7) Kunst für alle Zukunft
von Wolfgang Braunfels 1911-1987
Exegi monumentum aere perennius
Ich habe mir ein Denkmal errichtet, dauerhafter als Erz und höher als der königliche Bau der Pyramiden, welches nicht der gefräßige Regen und nicht der unbändige Nordwind zerstören kann oder die unzählige Anzahl an Jahren oder der Lauf der Zeiten. Ich werde nicht ganz sterben, und ein großer Teil von mir wird den Tod meiden; permanent werde ich durch den Ruhm der Nachwelt neu wachsen, solange der Priester mit der schweigsamen Jungfrau zum Kapitol steigen wird. Ich werde erwähnt werden, wo der Aufidus tosend entgegen rauscht und wo, arm an Wasser, Daunus über ein bäuerliches Volk herrschte; aus niederem (kommend) mächtig, habe er als erster das äolische Lied zu italischen Weisen kunstvoll ausgearbeitet. Nimm den durch deine Verdienste ersuchten Stolz, Melpomene, und umwinde mir das Haar gnädig mit delphischem Lorbeer.
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Das stolze Wort des Horaz, ein Denkmal mit seinen Versen zu errichten, dauerhafter als die Bronzestandbilder Roms, entspricht dem Verlangen aller schöpferischen Menschen. Ihre Werke leben aus der Vorstellung von ewigem Fortbestand. In allen Hochkulturen bauen Menschen Räume, Plätze, Tempel, statten sie kostbar aus und vertrauen darauf, sich damit für immer eingerichtet zu haben. Jedes Werk fordert für sich den Stillstand der Geschichte, jede Stiftung rechnet mit Fortbestand. Das gilt für die Tempelbezirke des Altertums, für die Klöster des Mittelalters, auch für die Residenzen des Barock und heute mit noch größerem Optimismus für die Museen. Man glaubt an das ewig Unveränderbare, ja schiebt jede Reflexion über die Vergänglichkeit auch der haltbarsten Werke und der am besten durchdachten Organisation zur Seite. Diese Illusion soll nicht, darf nicht, kann nicht zerstört werden.
Künstler, die sich verkannt fühlen, werden durch die Hoffnung und den Glauben zu neuen Werken angefeuert, daß die Zukunft ihnen gerecht werden müsse. Sammler, die ein Leben hindurch Kostbarkeiten von hohem und idealem Wert zusammengetragen haben, finden Befriedigung darin, am Abend ihres Wirkens alles einem Museum anzuvertrauen oder ein neues zu erbauen, in dem die Früchte ihres Opfersinns für immer geborgen wären. Sie schmeicheln sich in der Hoffnung, mit den Werken ihrer Sammlung auch selbst ein Stück Unvergänglichkeit erworben zu haben. Solche Museen entstanden seit dem frühen 19. Jahrhundert und werden heute in immer dichteren Folgen und in größerer Zahl gestiftet.
Am deutlichsten tritt die Absicht der Gründer in der Londoner Dulwich Gallery zutage (erbaut um 1810), wo sich der Stifter inmitten seiner Poussins und Claudes, berühmter Rembrandts und Werken von Rubens, das eigene Marmorgrab errichten ließ. Die Geistessprache jener Gemälde selbst ließ den Optimismus entstehen, daß das Unwahrscheinlichste sich ereignen könne: Dauerhaftigkeit.
In vielen Kulturen begann die Kunst mit Werken, die man den Toten auf die letzte Reise mitgab. Eine goldene Schale voll Reis oder Gerste, mit reichen Reliefs geschmückt, sollte den verstorbenen Stammesfürsten in alle Ewigkeit ernähren. Die ägyptischen Könige ließen über ihren Grabkammern Pyramiden aufschichten, in deren Inneren sie sich und ihre Schätze einer ewigen Zukunft sicher glaubten. Bilder und Skulpturen, erlesene Goldarbeiten, Frauen, Diener, Pferde, Waffen, der Lieblingshund, die gottgleichen Katzen in Stein oder Ton sollten mit ihnen das Leben nach dem Tode teilen und es verschönen. Künstler haben jedem dieser Gebilde, unter ihnen auch der Porträtbüste des Verstorbenen, ihre konzentrierte Schöpferkraft zugewandt. Qualität, die reine geometrische Form der Pyramide selbst, wurde für die Vorstellung zum Garant des Fortbestandes.
