5) Skepsis und Hoffnung - Was wir heute aus der Geschichte lernen können
von Thomas Nipperdey
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Historiker haben es von Beruf in erster Linie mit der Vergangenheit zu tun, dem Gewesenen, dem Toten und den Toten, nicht mit der Zukunft, dem Raum unserer Erwartungen und Wünsche, Ziele und Pläne. Sie sind anscheinend nicht zuständig für Hoffnung.
Aber ganz so einfach ist das nicht. Historiker beschäftigen sich ständig mit vergangenen Wünschen und Erwartungen, mit vergangenen Hoffnungen, mit Zukunft, die einmal Zukunft war, mit vergangener Zukunft. Sie erzählen von erfüllten Hoffnungen und noch mehr von gescheiterten, von erträumter Zukunft und davon, wie Zukunft so oft zwischen Erfüllung und Scheitern anders wurde als die Hoffnungen der Handelnden, der Wartenden und der Leidenden. Geschichte ist auch Geschichte der Hoffnungen, Historiker sind Fachleute für die lange menschliche Erfahrung mit Hoffnungen. Sie können nicht sagen, wie es mit unserer Hoffnung steht, aber sagen, wie das mit Hoffnungen gewesen ist.
Noch wichtiger ist - wenn man nicht auf die Gegenstände der Historiker sieht, sondern darauf, warum sie ihr Geschäft betreiben oder betrieben haben -, welche Funktion sie in der Gesellschaft und für diese wahrnehmen, was Geschichte, nicht als Wissenschaft, sondern als Lebensmacht, bedeutet oder bedeutet hat. In der alten Welt, vor den Revolutionen und vor der Industrie, in der Welt vor 1800, war Geschichte vor allem gegenwärtig als Tradition, in den Dingen, den Institutionen, den Sitten. Das Gute und Wahre war das Alte, lang zurückreichend; das Leben war auf Dauer gestellt. Man lebte und handelte, wie die Großväter es getan hatten, das war die Selbstverständlichkeit des Lebens. So war es, so sollte es bleiben.
Die Geschichte lieferte Beispiele, exempla für das richtige Verhalten, sie war eine Lehrmeisterin des Lebens, eben weil das Wesentliche gleich blieb, von Gott, von Natur und später von einer einzigen Vernunft geordnet und geschaffen. Das, worauf es den Menschen ankam, der Sinn, das Glück, das Heil, das lag nicht in der Zukunft und nicht in einer innerweltlichen Zukunft - von der war nichts grundlegend Anderes und Neues zu erwarten. Das lag vielmehr in der Ewigkeit. Hoffnung war vor allem und zuerst eine religiöse Wirklichkeit und darum eine religiöse Tugend.
Das änderte sich im Zeitalter der Revolutionen. Die Tradition, so wie es immer gewesen war, das »so leben wie die Väter« geriet in Frage. Die großen Veränderungen rollten über die Köpfe der Menschen hinweg und krempelten das Leben um, Arbeitsteilung, Mobilität, Bürokratie, die Stadt und was der schönen neuen Dinge mehr waren. Nicht die Dauer hatte mehr Macht über das Leben, sondern die Veränderung, die alles verändernde Zeit. Vergangenheit war nicht gegenwärtige Tradition, sondern gewesene Geschichte. Ja, die Welt hörte auf, ein auf Dauer gestelltes System zu sein, sie war Ergebnis vergangener Geschichte und Ort der geschehenden Geschichte.
Hier kommt die Hoffnung ins Spiel. Wenn die Welt geworden ist, ist sie veränderlich und also auch veränderbar, Ort unseres planenden Umgestaltens und unseres Hoffens. Gegenwart versteht man aus ihrer Herkunft her. Und über die Normen und Ziele des Lebens erfährt man, wenn alles im Fluß ist, eben auch aus der Geschichte. Geschichte lehrt Wege in die Zukunft. Wo die Religion sich abschwächte oder die Welt freigab zur autonomen Gestaltung durch die Menschen, da lag das Heil nicht mehr allein in der Ewigkeit, sondern auch in der Zukunft, der eigenen wie der der Kinder und Enkel. Die Zukunft, die politische, technische und soziale Zukunft, wird die eigentliche Dimension, in der der Sinn des Lebens sich erfüllt, selbstgewisse Hoffnung auf die bessere Zukunft individuellen wie gemeinsamen Lebens wird immer wichtiger, wird zum politischen und zivilisatorischen Glauben an die neue Zeit. Und jetzt wendet man sich an die Geschichte: sie soll die Zukunft erleuchten.
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Die Revolutionäre, die Progressiven, die Reformer greifen auf die Vergangenheit zurück, um die eigenen Zukunftsziele mit einer offenkundigen Tendenz der Vergangenheit, der Geschichte eben, zu begründen und zu legitimieren, der Tendenz zum Fortschritt oder doch zum relativen Fortschreiten, zur Freiheit, zur Nation, zu sozialer und internationaler Gerechtigkeit, zu höherer Zivilisation. Und auch die Konservativen müssen begründen, warum das Bestehende gut ist und in der Zukunft dauern soll, dazu greifen auch sie auf Geschichte zurück. Vergangenheit begründet den Sinn des Handelns, den Horizont der Hoffnung. Geschichte war eine öffentliche Macht. Nationen, Parteien und Klassen, Techniker, Wissenschaftler und Künstler, alle stellten sich in den Willen der Geschichte und wollten den Rückenwind der Geschichte haben. Dabei wurde natürlich die Geschichte auch ideologisiert: Was man wollte und hoffte, das las man in die Geschichte hinein, um es aus ihr dann wieder herauszulesen.
