3) Dürfen wir heute noch neugierig sein?
Von Wolfgang Wild
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Wenn man einen Naturwissenschaftler fragt, warum er sich für seinen Beruf entschieden habe und diesen mit innerem Engagement betreibe, so erhält man zumeist die Antwort, die Antriebsfeder zu all dem sei die Lust an der Befriedigung der Neugierde. Der Wunsch, etwas Neues herauszufinden, etwas bisher Unverstandenes zu erklären, motiviert den Naturforscher zumeist sehr viel mehr als das Bedürfnis, der Menschheit durch die Erfindung von etwas Nützlichem zu dienen.
Läßt sich eine solche Einstellung rechtfertigen? Kann das Glücksgefühl, das die Entdeckung des Neuen und schon das Bemühen um diese Entdeckung erzeugt, eine Tätigkeit legitimieren, die weitreichende Auswirkungen - im Guten wie im Bösen - hat und die im schlimmsten Fall die Existenz der Menschheit gefährden kann?
Als Antwort auf diese Fragen hört man immer öfter ein hartes Nein. Erhart Kästner wirft in seinem Alterswerk >Aufstand der Dinge< den Physikern vor, sie hätten »um der Wissenschaft willen aus der Erde eine Grube der Angst gemacht«. Friedrich Dürrenmatt läßt in seinem Stück >Die Physiker< den genialen Forscher Möbius sagen: »Unsere Wissenschaft ist schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere Erkenntnisse tödlich. Es gibt für uns Physiker nur noch die Kapitulation vor der Wirklichkeit. Sie ist uns nicht gewachsen. Sie geht an uns zugrunde.«
Die neuzeitliche Naturwissenschaft wird aber nicht nur kritisiert, weil sie eine existenzbedrohende Naturbeherrschung ermöglicht; man macht ihr darüber hinaus zum Vorwurf, daß sie ihrem inneren Wesen nach auf Herrschaft hin angelegt sei und darum zu einer mißbräuchlichen Naturbeherrschung geradezu verführe. Robert Spaemann und Reinhart Low sagen, daß es zwei Arten von Sicherheit für den Menschen gebe, »diejenige des Menschen im Kreis seiner vertrauten Freunde und diejenige des Herrschers, der über alle Instrumente der Beherrschung verfügt«.
Die Naturwissenschaft versuche, die Sicherheit auf dem letzteren Wege zu erlangen, indem sie »anstelle des Vertrauens in die Verstehbarkeit der Natur ein Vertrauen in ihre Beherrschbarkeit, in die Sicherheit unseres Eingreifen-Könnens« setze. Dazu aber sei zu sagen: »Die absolute Beherrschung der Wirklichkeit erscheint nicht nur als ein nicht-erreichbares, sondern auch als ein nicht-wünschenswertes Ziel.«
Eine andere Form der Kritik an der neuzeitlichen Naturwissenschaft geht davon aus, daß diese ihre Erfolge dem Prinzip des »disseccare naturam« verdanke. Sie versuche, aus der Wirklichkeit Teilaspekte zu isolieren, die genau analysiert und in der Form eines relativ einfachen naturgesetzlichen Zusammenhangs erklärt werden können. Es komme aber darauf an, den komplexen Zusammenhang von allem mit allem zu verstehen; die Welt sei mehr als die Summe ihrer Teile. Daher müsse an die Stelle von quantitativem Messen qualitatives Werten treten; wir lebten in einer »Wendezeit«, die eine neue Wahrnehmung der Welt erfordere. Solche und ähnliche Thesen sind insbesondere von dem in Kalifornien tätigen Physiker Fritjof Capra vertreten worden, und der Wiener Physiker H. Pietschmann gab einem vielzitierten Buch den Titel: >Das Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters<.
Und dieses Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters scheint auch noch von einer anderen Seite her eingeläutet zu werden, nämlich von der Erkenntnistheorie her, die den Wahrheitsgehalt naturwissenschaftlicher Aussagen mehr und mehr in Frage gestellt hat. Lange Zeit waren die Naturwissenschaftler davon überzeugt, daß sie strin-gent bewiesene, objektiv wahre Erkenntnis zutage fördern. Von dieser Überzeugung ist die Mehrzahl der Naturwissenschaftler heute abgerückt. Sie haben erkannt, daß sich objektiv wahre Erkenntnis nicht induktiv aus der Erfahrung ableiten läßt, daß naturwissenschaftliche Aussagen nicht beweisbar sind. Die neuere Kritik, als deren Exponent Paul Feyerabend zu nennen wäre, geht aber noch viel weiter: Danach wären naturwissenschaftliche Theorien weder beweisbar noch widerlegbar.