Der Akropolis von Athen wie vielen griechischen Tempelbezirken stifteten die Reichen und Mächtigen das Schönste, was man auf Erden besaß: Mädchen von vierzehn, Jünglinge von sechzehn Jahren, Koren und Kuroi, lange nicht mehr als Opfer wie bei den »Barbaren«, vielmehr als Werke aus Stein, bemalt in den Farben des Lebens, die das Auge der Göttin erfreuen und ihren Zorn besänftigen sollten - und dies auf immer. Jede Generation wollte neue und bessere hinzufügen. Was einmal Pallas Athene gehörte, durfte niemand je wieder entfernen.
Als die Perser im 5. Jahrhundert kamen, war das Volk von Athen geflohen. So rächte man sich an dem Heiligtum und zerschlug Götterbilder wie Weihegaben. Eine der kostbarsten andernorts, der »Apoll von Tenea«, heute in der Münchner Glyptothek, blieb deshalb so makellos erhalten, weil ihn die Familie des Stifters vor den heranrückenden Feinden in einem Bleisarg vergraben hatte. Es war nach dem Sieg wohl niemand mehr vorhanden, der das Versteck bei Tenea kannte, und so lag er ungestört, bis Archäologen ihn fanden.
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Jene archaischen Koren und Kuroi jedoch wollten die Athener, als sie zurückkehrten, so beschädigt nicht mehr den Göttern anbieten. Man nutzte die Steine zur Ausfüllung der Stützmauern, die das neue Parthenon nunmehr für alle Ewigkeiten tragen sollten. Perikles vermochte das Volk zu den immensen Stiftungen für seinen Bau nur mit der Hoffnung auf einen unbegrenzten Fortbestand zu bewegen. Der Dank an Athene für Sieg und Überleben mußte ein Tempel von nie vorher gesehener Pracht werden. Seine Steine sind mit jener kaum vorstellbaren Genauigkeit aufeinandergeschichtet worden, weil man sich sicher war, daß nie erschüttert werden könnte, was mit so vollkommener Geometrie zusammengefügt worden war. Das Schöne trat im Bewußtsein seines Wertes selbst gegen die Vergänglichkeit an.
Die Torsi der archaischen Jünglinge und Mädchen fanden die Archäologen im Perserschutt wieder auf. Dadurch besitzen wir mehr Originale des archaischen 6. Jahrhunderts als aus der klassischen Zeit, deren Werke die Römer geraubt, die ersten Christen und die Türken zerschlagen hatten. Das 20. Jahrhundert setzte wieder zusammen, was zueinander sich fügte. Für ihren Fortbestand auf immer wurde das Akropolismuseum auf und in dem Fels erbaut, aus dessen Räumen uns nunmehr diese ewige Jugend aus vielen Marmorköpfen anlächelt. Werden sie dort für Jahrhunderte weiter erhalten bleiben, während dem Parthenon ein Schicksal bereitet wird, das Perikles nicht hatte voraussehen können: den sicheren Tod um 2020 - trotz aller Anstrengungen der Denkmalspflege - durch die Abgase der Motoren?
Jener Staat aus Soldaten, Bauern und Juristen, den Rom zu einem Weltreich ausgebaut hat, glaubte für das Andenken seiner verdienten Feldherrn und Staatsmänner besser vorgesorgt zu haben als alle früheren. Zweite Bauernsöhne mußten unter schwer erträglichen Bedingungen zwanzig und mehr Jahre in den Legionen dienen. Sie hatten die vierzig, oft die fünfzig überschritten, ehe sie Ackerland neben einer neuen Stadt zugeteilt erhielten, endlich heiraten durften, meist Beutemädchen; sie sollten sich dort für immer einrichten.
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Man gab der Stadt die Form des gewohnten Lagerrechtecks und errichtete in ihr stets die gleichen öffentlichen Gebäude: den Tempel, die Thermen, das Amphitheater für die Spiele, eine Arena für den Sport, das Praetorium für die Behörden und die Basilika für das Gericht.
