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Wie werden wir Partner der Armen?

 

 

  Einsichten und Interessen  

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Von August bis November 1978 ließ die <Neue Zürcher Zeitung> unter der Überschrift <Entwicklungspolitik im Umbruch> ein gutes Dutzend Wissenschaftler zu Wort kommen. In einem abschließenden redaktionellen Beitrag vom 6.11.1978 heißt es:

«Dies kann nicht ohne Auswirkungen auf den konkreten Inhalt entwicklungspolitischer Begriffe und auf die Rangskala entwicklungspolitischer Probleme bleiben: Entwicklungshilfe — zum Beispiel — soll nicht mehr das Nachvollziehen eines von den Helfenden vorgelebten Prozesses ermöglichen, sondern der Konkretisierung und Formulierung der eigenen Vorstellungen dienen.»

Um deutlich zu machen, was sich in der Entwicklungspolitik zu verändern beginne, greift die Neue Zürcher Zeitung auf die Erklärung von Cocoyoc (Mexiko) aus dem Herbst 1974 zurück, die auf einem internationalen Symposium unter der Schirmherrschaft des damaligen mexikanischen Präsidenten Echeverria und unter Leitung von Barbara Ward formuliert wurde. Sie zitiert:

«Wir glauben, daß sich durch dreißig Jahre Erfahrung die Hoffnung auf ein langsames Durchsickern des einer Minderheit zufließenden Nutzens schnellen ökonomischen Wachstums zur Masse der Bevölkerung als illusorisch erwiesen hat.»

Für jemanden, der an der faszinierenden internationalen Diskussion über Fragen der Entwicklung zu Beginn der siebziger Jahre Anteil hatte, ist es ernüchternd zu sehen, daß keiner der verdienstvollen Beiträge in der Neuen Zürcher Zeitung etwas enthält, dessen Pro und Contra nicht schon in der ersten Hälfte der siebziger Jahre breit diskutiert worden wäre. Und doch ist vieles davon der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik heute noch unbekannt.

Es geht heute offenbar nicht mehr darum herauszufinden, was zu tun wäre, es geht darum zu tun, was längst als nötig und richtig erkannt wurde.

In der Theorie wird kaum mehr bestritten, daß wir uns an den Grundbedürfnissen der armen, meist ländlichen Massen orientieren müssen. Sie brauchen ausreichende oder weniger einseitige Nahrung, erträgliche Behausung und Kleidung, Arbeit, elementare Bildung, einfachen Gesundheitsdienst, ein Mindestmaß an sozialer Sicherung, nicht zuletzt: eine unversehrte natürliche Umwelt.

Dies bedeutet arbeitsintensive Herstellung von Konsumgütern, Erschließung eines inneren Marktes, Nutzung der heimischen Ressourcen, Verarbeitung eigener Rohstoffe, Agrarreform, weniger Ungleichheit, Aufforstung, Kampf gegen Bodenerosion.

Dieses Wissen wurde durch den 1980 erschienenen Bericht der Nord-Süd-Kommission(45) bestätigt, an einigen Punkten erweitert und vor allem in die Weltöffentlichkeit getragen, aber nicht wesentlich vertieft. Es ist auch nicht die Aufgabe einer solchen Kommission, die vom algerischen Sozialisten Yaker bis zum britischen Konservativen Heath die verschiedensten Überzeugungen in sich ausgetragen hatte, Neuland zu betreten; eine solche Kommission muß Vorschläge erarbeiten, an denen Regierungen und Parlamente nicht ganz so leicht vorbeikommen wie an wissenschaftlichen Analysen, Kongressen oder Parteitagsresolutionen. So wird für manchen das bewegende Vorwort des Vorsitzenden der Kommission mehr Anstöße vermitteln als die solide Analyse und die abgewogenen Empfehlungen, die teilweise schon aus dem Pearson-Bericht von 1969 bekannt sind. 

Willy Brandt, der eigene Versäumnisse gegenüber der Dritten Welt nicht verschweigt, stellt im Nord-Süd-Verhältnis einen «defensiven Pragmatismus» fest, «und dies in einer Zeit, in der die wahren Interessen der Menschen und der Menschheit neue Perspektiven und weitsichtige Führung erfordern».(46)

45) Das Überleben sichern, Köln 1980     46) ebenda, S. 27

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Brandt beschwört die Weltöffentlichkeit, aber doch wohl auch seine politischen Freunde im eigenen Land:

«Ist es wirklich so, daß wir unseren Nachkommen einen zerstörten Planeten hinterlassen wollen — mit sich ausdehnenden Wüsten, ausgeplünderten Böden, verschandelten Landschaften, einer kranken Umwelt? Die ernsten Probleme zunehmender Bodenerosion und Verwüstung (im buchstäblichen Sinne) sollten uns alle berühren und betroffen machen.»(47)

Brandt plädiert dafür, den Willen zur Eigenständigkeit in der Dritten Welt zu respektieren und zu fördern:

«Die Weigerung, fremde Modelle ungeprüft zu übernehmen, bedeutet tatsächlich eine zweite Phase der Entkolonialisierung. Man muß sich von der Vorstellung frei machen, als hätte die ganze Welt die Modelle hoch­indus­trialisierter Länder nachzuahmen. Es gilt, von der ständigen Verwechslung zwischen Wachstum und Entwicklung loszukommen, und wir unterstreichen mit Nachdruck, daß das eigentliche Ziel der Entwicklung eines Landes in dessen Selbsterfüllung und schöpferischer Partnerschaft liegt. Seine produktiven Möglichkeiten und sein menschliches Potential können nur dann zur Entfaltung kommen. Wir müssen uns von der Vorstellung frei machen, unser Problem ergebe sich allein daraus, daß entwickelte Länden existieren und solche, die <entwickelt> werden wollen. Im übrigen ist ja auch im Norden der technologische und ökonomische Entwicklungsprozeß noch keines­wegs abgeschlossen, und es wird mittlerweile heftig darüber diskutiert, wie künftiger Fortschritt aussehen soll — mit andersartigen Technologien und einer weniger verschwenderischen Art zu leben.»(48)

Man mag darüber streiten, ob der Bericht selbst sich so von Wachstumsideologien frei machen konnte, wie Brandt es gewünscht hätte. Aber es ist gut, daß dies alles nun in einem weltweit beachteten Dokument zu lesen ist.

Es fehlt in der Entwicklungspolitik längst nicht mehr an theoretischen Einsichten, es fehlt an der Kraft, sie durchzusetzen. Und diese Kraft fehlt, weil die Interessen anders gelagert sind, bei uns und in den meisten Entwicklungsländern. 

47)  ebenda, S. 28     48)  ebenda, S. 33      detopia: Brandt mit Einleitung

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Die Oberschicht, die in armen Ländern das nationale, meist westlich geprägte Fernsehprogramm empfangen kann, will leben wie die gehobene Mittelschicht in den USA oder Deutschland. Wie ein Dorf im Busch einen Brunnen bekommt, ist für sie meist weniger interessant als die Frage, ob demnächst ein multinationaler Konzern auch für sie Klimaanlagen, Telefone oder Antibiotika herstellt. Dem deutschen Zeitungsleser wiederum ist schwer klarzumachen, was er davon haben soll, wenn wir in Obervolta Aufforstung betreiben, La Paz mit Wasser versorgen, kenianischen Kleinbauern Kredite geben oder in Ceylon die Kartoffel einführen.

Wenn Sao Paulo oder Lagos im Autoverkehr ersticken, wenn Brasilien Atomkraftwerke bekommt, wenn deutsche Firmen in Saudi-Arabien Mammutkrankenhäuser von äußerster technischer Perfektion (zu einer Milliarde Mark das Stück) bauen, haben wir etwas davon. Aber was haben wir von einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft? Von Handwerkszentren oder gar von Versuchen, mit weniger Kunstdünger, Chemikalien und Maschinen eine weniger teure und aufwendige Landwirtschaft zu treiben? Schadet dies nicht unserer chemischen, unserer Landmaschinenindustrie?