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Paul Feyerabend zufolge gibt es weder richtige noch falsche naturwissenschaftliche Theorien, sondern nur amüsante und langweilige. Naturwissenschaft ist für ihn nicht mehr eine Quelle zuverlässiger Erkenntnis, sondern eine Abart künstlerischer Betätigung.
Hat uns das Streben nach Erkenntnis um ihrer selbst willen, die Lust an der Befriedigung der Neugierde in eine Sackgasse geführt? Richten wir die Welt zugrunde, ohne unserem Ziel, den Bauplan des Naturgeschehens zu entziffern, wirklich näherzukommen?
Ich möchte versuchen aufzuzeigen, daß wir nicht zu verzweifeln brauchen und daß wir auch heute noch zu Recht neugierig sein dürfen. Dazu soll zunächst die radikal-skeptische Position eines Paul Feyerabend kritisiert werden. Meiner Überzeugung nach ist Feyerabend widerlegt worden durch die Arbeiten von Imre Lakatos, die alle Argumente moderner Wissenschaftskritik berücksichtigen und doch der Hoffnung Raum lassen.
Der zentrale Gedanke bei Lakatos ist die Unterscheidung zwischen progressiven und degenerierenden Forschungsprogrammen. Eine naturwissenschaftliche Theorie - oder wie Lakatos sagt: ein Forschungsprogramm - ist positiv zu bewerten, wenn sie eine hohe Voraussagekraft besitzt und dadurch stimulierend wirkt. Dagegen befindet sich eine Theorie im Degenerationsstadium, »wenn sie nur noch post-hoc-Erklärungen entweder für zufällige Entdeckungen oder für Tatsachen liefert, die von einer konkurrierenden Theorie vorausgesagt oder entdeckt worden sind« (Lakatos). Im Fall der Falsifikation einer theoretischen Vorhersage durch das Experiment soll einer progressiven Theorie die Rettung durch den nachträglichen Einbau von ad-hoc-Hilfshypothesen zugestanden werden, während eine degenerierende Theorie zu verwerfen ist.
Das von Lakatos geforderte Bewertungsprinzip entspricht der tatsächlichen Vorgehensweise in der naturwissenschaftlichen Forschung. Zu einem tiefgreifenden Wechsel von Leitideen kommt es dann und nur dann, wenn eine etablierte Theorie steril geworden ist und eine konkurrierende neue Theorie faszinierende Perspektiven eröffnet.
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Als Fazit läßt sich festhalten: Naturgesetze stellen keine unumstößlich gesicherte Erkenntnis dar. Sie sind Hypothesensysteme, die überholbar, fehlbar und bis in ihre Fundamente hinein aufhebbar sind. Nicht einmal über Bewährung oder Falsifikation dieser Hypothesensysteme läßt sich objektiv Gültiges aussagen. Man muß Bewertungen vornehmen, die von Individuen in einer konkreten historischen Situation vorgenommen werden und denen darum eine gewisse Willkür anhaftet. Odo Marquard hat das sehr plastisch formuliert:
»Wer überprüfbar experimentieren will, muß die Experimentierer austauschbar machen. Die Experimentierer aber sind Menschen, und Menschen sind eben nicht einfachhin austauschbar: nicht deswegen, weil es bei ihnen... als Randphänomen auch noch ergebnisverfälschende subjektive Emotionen gibt, sondern weil die Menschen primär tatsächlich verschieden sind, nämlich - noch vor aller Individualität - fundamental mindestens dadurch, daß sie in verschiedenen Traditionen sprachlicher, religiöser, kultureller, familiärer Art stecken und gar nicht leben könnten, wenn das nicht so wäre: wir Menschen sind stets mehr unsere Traditionen als unsere Experimente.«
Und dennoch: Es liegt im Wesen der naturwissenschaftlichen Methode, daß sie immer stärkere, umfassendere, mit größerer Voraussagekraft ausgestattete Theorien und damit zugleich immer wirkungsmächtigere Anwendungen hervorbringen muß.
Auch die Kritik an der Methode der Isolation von Teilaspekten, am Prinzip des »disseccare naturam« ist zwar berechtigt, führt aber nicht zu den radikalen Konsequenzen, die ein Fritjof Capra zieht. Ich meine, daß das methodische Prinzip des »disseccare naturam« fruchtbar und sinnvoll ist für ein relativ frühes Stadium naturwissenschaftlicher Welterfassung. Wer von Anfang an immer das Ganze im Auge behalten will, der wird nicht allzu tief eindringen.