Ubicumque Romanus vincit, habitat - wo immer ein Römer siegt, wohnt er auch. Es gab von Britannien bis zum Nil, zwischen dem Tajo und dem Euphrat rund 5000 Römerstädte. Die meisten von ihnen lebten fort oder wieder auf, und in jeder fand sich ein Studienrat, der ihre Reste in Museumsräumen sicherte. Das, was für alle Zeiten begründet war, sollte in neuer Form für immer weiterleben.
Mehr als ein Dutzend Imperatoren waren im 3. Jahrhundert von den Legionsoffizieren ermordet worden, die sie kurz zuvor proklamiert hatten, aber fast nie so schnell, daß nicht ihre Züge in Münzen oder Büsten für immer festgehalten worden wären.
Erst Diokletian (284-305) gelang es, ein Sicherheitssystem auszubauen, das jeden Mord sinnlos machte. Er ernannte drei Mitkaiser und gab jedem eine Residenz in einem Reichsteil. Dieser kluge, entschiedene und beherrschte Mann hatte sich vorgenommen, nach genau zwanzig Jahren abzudanken, und zwang auch seinen ältesten Mitkaiser Maxentius dazu.
Er war damals 65 Jahre alt. Schon vorher hatte er in Split (Spalato) einen Palast in der Form eines Lagers, ein Rechteck von 191 mal 151 Metern, erbaut und mit zyklopischen Mauern und Türmen befestigt. Es waren Baumeister und Werkleute aus dem kleinasiatischen Osten, die hier eine Architektur von römischer Größe und orientalischer Pracht schufen. In ihr waren links und rechts der großen Einzugsstraße, dem Perystil, der Tempel für die Götter und das Mausoleum für den Kaiser eingeordnet. Der Palast mit den Gemächern des Bauherrn blickte auf das Meer im Süden, wo sich über die gesamte Front eine Arkade hinzog, der Kryptoportikus.
Doch Diokletian lebte in dieser Pracht kaum sieben Jahre. Er erkrankte bald und starb 313, während seine Staatsordnung vor ihm zusammenbrach. Konstantin hat anschließend auch das reiche Mobiliar und die Kunstschätze nach Konstantinopel, seiner neuen Gründung weiter östlich am Bosporus, bringen lassen.
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Das auf ewig Gefügte wurde verlassen, diente noch Galla Placidia und anderen gefährdeten Monarchen als Festung, ehe sich niederes Volk, etwa dreitausend Menschen, in dem gewaltigen Gemäuer einnistete und zwischen die Säulen ihre grünen Fensterläden hängte. Dennoch behielten große Teile der Architektur unerschütterlich Bestand.
Dieser Bau für die Ewigkeit eines Weltherrschers hat später den Stil eines anderen Weltreichs mitgeprägt. Robert Adams, der englische Baumeister, war von seiner Reise nach Split in Dalmatien tief beeindruckt. Sein Jugendwerk ist die prachtvolle Kupferstichfolge »Spalato«. Sein späteres Bauen in London und Bath wurde von diesem Eindruck mitgeprägt. Die »terrases« wiederholten die Arkadenreihen des »Kryptoportikus«, den Diokletian zum Meer geöffnet hatte. Diokletians Absicht, ein Werk zu errichten, das der Vergänglichkeit widerstehen könne, erwies sich in anderer Form zuletzt doch als dauerhaft.
Den Reinertrag des Sozialprodukts, alles, was die nie unterbrochene Kette von Kriegen und Fehden übrig ließ, stiftete das Mittelalter der Kirche und ihren Institutionen. Was immer die Vorfahren, Kelten wie Germanen, ihren Toten in die Gräber mitgegeben hatten, trugen nunmehr aus einem vergeistigten Bestreben nach Fortleben die Menschen auf die Altäre. Zum Wesen aller Stiftungen gehört, daß sie für unbegrenzte Zeit vergeben werden. Jedes Kloster, jedes Damenstift, alle Kathedralen vertrauen auf den Fortbestand der Bauten, und wenn diese zerstört werden sollten, oder sich als zu bescheiden, zu klein, zu kunstarm erweisen sollten, doch auf das Fortleben der Institutionen.