Das ist vergangen. Wir wissen es alle. No future ist die Parole der postmodernen Generationen, apokalyptisch verängstigt oder zynisch und cool, dem reinen Heute zugewandt. Seit den Weltkriegen schon glaubt niemand mehr an »den« Fortschritt, Geschichte hat aufgehört, Boden von Hoffnungen zu sein. Wir glauben kaum noch, daß der Umgang mit Vergangenheit uns klug für ein andermal oder gar weise für immer machen würde. Die Weltkriege, Hitler und Stalin, die Atombombe und die Umweltgefährdungen haben den Glauben an einen Fortschritt nachhaltig erschüttert, der Relativismus unseres pluralistischen Systems hat die Absolutheiten, die Verbindlichkeiten von Werten und Zielen ebenso nachhaltig erschüttert. Das Leben verändert sich so rasch, daß es die Geschichte aufdringlich überholt, Geschichte erfahren wir als Verlust und Enttäuschung, sie gibt anscheinend nichts, woran man sich halten kann, worauf sich Hoffnung gründen ließe. Das Unbehagen in der Kultur zieht auch die Vergangenheit in seinen Bann. Das ist das Ergebnis der wirklichen Geschichte unseres Jahrhunderts, aber auch ein wenig ein Ergebnis der Geschichtswissenschaft.
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Denn die Wissenschaft hat fast alles, was aus der Geschichte in die Zukunft weist, von ein paar ökonomischen, technischen und demographisch wohlbegründeten Prognosen abgesehen, relativiert. Die sinnstiftenden, hoffnungsgründenden Prozesse der Vergangenheit werden objektiviert und damit neutralisiert und entmoralisiert. Die Wissenschaft hat die philosophischen Entwürfe der Geschichte zerstört, die ein Ganzes, ein Ziel und ein Ende der Geschichte konstruierten oder doch anvisierten. Wir wissen nichts mehr vom Willen der Geschichte, von fortdauernden Tendenzen. Geschichte legitimiert nicht mehr politisches Handeln. Historiker sind nicht mehr für die Zukunft zuständig. Die Normen und Sinnsetzungen erscheinen uns historisch, die Geschichtswissenschaft hat sie relativiert. Ja, die Geschichte bedrängt uns mit ihren Dunkelheiten und Greueln, uns Deutsche zumal, sie lähmt unser Handeln. Wenn wir die Welt besser ordnen wollen oder doch, und das ist ja schon viel, in Ordnung halten wollen: Geschichte, so scheint es, hilft uns da nicht viel.
Weder die wissenschaftliche noch die umgangspraktische Beschäftigung mit Vergangenheit kann uns sagen, was wir tun sollen. Sie stiftet keinen Sinn und entdeckt ihn nicht, sie kann im Streit der Götter, der Werte und Ziele, nicht entscheiden. Sie schafft keine Tugend und sie bringt die Welt nicht in Ordnung.
Noch immer bin ich nicht fertig mit dieser scheinbaren Absage an das Prinzip Hoffnung. Wenn man sich als Historiker überlegt, welche menschlichen Haltungen und Einstellungen denn im Umgang mit wissenschaftlich aufbereiteter Vergangenheit erzeugt werden, so würde ich zuvörderst die Skepsis nennen. Geschichte macht skeptisch. Wer sich mit Vergangenheit beschäftigt, erfährt, wie bedingt und abhängig die Menschen sind, die Handelnden und die Leidenden, wie die großen Tendenzen über sie hinweggehen, die Strukturen sie zwingen, wie fragil ihre Sicherheiten sind, wie brüchig die Mauer des Erreichten, wie die Folgen die Absichten hinter sich lassen, wie sie in ausweglosen Widersprüchen und unlösbaren Alternativen verstrickt sind, schwach, irrend, schuldlos schuldig, die Sieger wie die Besiegten, gestern wie heute.
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Er erfährt, wie die Härte der Realität sich all unserem Hoffen widersetzt, wie mehr Freiheit nicht einfach mehr Glück bringt und Freiheit und Gleichheit sich widersprechen, wie der Kapitalismus den Wohlstand mehrt und zugleich die Moral verzehrt, wie Freiheit in Bürokratie und manchmal in Terror endet, wie der Fortschritt die Unsicherheiten und Instabilitäten vergrößert und alle Modernisierung Verluste bringt, wie das, was wir mögen, mit dem, was wir nicht mögen, in der Vergangenheit so schön zusammengeht, Demokratie und Krieg zum Beispiel, Reaktion und Friede, wie die europäische Rationalität die Welt von der Magie befreit hat und zugleich entzaubert, wie Rationalität und Disziplin die religiösen Wurzeln, aus denen sie stammen, aufzehren. Wir erfahren die Endlichkeit des Menschen. Wir können auch sagen, wir lernen etwas über die tragische Existenz des Menschen.
