeit beruhenden Fürsorge an Familien heran und sind ebenfalls Opfer der Megalopolis. Apartmenthochhäuser und Satellitenstädte haben der Nachbarschaft den Nachbarschaftsgeist genommen. Seinem Nachbarn bei kleinen Alltagsgeschäften zu begegnen fördert die Geselligkeit, die stark abnimmt, wenn jeder sein Auto fährt oder in riesigen öffentlichen Verkehrsmitteln hin- und hergeschoben wird.
In den Vereinigten Staaten sind fast 17 Prozent der Erwerbstätigen bei der Regierung angestellt und 20 Prozent bei den 500 größten Unternehmen. Die Bürokratie dieser beiden Organisationsformen, die sich in oder in der Nähe von riesigen Stadtzentren konzentriert, bestimmt viele Faktoren des Lebens. Die äußerste Komplexität städtischer Ballungsgebiete bedeutet, daß ein primitiver Verwaltungsapparat mit den mannigfachen Problemen nicht mehr fertig werden kann. Je mehr die administrative Struktur durchschaut wird und offensichtlich nicht mehr den Erwartungen entspricht, desto häufiger wird sie gegenüber Protesten, Sabotage und sozialen Unruhen anfällig. Massive und andauernde Arbeitslosigkeit in der Hauptstadt führt zum Beispiel unweigerlich zu sozialen Zerreißproben.
Es ist, kurz gesagt, eine weitverbreitete Ansicht, die Verstädterung zerstöre unsere Fähigkeit, ein Heim und nachbarschaftliche Verhältnisse zu schaffen. Die Abhängigkeit von Verkehrsmitteln entwertet die menschlichen Füße und hält uns in einer frustrierenden und schädlichen Unbeweglichkeit fest. Die überinstitutionalisierte Erziehung für die Massen junger Menschen verkrüppelt und erdrückt ihre Lernfähigkeit. Unzählige Stimmen werden jetzt laut, daß die führenden Institutionen der Stadtgesellschaft unproduktiv geworden sind und uns gerade das rauben, was sie angeblich anbieten.
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Die Unzufriedenheit mit dem modernen Leben scheint in den hochurbanisierten Ländern, die auch das höchste Bruttosozialprodukt je Einwohner besitzen, am größten zu sein. Viele wohlhabende Mitglieder dieser Gesellschaften, vor allem die Jugend, behaupten, daß sie die materiellen Werte und die Institutionen des <Stadt-Industrie-Komplexes> ablehnen und daß sie Halt in esoterischen Religionen, Magie und Astrologie finden würden.
Einige haben versucht, in Kommunen einen einfachen Lebensstil zu praktizieren. Doch schlugen die meisten der in den sechziger und siebziger Jahren in den Vereinigten Staaten begonnenen Experimente mit Kommunen fehl. Die wenigen stabilen und sich weiterentwickelnden Kommunen zeigen hingegen, daß ein modernes Leben auch in kleinen menschlichen Gemeinschaften erfolgreich geführt werden kann. Dies hat die Geschichte des modernen Staates Israel bewiesen, wo das vor dreißig Jahren gegründete Kibbuzsystem immer noch wächst, blüht und gedeiht.
Der Kibbuz ist eine Kommune, in der sowohl Produktion als auch Konsumtion von allen Mitgliedern gleichberechtigt geteilt werden. Die Erwachsenen essen in einem Gemeinschaftssaal, nehmen alle Dienstleistungen der Gemeinschaftseinrichtungen in Anspruch und erhalten gleichen Lohn. Die etwa 230 Kibbuzim mit etwa 100.000 Mitgliedern machen 3,5 Prozent der israelischen Gesamtbevölkerung aus. Die Kibbuzbewegung hat jetzt einen jährlichen Zuwachs von fast drei Prozent. Das ist niedriger als der israelische Bevölkerungszuwachs, sichert jedoch das absolute Wachstum der Kibbuzim. Viele Mitglieder gehören bereits der zweiten oder dritten Generation an.
Im Gegensatz zu anderen kommunalen Experimenten hat der Kibbuz nie rückständige Tendenzen vertreten. Er beruht auf der Dorfstruktur und stellt doch die allgemeine Auffassung in Frage, der ländliche Lebensstandard und seine kulturellen Aktivitäten könnten qualitativ nicht so hochstehend wie in städtischen Zentren sein. Die landwirtschaftlichen und industriellen Verfahren des Kibbuz gehören zu den besten der Welt, sie nutzen hochentwickelte Maschinen, Computer und das beste organisationstechnische Wissen.
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Im Kibbuz werden technische und ökonomische Errungenschaften nicht mit dem Individuum, sondern mit dem Kollektiv identifiziert. Er beruht nicht auf dem Konkurrenzprinzip, sondern strebt eine kreative Atmosphäre der Kooperation an. Im Idealfall sollen die Arbeitskollegen auch die Freunde in der Freizeit sein. Jedes Mitglied hat nach den Regeln der direkten Demokratie die gleichen politischen Rechte und nimmt an den verschiedenen Entscheidungsprozessen teil. Obwohl die Arbeit ein wesentlicher Faktor der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Kibbuz ist, steht doch den meisten Mitgliedern für ihre Hobbys, je nach Neigung und Wunsch, genügend Freizeit zur Verfügung.
Die Menschen können jederzeit einem Kibbuz beitreten, wenn sie sich seinen Regeln unterwerfen. Sie können ebenso jederzeit den Kibbuz verlassen, wenn ihnen die Lebensweise aus gesundheitlichen oder sozialen Gründen nicht zusagt. Als Folge dieser uneingeschränkten Freiheit hat der Kibbuz eine hohe Fluktuation. In der zweiten und dritten Generation beträgt die Zahl der Abgänger jedoch weniger als 25 Prozent, drei Viertel der Kibbuzniks bleiben und akzeptieren diese Lebensform.