Die großen Ordensgründer, an erster Stelle Benediktus, später auch Dominikus und Franziskus, auch noch Ignatius und viele andere stellten Lebensregeln auf, die großen pädagogischen Utopien der Menschheit, nach denen sich der Tageslauf durch Jahrhunderte richten sollte. Um dies zu erreichen, mußte das Baugefüge der Klöster ein wohldurchdachter Organismus sein, eine nach ihren Funktionen aufgeteilte Werkstatt, deren Endprodukt das Gotteslob in der prachtvoll gestalteten Abteikirche gewesen ist.
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Diese sollte so gefügt und ausgestaltet werden, daß die Botschaft ihrer Formen, Bilder und Skulpturen, die von Ewigem kündet, auch ewigen Bestand haben könnte. Das gilt noch von den Klosterkirchen des süddeutschen Barock und Rokoko, von Weingarten, Ottobeuren und Ettal, von Rott am Inn, Dießen und Schäftlarn und von vielen anderen. Man rechnet nicht mit Verfall. Das prächtig Ausgestaltete sollte durch unvoraussehbare Zeiträume bestehen, und die Lebensordnung der Gemeinschaften, die den Gottesdienst vollzogen, wollte man nie verändern.
Als diese Institutionen durch den Rationalismus der Französischen Revolution und die Entschiedenheit Napoleons säkularisiert, d.h. dem Jahrhundert und der Geschichte zurückgegeben wurden, nahm sich eine neuartige staatliche Institution ihrer an, die Denkmalspflege. Wer heute die Kirchen dieser bayerischen Klöster besucht, dem erscheinen sie zwar nach ihren Stilen alt, doch im Erscheinungsbild neu. Auch die Denkmalspfleger vollbringen ihr Werk in der Hoffnung, daß Kunst in ihrer Substanz für immer fortbestehen könne und werde.
Durch die Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der Glaube an Kunstwerke für alle Zeiten im sakralen Bereich abgelöst von dem Vertrauen, Kunst vermöchte allein in Museen überdauern. Die Künstler selbst schufen ihre Hauptwerke nicht mehr für Kirchen oder Schlösser, vielmehr mit dem Ziel, sie eines »Louvre« würdig zu gestalten. In allen Hauptstädten und auch in den meisten der großen Provinzstädte wurden Museen für alte und zeitgenössische Kunst begründet. Man trug aus dem Lande zusammen, was dort in Klöstern, Schlössern, Rathäusern, auch in Pfarrkirchen hing oder stand, um es in Nationalmuseen zu vereinen. Erst die europäischen Staaten, später schrittweise alle anderen im Westen, Osten und in der Dritten Welt wollten ihre geistige Größe durch die Werke beweisen, die die Jahrhunderte geschaffen hatten. Viele von ihnen entnahm man dem Boden, den Gräbern der Toten.
Es gibt Museen, die den Betrachter von den Werken der Ägypter und Sumerer durch alle Jahrtausende führen, um mit Wechselausstellungen der Zeitgenossen zu enden, von denen
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jeder einzelne von der Hoffnung belebt wird, für alle Zeiten die Aufmerksamkeit fesseln zu können.
Vergangenes soll auf das Geistesleben der Gegenwart einwirken und auch die Zukunft prägen. Der Zukunftsglaube veranlaßte die Künstler, selbst ihr Leben einem Werk aufzuopfern, das die Gegenwart nicht anerkannte. Eine neue literarische Gattung »Künstlerleben« entstand, die sich aus dem Mitgefühl für Maler wie van Gogh oder Cezanne nährte, die kaum bemerkt ein Riesenwerk schufen, das erst nach ihrem Tode bekanntgeworden ist. Ganze Richtungen der Moderne des 20. Jahrhunderts gewannen ihre Kraft aus der Hoffnung auf spätere Anerkennung, die Fauves in Paris, die Expressionisten in Dresden und Berlin, die abstrakten Maler und Bildhauer der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg gehörten zu ihnen. Man weiß von Kunstverboten durch die Diktaturen in Deutschland wie in Rußland. Doch zuletzt, nachdem jeweils in etwa drei Jahrzehnten das Gute von dem Belanglosen geschieden war, ist aus jeder dieser Richtungen so viel geblieben, daß es das Bild für alle späteren Generationen von einem Jahrzehnt, einer Geistesbewegung prägen wird.