Unsere ökonomischen Interessen stimmen zwar häufig mit den Interessen einer dünnen Oberschicht überein, nicht aber mit denen der Kleinbauern in Ostafrika oder der landlosen Arbeiter in Argentinien. Und diese Interessen schlagen sich nieder in dem, was an entwicklungspolitischer Diskussion bei uns stattfindet, noch mehr in dem, was nicht stattfindet. Und was nicht stattfindet, ist das Wichtigste.

Es gibt keine Industriegesellschaft, die auf Partnerschaft mit den armen Massen der Dritten Welt zugeschnitten wäre, nicht im Westen, erst recht nicht, wie die Praxis zeigt, im Osten. Daher soll hier nicht das Bild einer — für diesen Zweck — idealen Gesellschaft entworfen werden. Vielmehr soll über die Richtung gesprochen werden, in die wir uns bewegen müssen, damit wir uns selbst zur Zusammenarbeit fähig machen wollen:

Wir sind, das weiß auch die Brandt-Kommission, keine Vorbilder. Wir können, wenn es gut geht, bescheidene, selbstkritische Freunde sein. Es geht in der Entwicklungspolitik nicht um Aufholen, nicht darum, Lücken zu schließen, es geht um die Förderung eigenständiger Entwicklungsprozesse. Umgekehrt: Wo immer wir anderen einen Rat geben, müssen wir uns fragen, ob unser eigenes Handeln zu Hause uns ein Recht dazu gibt. 

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Jede Entwicklungspolitik wirkt auf fremde Gesellschaften ein und ist insoweit Einmischung in die Angelegenheiten eines anderen Landes. Die Frage ist, ob unser Handeln im eigenen Land uns dazu legitimiert, ob unsere eigenen Machtstrukturen uns befähigen oder wenigstens erlauben, bei diesem Eingriff zuerst die Interessen des Landes zu sehen, in dem wir tätig werden. Entwicklungspolitik ist also keine Aufgabe, die von einem relativ jungen Bundesressort, eingekeilt zwischen drei mächtigen klassischen Ressorts, als Spezialaufgabe erledigt werden könnte. Entwicklungspolitik muß, soll sie wirksam werden, eine immer mitbedachte Dimension der Gesamtpolitik sein, mitbedacht nicht nur von Regierung und Parlament, sondern von allen gesellschaftlichen Gruppen, von jedem einzelnen.

Wir können die Industrialisierung armer Länder nur dann glaubhaft fördern, wenn wir ihnen nicht genau auf dem Gebiet Konkurrenz machen, auf dem sie selbst ansetzen wollen. Wenn Verarbeitungsstufen, etwa von Kupfer oder Sisal, ins Ursprungsland verlegt werden sollen, dann müssen wir nicht nur auf Zölle für Fertig- und Halbfertigwaren verzichten, wir müssen unsere Wirtschaftsstruktur so verändern, daß Menschen, deren Arbeitsplätze dadurch gefährdet werden, Arbeit in anderen Produktionen und Dienstleistungen finden können. So richtig es ist, daß Industrialisierung in Afrika oder Asien uns langfristig nützen kann, solche Industrialisierung schließt die Vorstellung aus, wir könnten hier die Werkstatt für alles und jedes sein.

Dies führt auch zu einer Einsicht, der wir schon begegnet sind: Arbeitsplätze können bei uns nicht dadurch erhalten werden, daß die Steigerung der Produktivität in unserer Wirtschaft voll durch eine entsprechend erweiterte Produktion von Konsum- und Investitionsgütern ausgeglichen wird. Es stimmt nicht, daß unser Wachstum, ganz gleich, worin es besteht, in jedem Fall der Dritten Welt zugute käme. Das kann sein, es muß nicht, je nachdem, was bei uns wächst. Und was da wachsen soll und was nicht, hängt, wenn wir Entwicklungspolitik ernst nehmen, auch davon ab, was auf der südlichen Halbkugel wachsen kann und was nicht. Dies ist sicher nicht das einzige Kriterium, aber ein wichtiges.

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   Gescheitertes Modell  

 

Daß es den ärmsten Ländern des Südens und der Mehrheit ihrer Menschen heute kaum besser geht als zu Beginn der siebziger Jahre, mag niederdrückend sein, überraschend ist dies, zumal nach der enormen Steigerung des Ölpreises, nicht. Daß ein Bericht für den US-Präsidenten für das Jahr 2000 1,3 Milliarden unterernährter Menschen voraussagt49 — fast doppelt so viele wie 1970 —, wird viele erschrecken. Bestürzend für die Theoretiker des Wachstums muß jedoch der Zustand mancher «Schwellenländer» sein, also von Ländern, die auf dem Weg der Industriegesellschaften schon weit vorangekommen waren. 

Nach der lange vorherrschenden Theorie von W. Rostow sollten diese Länder bald den «take-off» schaffen, also eine solche Wachstumsgeschwindigkeit erreichen, daß sie aus eigener Kraft von der Startpiste der Armut abheben und sich in die freien Lüfte eines eigendynamischen Wachstums schwingen könnten.50 Aber eben dies geschieht nicht. Das Musterland der take-off-Theoretiker, die klassische Wachstumsdiktatur Brasilien, wo die durch rasches Wirtschaftswachstum verschärften Spannungen mit Hilfe einer Militärdiktatur brutal unter Kontrolle gehalten wurden, ist heute durch die Explosion der Ölpreise und eine mehr als großzügige Importpolitik so verschuldet, daß die Ausfuhr von Lebens- und Futtermitteln forciert werden muß, nur damit die Ölrechnung bezahlt werden kann, auch wenn im eigenen Lande der Hunger einzieht. Damit Millionen von Autos fahren können, werden fruchtbare Ländereien mit Zuckerrohr bepflanzt, das der Treibstoff gewinnung dient. Erst müssen die Autos gefüttert werden, dann kommen die Menschen. Kurz: Die Grundbedürfnisse von Millionen von Menschen werden weniger denn je gedeckt, und niemand kann sagen, ob das brasilianische Wachstumsmodell einem besseren Ende entgegengeht als das persische. Denn auch in Brasilien — wie im Iran — regt sich nun der gewerbliche Mittelstand, der sich den von der Regierung geförderten transnationalen Konzernen ausgeliefert fühlt.

49)  Siehe Global 2000, Der Bericht an den Präsidenten, Frankfurt 1980
50)  Siehe dazu Theodor Leuenberger/Rudolf Schilling, Die Ohnmacht des Bürgers, Frankfurt 1977, S. 172

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Die städtischen Ballungszentren der Schwellenländer, so erwartet der Bericht für den US-Präsidenten, werden zu Krebsgeschwüren. Mexico City (heute 10 Millionen) soll am Ende des Jahrhunderts 31 Millionen Menschen behausen, Seoul mehr als 15 Millionen, etwa soviel wie die DDR. Hier, bei den weit «fortgeschrittenen» Entwicklungsländern, beginnt die schlimmste Unsicherheit: Haben die westlichen Industrieländer die Dritte Welt auf einen Weg geführt, verführt, der nur in einer Sackgasse enden kann, auf einen Weg, der nicht ihr Weg, sondern unser Weg war und an dem wir selbst inzwischen einige Zweifel bekommen haben? Müßten wir sie nicht vor unseren Fehlern bewahren , statt sie zur Nachahmung und Potenzierung dieser Fehler zu ermutigen, zu drängen und oft auch zu zwingen?

Deshalb ist die Diskussion über Technologien, die den Bedürfnissen dort angepaßt sind, mehr als nur ein intellektuelles Spiel. Am einfachsten läßt sich dies am Beispiel der Energieversorgung dartun, die in der Dritten Welt nicht weniger als bei uns der Schlüssel zur Zukunft ist.