Völlig »neue Städte« unterschiedlichster Größenordnung sind oder werden in Industriestaaten errichtet, um das unkontrollierte Wuchern der Megalopolis zu verhindern oder zu verlangsamen. Diese »New-Town«-Bewegung kommt, wie auch ihr Name, aus Großbritannien, ist heute jedoch in ganz Europa verbreitet. Der Begriff bezieht sich auf Städte mit 50.000 bis 250.000 Einwohnern. Diese Satellitenstädte werden oft wegen ihrer kühlen, unpersönlichen Atmosphäre oder wegen ihres Mangels an menschlicher Wärme kritisiert. Diese Kritik ist nicht ganz gerechtfertigt. Eine Stadt oder Großstadt braucht mehrere Generationen, bis sie die Qualitäten erlangt, die das menschliche Leben bereichern und zur Zivilisation beitragen. Eine jüngere Studie zeigt auf, daß Harlow, die älteste englische »New Town«, seit ihrer Erbauung im Jahre 1955 zu einem wirklichen Zuhause für Menschen aller Altersgruppen geworden ist. Die Hauptklagen scheinen von den Jugendlichen zu stammen, die das Leben hier so wohlgeordnet und friedlich finden, daß sie in die ärmeren Stadtviertel von London gehen müssen, wenn sie sich sozial engagieren wollen.
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Die meisten »New Towns« wurden so konzipiert, daß sie die Wiederbelebung von Nachbarschaften erleichtern. Zum Beispiel ist jedes Stadtgebiet normalerweise in mehrfache Untereinheiten für jeweils rund tausend Menschen aufgeteilt. Jede dieser Einheiten besitzt ein Äquivalent zum »Dorfplatz«, Cafes, Schulen und andere Gemeinschaftseinrichtungen. Es gibt auch nahe Erholungsgebiete mit teils natürlichen, teils künstlich angelegten Landschaften und Gewässern, die die gesamte Stadt umgeben.
Einige Stadtplaner sind ehrgeiziger und vertreten den Standpunkt, daß es an der Zeit sei, die Planung von Siedlungen im Hinblick auf die Errichtung wirklicher Dörfer zu überdenken, da es die moderne Kommunikationstechnik ermögliche, überall im Land die meisten, wenn nicht alle sozialen und kulturellen Errungenschaften zur Verfügung zu stellen, die einst das Privileg der Großstädte waren.
Zum Beispiel wurden in Mittelfrankreich Pläne entwickelt, ein Privatgrundstück mit rund 162 Hektar Land in ein hochmodernes Dorf zu verwandeln. Der Träger dieses Unternehmens ist eine gemeinnützige internationale Organisation, die von privaten und öffentlichen Geldern finanziert wird. Das Grundstück besitzt 16 Hektar Wald, der Rest sind Weiden und wenig ertragreiches Ackerland. Es gibt dort Wirtschaftsgebäude und ein 1890 erbautes großes Gutshaus, das einigermaßen gut erhalten ist. Wald, Äcker und Weiden sowie der schnellfließende Fluß verschaffen dem neuen Dorf weitgehend Autonomie hinsichtlich der Nahrungsmittel- und Energieversorgung, aber auch der verschiedenen sozialen und kulturellen Aktivitäten.
Das neue Dorf wird aus etwa 120 Privathäusern bestehen, die nach ökologischen Gesichtspunkten energiesparend konstruiert werden; man wird sie dicht gruppieren, um möglichst viel landwirtschaftliche Nutzfläche zu erhalten. Die Stadtplaner hoffen und nehmen an, daß sich Menschen vieler verschiedener Überzeugungen und Berufe, einschließlich einiger Künstler, hier niederlassen werden. Der Bauernhof wird modernisiert und nach neuesten landwirtschaftlichen Gesichtspunkten auf der Basis ökologischer Erkenntnisse und der Energieeinsparung umstrukturiert werden.
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Das bestehende Gutshaus wird restauriert und zu einem Hotel mit Tagungsräumen für öffentliche Veranstaltungen, Konzerte und Fortbildungskurse umgebaut. Sobald Überschüsse aus dem Unternehmen erzielt werden, will man sie für bestimmte Forschungszwecke einsetzen, insbesondere zur Entwicklung biologischer Anbauweisen und geeigneter Verfahren zur Produktion und Verwendung ständig vorhandener Energiequellen.
Im Frühjahr 1980 entwickelte eine kleine Gruppe britischer Stadtplaner umfassende Pläne für ein »Dorf der Zukunft«, das die modernsten Vorzüge der Mikroelektronik mit der wissenschaftlichen Nahrungsmittelproduktion verbinden würde. Die »Dartington-Hall«-Gesellschaft in Devon, die das Projekt gefördert hat, stellte es als eine Verbindung von Mikroelektronik und ökologischer Revolution dar, deren Ziel die Schaffung einer möglichst autonomen Gemeinde sei, mit dem Schwergewicht auf Energieeinsparung und Erhaltung der Umweltqualität. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt existiert dieses Projekt nur in einem Modell im Maßstab 1 : 250, aber seine Befürworter sind zuversichtlich, daß es in einem wirklichen Gemeinwesen in die Realität umgesetzt werden kann — »gestützt auf die Pfeiler der Energieeinsparung, der Vollbeschäftigung und Selbstverwirklichung«.
Aus dem Modell geht hervor, daß diese Siedlung um einen zentralen Platz mit Markt liegen wird, ohne Autoverkehr. Der Platz wird von öffentlichen Gebäuden gesäumt sein: Kindertagesstätte, Kur- und Ärztezentrum, Schule mit Erwachsenenbildungseinrichtungen und ein Gebäude, das die Planer »Tauschzentrum für Fachkenntnisse« nennen. Darüber hinaus wird es ein Cafe, eine Bücherei und andere sonst übliche Gebäude geben.