Es ist vernünftig, sich zunächst den Phänomenen zuzuwenden, die sich relativ leicht isolieren lassen und die man durch wohldefinierte Experimente und relativ einfache Erklärungsmodelle gut erfassen kann.
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Heute dürften wir allerdings an der Grenze des auf diese Weise Erreichbaren angelangt sein. Die Systeme schwacher Kopplung sind verstanden, während wir im Begreifen der Systeme mit starker Kopplung und hoher Komplexität noch in den Anfängen stecken. Solche Systeme starker Kopplung und hoher Komplexität finden wir vor allem in lebenden Organismen und in ganzen Ökosystemen. Aber auch diese hochkomplexen Systeme sind - das ist meine feste Überzeugung! - mit Hilfe der Ratio zu begreifen. Wovon wir abrücken müssen, ist das Prinzip der Isolierung von Teilaspekten. Damit ist jedoch eine rationale Welterfassung nicht unmöglich geworden; die großen Fortschritte der Synergetik, der Lehre vom Zusammenwirken, und unser wachsendes Verständnis für kooperative Phänomene beweisen das Gegenteil.
Das, was in der Form linearer Zusammenhänge erfaßt werden kann, dürfte erforscht sein, Systeme, die sich als Summe ihrer Teile begreifen lassen, haben wir verstanden; heute und in Zukunft kommt es auf ein Verständnis nichtlinearer Zusammenhänge an, auf die Untersuchung von Systemen, bei denen das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Die Behandlung von nichtlinearen Zusammenhängen ist ungleich schwieriger als die von linearen, aber beide Zusammenhangstypen lassen sich mathematisch erfassen; man braucht nicht von der Mathematik zur Mystik überzugehen, wenn man vom Studium linearer Probleme zur Untersuchung nichtlinearer Vorgänge fortschreitet.
Der Vorwurf, daß naturwissenschaftliche Forschung notwendig zur Spezialisierung und zum Verlust des Gefühls für das Ganze führe, ist in so pauschaler Form kaum berechtigt. Neben der Tendenz zur fortschreitenden Spezialisierung hat es in den Naturwissenschaften immer die gegenläufige Tendenz zur Integration der Teildisziplinen in überwölbenden Theorien gegeben. Es war das Bestreben Newtons, den Fall des Apfels vom Baum und die Bewegung der Himmelskörper auf eine gemeinsame Wurzel zurückzuführen, und dies gelang ihm durch sein Gravitationsgesetz.
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Maxwell vereinigte in seiner Elektrodynamik die vorher völlig unabhängigen Disziplinen Elektrizitätslehre, Magnetismus und Optik. Durch die Quantentheorie wurde die Chemie zu einer Teildisziplin der Physik. Die Reihe der Beispiele läßt sich bis in die jüngste Gegenwart fortsetzen. Und so kommen denn sogar Spaemann und Low in ihrem - zur Naturwissenschaft sehr kritisch eingestellten - Buch >Die Frage Wozu ?< zu der Feststellung: »Das naturwissenschaftliche Bild der Wirklichkeit ist heute von einer nie zuvor erreichten, großartigen Einheitlichkeit.«
Ich möchte deshalb nachdrücklich die These verfechten, daß die landläufige Meinung, die Naturwissenschaften hätten unser Weltbild in ein zusammenhangloses Nebeneinander von Detailkenntnissen aufgelöst, so nicht richtig ist.
Demjenigen, der sich darum bemüht, über der Beschäftigung mit Detailfragen den Blick auf die Zusammenhänge nicht zu verlieren, dem kann die Naturwissenschaft heute ein Bild der Wirklichkeit vermitteln, das in seiner Einheitlichkeit und Folgerichtigkeit alles früher Erreichte weit übertrifft.