 

  Der eigene Weg  

 

Für die Länder der Dritten Welt ist eine Energieversorgung durch dezentrale und möglichst erneuerbare Energiequellen vorteilhafter als durch zentralisierte Großtechnologie. Für großtechnische Anlagen fehlt ihnen:

Erstens das Kapital; wie soll ein armes Land in zehn Jahren zwei Milliarden Mark für ein Kernkraftwerk investieren, ehe der erste Strom fließt? Zweitens die technische Erfahrung; sie reicht bei uns nicht aus, Unfälle zu verhindern. Wie soll dies in technisch weniger geübten Gesellschaften sein? Drittens die technische Infrastruktur, zum Beispiel ein weiträumiges Netz zur Verteilung des Stroms. Viertens die politische Stabilität; Kernkraftwerke passen nicht in Länder, in denen Bürgerkrieg herrscht oder droht. Nuklearexport in die Dritte Welt setzt dort einen Prozeß in Gang, dessen Scheitern abzusehen und teilweise schon sichtbar ist. Der deutsche Nuklearexport nach Persien ist zusammengebrochen, im Fall Brasilien droht ähnliches.

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Energiepolitik im Interesse der Dritten Welt bedeutet also:

1. Drastische Energieeinsparung in Industrieländern, damit fossile Energieträger, vor allem Öl, dort noch erschwinglich bleiben. Jeder Liter Öl, jede Kilowattstunde Strom, die wir zu Hause einsparen, ist ein winziges Stück Entwicklungshilfe.

2. Großzügige Hilfe bei der Erschließung dezentraler und erneuerbarer Energiequellen.

Was dies bedeutet, hat Denis Hayes schon 1971 beschrieben: 

«Wenn die Entwicklungsländer riesige Summen ihres knappen Kapitals investieren, um die heutigen Industriemächte nachzuahmen, wird das Ölzeitalter vorbei sein, ehe ihre Investitionen Früchte tragen. Wenn sie statt dessen mit Weitblick investieren, könnten ihnen größere Vorleistungen an das sterbende Ölzeitalter erspart bleiben. Statt Steuerfreiheit als Anreiz zu verwenden, damit ausländische Investoren Automobilfabriken auf ihrem Boden errichten, könnten sie zum Beispiel nur solche Fabriken akzeptieren, die nichtölgetriebene Fahrzeuge herstellen. Statt einen großen Teil ihrer Haushaltsmittel für Schnellstraßen auszugeben, würden sie besser in Kommunikationssysteme und Eisenbahnen investieren. Statt die Landflucht durch die Anlage riesiger Städte zu unterstützen, täten sie gut daran, mit dem gleichen Geld die Dörfer bewohnbarer zu machen.»51 

Das heißt: Wenn die wirtschaftliche Expansion, die sich auf billiges Öl stützte, in eine Sackgasse führte, dann muß ein ganz neues Entwicklungsmodell gesucht werden. Aber eben solche Modelle werden heute nicht ermutigt, sondern, wo sie bestehen, nach Möglichkeit liquidiert. Wenn ein Entwicklungsland so verschuldet ist, daß es die Hilfe des Internationalen Währungsfonds in Anspruch nehmen muß — und dies müssen viele —, dann sieht es sich Auflagen gegenüber, die praktisch zur Rekolonialisierung führen. Der afrikanische Politiker, der sich am zähesten gegen die jetzt scheiternden Modelle gewehrt hat, der tansanische Präsident Julius Nyerere, hat dem versammelten Diplomatischen Korps in Daressalam zu Neujahr 1980 geschildert, vor welche Entscheidungen ihn der Internationale Währungsfonds stellt. Nyerere bestreitet nicht, daß der Fonds das Recht hat, Bedingungen zu stellen, wo er um Hilfe angegangen wird.

51)  Denis Hayes, Energieoptionen für die Dritte Welt, in: Europa-Archiv, Folge 4, 1978, S.111 

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«Aber wir erwarten, daß diese Bedingungen nicht ideologischer Art sind und sich (nur) darauf beziehen, daß das uns geliehene Geld nicht vergeudet wird ...

Tansania ist nicht bereit, sein Recht auf Importrestriktionen abzugeben, sein Recht, selbst zu entscheiden, ob wir hier lieber Chinin als Kosmetika, lieber Busse als Autos für die oberen Zehntausend einführen ...

Meine Regierung ist nicht bereit, ihr Bemühen um Primarschulbildung für jedes Kind, einfache medizinische Betreuung und etwas sauberes Wasser für alle aufzugeben. Wenn schon unsere Ausgaben beschnitten werden müssen, wollen wir entscheiden, ob die Schnitte bei öffentlichen Dienstleistungen oder privaten Konsumausgaben gemacht werden ...

Er (der Währungsfonds) hat eine Ideologie wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung, die er armen Ländern aufzuzwingen versucht ohne Rücksicht auf ihre eigenen erklärten politischen Ziele.»52

Solange alle Entwicklungshilfe nichts daran ändert, daß arme Völker so entmündigt werden, dürften diese wenig Verständnis haben für die Klagen eines deutschen Regierungschefs, der sich über ihre aufmüpfige Kritik ärgert:

«Es ist eine widersinnige Entwicklung, daß wir, die westlichen Industrieländer, die wir unseren Steuerzahlern, unseren Volkswirtschaften, unseren Einkommensbeziehern reale Opfer zugunsten der Entwicklungsländer zumuten, daß wir uns gefallen lassen, uns gleichzeitig an den Konferenztischen als kapitalistische Ausbeuter beschimpfen zu lassen ... Wir haben in der Tat etwas zu versprechen und etwas zu halten, wenn wir die Welt in Ordnung halten wollen. Aber wir müssen verlangen, daß das anerkannt wird.»53

Solange ein Julius Nyerere den Eindruck vermittelt bekommt, die Welt werde so «in Ordnung gehalten», daß die Reichen diktieren und die Armen parieren, daß ihm ein Entwicklungsmodell aufgezwungen werden soll, an dem auch im Westen die Zweifel sich mehren, wird er wohl weiter zur unbotmäßigen Kritik neigen. Es wäre Sache der westlichen Regierungen, dem Währungsfonds für seine Arbeit Kriterien mitzugeben, die alternative Entwicklungsmodelle nicht abwürgen, sondern fördern. Das wäre heute ein entwicklungspolitischer Trampelpfad, sicher nicht weniger wichtig als die Erreichung des 0,7%-Ziels für öffentliche Entwicklungshilfe. Neue Modelle, durch Verteuerung der Energie erzwungen, müßten nicht zuletzt bei alternativer Energieversorgung ansetzen.

52)  Übersetzung aus Development Dialogue 2/1980, Uppsala, S. 7ff 
53)  Helmut Schmidt vor der Friedrich-Ebert-Stiftung in Hamburg am 28.4.1978, Bulletin der Bundesregierung vom 8.5.1978, S. 414

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   Energie für die Dritte Welt   

 

Hier sind es vor allem drei Energiequellen, die es zu erschließen gilt:

1. die bisher kaum genutzte Wasserkraft, etwa in den Anden oder im südlichen und östlichen Afrika,

2. die Sonnenenergie, deren Umwandlung in elektrische Energie, etwa für dezentral zu speisende Wasserpumpen, heute schon wirtschaftlich ist,

3. organische Energiequellen, neben Biomasse vor allem Holz. Daß Sonnenenergie auch dort nicht genutzt wurde, wo sie im

Übermaß vorhanden ist, hängt mit einem Modell von Entwicklung zusammen, das vom Norden kopiert war. Deshalb wird Sonnenenergie im Süden erst genutzt, wenn sich auch der Norden darin — sehr viel weniger erfolgreich — versucht. Daher gibt Hayes zu bedenken:

«Bei der Entwicklung von billigen, unerschöpflichen Energiequellen können die Dritte Welt und die industrielle Welt sich gegenseitig helfen. Eine breite Anwendung von Sonnenenergie-Technologie in der Dritten Welt, wo sie schon kostengünstig ist, hätte positive Auswirkungen auch auf die Industriestaaten. (...) Frankreich, das sich dessen bewußt ist und an großen Aufträgen interessiert ist, verkauft eine subventionierte, mit Sonnenenergie betriebene Bewässerungspumpe in der ganzen Dritten Welt.»54

Hier werden nicht nur Wege von Entwicklungshilfe sichtbar. Hier zeigt sich, daß wir am wirksamsten helfen, indem wir uns um Alternativen für uns selbst bemühen, Alternativen, von denen wir wissen, daß sie dem Süden mehr helfen als uns. Alternative Energiepolitik zu Hause macht uns partnerschaftsfähiger gegenüber der Dritten Welt.