Das ist aber nicht die Skepsis der Nihilisten und nicht die der Pessimisten, daß alle Macht oder alles menschliche Tun zuletzt böse sei. Historiker versuchen, die vergangenen Menschen zu verstehen, nach ihren Normen und nicht nach unserer Weisheit. Historiker leihen den Toten ihre Stimmen und machen ihre Sache stark, auch wenn ihre Sympathie nicht mit ihnen ist. Wir lassen das Fremde und Befremdliche zur Geltung kommen, ohne unseren Eigensinn hineinzumengen, wir lernen zuzuhören, schon unseren Großvätern gegenüber, wir üben Gerechtigkeit gegen andere, lernen ein Mitgefühl mit anderem Leben, lernen das Zumutbare von unserem moralischen Eifer zu unterscheiden, lernen Toleranz und etwas von unserer eigenen Relativität. Das ist eine realistische, eine mitfühlende, eine verstehende Skepsis.
Jetzt kommt endlich die Hoffnung in meine Überlegung hinein.
Die Krise der Hoffnung, das no-future-Gefühl oder die Verfallenheit ans bloß Gegenwärtige, das hat mit einer 200 Jahre alten Überspannung der Hoffnungen, der Zukunftserwartungen, der Gewißheitsverheißungen der Wissenschaften, der fortschrittsversprechenden Zivilisation und der Politik zu tun, mit dem Utopismus, der die Endlichkeit der Menschen übersteigen wollte.
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Das alles ist immer noch gegenwärtig, sei es auch nur so, daß man die Abwesenheit dieser edlen Dinge voll Trauer und Wut erfährt. Das Übermaß von Hoffnungsweckern hat die Hoffnungsfähigkeit der Menschen zerstört. Skepsis schraubt die Hoffnungen zurück, gerade dadurch aber ermöglicht Skepsis realistische Hoffnung. Skepsis also gegen alles Überschreiten der Grenzen des Menschlichen, der Vollendungsansprüche und Planungen, gegen den Absolutismus radikaler Idealisten, die historisch mit ihren edlen Zielen mehr Unheil angerichtet haben als die gemeinen Bösewichte; Skepsis gegen die Entwürfe von neuen Menschen, den Absolutismus des Eigenen, gegen das Pathos der besseren Zukunft oder das Pathos der angeblich besseren Vergangenheit, Skepsis gegen die großen Sprünge und Entwürfe.
Skeptischer Realismus erst bereitet den Boden für die mühsame Stückwerksarbeit der Erhaltung wie der Verbesserung von Freiheit und Ordnung. Solches Beharren auf der Endlichkeit nicht der anderen, sondern unserer selbst schützt die Menschlichkeit gegen die Absolutheit der großen Versprechungen und macht die Hoffnung auf die kleinen Schritte und das, was uns möglich ist, überhaupt erst real. Darum ist Skepsis eine Tugend, und wir haben da einen großen Nachholbedarf. Insoweit ist der Umgang mit Geschichte eine Schule aufgeklärter Skepsis.
Noch einmal: Erst wo der ruchlose Optimismus des utopistischen Hoffens und Planens nicht etwa nur enttäuscht ist - das Resultat ist die no-future-Verzweiflung -, sondern entmachtet ist durch die realistische Einsicht in Grenzen und Endlichkeiten des Menschen, ins Irren und Bösesein, ist die Basis gewonnen für die pragmatische Nüchternheit, mit der wir uns anstrengen, die Welt ein wenig besser zu ordnen.
Der verbreitete Einwand, es bedürfe zur Hoffnung und zum Mut zur Zukunft den Glauben ans Unmögliche, einen Ausgriff aufs Unmögliche, teile ich nicht. Das mag in Zeiten einer statischen oder gar erstarrten Welt richtig sein, wenn es darum geht, die Zukunft allererst offen zu machen gegen die Zwänge des Status quo. Aber das ist nicht unsere Welt, die Welt im reißenden Strom der Veränderungen, die wie von selbst geschehen und über unsere Köpfe hinweg.
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Wir brauchen nicht Hoffnungen, die ernüchtert werden und darum Enttäuschung erzeugen, sondern zuerst Nüchternheit, auf deren Boden dann vernünftige Hoffnung wachsen kann. Wir brauchen zuerst den Mut zur Gegenwart, gegen die Verdächtigung und Abwertung durch so viele Hoffnungsspezialisten, erst dann kann es das Stückchen Mut zur Zukunft geben, das wir noch rechtfertigen können. Und es ist dann gerade die geschichtliche Erfahrung von den möglichen und gelingenden Gestaltungen der Zukunft, etwa der Bewältigung der negativen Nebenfolgen des technischen Fortschritts, die wider die Hoffnungslosigkeit stehen. Geschichte beunruhigt unsere Selbstgewißheit und beruhigt sie doch auch in Maßen, macht uns skeptisch und läßt uns doch ein Stück zum Hoffen - in Maßen.