Eine ungewöhnliche Einrichtung dieser Siedlung wird das Zentrum für kommunale Dienstleistungen, im Plan »Hüttenbüro« genannt, sein. Die Einheimischen und Besucher sollen davon Gebrauch machen. Der Allgemeinheit sollen Computer, Nachrichten- und Beratungsdienste, Fernsehen, Telex und andere Kommunikationsformen, einschließlich eines zentralen Schreib- und Buchhaltungsbüros, zugänglich gemacht werden. Die Konzentration auf die Mikroelektronik eröffnet die Möglichkeit, allen Altersstufen eine bunte Palette von Bildungsangeboten und Unterhaltungsmöglichkeiten anzubieten.
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Die Gestalt der Siedlung betont die Energieeinsparung. Häuser und Werkstätten werden sich eng um den Zentralplatz drängen. Für Besucher wird es ein Hotel geben, damit extra Gästezimmer in den Privathäusern überflüssig werden. Alternative Energiequellen werden überall dort eingesetzt, wo es möglich ist; der Strom soll weitgehend von Wind- und Hydrogeneratoren erzeugt werden. Eine größtmögliche Nahrungsmittelmenge soll an der Peripherie des Dorfes erzeugt werden, Recycling an Ort und Stelle soll nicht nur Kompost, sondern auch sauberes Wasser, Methan und andere durch biologische Fermentierung gewonnene Brennstoffe liefern. In einer Gemeindegarage werden Personen- und Lastwagen für diejenigen stehen, die verreisen müssen.
In einem besonderen Gebäude werden die Kläranlage, eine Fischzucht und ein großes Gewächshaus untergebracht. Hier soll versucht werden, den Kreislauf der Natur zu imitieren und »Wärmebänke« zu entwickeln, die die Sommerwärme aufnehmen und im Winter wieder abgeben. Wasser ist das geeignetste und leistungsfähigste Element zur Wärmespeicherung, wie John und Nancy Todd im »New Alchemy Institute« von Cape Cod bewiesen haben. Dort machen sich die Wasserpflanzenbehälter allein aufgrund ihrer Fähigkeit, Wärme zu speichern, bezahlt. _
Die britischen Stadtplaner des »Dorfs der Zukunft« wollen nur dort komplexe Technologien einsetzen, wo sie den wesentlichen Bedürfnissen des Menschen dienen. Im Gegensatz dazu wird bei Betätigungen, die die authentische menschliche Arbeit und Selbstverwirklichung fördern, eine einfache Technologie vorgezogen. Zum Beispiel werden Roboter stumpfsinnige und repetitive Arbeiten wie Datenspeicherung und -verarbeitung übernehmen, während die Nahrungsmittelproduktion, die Konfektion und andere Betätigungsfelder des Haushalts auf niedrigem technischen Niveau bleiben sollen.
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Die Produktionsweise der kleinen Industriebetriebe, die für den Eigenbedarf des Dorfes oder für den Markt produzieren, wird hochentwickelte Technologien und handwerkliche Arbeiten miteinander verbinden. Nur wenige Menschen werden nur einen Beruf haben. Das Ziel besteht darin, die Selbstverwirklichung des Individuums zu steigern, indem die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit aufgehoben wird und die Menschen zu verschiedenen Zeiten verschiedene Aufgaben erfüllen. Die meisten werden neben ihrem Hauptberuf zusätzlich die landwirtschaftlichen Nutzflächen und die Gärten des Grüngürtels um das Dorf bearbeiten, da, wie bereits erwähnt, der Einsatz arbeitserleichternder Technologien die stumpfsinnigen, repetitiven Arbeiten praktisch völlig übernommen hat.
Bis jetzt ist das »Dorf der Zukunft« lediglich als Idee in einem kleinen Modell verkörpert. Aber der »Town and Country Planning Association« Großbritanniens sind bereits fünf Grundstücke von 14 Hektar bis 61 Hektar Größe angeboten worden, die sich für eine Bevölkerung zwischen 500 und 10.000 Menschen eignen würden. Die Meinungen über die geeignete Größe gehen weit auseinander. Einige Stadtplaner meinen, daß eine Fläche von rund 120 Hektar bis 200 Hektar geeignet sei, da dann die Einkünfte höher seien, aus denen die Siedlung die Einrichtungen finanzieren kann, die ein integraler Bestandteil des Plans sind. Andere bevorzugen eine kleinere Gemeinde mit nicht mehr als 2000 Menschen, da die Verwaltung überschaubarer und bürgernäher sein würde.
Alle Menschen, die sich mit diesem Projekt beschäftigen, wissen natürlich, daß die Zukunft nicht bis ins letzte Detail geplant werden kann und daß das Modell eher eine Übung der Phantasie ist als der Entwurfsplan für eine wirkliche Siedlung. Sie werden jedoch von der Tatsache beflügelt, daß einige ihrer Überlegungen bereits seit mehreren Jahren in einer Versuchssiedlung, genannt »Die Arche«, in die Tat umgesetzt werden. »Die Arche« wurde vor einigen Jahren von Mitarbeitern des »New Alchemy Institute« auf Cape Cod gegründet, die nun eine größere Einheit auf der Prinz-Edward-Insel in Kanada planen.