Jede Technik rechnet damit, in der nächsten Generation von einer besseren überholt zu werden. Alle Wissenschaften sind sich bewußt, nur Zwischenberichte geben zu können, die bald durch neue über denselben Forschungsgegenstand ersetzt werden. Allein die Künstler vertrauen darauf, Werke für alle Zukunft zu schaffen. Ihr Optimismus erwächst aus dem Glauben, daß sich in großer Form konzentrierte Geisteskräfte auf die Beschauer, Leser, Hörer über jeden Kulturwandel hinweg weiterleiten lassen. Das Vertrauen auf Fortwirken und Dauer erweist sich als ein Wesensgehalt.
Das stolze Wort von Horaz über die Hoffnung der Kunst auf Fortbestand steht am Anfang dieser Erwägungen; vier Verse Goethes mögen in der bescheideneren Form des greisen Dichters an ihrem Ende sie bestätigen:
Wisset nur, daß Dichters Worte
Um die Paradiesespforte
Immer leise klopfend schweben,
Sich erbittend ew'ges Leben.
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8 Hoffen und Harren
Das Warten auf bessere Zeiten in der Musik
von Karl Schumann *1925
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»Hoffen und Harren machen zum Narren« - ein wohlgereimtes Sprichwort, aber selten beherzigt, weil sich der Mensch in seiner Hinfälligkeit bereitwillig zum Narren macht. Außerdem läuft es der Erfahrung zuwider, denn der Mensch scheint darauf angelegt, sich über den desolaten Zustand seiner Existenz zu täuschen, um überhaupt leben und auf den nächsten Tag rechnen zu können. So läßt er denn aus Selbsthilfe und wider jede Erfahrung schier keinen Atemzug vergehen, um hoffnungsvoll besserer Zeiten zu harren. »Noch am Grabe pflanzt er die Hoffnung auf«, sah es Schillers Scharfblick. Der Römerbrief (5,5) tröstet, »Hoffnung lasset nicht zuschanden werden« und meint dabei freilich mehr das feste Gottvertrauen als die Zukunftshoffnungen im irdischen Sinne.
Wenn es schon dem Menschen aufgegeben ist zu hoffen und zu harren, um wieviel kühner baut der schöpferische Künstler, zumal der Musiker, auf die Zukunft, ist doch seine Arbeit ein Unterfangen auf lange Sicht, auf dauerhaften Bestand, ja für kommende Generationen. Er rechnet mit einem ungewissen Morgen, mit Wirkung, Erfolg und Nachruhm. Er ist umzingelt von Unwägbarkeiten, die im vielberufenen Schöße der Zukunft liegen. Auch wenn er meint oder vorgibt, nur für den Tag zu schaffen, hofft er, daß das, was bescheiden für den Tag gedacht war, den Tag überdauert und die Zukunft erreicht. Er vertraut darauf, daß sich nach einer kühl reservierten Gegenwart der wahre Wert schon erweisen wird, daß die Zukunft das Bild zurechtrückt und ein gerechter Richter ist; wenn die Moden abgeklungen sind, scheidet sich die Spreu vom Weizen, und das dem kurzsichtigen Blick bislang verborgene Goldkorn leuchtet weithin. Solcher Optimismus wird oft zuschanden, geht er doch aus von falscher Selbsteinschätzung, gegen die kein Kraut gewachsen ist.
Nicht immer hatten die Komponisten die Zukunft im Visier. Der Musiker mit festem Ort in der Gesellschaft -in den langen Jahrhunderten vom Mittelalter bis an den Rand der Wiener Klassik - kannte nur den Anspruch der Stunde, den Auftrag, die Arbeit für den Tag. Die Zukunft blieb im Nebel, denn es gab so gut wie kein Repertoire, das Werke speicherte, am Leben erhielt oder gar experimentellen Interpretationen aussetzte. Gelehrtes wurde von Gelehrten geschätzt und weitergereicht, vornehmlich in lehrhafter Absicht. Arbeit für eine ungewisse Zukunft versprach keine Früchte; es fehlte ein Urheberrecht, das dem Komponisten und seinen Nachkommen auf geraume Zeit Einkünfte aus den Partituren sicherte. Bei der Drucklegung war der musikalische Urheber für gewöhnlich abgefunden worden. Frommen Meistern hieß die Zukunft: auf das Himmelreich hoffen. Das Nachleben im Werk wagte kaum einer zu erwarten.