Mit der Betonung des Systemaspekts haben die heutigen Naturwissenschaften ganzheitliche Betrachtungsweisen in den Mittelpunkt ihres Interesses gerückt. Damit sind sie zugleich den Geisteswissenschaften wieder näher gerückt. Dies sieht auch der Münchener Theologe Wolfhart Pannenberg so: »Die Einführung des Systembegriffs und damit verbundene kybernetische Betrachtungen können also die isolierte Zuordnung der Sinnproblematik zu den geisteswissenschaftlichen Disziplinen korrigieren und die Bedeutung der hermeneutischen Grundbegriffe von Teil und Ganzem durch Zuordnung zu den Problemen der allgemeinen Systemtheorie klären... Es erscheint also nicht aussichtslos, die »geisteswissenschaftliche« Isolierung der Sinnthematik von naturwissenschaftlichen Verfahren zu überwinden.«
Nun glaube ich zwar nicht, daß wir mit dem Systembegriff das Sinnproblem lösen können, aber ich meine zumindest, daß der Systembegriff eine Verständigungsbasis liefert, auf der Natur- und Geisteswissenschaften miteinander kommunizieren können.
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Der Zerfall unserer abendländischen Kultur in »zwei Kulturen«, eine literarisch-geisteswissenschaftliche und eine technisch-naturwissenschaftliche, den C.P. Snow diagnostiziert hat, in zwei Kulturen, die sich nach Wertorientierung, Denkform und Lebenseinstellung so sehr unterscheiden, daß sich zwischen ihnen eine Kluft des Nichtverstehens aufgetan hat, dieser Zerfall könnte aufgehalten und vermutlich sogar rückgängig gemacht werden.
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Zum Abschluß seien noch einige wenige Bemerkungen zu dem fundamentalen Zweifel am Segen wissenschaftlichen Fortschritts gestattet.
Diesem Zweifel möchte ich mit zwei Zitaten entgegentreten. Das eine stammt von Nikolaus Lobkowicz und besagt: »Wir sind freier, leben unter gerechteren Zuständen, und es geht uns materiell üppiger, als es je in der Menschheitsgeschichte der Fall war.«
Das andere geht auf den amerikanischen Soziologen J.R. Plumb zurück:
»Kein Mensch, der bei Sinnen ist, würde sich wünschen, in einem vergangenen Zeitalter gelebt zu haben, außer er wüßte genau, daß er in einer reichen Familie geboren worden wäre, daß er sich einer außerordentlich stabilen Gesundheit erfreut hätte und daß er den Tod der Mehrzahl seiner Kinder mit stoischer Ruhe hätte hinnehmen können.«
Es ist sicherlich richtig, daß durch Naturwissenschaft und Technik die potentiellen Gefährdungen unseres Lebens beängstigende Größenordnungen erreicht haben. Aber durch Naturwissenschaft und Technik wurden auch die Voraussetzungen einer Lebensqualität geschaffen, von der vergangene Zeiten nur träumen konnten. Die Bilanz ist, alles in allem genommen, doch wohl positiv, und die Früchte, die die forschende Neugierde des Menschen zutage gefördert hat, schmecken zwar oft bitter, noch öfter aber süß. Und so meine ich, daß auch unter dem Gesichtspunkt unserer Verantwortung gegenüber der Mit- und Nachwelt die Befriedigung der Neugierde legitim ist und bleibt. Allerdings müssen wir die gewonnene Fähigkeit zur Naturbeherrschung zügeln. Diese Fähigkeit dürfen wir nicht mehr wie bisher unbedenklich zur Vermehrung unseres Wohlstandes und unserer Bequemlichkeit einsetzen, sondern wir müssen vor allem die ungeschmälerte Erhaltung der Lebenschancen künftiger Generationen im Auge behalten. Nur das dürfen wir tun, was nach unserem besten Wissen und Gewissen diese Lebenschancen nicht beeinträchtigt.
Die berechtigte Kritik an der durch die Technik bedingten Umweltschädigung und an der Ausplünderung unseres Planeten Erde darf jedoch nicht zu einer Verteufelung des menschlichen Erkenntnisstrebens führen, denn diesem und der aus ihm folgenden Naturbeherrschung verdanken wir das, was das Leben erst wirklich lebenswert macht, die Lösung aus den niederdrückenden Zwängen der reinen Überlebenssicherung, den Eintritt in ein Reich der Freiheit.
Die Macht, die wir durch die heute erreichte Naturbeherrschung gewonnen haben, legt uns allerdings eine große Verantwortung auf, sie verpflichtet uns zu großer Vorsicht und zu einem sorgfältigen Abwägen aller Risiken. Aber die Ethik der Verantwortung, der wir uns unterwerfen müssen, zwingt uns nicht zur Selbstverstümmelung; unseren edelsten Trieb, das Streben nach Erkenntnis, welches schon Aristoteles als Wesensmerkmal des Menschen hervorgehoben hat, brauchen wir nicht zu verleugnen, auch heute noch dürfen und sollen wir neugierig sein.
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