Geschichte und Hoffnung, das hat heute noch eine zweite wichtige Seite. Unsere Hoffnungen haben, soweit sie übers Private hinausgehen, einen universalen Zug. Sie zielen auf die Menschheit in der einen Welt, in der wir leben. Die Idee der Menschheit mit der Forderung, sich für alles und für alle in der Welt zu interessieren und zu engagieren, für die fernsten und die immer wechselnden, die es nötig zu haben scheinen, hat etwas Abstraktes an sich und überfordert den Menschen leicht. Sie vermehrt das Enttäuschungspotential aller Hoffnung.
Man denke an das traurige Schicksal der Demokratie im größeren Teil der Dritten Welt oder ans Zurückbleiben der ökonomischen Entwicklung gegenüber der Bevölkerungsvermehrung. Und jenseits der Moralforderungen: Der universalistische Zug der Moderne, der Technik, der Rüstungen, der Medienkultur, die die Welt einheitlich umgreifen, hat über alle Fortschritte hinaus die Menschen sich selbst »entfremdet«, das »Unbehagen in der Kultur« vermehrt, das Einverständnis und das Sich-Zuhause-Fühlen geschwächt, die Stabilität, die der Mensch in schnellem Wechsel braucht, und die Identität im Universalisierungsprozeß.
Geschichte nun hat es mit Identitäten zu tun, sie zeigt uns, als Kultur, als Gesellschaft, als Nation, warum wir so sind, wie wir sind, und anders als andere, und warum die anderen anders sind als wir, indem sie unsere oder der anderen Geschichte erzählt.
Und sie läßt uns diesen historischen Zufall, daß wir eben so sind, wie wir sind, und nicht anders, und daß wir zu denen gehören, zu denen wir nun mal gehören, und nicht zu anderen, da wir doch diesen Zufall nicht mögen und schwer annehmen, ertragen, aufnehmen und vielleicht lieben. Gegen die Tendenz zur Vereinheitlichung der Welt hält Geschichte an der schönen Vielheit der Welt fest, am schwebenden Gleichgewicht zwischen Einheit und Vielheit. In der Einheit blühen die Utopien und zergehen die realistischen Hoffnungen. Nur wo Einheit und Vielheit zusammen bestehen, gibt es realistische Hoffnung. In der gegenwärtigen Weltstunde, in der Einheit von selbst geschieht und sich verstärkt, gilt es, das Recht der Unterschiede, des Vielen zu betonen und zu verteidigen, Identität und Stabilität des Menschen zu stärken. Dazu leistet Geschichte einen Beitrag. Anders gesagt, damit kein Mißverständnis aufkommt: Geschichte hat es mit dem Erbe zu tun, mit unserem jeweiligen besonderen Erbe wie mit dem Erbe der Menschheit und der Zivilisation, zu der wir gehören, das hält sie im Gleichgewicht. Wenn wir kein Gefühl mehr dafür haben, Erben zu sein, werden unsere Hoffnungen bodenlos, und die Hoffnungslosigkeit wächst. Erben und hoffen stehen wie Skepsis und hoffen in einem kompensatorischen Verhältnis. Das gilt es zu bewahren. Hoffnung gibt es nur auf der Basis solcher Gegenhalte.
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6) Die Idee der Universität - Eine begrabene Hoffnung der verwalteten Welt?
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Seit ein paar Jahren spricht man in Deutschland wieder von einer »Idee der Universität«. Die wenigsten wissen, daß diese Wendung auf einen der Großen der englischen Universitätstradition zurückgeht, der freilich vornehmlich als Schriftsteller und Prediger, weniger als akademischer Lehrer gewirkt hat: John Henry Newman, der im Alter von fast 80 Jahren 1879 von Leo XIII. zum Kardinal ernannt wurde, obwohl er nie Bischof, sondern zeitlebens nur - zunächst anglikanischer, später katholischer - Priester gewesen war.
Unter dem Titel >The Idea of a University< ist eine Vortragsreihe zusammengefaßt, die er in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als Gründungsrektor der Katholischen Universität von Dublin gehalten hat. Weil Newman einer der originellsten Theologen des späten 19. Jahrhunderts war - er hat als erster gewagt, von einer geschichtlichen Entfaltung des Glaubensgutes zu sprechen -, und weil er ein großer Meister der englischen Sprache war, ist dieses Buch zu einem klassischen Text der englischen Literatur geworden.
Freilich ist Newman als Gründungsrektor gescheitert; auch und gerade in der katholischen Kirche Englands, die den Konvertiten mit tiefem Mißtrauen verfolgte, waren die Widerstände gegen ihn zu groß. Überdies haben seine Vorträge uns heute nur noch wenig zu sagen: denkt er doch an eine katholische Universität und hängt im Grunde noch der Vorstellung an, die wichtigste Aufgabe einer Universität bestehe darin, Gentlemen zu erziehen, in seinem Falle katholische Gentlemen in einem religiös indifferent gewordenen Großbritannien.