54) In: Europa-Archiv, a. a. O., S. 114f

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Und sie gibt uns sogar neue Exportchancen. Wasserpumpen, durch Sonnenenergie betrieben, dezentral aufstellbar, schaffen bei uns mehr Arbeitsplätze als der — zusammenbrechende — Export von Kernkraftwerken.

Dies gilt, wie der Brandt-Bericht feststellt, nicht nur für alternative Energietechnik:

«Die Frage der ongepaßten Technologie) betrifft reiche wie arme Länder. Auch industrialisierte Länder brauchen mehr angepaßte Technologien, die Energie und erschöpfbare Ressourcen einsparen, die rasche Arbeitsplatzverluste vermeiden und die umweltfreundlich sind. Es ist sehr gut möglich, daß steigende Energiekosten, die den Norden wie den Süden treffen, schließlich die Konzerne im Norden dazu zwingen werden, sich stärker neuen Techniken zuzuwenden, die für viele Teile des Nordens wie des Südens geeignet sein mögen.»55

Möglicherweise hat Alvin Toffler56 recht, wenn er hofft, daß in der Dritten Welt eine Kombination sehr einfacher und sehr fortgeschrittener Techniken unsere Produktionsformen nicht nur ablösen, sondern überspringen kann.

Wollen wir für die armen Länder partnerschaftsfähiger werden, so gehört dazu auch, daß wir die wichtigste Energiequelle der Dritten Welt schonen und erneuern, das Holz. Was bedeutet alle unsere Entwicklungshilfe, wenn man sie mit folgendem Vorfall vergleicht, den Joseph Collins und Frances Moore Lappe berichten:

«1975 entdeckte der Wärmesensor eines Aufklärungssatelliten der Vereinigten Staaten eine plötzliche und intensive Erhitzung der Erde im Amazonasbecken, wie sie gewöhnlich auf eine bevorstehende vulkanische Eruption hinweist. Eine besondere Bereitschaftstruppe wurde ausgeschickt. Und was fand sie? Einen deutschen multinationalen Konzern, der eine Million Acres Tropenwald für eine Rinderranch abbrannte. Im Unterschied zum Roden und Abbrennen einiger weniger Acres durch die Cayapö-Stämme bedeutet das Niederbrennen von einer Million Acres durch den Konzern den Tod fast der gesamten lokalen Fauna.»57

55)  Das Überleben sichern, a. a. O., S. 246
56)  Alvin Toffler, Die Zukunftschance, München 1980, S. 335 ff

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Dagegen nehmen sich die zahlreichen Aufforstungsprojekte der deutschen Entwicklungshilfe bescheiden aus. Hilfe heute bedeutet, durch Druck auf deutsche Firmen die Vernichtung tropischer und subtropischer Wälder zu verhindern. Und es bedeutet großzügige Hilfe bei der Wiederaufforstung von Gebieten, die durch Dürre, Wüste oder Erosion bedroht sind. Dabei ist nicht nur der Staat gefordert. Es würde den ökologisch engagierten Bürgerinitiativen gut anstehen, wenn sie sich an einer solchen Anstrengung beteiligten. Sie könnten damit auch jedermann verständlich machen, daß sie über ihre eigenen Betroffenheiten hinaus das ökologische Wohl des Ganzen, nicht nur ihrer Stadt oder Region, nicht nur ihrer eigenen Gesellschaft im Auge haben.

 

  Entwicklungspolitik beginnt zu Hause  

 

Entwicklungspolitik hat mit der Einkommensverteilung in der Dritten Welt, aber auch bei uns zu tun. Solange auch nur mit einem Funken von Berechtigung gesagt werden kann, Entwicklungshilfe sei, was die Armen in den reichen Ländern für die Reichen in den armen Ländern tun, wird es keine ausreichenden Anstrengungen von unserer Seite geben. Dem Stahlarbeiter, der uns entgegenhält, erst sollten einmal die reichen Inder oder Ägypter mit ihren Konten in Zürich für ihre eigenen Leute sorgen, ist ebensoschwer zu entgegnen wie seinem Argument, wenn schon, dann sollten sein Zahnarzt oder Vorstandsmitglied etwas abgeben, die verdienten ohnehin zehnmal oder zwanzigmal mehr als er. Weniger ungerechte Verteilung der Einkommen schafft bei uns Raum für politisches Handeln, das auch der Dritten Welt zugute kommt. Wer bei uns zum Beispiel dafür sorgen will, daß weniger Benzin unnötig verpufft wird, muß das Autofahren durch eine höhere Benzinsteuer teurer machen. Aber das ist nur zu verantworten, wenn dies nicht bedeutet, daß der Reiche dies gar nicht bemerkt, für den einen oder anderen Pendler aber das Autofahren unerschwinglich wird.

57 J. Collins und F. M. Lappe, Vom Mythos des Hungers, Frankfurt 1977, S. 60f

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Auch wer Fleisch höher besteuern will, damit weniger Getreide verfüttert wird, bleibt politisch so lange hängen, wie dies die einzelnen Schichten der Gesellschaft so unterschiedlich trifft wie heute. Weniger Ungleichheit zwischen Nord und Süd verlangt weniger Ungleichheit in Nord und Süd. Dies bedeutet nicht Nivellierung ohne Rücksicht auf Leistung, aber es bedeutet, daß Einkommensunterschiede, die nicht auf Leistung oder auf die Nachfrage am Markt zurückgehen, sondern auf überlegene Macht, abgebaut werden müssen. Es liegt auf der Hand, daß die meisten Länder des Südens, vor allem die dichtbevölkerten Gebiete Südasiens, keinerlei Chancen haben, jemals so zu leben wie wir jetzt, schon weil die Umweltbelastung, etwa durch 300 Millionen Autos auf dem indischen Subkontinent, sogar wenn der Treibstoff dafür zu bezahlen wäre, unerträglich würde. 

Wenn wir die Menschen dort ermuntern, andere, eigene Wege zu gehen, so werden sie dies nur dann nicht als neueste Masche des Kolonialismus empfinden, wenn wir selbst bereit sind, über die Anwendung einfacherer Technologien oder eine weniger aufwendige Lebensweise bei uns mit uns reden zu lassen, wenn sie, wie bei der Sonnenenergie, sehen, daß wir ihren natürlichen Vorsprung hinnehmen. Die von Schumacher angestoßene Diskussion über kapital- und energiesparende, dafür aber arbeitsintensive Technologien für Länder mit brachliegender Arbeitskraft kann nur dann weiterführen, wenn wir in Europa unsere herkömmliche harte Technologie nicht für tabu erklären. Sicher, auch hier geht es nicht um Nivellierung, aber wenn wir anderen eine weniger energiefressende Form der Landwirtschaft nahelegen, dann müssen wir diese zu Hause mindestens in Alternativmodellen selbst praktizieren. Wer anderen Massenverkehrsmittel empfiehlt, tut gut daran, gelegentlich selbst solche zu benutzen.