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Das Überleben und der kontinuierliche Erfolg der israelischen Kibbuzim und der wenigen in den sechziger Jahren entstandenen Kommunen in den Vereinigten Staaten und Europa beweisen, daß das Leben in kleinen Siedlungen mit den Bedürfnissen und Wünschen der menschlichen Natur sehr im Einklang steht. Das ist angesichts der Tatsache, daß Geben und Nehmen des kollektiven Lebens zu nahezu allen Zeiten und seit der Steinzeit die grundlegenden Faktoren der Evolution der menschlichen Spezies gewesen sind, nicht weiter überraschend. Die modernen kleinen »New Towns« und »Dörfer der Zukunft« haben anfänglich vielleicht nicht so viel Erfolg, aber es bestehen gute Aussichten, daß sich diese Siedlungen mit der Zeit verbessern und in naher Zukunft auch akzeptiert werden wie jetzt schon im Falle Harlows.
Andererseits sind die einzigartigen Freuden und Vorteile der Großstadt auch menschliche Schöpfungen, und viele Menschen werden die Großstadt wahrscheinlich doch den Kleinstädten oder Dörfern vorziehen. Wie bereits erwähnt, blieb der Anteil der Kibbuzniks mit 3,5 Prozent an der israelischen Gesamtbevölkerung seit siebzig Jahren nahezu konstant. Die meisten Israelis ziehen es offenbar vor, in Jerusalem, Haifa, Tel Aviv oder anderen Großstädten zu leben. Die Feindschaft gegenüber der Megalopolis ist daher anscheinend nicht auf eine grundsätzliche Abneigung gegen das Stadtleben an sich zurückzuführen, sondern vielmehr auf die Verärgerung angesichts riesiger, komplexer und anonymer Institutionen, die die Aktivitäten der Stadtbewohner kontrollieren und verhindern, daß sie die wertvollen und einzigartigen Anregungen riesiger urbaner Ballungsgebiete genießen — nämlich ihre phänomenale menschliche Mannigfaltigkeit.
Wohlstand, Technologie und Glück
Alle empfindsamen Menschen wissen, daß die besten Erfahrungen des Lebens nicht käuflich, sondern nur von unserer direkten Wahrnehmung der Welt abhängig sind, so zum Beispiel, wenn wir uns einfach freuen, daß wir leben, daß wir im Einklang mit uns selbst stehen, daß wir inmitten einer unberührten Landschaft sind und das tun, was wir gerne tun.
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Die Philosophen und Moralisten haben in tausend Varianten und seit tausend Jahren immer wieder versichert, daß die Freude nicht in den Dingen, sondern in uns selbst liegt.
Laotse faßte diese Wahrheit in dem Satz zusammen: »Derjenige ist reich, der weiß, daß er genug hat.«
Thoreau ging sogar noch weiter, als er schrieb: »Die Gelegenheiten zu leben verändern sich in dem Maße, wie das, was wir <die Mittel> nennen, zunimmt.«
Die meisten Menschen glauben jedoch, daß Wissenschaft und Technik wesentlich zu ihrem Glück beitragen, da sie den materiellen Wohlstand sichern.
Vor einigen Jahren kam ich am Nachmittag eines heißen und schwülen Augusttags auf dem Kennedy-Flughafen von New York an. Das Taxi, mit dem ich nach Hause fahren wollte, geriet bald in einen Verkehrsstau, Grund genug für den Taxifahrer, sich über seinen Job und den traurigen Zustand der Welt im allgemeinen zu beklagen. Aus meinem ausländischen Akzent schloß er, daß mir die Vereinigten Staaten unbekannt sein müßten, und er begann, mich über die amerikanische Lebensweise aufzuklären.
»Sie wundern sich vermutlich«, sagte er, als wir im Stau und in der abgasverpesteten Luft standen, »daß der Verkehr schon am Nachmittag so stark ist. Um diese Tageszeit sind deshalb so viele Menschen auf der Straße, weil die Arbeitszeit in den Vereinigten Staaten so niedrig ist und sich die meisten Menschen ein Auto leisten können.« Und während er sich den Schweiß von der Stirn wischte, fügte er mit Nachdruck hinzu: »In den Staaten leben wir alle wie Könige.« Dann erzählte er mir, daß dort, wo er aufgewachsen war — nicht weit vom Highway entfernt, auf dem wir gerade hielten —, früher eine nette, ländliche Nachbarschaft bestanden hätte, heute aber nur noch ein Slum sei.
Mein Taxifahrer prahlte sicher zu Recht mit dem Wohlstand Amerikas, der jeden Durchschnittsbürger fast so reich wie einen König macht. Aber er hatte paradoxerweise auch recht, als er das Leben unter Slumbedingungen beklagte. Wie jeder Durchschnittsbürger in den Vereinigten Staaten verbraucht er für sein Auto und seine Haushaltsgeräte eine Energiemenge, die der Arbeitskraft mehrerer hundert Sklaven entspricht. In diesem Sinne ist er wirklich ein König — aber ein König, der herzlich wenig Einfluß darauf hat, wie und wann er seine »Sklaven« einsetzen will. Im übrigen gibt es keinen Beleg dafür, daß echte Könige besonders glücklich sind.
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Die große Mehrheit der Bevölkerung hat wahrscheinlich immer geglaubt, daß der materielle Wohlstand zum Glück des Menschen beiträgt, aber erst nach Francis Bacon und den Philosophen der Aufklärung wurde die Verbesserung des Lebens hauptsächlich mit der ökonomischen und technischen Expansion gleichgesetzt. Diese Sichtweise des Fortschritts wurde um 1760 von dem französischen Ökonom Mercier de la Riviere sehr treffend und ungeschminkt ausgedrückt, als er schrieb: »Das höchste Glück besteht im größtmöglichen Überfluß der Dinge, die uns Vergnügen bereiten, und in der uneingeschränkten Freiheit, sie zu genießen.« Zwei Jahrhunderte später waren die Mitglieder der »Paley Commission on Materials Policy« in den Vereinigten Staaten sogar noch begeisterter vom materiellen Wohlstand und seinem Beitrag zum menschlichen Leben. Im Vorwort ihres 1952 erschienenen Berichts versichern sie, daß der anhaltende Trend zu größerem technischen Fortschritt nicht nur notwendig sei zur Absicherung des Glücks, sondern auch zur Freisetzung geistiger Werte.