Dennoch scheint in Newmans Vorlesungen etwas vom Wesen der Universität durch, wie es sich trotz aller historischen Abhängigkeiten und widersprüchlichen Entwicklungen durch die lange Geschichte dieser charakteristisch abendländischen Institution gehalten hat.
Es läßt sich in etwa wie folgt umschreiben.
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Die Universität ist zunächst einmal eine Schule; man sucht sie auf, um etwas zu lernen. Aber sie ist eine Schule besonderer Art: es wirken an ihr Lehrer, die nicht etwa bloß einmal zur Schule gegangen waren, sondern weiterhin lernen, indem sie die Wissenschaft zu ihrem Beruf gemacht haben, also forschen. Im modernen Sinne des Wortes ist Forschung eine vergleichsweise junge Errungenschaft der Universitäten; noch Kant und Hegel kennen das Wort nicht, es hat an den Hochschulen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit dem Vordringen der Naturwissenschaften, an Bedeutung gewonnen. Dennoch haben Universitätslehrer immer schon so etwas wie Forschung betrieben; sie haben, was sie zu lehren hatten, sorgfältig durchdacht, sich gefragt, ob und inwiefern es richtig sei, haben ihr Wissen didaktisch gegliedert und ergänzt.
Heute wird Forschung gern als die Gewinnung noch völlig unbekannter Erkenntnisse beschrieben; in Wirklichkeit ist sie, selbst wenn sie völlig Neues entdeckt, die Fortsetzung und Entfaltung einer Tradition. Sonst könnte ein Anglist oder Romanist, der eine Deutung bekannter Gedichte veröffentlicht, oder ein Kunsthistoriker, der nochmals über Michelangelo schreibt, nicht den Anspruch erheben zu forschen; und selbst in den Naturwissenschaften sind die neuen Erkenntnisse nicht ohne Kontext, sondern die Entfaltung einer Denkweise, die eine lange Geschichte hat.
Universitäten sind also Schulen, deren Lehrer Forscher sind, die im Idealfall an der vordersten Front der Forschung ihrer Zeit stehen. Was sie lehren, ist teils Ergebnis ihrer eigenen Forschung, teils Ergebnis einer Tradition. Immer jedoch fließt ihre Forschung in ihre Lehre ein, hängt die Aktualität ihrer Lehre von ihrer Forschertätigkeit ab. Darüber hinaus aber vereint eine Universität unter ihrem Dach viele Disziplinen. Dies bewirkt, daß die verschiedenen Fächer einander befruchten und kontrollieren.
Deshalb ist die Universität auch eine Stätte der Bildung. Sie erlaubt jedem der Gelehrten, von seinen Kollegen unterstützt und zugleich überwacht, die Gren-
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zen seines Faches und damit seiner ursprünglichen Kompetenz zu überschreiten, und lädt die Studenten ein, es ihnen nachzumachen.
Seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts ist die Geschichte der Wissenschaft eine Geschichte solcher gegenseitiger Befruchtung, zahllose uns ganz geläufige Disziplinen gäbe es ohne sie nicht.
Schließlich, und keineswegs zuletzt, ist die Universität ihrer Idee nach eine besondere Art von Gemeinschaft, deren Kitt eine ganz bestimmte Art von Kultur ist. Sie ist die Gemeinschaft jener, die sich - als Studierende auf Zeit, als akademische Lehrer auf Lebenszeit - der »Theorie« verpflichtet haben. Man stellt dies wohl am einfachsten dar, indem man auf die bis auf Platon und Aristoteles zurückgehende Unterscheidung zwischen poiesis, praxis und theoria zurückgreift.
Poiesis ist das Machen, Herstellen, Produzieren, modern gesprochen die Welt der Industrie und des Handels im weitesten Sinne des Wortes. Praxis ist der Bereich des Handelns, deren Prototyp die Politik ist. Theoria schließlich ist die Betrachtung der Wahrheit um ihrer selbst willen: die Wissenschaft. Die Universität ist - so besagt jedenfalls ihre Idee - die Gemeinschaft jener, die sich auf Zeit oder Lebenszeit der Entdeckung, Vermittlung und Aneignung der vielen Bruchstücke des Universums der methodisch aufzufindenden Wahrheiten widmen.
Dieser Gedanke tritt deutlich in den beiden alten Umschreibungen der Universität hervor: universitas magistrorum et scholarium und universitas litterarum. Der letzte Ausdruck kommt aus dem klassischen Latein: das Ganze der wissenschaftlichen Bildung. Der erste Ausdruck ist eine Prägung aus der Gründungszeit der Universitäten: Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden. Die Universität ist die Gemeinschaft jener, die sich dem im weitesten Sinne wissenschaftlich faßbaren Wahrheitsganzen verpflichtet haben. Von daher rührt der im Grunde paradoxe, weil völlig weltfremde Anspruch der Universitäten, eine Art dritte Gewalt zu sein neben der Kirche, die sich um die ewigen Belange der Menschen bemüht, und dem Staat, der ihre weltlichen Belange ordnet.