Keniger aufwendiger Lebensstil, auch wenn er im Blick auf rmen Völker versucht wird, kann nur ansteckend wirken, wenn er ein besseres, erfüllteres, reicheres Leben zum Ziel hat. Erst wenn uns dies gelingt, können wir der südlichen Welt glaubwürdig sagen, die Wegwerfgesellschaft sei nicht das einzig Erstrebenswerte.

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Die Entwicklungspolitik eines Landes entscheidet sich nicht in einem Ministerium, nicht einmal in einer Regierung. Beide spiegeln häufig nur wider, inwieweit eine Gesellschaft kooperationsfähig ist. Wir sind es nur bedingt, weniger als die Niederländer oder die Schweden, mehr vielleicht als die Japaner. In Schweden kann sich jede Regierung eine Entwicklungshilfe leisten, die sich an den Bedürfnissen der ärmsten 800 Millionen Menschen orientiert, in Japan mit seinem ungebrochenen Nationalismus in allen Wirtschaftsfragen könnte dies keine. 

Wir stehen irgendwo dazwischen. Je weniger eine Gesellschaft vom Leistungszwang gepeitscht, vom Prestigekonsum getrieben, von Konkurrenzangst gejagt ist, je offener eine Gesellschaft ist für Neues, Ungewohntes, Fremdes, je stärker der Wille nach mehr Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität eine Gesellschaft bestimmt, je unverkrampfter eine Demokratie gelebt wird, um so eher wächst ein Klima der Partnerschaft, ohne das Entwicklungspolitik immer ein Kümmerdasein führen muß. Zeige mir deine Entwicklungspolitik, und ich sage dir, wer du bist. Über die Qualität unserer Entwicklungspolitik wird jeden Tag entschieden, und zwar im eigenen Land, in seiner Einkommenspolitik, seiner Energiepolitik, seiner Verkehrspolitik, aber auch in allem, was seine gesellschaftlichen Kräfte tun oder unterlassen, kurz: bei uns selbst.

Die breite Startbahn zur Entwicklung der Dritten Welt, von der nicht nur Rostow geträumt hat, ist so löchrig geworden, daß dort niemand mehr starten oder landen kann. Auch in der Entwicklungspolitik müssen neue Pfade festgetrampelt werden. Sie haben alle eines gemein, die hier skizzierten und die nicht skizzierten: Sie beginnen nicht weit von unserer Haustür. Und sie kreuzen sich vielfältig mit den Pfaden, die uns selbst aus Zwängen und Gefahren führen können.

 

Pfade zum Frieden

 

   In der Haut des anderen  

 

Carl Friedrich von Weizsäcker hat vor einem kirchlichen Gremium laut darüber nachgedacht, was die Aufforderung zur Feindesliebe heute politisch bedeuten könnte. Er kam zu dem Schluß: 

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sie meine wenigstens das Bemühen, den Gegner zu verstehen, sich in seine Lage zu versetzen, die Welt von seiner Position aus zu sehen, seine Interessen, seine Hoffnungen, seine Ängste, seine Verletzlichkeiten zu erkennen. 

Sicher, dadurch werden die eigenen Interessen, Hoffnungen, Ängste und Verletzlichkeiten noch lange nicht gegenstandslos. Aber sie erscheinen doch in einem anderen Licht, sie verlieren etwas von der zwanghaften Verkrampfung, aus der nur Handlungen kommen können, die beim Gegner neue Ängste wecken, ihn an der empfindlichsten Stelle verletzen und damit wieder Reaktionen auslösen, die eigene Ängste bestätigen, nähren und steigern müssen.

Weil in den achtziger Jahren eine neue Eskalation der Ängste droht, mag der Versuch gestattet sein, für einige Minuten in die Haut eines sowjetischen Spitzenfunktionärs zu schlüpfen. Was mag den ersten Mann im Kreml bewegen, wenn, was wohl auch ihm zustößt, der Schlaf ihn einige Stunden meidet?

Da wird die Sorge wach, ob es gelingen kann, in Polen die Herrschaft einer Partei zu stabilisieren, die nur noch einer von drei Machtfaktoren im Lande ist neben Kirche und Walesas «Solidarität», und von den dreien wohl der schwächste. Der Mann im Kreml mag sich ausmalen, was — nach allen historischen Erfahrungen seit 1772 — eine sowjetische Invasion in Polen dort an Widerstand auslösen müßte, ganz abgesehen vom Entsetzen, das durch die Welt ginge. Und der Groll des Allzumächtig-Ohnmächtigen, der einen amerikanischen Präsidenten in Gedanken an Teheran verzehrt hat, dürfte auch ihn packen. Da ist man Herr über eine gewaltige Militärmaschine und muß sich gefallen lassen, daß mitten im eigenen Imperium ein Walesa die Partei demütigt. 

Und die Tschechen, aus Tradition doch Freunde Rußlands, was würden sie tun ohne sowjetische Besatzung? Vielleicht hat die «brüderliche Hilfe» vom 20. August 1968 doch mehr zerstört als nur eine intellektuelle Clique von Abtrünnigen? Was ist von einer DDR zu halten, deren Bürger in ihrer Mehrzahl geistig in einem anderen Staat, der Bundesrepublik, mitleben, Information von dort aufsaugen, sich wirtschaftlich an der dortigen Währung mehr als an der eigenen orientieren? Was könnte in Ungarn geschehen, wenn Kadar nicht mehr sein sollte, jener Sozialist, dem seine Landsleute zutrauen, daß er genauso viel an Freiheit gewährt, wie man in Moskau zulassen kann? Das alles ist wenig erfreulich.

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Auch der Blick nach Asien und Afrika heitert ihn nicht auf: Gut, da gibt es neue Freunde in Angola und Mozambique, aber doch nur, weil der Westen allzu lange und allzu stupide auf das falsche — kolonialistisch-portugiesische-Pferd gesetzt hat. Wie lange werden die neuen Freundschaften halten, auch die mit dem bettelarmen Äthiopien? Länger als die alten mit Guinea, Mali, Somalia, Ägypten? Warum halten auch Sozialisten wie Nyerere und Kaunda so wenig von der Sowjetunion? Lateinamerika: Da ist dieser Castro, der so viel sowjetisches Geld verschlingt und doch so wenig auf andere Länder ausstrahlt. Lohnen sich diese enormen Investitionen? Nicaragua? Wer weiß, ob sich die Commandantes nicht doch auf Brandts sozialistische Internationale hin orientieren?

Asien: War es nicht doch ein Fehler — Moral hin oder her —, sich auf einen unabsehbaren Kleinkrieg in Afghanistan einzulassen? Könnte daraus nicht ein sowjetisches Vietnam werden? Hatte er sich verrechnet? Aber Asien besteht für den Mann im Kreml zuerst und vor allem aus China, jenem China, das nun auch noch — mit amerikanischer Hilfe — seine Streitkräfte zu modernisieren begonnen hat, j enes China, dessen Führer so von Haß auf die sow j etische Führungsschicht besessen sind, daß sogar westliche Besucher erschrecken. Und warum rüstet Japan so energisch auf? Doch nicht gegen China? Und Westeuropa? Da ist kaum mehr eine kommunistische Partei von einigem Einfluß, die bereit wäre, jede taktische Schwenkung sowjetischer Weltmachtpolitik mitzuvollziehen, manche dieser Parteien sind, wie die in der Bundesrepublik, zur Sekte heruntergekommen. Und der Sog, den dieses Westeuropa auf den anderen Teil Europas ausübt, wird auch nicht geringer.