Ökonomisches Wachstum und sogar der auf wissenschaftlicher Technologie basierende Fortschritt haben inzwischen in den Industrieländern viel von ihrer Anziehungskraft verloren, zumindest in bestimmten sozialen Schichten. Die Ergebnisse vieler Umfragen deuten darauf hin, daß immer mehr Menschen Lebensweisen auf der Basis freiwilliger Selbstbeschränkung wählen. Zu Beginn des Jahres 1978 hat zum Beispiel in Nordkalifornien eine Kleinstadt mit 2500 Einwohnern für eine Woche freiwillig auf die Stromzufuhr verzichtet und sich auf Campingkocher und Öllampen umgestellt. Ursprünglich sollte diese Aktion den Protest gegen die steigenden Energiekosten ausdrücken; die überraschende Folge war nach Aussagen vieler Bewohner jedoch die Tatsache, daß das Leben unter den vereinfachten Bedingungen das Glücksgefühl innerhalb der Gemeinde gesteigert hatte.
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Während der letzten zwei Jahrzehnte wurden in den Vereinigten Staaten, Westeuropa und Japan Umfragen durchgeführt, um die Auswirkungen des technischen Fortschritts und kontinuierlich ansteigenden Lebensstandards auf die menschliche Gesundheit und das Glücksgefühl bestimmen zu können — die Begriffe bezogen sich dabei auf körperliches Wohlbefinden, Zufriedenheit und innere Ausgeglichenheit. Die Ergebnisse sind im wesentlichen in allen Industrieländern gleich und offenbaren besondere Widersprüchlichkeiten. Viele Menschen glauben, daß sich während der vergangenen fünfzig Jahre der Wissensstand und der Zustand der Gesundheit verbessert haben, aber eine große Mehrheit empfindet trotzdem, daß innere Zufriedenheit und Ausgeglichenheit abgenommen haben. »Es geht einem besser, aber man fühlt sich schlechter« war, wie bereits erwähnt, die Formel, die die Sachverständigen der Rockefeller-Stiftung geprägt haben, um ihren Eindruck von der medizinischen Versorgung des Landes zu umschreiben.
Präsident Richard Nixon hat sich in seinem ersten Bericht zur Lage der Nation ähnlich geäußert: »Niemals zuvor besaß eine Nation so viel und war gleichzeitig so ohne Freude.«
Ein anderer Widerspruch, der sich aus zwei Untersuchungen ergab, besagte, daß die Mehrheit der Bevölkerung der Ansicht ist, die Lebensfreude nehme ab, sich der Mensch aber dennoch nicht nach vergangenen, glücklicheren Zeiten sehnt. Bei den Fragen: »Hätten Sie lieber im Zeitalter der Pferde und Kutschen gelebt oder jetzt?« oder »Hätten Sie lieber in der guten alten Zeit gelebt?« antwortete nur eine Minderheit (25 Prozent bei der ersten Frage und 15 Prozent bei der zweiten) mit »Ja«. Die große Mehrheit der Amerikaner und vermutlich aller Menschen weist die Vorstellung zurück, wieder zu den alten Lebensweisen zurückzukehren.
Diese Widersprüche können vermutlich teilweise mit dem menschlichen Hang zur Romantisierung der Vergangenheit erklärt werden. Jede Sprache besitzt Redewendungen für den tiefverwurzelten Glauben an die Tugenden und Werte vergangener Zeiten, wie zum Beispiel »die gute alte Zeit«, »the good old days«, »les bons vieux temps«, »cualquiera tiempo passado fue mejor«. Bis zurück in die Tage des Römischen Reiches gab es viele Anspielungen auf die »laudatores temporis acti«, die Lobpreisungen auf die Vergangenheit.
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Auch die steigenden Erwartungen sind heutzutage ein Faktor, der zu diesen Widersprüchen beiträgt. Selbst wenn die Dinge objektiv besser werden, verbessern sie sich jedoch nicht schnell genug, um mit unseren subjektiven Erwartungen Schritt zu halten. Der Fortschritt verursacht folglich gerade deshalb bei vielen Menschen ein Gefühl der Unzufriedenheit, weil er die Erwartungen schneller hochtreibt, als sie tatsächlich erfüllt werden können. Das Frustrationsgefühl, von steigenden Erwartungen verursacht, ist besonders in den Vereinigten Staaten aktuell und weit verbreitet, da jede Einwanderergeneration und ihre Nachkommen davon ausgingen, daß die Lebensbedingungen und Lebensumstände der eigenen Kinder besser als die ihrer Generation sein würden — was bislang auch zutraf.
Der amerikanische Philosoph Nicholas Rescher hat vor kurzem aus dieser Tatsache geschlossen, daß »der Fortschritt bezüglich des Glücks einen sich selbst vernichtenden Zyklus in Gang setzt: Verbesserung => gesteigerte Erwartungen => Enttäuschung«.
Der technische Fortschritt äußert sich darüber hinaus häufig in, wie er es nennt, »Negativgewinnen ..., der Beseitigung oder Minderung irgendeines Übels«, das zum Beispiel eher mittels ärztlicher Heilkunst oder der Müllabfuhr erfolgen kann als durch die Vermehrung neuer Freuden. Nach seiner Auffassung »müssen wir erkennen lernen, daß die Erwartung - der technische Fortschritt leiste einen wesentlichen Beitrag zum menschlichen Glück - vergeblich ist, abgesehen von den <Negativgewinnen>«.