Deshalb ist ihre zentrale Tugend jene der Nachdenklichkeit, die Bereitschaft, auf die begründeten
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Überlegungen des anderen zu hören und zugleich anzuerkennen, daß jede Wahrheit, zumal wenn sie im Universum der Wahrheiten gesehen wird, noch ein wenig komplizierter und am Ende vielleicht schlichter ist, als wir jeweils meinen.
Diese »Idee« einer Schule, deren Lehrer unabhängige Forscher sind, die Bildung in allen ihren Dimensionen zu entfalten ermöglicht und zudem eine Gemeinschaft mit eigenen, der übrigen Gesellschaft im Grunde fremden Werten und Tugenden ist, hat sich natürlich nie voll verwirklichen lassen. Sie ist fast eine »platonische Idee«, höchstens so etwas wie eine Entelechie, im Grunde wohl nur ein Leitbild, das überdies leicht dazu verleitet, die Vergangenheit der Universität ungebührlich zu verklären.
In Wirklichkeit mußten Universitäten immer mit Staat und Kirche ringen, und dabei ging es oft auch um Privilegien und Macht; nicht selten haben Universitäten sich auch von anderen Gewalten mißbrauchen lassen. Zudem waren Universitäten, eben weil sie Traditionen hatten, gegenüber Neuerungen stets skeptisch, ja zuweilen -so im späten 17. und 18. Jahrhundert - so sklerotisch, daß kreative Wissenschaftler sich - oft mit Hilfe der jeweiligen Herrscher - eigene Sozietäten schufen, in denen dann der maßgebliche Wissenschaftsfortschritt stattfand. Andererseits verfielen Universitäten nicht selten Zeitmoden und wurden dann oft ideologische Hexenkessel anstatt Stätten der Nachdenklichkeit. Nicht zuletzt sind Universitäten ob der Disziplinlosigkeit ihrer Studenten und der Versponnenheit ihrer Professoren seit jeher Gegenstand des Gespötts gewesen; auch herrschte an ihnen fast immer Intrige und Gezänk, wie es unter Menschen üblich ist, die an einer Gemeinschaft nur mit einem Teil ihrer Seele hängen und sich, wenn es zu heiß wird, hinter ihre vier Wände außerhalb der Gemeinschaft zurückziehen können.
Am ehesten ist es traditionsreichen englischen Universitäten wie Oxford und Cambridge gelungen, die Universitätsidee zu verwirklichen, teils deshalb, weil sie nahezu ohne jede Reform und abseits aller Revolutionen aus ihrem mittelalterlichen Ursprung hervorgegangen sind, teils weil sie nicht etwa die nationale Elite nur her-
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vorbrachten, sondern für die Nation definierten, was die Elite kennzeichnet. Noch heute zählen in England die Absolventen von Oxford und Cambridge vor allem deshalb zur Elite, weil sie ein Englisch gelernt haben, das man sich an den Großstadtuniversitäten kaum aneignen kann.
Dennoch war es immer wieder von neuem die skizzierte »Idee«, die man freilich je nach den konkreten historischen Umständen sehr verschieden akzentuiert hat, an welche sich Hoffnungen bezüglich der Zukunft der Universität knüpften. Die »Idee der Universität« mag platonisch sein; sie ist dennoch bis heute ein Maßstab geblieben, an dem Rektoren oder Präsidenten, Senate, Fakultäten, einzelne Professoren und nicht zuletzt auch viele Studenten die oft trübe Realität ihrer Institution gemessen haben und messen - ein Maßstab, der Hoffnungen weckte, aber auch anspornte.
Nun ist aber gerade diese Idee der Universität durch die Entwicklungen der letzten dreißig Jahre in Frage gestellt, radikaler, als es alle Unvollkommenheiten der älteren Universitätsgeschichte vermocht haben. Zunächst bewirkte überall in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg einerseits die Rückkehr der Soldaten, andererseits bald die immer raschere Auflösung der sozialen Schichtung eine Vergrößerung der Studentenzahlen, welche die Errichtung zahlreicher neuer Universitäten veranlaßte. Ein Studium war nicht mehr das Vorrecht bestimmter sozialer Gruppen und Schichten (die früher übrigens keineswegs immer zu den reichsten gezählt hatten), sondern wurde für alle zu einer selbstverständlichen Alternative, die von immer mehr jungen Menschen gewählt wurde. Dementsprechend erhöhte sich auch die Zahl der Professoren, wobei man nicht selten auf die zweite oder gar dritte Garnitur zurückgreifen mußte. Damit verschwand aber nach und nach auch der gleichsam esoterische Charakter, der sich früher aus der Universitätsidee ergeben hatte. Immer häufiger wurde die Universität nur noch als eine Ausbildungsstätte für bestimmte Berufe gesehen, deren Zahl im übrigen immer größer wurde. Natürlich hatten Universitäten immer auch Priester, Juristen, Ärzte
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und später Naturwissenschaftler, Lehrer und Ingenieure ausgebildet, aber es war nicht erst Wilhelm von Humboldt, der in dieser Aufgabe nur eine Nebenfunktion gesehen hatte, die sich aus dem Wesen der Universität ergab. Die Universität war immer eine Schule gewesen, und dennoch hatte sie die sich daraus ergebenden Aufgaben ohne viel Aufhebens, sozusagen nebenbei, als eine Selbstverständlichkeit erledigt.