Wohin der alte Mann blickt, entweder schwache, unzuverlässige, vor seiner Macht sich duckende Freunde oder mächtige Gegner: Vier von den fünf Machtzentren der Erde sind gegen ihn: die USA, China, Japan und Westeuropa. Feinde im Osten, Gegner im Westen, Gefahrenherde im Süden, vor allem im Nahen Osten, wo die Sowjetunion von Kissinger, Carter und Sadat so schmählich und rücksichtslos ausmanövriert wurde. Und im Innern? Würden die Ernten endlich besser werden? Was ist mit dieser Landwirtschaft los, die nicht imstande scheint, auch nur genug Getreide zu produzieren? Was, wenn das amerikanische Getreide sich nicht durch andere Käufe ersetzen ließe?

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Und warum gelingt es der Industrie nicht, Konsumgüter oder Maschinen in einer Qualität anzubieten wie die Deutschen oder die Holländer? Was geht in der Jugend vor? Warum ziehen sich die meisten ins Private zurück? Und der Apparat! Kaum eine Planung ohne Reibungen und Pannen.

Das einzig Tröstliche für den Mann im Kreml könnte die bewaffnete Macht sein, die Marine, die es bald mit der amerikanischen aufnehmen könnte, die Raketen, die Panzerdivisionen. Darauf ist Verlaß, mehr als auf die Treueschwüre der Kadars und Kanias, mehr als auf das Wort eines amerikanischen Präsidenten oder eines deutschen Kanzlers, mehr als auf die Stimmung in der UNO. Sollen sie uns fürchten, wenn sie uns schon nicht mögen! Nur: Geld kostete dieser schreckenerregende Apparat. Und was müßte man den eigenen Bürgern an Einschränkungen zumuten, wenn die Amerikaner wirklich testen wollten, wem beim Wettrüsten zuerst der Atem ausgeht? Sicher, vom Einholen des westlichen Konsums träumen die Menschen in Leningrad oder Tiflis nicht mehr, aber was, wenn die Schaufenster immer trostloser würden?

Man mag einwenden, deutsche Politiker seien für deutsche Sorgen zuständig, nicht für sowjetische. Dem läßt sich nicht widersprechen. Aber wenn es darum geht, die eigenen Ziele, den eigenen Handlungsspielraum abzustecken, kann etwas Phantasie nicht schaden, auch nicht die Einsicht, daß die alten Männer im Kreml vielleicht zu militärischen Überreaktionen neigen, daß ihnen aber wohl kaum nach Welteroberung zumute sein dürfte. Es dient jedenfalls dem Frieden, wenn jeder sich vorstellen kann, wie die Welt aussieht, wenn man sie vom Gegner aus betrachtet. Wollen wir Krieg verhindern, so müssen wir uns, wie Manfred Linz sagt, «am meisten vor der Angst fürchten, vor der eigenen wie vor der Angst des Ostens».58 Sonst werden wir immer gespannt, nicht entspannt an außen- oder rüstungspolitische Entscheidungen herangehen. Und dies hat mit politischer Spannung und Ent-Spannung zu tun, die doch wohl nicht Ziel, sondern Mittel einer Politik des Friedens sein muß.

58 M. Linz, Gedanken zum Gebot der Feindesliebe, in: Wird es denn überhaupt gehen? Beiträge für Walter Dirks, München 1980

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  Westeuropa in der Waagschale des Friedens  

 

Wer heute mit jungen Menschen über Frieden und Sicherheit spricht, wundert sich zuweilen, wie viele von ihnen dem Gedanken der Neutralität anhängen. Meist ist er nicht präzisiert, entspringt keinem rationalen Kalkül, sondern einfach dem Bedürfnis, sich abzukoppeln von einem Rüstungswettlauf, gegenüber dessen Irrationalität jeder andere Weg, so scheint es, mehr Vernunft für sich in Anspruch nehmen kann.

Wer zu Beginn der fünfziger Jahre an dem Streit darüber teilgenommen hat, ob man die Angebote der Sowjetunion, die DDR in ein bündnisfreies, im Innern westlich-demokratisches Gesamtdeutschland zu entlassen, in Verhandlungen testen solle, steht der Idee einer neutralen Bundesrepublik ziemlich fassungslos gegenüber. Denn sollte der Funken des Krieges auf Europa überspringen, so werden die Weltmächte sich gegenüber dem schmalen Handtuch Bundesrepublik nicht so verhalten wie jene schwäbischen Revolutionäre, die auch in turbulenten Zeiten dem Verbotsschild Folge leisteten, wonach das Betreten des Rasens vor dem Schloß verboten war. Walentin Falin wußte, was er dem Spiegel sagte:

«Wir haben nie den Standpunkt vertreten wollen und vertreten können, daß die Bundesrepublik oder ganz Westeuropa einen Gegenkurs zu den USA steuern sollten. Wer so etwas denkt, versteht nichts von der modernen Konstellation in der Weltpolitik.»59

Es ist gut, daß einer der klügsten sowjetischen Diplomaten dies so brutal ausgesprochen hat. Aber wer ihm dafür dankbar ist, sollte wohl auch noch die darauffolgende Differenzierung zur Kenntnis nehmen:

«Die Amerikaner und Westeuropäer werden und sollen ihre Beziehungen selbst gestalten, nach ihren Überzeugungen und ihren Interessen. Freilich glauben wir, daß Europa nichts gewinnen kann, wenn es jene Trends in der Politik der USA unterstützt, die den grundlegenden Interessen des europäischen Kontinents widersprechen.»60

Es mag sein, daß Falin mit den «grundlegenden Interessen

59 Der Spiegel Nr. 51/1980, S. 103      60 ebenda

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des europäischen Kontinents» — wobei er wohl die Interessen Großbritanniens davon unterscheidet — anderes meint als die meisten Westeuropäer. Trotzdem dürfte zwischen diesen beiden Feststellungen eines Weltmacht-Diplomaten, der für die andere Weltmacht mitzudenken gelernt hat, der Spielraum liegen, den europäische und damit auch deutsche Politik nutzen kann.

Seit dem Dezember 1979, in dem mit dem Raketenbeschluß der Nato und — zwei Wochen später — der Invasion in Afghanistan das düstere Bühnenbild für die achtziger Jahre fast auf den Tag genau pünktlich gerichtet wurde, geht wieder die Angst um vor dem großen Krieg. Und jetzt, wo die Kontakte zwischen den beiden Weltmächten spärlicher wurden, wo sie nicht mehr, wie in den siebziger Jahren, ernsthaft versuchen, ihre gegensätzlichen Interessen anzugleichen und ihre gemeinsamen Interessen — etwa die gegenseitige Vernichtung zu verhindern — zu formulieren und durchzusetzen, jetzt wird plötzlich klar, daß dadurch alle übrigen Spannungsherde erst gefährlich werden. Was würde aus einem neuen Nahostkrieg, wenn es keine stillschweigenden Übereinkünfte der Weltmächte mehr gäbe?

So verständlich dem Europäer die Empörung der Vereinigten Staaten über die sowjetische Invasion in Afghanistan erscheinen muß, so wird er doch nicht ohne Gruseln die Welle von Affekten, Ressentiments und verletzten Eitelkeiten auf sich zurollen sehen, die Ronald Reagan mit triumphaler Mehrheit ins Weiße Haus geschwemmt hat: Wir werden allen zeigen, wer wir sind: ein vitales Volk, Kämpfer für eine gute Sache und vor allem: die Stärksten von allen. Welche Ängste dies bei den alten Männern in Moskau wecken muß, läßt sich erahnen.

Es ist gut und richtig, wenn die Bundesregierung alles tut, um die Weltmächte miteinander ins Gespräch zu bringen. Es ist hilfreich, wenn sie auf die US-Regierung bei Gelegenheit mäßigend einwirkt. Es ist auch in Ordnung — weil es der Kleiderordnung entspricht, die auch Falin meinte —, wenn kein deutscher Kanzler die Bindung seines Landes an die Nato in Zweifel ziehen läßt.