In der Tat erschweren auch viele andere Faktoren zunehmend eine Verbesserung des menschlichen Lebens auf der Grundlage einer weiteren technischen und wirtschaftlichen Expansion:
Sobald ein angemessener Wohlstand erreicht ist, führt ein weiteres Wachstum nicht zu mehr Gesundheit und Glück.
Viele Menschen scheinen eher an der Freizeit und einfachen Lebensweisen interessiert zu sein als an einer Anhäufung von noch mehr Reichtümern.
Praktisch zogen alle Fortschritte der Technik und des wirtschaftlichen Aufschwungs unerwünschte Folgen nach sich.
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Die Sorge um die von der Ausweitung der Technik verursachten Gefahren für die Umwelt reicht tief in alle Gesellschaftsschichten hinein. Das zeigen die Ergebnisse einer kürzlichen Umfrage unter 3000 japanischen Wissenschaftlern, die gebeten wurden, die in ihren Augen wünschenswertesten und wahrscheinlichsten technischen Entwicklungen des 21. Jahrhunderts aufzulisten. Im Hinblick auf Japans Führung im Elektroniksektor hätte man erwarten können, diesen Bereich an erster Stelle der Liste zu finden; aber statt dessen stand das Videotelefon an letzter Stelle, und Verfahren zur Kontrolle und Eindämmung der Luftverschmutzung standen ganz oben.
Die meisten technischen Erfolge und der Anstieg des materiellen Wohlstands führen zu einer Reihe sozialer Widersprüche. Zum Beispiel:
Die ökonomische Expansion wird so lange notwendig bleiben, wie viele Menschen unterhalb des Existenzminimums leben, gleichzeitig aber fürchten wir uns vor den Folgen für die Umwelt, die sich aus der technologischen Entwicklung ergeben.
Riesige, moderne Gesellschaften erfordern komplizierte Regeln der Organisation und Kontrolle; sie führen nahezu unweigerlich zu einer Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten.
Die technischen Errungenschaften führen zur Arbeitslosigkeit, aber wir sehen heute, daß eine verantwortungsvolle Aufgabe für das eigene Selbstwertgefühl wichtig ist.
Die Gerechtigkeit gebietet eine gleichmäßigere Verteilung der Weltressourcen auf alle Menschen dieser Welt, aber das würde wahrscheinlich die Wirtschaften der industrialisierten Nationen hart treffen.
Diese und andere verwandte Probleme werden von allen entwickelten industrialisierten Gesellschaften durchlaufen. Nachdenkliche Menschen fragen daher nach dem Sinn weiteren Wirtschaftswachstums und stellen fest, daß wir uns dem Ende der 200jährigen Periode nähern, in der die industrielle Revolution mit der Verbesserung des Lebens gleichgesetzt wurde. Es ist natürlich bei weitem nicht sicher, ob sich die Einstellungen gegenüber dem materiellen Besitz so grundlegend verändert haben, wie man aus den Klagen über die wirtschaftliche Hetzjagd oder aus dem Ruf nach einfacheren Lebensformen schließen könnte.
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Das Wirtschaftswachstum hat hauptsächlich für einen kleinen Teil der Ober- und Mittelschicht seinen Reiz verloren. Das wird wahrscheinlich auf die weniger begüterten Schichten reicher Nationen selten zutreffen und wird der großen Mehrheit der Menschen in den Entwicklungsländern völlig fremd sein. Darüber hinaus sind Proteste gegen das moderne Leben so alt wie das moderne Leben selbst. Das geht zum Beispiel aus der Einleitung zu »The Education of Henry Adams« (Die Erziehung des Henry Adams) von John Truslow Adams hervor, die in der Ausgabe von 1931 erschien, also vor einem halben Jahrhundert!
»Es gibt heute nicht selten Anzeichen dafür, daß es in diesem unserem Amerika eine breite Opposition gegen die Richtung gibt, die unser Leben genommen hat. Wir sind nicht länger sicher, ob uns der Wohlstand eine befriedigende Wertskala beschert. Wir ... hinterfragen alle Konzepte, auch die von Gewinn und Verlust. Gegenüber dem reißenden Strom des zeitgenössischen Lebens fühlt sich das Individuum ziemlich wehrlos.«
Das Wertsystem der westlichen Zivilisation und insbesondere der amerikanischen Öffentlichkeit ist wahrscheinlich gefestigter, als die gegenwärtige soziologische Literatur vermuten läßt. Zugegeben, viele Menschen sind von der Umweltverschmutzung alarmiert, und sie erkennen deutlicher als vor einem Jahrhundert, daß Wohlstand nicht unbedingt Glück bedeuten muß. Aber es gibt nur wenige Menschen, die die westliche Fortschrittsgläubigkeit ablehnen, und noch weniger sind diejenigen, die sich weigern, die Produkte der modernen Technik in ihr tägliches Leben einzubeziehen.Wenn tatsächlich der Pro-Kopf-Verbrauch bestimmter Güter und Energien sinkt, wird das nur geschehen, weil ein geringerer Konsum in vielen Fällen die Qualität des Lebens verbessert und von daher schon die beste Form des Fortschritts ist. Das wird zum Beispiel daran deutlich, wie wir Werkzeuge und Maschinen einsetzen.
Werkzeuge wurden ersonnen, um den Bereich der menschlichen Aktivitäten zu erleichtern und auszuweiten, sozusagen als Verlängerungen des menschlichen Körpers.
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Ihr überlegter Einsatz kann unseren physischen und geistigen Kontakt zur Natur bereichern; heute aber neigen wir dazu, Werkzeuge und Maschinen als Körper- und Geist-Ersatz zu benutzen, anstatt unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit zu bereichern. Die Folgen bestehen gewöhnlich in einer sinnlichen Verarmung und ebenfalls einem Verlust unserer Fähigkeit, den Zauber und die Mannigfaltigkeit der Welt zu erfassen.