Nun rückte diese Aufgabe so sehr in den Vordergrund, daß niemand mehr recht sehen konnte, warum die Universität einen »Sinn an sich« haben sollte; sie war zu einer Drehscheibe zur Vermittlung zwischen Sekundärschule und Berufswelt geworden. Nicht zufällig begann man von »tertiärer Bildung« zu sprechen und entstanden neben den Universitäten andere Hochschulen, deren Lehrer nicht Forscher waren und die Bildung weder vermitteln wollten noch konnten - und dennoch den Universitäten immer deutlicher gleichgestellt wurden. Gleichzeitig wuchs die Unzufriedenheit mit der Universität, die gelegentlich geradezu aggressiv werden konnte: die Studenten beklagten sich, daß an ihr alles viel zu unübersichtlich sei; die Berufswelt schimpfte, weil die Universitäten ihre Absolventen nicht hinreichend für ihre künftigen Aufgaben ausbildeten; der Staat machte sich Sorgen darüber, daß die Universitäten immer mehr Geld verschlangen. Als es zudem unter dem Einfluß marxistischer Ideen zu lange andauernden Studentenunruhen kam, wurden sogar die Professoren irre an ihr und erwarteten von einem der traditionellen Gegner der Universität, dem Staat, daß er Reformen einleite.
Das Auffälligste an diesen Reformen, die außer in England in nahezu allen europäischen Staaten zustande kamen, war, daß sich niemand Gedanken darüber machte, was eigentlich Universitäten sind. Selbst die Professoren schienen vergessen zu haben, was früher ihre Leitidee gewesen war. So wurde denn reformiert und geregelt, wurden uralte Traditionen zerstört und juristische Spitzfindigkeiten eingeführt, bis man am Ende selbst in Rektorenkonferenzen und Universitätssenaten nur noch in Gesetzestexten herumblätterte, anstatt sich zu fragen, ob
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dies oder jenes dem Wesen der Universität angemessen sei. Die Universitäten sind zu mehr oder minder gut verwalteten Staatseinrichtungen geworden, bei jedem Schritt von ihren Ministerien überwacht, curricular ausgerichtet, didaktisch perfektioniert - und kleinkariert.
Besteht angesichts dieser Entwicklung noch Hoffnung für die Zukunft der Universität, genauer: für die Einsicht, daß es lohnen könnte, die uralte Idee der Universität zeitgerecht zu erneuern und zu beleben? Da es in diesem Band nach dem Willen des Herausgebers nicht etwa um die Universität, sondern um Hoffnung geht, will ich, bevor ich die Frage beantworte, ein Wort über diese selbst sagen. Schließlich ist ihre klassische Definition von einem großen Universitätslehrer aus der Frühzeit der Universitätsgeschichte, von Thomas von Aquin, formuliert worden. Sie ist, so meint Thomas, eine Haltung, welche ein bonum futurum arduum possibile haben anstrebt. Hoffnung richtet sich auf ein Gut, denn ein Übel fürchten wir ja, erhoffen wir nicht. Als Gegenstand der Hoffnung kann dieses Gut nur ein künftiges sein; niemand erhofft Vergangenes, und auf gegenwärtige Güter müssen wir nicht mehr hoffen, sondern dürfen uns ihrer erfreuen. Hoffnung besteht nur angesichts eines »steilen Gutes«, einer Vollendung, die schwierig zu erreichen ist; niemand hofft, wieder einmal Spazierengehen zu können, es sei denn, er ist gelähmt oder sitzt im Kerker. Und schließlich, so führt Thomas aus, unterscheidet sich Hoffnung dadurch von der Verzweiflung, daß sie sich nach einem Gut ausrichtet, welches ungeachtet seiner Ferne und aller Hindernisse grundsätzlich eben doch erreichbar ist.
Diese Skizze ist mir deshalb wichtig, weil wir uns, wenn wir von der Zukunft der Universität sprechen, zu rasch auf das possibile haberi, das Erreichenkönnen, beschränken. Die Universitätsreformen, die in den siebziger Jahren über den ganzen europäischen Kontinent wucherten, waren Strategien, die Universitäten zu verbessern, ohne daß man eine Leitidee, eine Idee der Universität vor Augen gehabt hätte. Deshalb ist nichts herausgekommen als solide Verwaltung und im übrigen alles andere als solide Planung.