Aber in einer Welt voller Explosivstoff, in der fünf bedeutende Mächte, davon zwei Weltmächte, sich im Verhältnis 4:1 gruppieren, kann dies nicht alles sein. Kissingers verschachtelte Dreiecke, ein «kompetitives Dreieck» zwischen den USA,

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der Sowjetunion und China, ein «kooperatives Dreieck» zwischen den USA, Japan und Westeuropa, mögen den Interessen der USA entsprechen, ob sie dem Frieden dienen, steht auf einem anderen Blatt. Wenn nicht zumindest einer aus den beiden Dreiecken manövrierfähiger wird, wenn nicht zumindest einer so beweglich wird, daß er sein Gewicht jeweils neu und jeweils anders in die Waagschale des Friedens werfen kann, wird aus dem Verhältnis 4:1 nichts Gutes kommen. Genauer: Westeuropäische Politik muß sich so viel Handlungsraum verschaffen, daß — bei aller Loyalität zum Bündnis — beide Supermächte wissen: Aus Europa schallt es so heraus, wie wir hineinrufen. 

In Moskau muß man wissen, daß jedes militärische Auftrumpfen — und sei es nur zur Vertuschung ökonomischer und politischer Schwäche — Westeuropa zu einem Block mit den USA verschweißt. Und in Washington muß man wissen, daß jeder Versuch, dem Gegner im Rüstungswettlauf den Atem zu nehmen, in Westeuropa nicht gutes Zureden auslöst, sondern ein hartes und trockenes Nein. Beide Weltmächte müssen wissen, was die Westeuropäer mitmachen und was nicht, wie die Westeuropäer aus ihren Interessen heraus Friedenspolitik definieren. Nur wenn beide Großen wissen, daß sie mit ihrem Verhalten Distanz und Nähe zu Westeuropa bestimmen, kann aus dem Verhältnis 4:1 etwas anderes werden als eine neue Politik der Stärke, die auf der sowjetischen Seite verbunden ist mit der Aggressivität dessen, der sich — wie das Deutsche Reich vor 1914 — eingekreist, in die Zange genommen fühlt.

Dies bedeutet eine klare Prioritätensetzung: Deutsche Politik muß auch künftig europäisch und atlantisch sein, aber das europäische Hemd muß ihr näher sein als der atlantische Rock. Dies bedeutet praktisch: Wo es Differenzen gibt zwischen Frankreich und den USA, etwa in Fragen des Nahen Ostens, ist unser Platz in der Regel an der Seite der Franzosen. Oder: Die politischen Konsultationen in Europa müssen noch dichter werden, als sie es — glücklicherweise — schon sind. Oder: Es kann nicht Aufgabe der Bundesrepublik sein, zusammen mit den USA Nato-Beschlüsse gegen den Willen europäischer Staaten durchzupeitschen. Oder: Wir müssen Konflikte mit Bauernverbänden in Kauf nehmen, um die europäische Agrarpolitik ins Lot zu bringen. Oder: Europa muß zu einer Energiepolitik finden, die seinen Bedarf an Öl rasch und nachhaltig

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vermindert. Oder: Europa muß mit eigenen Vorschlägen den Nord-Süd-Dialog aus der Phase der Schwerhörigkeit herausbringen. Jedenfalls: Deutsche Außenpolitik in den achtziger Jahren muß zuerst Europapolitik, genauer gesagt, Westeuropapolitik sein. Ob ein erweiterter Manövrierraum der Europäischen Gemeinschaft es der Sowjetunion erleichtern könnte, in Osteuropa einiges von dem hinzunehmen, was sich da an nationalem Selbstbehauptungswillen regt, ist zuerst nichts als eine Hoffnung. Aber jede Hoffnung ist besser als keine.

 

   Abrüstung durch Umrüstung?  

 

Auch in der Verteidigungspolitik sind Grundsatzentscheidungen fällig. Aus welchen Gründen wir dazu kommen, ist zweitrangig. Sollten es für manche Militärs und Politiker finanzielle Gründe sein — daß sich neue Waffensysteme schließlich nicht mehr bezahlen lassen —, so wäre dagegen nichts einzuwenden. Entscheidend ist die Frage: Wenn, wie wir gesehen haben, die vage und oft demagogische Formel vom Gleichgewicht nur zu der absurden These von der Abrüstung durch Aufrüstung führt, wenn mehr Rüstung weniger Sicherheit bedeuten kann, wenn die Gefahr eines — vermeintlichen — Endspurts im Rüstungswettlauf droht, gibt es dann noch irgendeinen — sicher auch nicht gefahrlosen, aber doch nicht hoffnungslosen — Trampelpfad zum Frieden?

Wer einmal die ganze Ausweglosigkeit, den ganzen Irr-Sinn der militärpolitischen Debatte unter der Haut gespürt hat, wird sich nicht wundern, wenn die Parole «Ohne Rüstung leben» immer mehr Anklang findet. Er wird schließlich finden, daß etwa Theodor Eberts Thesen vom zivilen Widerstand zumindest nicht weniger rational sind als die Rechnungen der Raketenzähler. Wenn ich mich vorläufig nicht auf diese Seite schlagen kann, dann einmal, weil ich mich noch nie zu einem prinzipiellen Pazifismus habe durchringen können, zum anderen aber auch, weil pazifistische Positionen in Deutschland auf absehbare Zeit nicht mehrheitsfähig sind und daher zwar als Stachel für die Gesellschaft nützlich sein, aber politisch nicht wirksam werden können.

Ein anderer Gedanke, so umstritten er ist, hat mehr Chancen der Durchsetzung, ja er bestimmt zunehmend die Diskussion:

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Gibt es eine Form militärischer Verteidigung, die von niemandem als Bedrohung empfunden, also zum Anlaß von Rüstung genommen werden kann, die aber zumindest nicht weniger wirksam wäre als das, was wir bisher haben?

Es gibt ein Argument für solche Versuche der Umrüstung auf rein defensive Waffensysteme, das schwer aus der Welt zu schaffen ist. Der Brigadegeneral Eckart Afheldt hat es so formuliert:

«Wichtiger noch ist die Erkenntnis, daß eine Verteidigung nach der heutigen Konzeption uns nach drei Tagen vor die Entscheidung stellt, zu kapitulieren oder Atomwaffen einzusetzen. Da beides für alle Verantwortlichen nicht akzeptabel ist, werden sich neue Überlegungen schließlich durchsetzen.»61)

Für drei Tage Galgenfrist vor der Entscheidung über Kapitulation oder Selbstvernichtung ist eine Bundeswehr wie die unsere etwas zu aufwendig. Wenn dies wirklich die Alternative ist, auf die alles hinausläuft, was wir heute Verteidigung nennen, so fragt sich, ob hier nicht die rationaler denken, die einen Frieden ohne Waffen suchen. Jedenfalls: es wird nicht leicht eine Alternative zu finden sein, die unvernünftiger wäre als diese. Denn: «Verteidigung, die zur eigenen Vernichtung führt, kann man nicht wollen, sie ist auch nicht glaubwürdig und daher kaum abschreckend.»62)

Seit Jahren sind Forscher an der Arbeit, militärische Alternativen zu suchen, in Österreich der Panzergeneral Emil Spannocchi, in Frankreich der Major Guy Brossolet,63) in Deutschland Horst Afheldt,64) ein Mitarbeiter Weizsäckers am Starnberger Institut, dem wohl auch der Brigadegeneral Eckart Afheldt einige Anregungen verdankt. Die drei Wissenschaftler halten der gegenwärtigen Verteidigungspolitik vor, «daß ein unterlegener Gegner dem überlegenen Gegner gegenüber nie eine Chance hat, wenn er dessen Bewaffnung und Strategie mit notwendig unzureichenden Mitteln kopiert. Gegen Panzerarmeen sind unterlegene Panzerarmeen keine gute Verteidigung; ihr Einsatz garantiert vielmehr nur den sehr raschen Verlust des Feldzugs.»65)