Betrachten wir etwa unter diesem Aspekt unsere sinnlichen Erfahrungen mit den Jahreszeiten: Selbstverständlich können wir die Frühlingsblumen oder den Herbstwald durch eine Autoscheibe betrachten, aber ihre ganze Pracht können wir nicht würdigen; darüber hinaus werden der Geruch von Pflanzen und Erde, das Gezwitscher der Vögel und das Rascheln des Windes von Abgasen oder Motorlärm überdeckt oder zumindest gestört. Die Erfahrung eines Autofahrers ist nach Form und Inhalt dürftiger als die des Spaziergängers. Als Fußgänger können wir uns völlig in die Natur versenken und mit allen unseren Sinnen auch die feinsten Nuancierungen aufnehmen. Das Betrachten einer Fernsehlandschaft ist kein Ersatz für die aus nächster Nähe erlebte Natur.
Ich glaube, wir laufen wirklich Gefahr, immer weniger aufnahmefähig für die feinen Nuancierungen der Natur zu werden, wenn wir die Gewohnheit verlieren, die zu einer umfassenden Wahrnehmung erforderlichen Anstrengungen zu unternehmen. Die alte biologische Regel »Gebrauch es, oder verlier es« bezog sich eigentlich auf die sexuelle Aktivität, aber ihre allgemeinere Bedeutung ist die, daß die Eigenschaften von Körper und Geist, die nicht genutzt werden, fortschreitend verkümmern. Das betrifft unsere Muskeln, die erschlaffen, wenn wir sie nicht üben, aber auch unser Gedächtnis und unsere Fähigkeit, die Welt sinnlich wahrzunehmen.
Der weitverbreitete Einsatz von Computern kann zum Beispiel allmählich unsere Denkweisen beeinflussen, besonders dann, wenn sie eine wichtige Rolle in der frühen Phase des Erziehungsprozesses spielen. Unter dem Vorsatz, uns mit einem Mechanismus zu versorgen, der die Fähigkeit des menschlichen Gehirns für logisch-folgerichtige Gedankenabläufe erweitert, drängen uns die Computer heimlich zu einer Überbetonung mechanischer, rigider Denkprozesse, die immer weniger von Intuition und Sensitivität abhängen.
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Das Computerdenken kann dazu führen, daß die linke Großhirnhälfte unsere Aktivitäten steuert. In dem Maße, wie das eintritt, wird die wahrscheinliche Folge eine Abnahme der menschlichen Aktivitäten bedeuten, die mit der rechten Großhirnhälfte verbunden sind, wie zum Beispiel Gefühle, Intuition und künstlerische Wahrnehmungsfähigkeit. Diejenigen, die glauben, daß die Fähigkeit zum computergerechten, logisch-folgerichtigen Denken der entscheidendste Gesichtspunkt der menschlichen Natur sei, könnten am Ende gar von Robotern ersetzt werden, da diese den menschlichen Geist an klaren, folgerichtigen Denkoperationen übertreffen.
Meiner Meinung nach ist es jedoch unwahrscheinlich, daß das logische Computerdenken jemals über einen längeren Zeitraum hinweg effektiv das Kommando übernehmen wird, da die meisten von uns die Produkte von Phantasie und Intuition bei weitem mehr schätzen als die des logischen Denkens. Man bewundert Descartes, aber man liebt Pascal, der wie die meisten von uns glaubt, daß das Herz Gründe hat, die der bloße Verstand nicht kennt.
Doch die mikroelektronische Revolution kann man nicht zur Seite schieben, ihre Auswirkungen auf das moderne Leben werden immer vielfältiger und zunehmend wichtiger. Ich werde daher nun einige menschliche Reaktionen auf die neue Technologie erörtern, wobei mir bewußt ist, daß sie nicht nur von der technischen Realisierbarkeit und dem Profitstreben bestimmt sind, sondern auch von gesellschaftlichen Zielen und Werten.
1946 wurde an der »Moore School of Engineering« in Pennsylvania der erste elektronische Computer der Welt in Betrieb genommen. Er hieß ENIAC (Electric Numerical Integrator and Calculator), nahm einen riesigen Raum ein, enthielt 18 000 Vakuumröhren und verbrauchte die Energie einer Lokomotive. Ein Computer mit entsprechendem Leistungsvermögen kann heute für weniger als 100 Dollar gebaut werden. Er kann mit Taschenlampenbatterien betrieben werden und paßt in jede Jackentasche. Diese neue Mikroelektronik basiert auf der Möglichkeit, Zehntausende von elektronischen Bauteilen und Schaltkreisen auf Siliziumchips zu drucken, die nur so groß sind wie eine viertel Briefmarke.
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Ein Komitee der »National Academy of Sciences« beschrieb diesen Umstand folgendermaßen: »Das Zeitalter der Elektronik hat eine zweite industrielle Revolution eingeleitet ... ihre gesellschaftlichen Folgen könnten möglicherweise noch größer sein als die der ersten industriellen Revolution.«
Obwohl es die Mikroelektronik erst seit ein paar Jahren gibt, hat sie doch schon in zahlreichen Bereichen praktische Verwendung gefunden: von der Herstellung von Digitaluhren, der Überprüfung von Automotoren bis hin zum Einsatz Tausender Roboter in Industriebetrieben. Ihre Folgen werden sich qualitativ von der ersten industriellen Revolution unterscheiden, deren Ziel es war, die körperliche Leistungsfähigkeit des Menschen zu erhöhen, mehr Energie nutzbar zu machen, Werkstoffe zu bearbeiten, weiter und schneller zu reisen und so viele Gegenstände und Stoffe wie möglich aus dem Rohmaterial der Erde herzustellen. Sie erweitert unser geistiges Leistungsvermögen, denn sie vergrößert die Fähigkeit in bezug auf Informationsspeicherung und -weitergabe, Rechnen, Durchführung logischer Arbeitsabläufe und Kontrolle von Prozessen. Der elektronische Computer ist für das Gehirn das, was Bulldozer und Dampfhammer für den Arm sind, nämlich eine Ausdehnung seiner Reichweite. Obwohl sie sich immer noch im Entwicklungsstadium befinden, machen es die Mikroprozessoren heute schon möglich, Fabriken zu konstruieren und in Betrieb zu nehmen, in denen computergesteuerte Anlagen den gesamten Produktionsprozeß übernehmen. Es kann als sicher angenommen werden, daß die elektronischen Büromaschinen demnächst heftige Veränderungen der Hierarchien und Arbeitsweisen von Verwaltungen bewirken werden.