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Dabei ist doch die entscheidende Frage, ob und warum die Universität, wie sie in der skizzierten »Idee« zusammengefaßt ist, ein bonum, ein Gut ist, und warum der Weg zu diesem Gut so steil ist, daß es überhaupt sinnvoll sein kann, von ihm in einem Buch über Hoffnung zu schreiben. Um diese Frage zu beantworten, genügt es nicht, nur von der Wissenschaft, wie wir sie heute verstehen, zu reden. Denn diejenigen Wissenschaften, die für den industriellen und wirtschaftlichen Fortschritt wichtig sind, können auch außerhalb der Universitäten vorangetrieben werden; daß sie, beginnend mit der Renaissance und dann vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in die Universitäten eingezogen sind, war vor allem eine Frage des Prestiges, nicht der wissenschaftlichen Notwendigkeit. Ohnedies sind Naturwissenschaften heute nicht selten in den Max-Planck-Instituten oder sogar, im Falle der angewandten, in den Forschungszentren der Industrie besser als an den Universitäten aufgehoben. Daß sie dennoch zu den Universitäten gehören, daß den Universitäten ohne sie etwas Wesentliches abgehen würde, hat nicht mit dem wissenschaftlichen Fortschritt, wie sich ihn Industrie und Wirtschaft wünschen, sondern mit der Wahrheit zu tun. Die Universität ist ein Gut, welches aufrechtzuerhalten und zu erneuern lohnt, weil sie die einzige Stätte unserer Gesellschaft ist, an der man noch eine Ahnung davon hat (oder doch haben könnte), daß es ein geordnetes Universum der Wahrheit gibt und es eine menschliche Erfüllung ist, sich diesem Universum wenigstens in seinen Bruchstük-ken zuzuwenden.
Anders ausgedrückt: Die Universität darf insofern Gegenstand der Hoffnung sein, als wir uns darauf besinnen, daß Wahrheit ein »Zweck an sich« ist. Die riesigen Kosten, welche Universitäten heute bereiten, der Verwaltungsaufwand, den sie mit sich führen, das intelligente Chaos, welches - sollen sie nicht immer phantasieloser werden - an ihnen unvermeidlich herrscht, dies alles lohnt nur insofern, als wir bereit sind anzuerkennen, daß es Wahrheit gibt, daß unsere Kultur seit den Griechen den Anspruch erhebt, wenigstens auf der Wahrheitssuche aufzubauen — und es deshalb in unserer Kultur Dimensionen gibt, die zwecklos, weil ein Zweck an sich sind.
Sobald wir dies erkannt haben, gibt es sofort auch wieder Hoffnung für die Zukunft der Universität. Gewiß, es wird Jahre, möglicherweise Jahrzehnte dauern, bis wir den organisatorischen Irrsinn, der sich in den letzten zehn Jahren abgespielt hat, wieder abgebaut haben werden. Den Universitäten stehen angesichts der zu erwartenden »auf den Kopf gestellten Bevölkerungspyramide« heute noch kaum vorstellbare finanzielle Bedrängnisse ins Haus; diese werden vermutlich schon mit den sinkenden Studentenzahlen in den neunziger Jahren beginnen. Aber letztlich zählen alle diese Probleme wenig, sobald man sich der Grundfrage stellt: Sind wir bereit anzuerkennen, daß Kulturnationen Stätten haben müssen, an denen es um eine universitär veritatum, um das Ganze der Wahrheiten geht? Die meisten dieser Wahrheiten sind zu nichts gut, es sei denn gewußt zu werden. Und dennoch muß es die Universitäten als Stätten der Entdeckung und Vermittlung dieser Wahrheiten geben, denn es sind letztlich sie, auf denen unsere Kultur aufbaut.
Man wird mir wohl entgegenhalten, an den Universitäten würde doch auch viel dummes Zeug gelehrt, das mit Wahrheit wenig zu tun hat. Nachdem ich elf lange Jahre die größte Universität Deutschlands geleitet habe und nun seit bald drei Jahren einer der kleinsten vorstehe, weiß dies kaum jemand besser als ich. Aber der Zugang zur Wahrheit läßt sich eben nicht, gar von oben, regeln - und er ist immer noch am besten an einer Institution aufgehoben, die bereit ist, in jeder Hinsicht und in alle Richtungen nachdenklich zu sein.
Wie gesagt, die »Idee der Universität« ist reichlich platonisch. Wenn sie dennoch eine Quelle von Hoffnungen ist, dann deshalb, weil unsere Kultur um einiges ärmer wäre, besäße sie nicht jene oft so kläglichen Einrichtungen, deren Leitidee hier zur Rede stand. Diese Hoffnung richtet sich keineswegs nur nach einem bonum futurum; denn die Universitäten haben an ihrer »Idee« schon immer partizipiert und tun es auch heute noch. Letztlich wurzelt diese Hoffnung in einer Einsicht, die bis in die Antike zurückgeht, vom Christentum entfaltet worden ist und uns noch heute - mögen wir uns auch gegen sie sperren - prägt: in der Einsicht, daß die vielen Wahrheiten dieser Welt, würden wir sie nur voll durchdringen und richtig ordnen, ein Ganzes bilden — ein Ganzes, um dessentwillen Erforschung (mag sie noch so oft irregehen), Vermittlung (mag diese noch so holprig sein) und Aneignung (mag diese auch nur dazu dienen, die Wirklichkeit ein klein wenig besser zu verstehen) es lohnt, institutionalisierte Gemeinschaften zu haben, an denen junge Menschen, bevor sie sich in das hektische Getümmel der Welt der Berufe stürzen, jenes »Abenteuer des Geistes« erleben können, ohne welches es unsere Kultur, so wie wir sie kennen, nicht gäbe.
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