61) Zitiert nach Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt Nr. 1/1980, S.5
62) ebenda
63) Emil Spannocchi und Guy Brossolet, Verteidigung ohne Schlacht (Taschenbuchausgabe), München 1979
64) Horst Afheldt, Verteidigung und Frieden (Taschenbuchausgabe), München 1979

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In ihren Alternativkonzepten verbinden alle drei Autoren eine sehr alte Taktik mit einer sehr neuen Technik, die Taktik des Kleinkriegs (Guerilla) und die Technik der neuesten zielsuchenden Waffen (precision guided missiles). Von der alten Taktik übernehmen sie die Auflösung starrer Fronten, die äußerste Dezentralisierung der Kräfte, das Bemühen, möglichst keine Ziele zu bilden, die dem Gegner Gelegenheit geben könnten, seine größere Feuerkraft einzusetzen. Die neue Technik nutzen sie, um für Panzerarmeen Risiken zu schaffen, die zumindest nicht geringer sind als die, mit denen sie gegenwärtig zu rechnen haben. Da von den drei Autoren nur einer, Afheldt, die deutschen Gegebenheiten im Auge hat, soll sein Konzept kurz geschildert werden, nicht weil hier ein Patentrezept vorläge, sondern weil so die Richtung alternativer Verteidigungskonzepte deutlich wird:

«Grundlage des Modellkonzepts bilden Techno-Kommandos von je etwa zwanzig Mann. Diese Kommandos sind mit Panzerabwehrwaffen (zum Beispiel Milan-Raketen), Sperrmitteln (Minen) und leichten Infanteriewaffen ausgerüstet. Der technische Standard der Ausrüstung soll für den spezifischen Zweck, der Abwehr beweglichen schweren Geräts des Gegners, in Qualität und Quantität optimal sein (zielsuchende, halbautomatische und automatische Zerstörungsmittel). Jedem leichten Techno-Kommando wird bereits im Frieden ein Bezirk der Bundesrepublik zugewiesen, in dem es stationiert und für den Einsatz ausgebildet wird. Versagt die Abschreckung, wird das Kommando in diesem seinem Bezirk autonom seine Aufgabe erfüllen, den feindlichen Vormarsch so weit wie möglich zu verhindern beziehungsweise zu stören.

Alle leichten Techno-Kommandos bilden ein Netz, das die gesamte Bundesrepublik lückenlos überzieht. Die Dichte des Netzes kann den örtlichen Gegebenheiten angepaßt werden. Im Durchschnitt deckt jedes Kommando rund 20 Quadratkilometer. Großstädte können nicht zum Kampfgebiet gemacht werden, weil es die Aufgabe der Soldaten ist, die Zivilbevölke-

65)  C.F.v.Weizsäcker in der Einleitung zu Verteidigung ohne Schlacht, a.a.O., S.12

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rung zu schützen, nicht aber, ihre Vernichtung herauszufordern. Das Gebiet der Bundesrepublik umfaßt etwa 248.000 Quadratkilometer. Rechnet man Großstädte und Hochgebirge ab, bleibt eine Fläche von etwa 200.000 Quadratkilometern. Somit ergibt sich ein Bedarf von rund 10.000 leichten Kommandos.»66)

Natürlich muß eine so knappe Schilderung viele Detailfragen offenlassen, auf die Afheldt ausführlich eingeht, die aber den Rahmen dieses Buches sprengen müßten. Es ist nicht übermäßig schwierig, Einwände auch gegen dieses Konzept vorzubringen. Wer jedoch diese Einwände, auch die stichhaltigen, vergleicht mit der perfekten Irrationalität der heutigen Konzeption, wird den Gedanken von Horst Afheldt eine Chance geben, nicht die Chance, daß sie in dieser Form Wirklichkeit werden, wohl aber, daß sie die Richtung weisen für eine Umrüstung, wie sie auch Alfred Mechtersheimer, ehemaliger Luftwaffenoffizier, für unerläßlich hielt:

«Als Ausweg bleibt nur eine Generalbilanz unserer Sicherheitspolitik. Und dabei muß man von zwei Erkenntnissen ausgehen: erstens, die Bundesrepublik rüstet nicht zuwenig, sondern falsch. Und zweitens, die Bundeswehr ist keine schlechte Armee, aber für ihren politischen Auftrag — Heimatverteidigung — muß sie umgerüstet werden.»67

Wenn sich zeigt, daß der Weg zur Abrüstung nicht über mehr oder minder ehrlich angelegte Gleichgewichtstheorien führen kann, dann sollte der Weg der Umrüstung gegangen werden, für die übrigens auch der Brigadegeneral Uhle-Wettler schon deshalb eintritt, weil er die Bundeswehr für übertechnisiert und zu kostspielig hält. Sie habe zu viele Panzer, zuviel Troß und zuwenig leichte Infanterie, eben diese Infanterie aber brauche man, wenn man nicht angreifen, sondern verteidigen wolle.

66)  Vorstehendes wurde nicht aus der ursprünglichen Studie zitiert (dtv 1453), sondern aus einer zwei Jahre später veröffentlichten Zusammenfassung Horst Afheldts, Modell für eine neue Sicherheitspolitik, in den Frankfurter Heften Nr. 411978  
67) Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt. Nr. 51/52,1980

Heute taugen alle Armeen der Welt - ausgenommen die sehr kleiner Staaten wie der Schweiz - von ihrer technischen Ausrüstung und ihrer Organisations­struktur her eher für den Angriff als für die Verteidigung. Alle Regierungen beteuern - und wohl zu Recht -, daß sie einen Angriffskrieg nicht zu führen gedenken. Aber alle Militärstrategen der jeweils anderen Seite halten sich an das, was sie sehen: Panzerdivisionen, die sich nun einmal besser im Angriff entfalten können. Jeder weiß, daß für ihn nur im Angriff, in der «Vorwärtsverteidigung» eine Chance liegt, und der Gegner weiß dies auch und richtet sich darauf ein. Er antwortet mit der Verstärkung seiner Panzertruppen, die vom jeweiligen Gegner wiederum nur als Bedrohung empfunden werden kann.

Es wäre der Mühe wert, aus diesem Zirkel einen Ausweg zu suchen, den Trampelpfad der Umrüstung auf Waffensysteme und Organisations­strukturen, die nur der Verteidigung dienen und niemanden bedrohen können. Wer niemanden bedroht, kann mit unbestreitbarem moralischem und politischem Gewicht auf die Abrüstung der anderen drängen, er kann die öffentliche Meinung der Welt leichter als andere gewinnen und mobilisieren.

Es gehört zu den Grundlagen strukturkonservativen Denkens, daß nicht das Bestehende, nur das Neue sich mit Gründen auszuweisen habe. Wo das Bestehende uns so offenkundig in die Gefahr der Auslöschung führt, muß es seine Berechtigung nicht weniger nachweisen als das Neue, auch wenn dieses Neue, wie könnte es anders sein, nicht von heute auf morgen in eine Welt der Harmonie führen kann.

Umrüstung wäre nur denkbar als allmählicher Prozeß von mehr als einem Jahrzehnt. Aber schon die Einleitung des Prozesses hat politische Wirkungen. Schon die Entscheidung zur Umrüstung kann das Klima der — festgefahrenen — Abrüstungsverhandlungen verbessern.

Man wagt es kaum zu hoffen, aber völlig auszuschließen wäre es nicht: daß auch die andere Seite schließlich zur Umrüstung gedrängt werden könnte. Umgerüstete Armeen, die einander nicht mehr bedrohen können, wären leichter zu verkleinern. Abrüstung durch Umrüstung — das ist eine kühne Hoffnung, aber sicher nicht verwegener als die auf Abrüstung durch Aufrüstung.

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wikipedia  Reinhard_Uhle-Wettler  *1932  Brigadegeneral, Bruder

 wikipedia  Franz_Uhle-Wettler   1927-2018, Generalleutunant

 

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Von Dr. Erhard Eppler