Die mikroelektronische Revolution hat in so kurzer Zeit so rapide um sich gegriffen und entwickelt sich immer noch so schnell, daß man erst jetzt damit beginnen kann, ihre Folgen abzuschätzen. Diese zweite industrielle Revolution berührt praktisch alle Arbeitsbereiche, in denen Maschinen zum Einsatz kommen, und wird daher tiefgreifende Störungen der Beschäftigtenstruktur verursachen.
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Sie wird wahrscheinlich die wirtschaftliche Kluft zwischen den reichen und armen Nationen vergrößern, da die Technologien, die die Mikroelektronik ermöglichen oder erleichtern, ein spezialisiertes Wissen und hochentwickelte Anlagen erfordern. Darüber hinaus wird sie die Möglichkeiten arbeitsintensiver Verfahren einschränken. Schließlich wird sie sogar die Art und Weise, wie wir uns selbst, die Außenwelt und unseren Platz in der Welt der Dinge sehen, zutiefst beeinflussen.
Auch in der Vergangenheit haben neue Techniken unsere Lebensweise schon immer verändert. Seit rund dreißig Jahren kennen wir Computer, und sie sind in vielen Bereichen von Handel und Industrie eingesetzt worden, aber bis heute standen sie im großen Umfang dem privaten Hausgebrauch nicht zu Verfügung. Im Gegensatz dazu wird die Mikroelektronik die neue Informationstechnik in viele Domänen der individuellen Erfahrung einführen und damit nicht nur unsere Aktivitäten, sondern vielleicht auch unsere Persönlichkeit beeinflussen.
Alle Seiten dieser Informationstechnik bewerten das Denken in abstrakten Begriffen höher als in konkreten. Da das Wirtschaftswachstum einen ständig zunehmenden Einsatz der Informationstechnik erfordert, werden daher die Menschen mit einem guten abstrakten Denkvermögen im Vorteil sein. Diese Tendenz reicht sogar schon in das Kleinkindalter hinein. Ein Kind, das einen Gegenstand oder ein Tier aus Ton formt, agiert in traditioneller, konkreter Weise. Aber es gibt heute einfache, billige und überall erhältliche mikroelektronische Geräte, um Tiere und Gegenstände auf einem Bildschirm abzubilden, eine Beschäftigung, die abstrakte Denk- und Verarbeitungsprozesse voraussetzt.
Negativ könnte sich an dieser Tendenz in Richtung Abstraktion die Verarmung vieler menschlicher Gesichtspunkte auswirken. Je mehr unsere Aktivitäten mit den nicht greifbaren Domänen der Information zu tun haben, desto schwieriger wird es werden, bodenständig zu bleiben, ein Wort, das heute benutzt wird, um die konkreten Beziehungen zur Familie, den Freunden, der Gemeinde und Kultur zu kennzeichnen. Die Menschen entfremden sich von der Welt um sie herum, wenn sie sie nur als mittelmäßiges Dahinplätschern des Lebens erfahren. Es ist wahrscheinlich, daß dies auch zu einer gewissen Form der Selbstentfremdung führt.
Es wurde bereits prophezeit, daß die Mikroelektronik es dem Menschen zunehmend ermögliche, nur noch zu Hause zu arbeiten. In dem Maße, wie wir elektronische Geräte zur Kommunikation, Erziehung und Unterhaltung nutzen, könnten wir uns in eine immer begrenztere Welt mit immer weniger Verantwortungsgefühl für den Nächsten und das Allgemeinwohl zurückziehen. Da wir aus äußerst bodenständigen sozialen Gruppen hervorgingen und folglich auch nur geringe Fähigkeiten besitzen, uns in der Isolation zu entfalten und zu entwickeln, wird eine Welt der elektronischen Einsiedler und Eremiten den gegenwärtigen Trend, das Wesen der Dinge erklären zu wollen, statt es mit allen Sinnen zu erfassen, weiterhin verstärken — einen Trend, der zur Verarmung des Lebens beiträgt.
Die gegenteilige Situation ist natürlich auch möglich und sicher erstrebenswerter. Die Mikroelektronik bietet unzählige Gelegenheiten der Begegnung, Aktion und Kreativität. Sie wird neue Formen sozialer und politischer Netzwerke schaffen und themenbezogene Zusammenschlüsse fördern und erleichtern. Sie könnte uns neue Erkenntnisfähigkeiten verschaffen und damit erreichen, daß wir bislang unerkannte Beziehungen zwischen den verschiedenen Komponenten der physikalischen Welt, der Gesellschaft und uns selbst entdecken.
Das würde uns helfen, unseren Platz in der Weltordnung zu begreifen und das menschliche Leben über die Einsicht in diese Dinge und die Erfahrung zu bereichern. Wie schon im Falle aller Entwicklungen der ersten industriellen Revolution werden auch die wissenschaftlichen und technischen Gesichtspunkte der zweiten industriellen Revolution nicht so wichtig sein wie die auf Werturteilen basierenden menschlichen Entscheidungen.
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