Das Barock schuf Wandel. Händel verfügte, man möge ihn in der Westminster-Abtei beisetzen - er kannte seinen Wert und war sich gewiß, daß dieser Wert kommenden Generationen nicht verborgen bleiben könne. Ohne äußeren Anstoß schuf Johann Sebastian Bach sein letztes, unvollständiges Werk >Die Kunst der Fuge<. Es zielte auf das Morgen, zumindest auf das Tradieren der Kunst der Fugenkomposition, sofern man dem gelehrten Spiel mit allen Möglichkeiten des strengen Kontrapunkts unterstellt, daß es in didaktischer Absicht geschrieben wurde. Doch auch als freie, selbstzweckhafte Komposition richtete es sich an die Zukunft; der Umschwung zur galanten und empfindsamen Homophonie, den Bach wohl mit einiger Bitterkeit bemerkt haben dürfte, machte geringe Hoffnung darauf, das polyphone Werk würde von der Gegenwart gewürdigt werden.
Was sich Haydn und Mozart von der Zukunft erhofften, haben sie uns nicht überliefert. Was er sich von kommenden Zeiten erwarte, hat auch jener Meister nicht in mündlichen oder schriftlichen Äußerungen hinterlassen, der zeitlebens fast ausschließlich für ein unbekanntes, unbestimmtes Morgen schrieb: Franz Schubert. Ein Bruchteil seiner Kompositionen ist ihm wie den Zeitgenossen
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zu Ohren gekommen, doch keine seiner großen Symphonien und Klaviersonaten hat er gehört, kaum eines der Streichquartette, lediglich einige Lieder und Kirchenmusik. Er schrieb für die Schublade wie selten einer. Doch hoffte er auf die Zukunft? Komponieren war ihm eine schier zwanghafte Lebensäußerung, eine Bestimmung, ein innerer Befehl. Und er wußte sich zu nichts anderem auf der Welt, als Note um Note zu schreiben.
Beethoven veränderte die Perspektiven. Im Zeichen von Individualismus und selbstbewußter Subjektivität wird die Zukunft einbezogen, ja als Hoffnung und ferner Adressat betrachtet. Als Beethoven 1818 die Hammerklavier-Sonate op. 106 einem Verleger anbot, gebrauchte er stolze Worte: »Da haben Sie eine Sonate, die den Pianisten zu schaffen machen wird, die man in fünfzig Jahren spielen wird.« Die Phantasie eilt der Zeit voraus, die Zukunft erscheint als die eigentliche Adresse einer die Gegenwart verstörenden Komposition. Die fünfzig Jahre, die Beethoven als Inkubationszeit für die Rezeption schätzte, währte es nicht, bis die Sonate zu Ehren kam; bereits ein Dutzend Jahre später stand sie zur Verwirrung der Hörerschaft auf den Programmen des jungen Franz Liszt.
Aus Beethovens Worten spricht Vertrauen auf die Zukunft. Es ist überhaupt der Brauch, von ihr das vielberufene gerechte Urteil der Geschichte zu erhoffen. Irrtümer schließt man allerseits aus. Daß man auf Menschen hofft, die anderen Generationen angehören und sich zwangsläufig ihr eigenes Urteil aus eigenen Ansprüchen bilden, bedenkt man kaum. Die Zukunft ist positiv, weil sie die Zukunft ist.
Die Hoffnung auf die Zukunft - jede Hoffnung zielt in die Zukunft - schließt ein Vertrauen ein, das ohne Vorbehalte ist: Der wahre Wert erweist oder bestätigt sich; die Zukunft urteilt gerecht, ja sie kann sich nicht irren. Zwischen dem Heute und ihr liegt eine Änderung der Zeit. Diese Veränderung im Laufe der Zeit sollte zu denken geben. Wer kennt jene mehr oder minder fernen Geschlechter, ihre Denksysteme, ihre Ansprüche an das Kunstwerk, ihren Geschmack, ihre zwangsläufigen Irr-
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tümer? Kann man überhaupt so verstanden werden, wie man verstanden werden möchte, wie man es von der Zukunft erhofft, auf die man harrt? Wer vermag zu entscheiden, ob unser Beethoven-Bild dem Bild entspricht, das sich Beethoven von seinem Nachruhm gemacht hat? Das Hoffen ist ein Risiko. Doch vielleicht besteht die Zukunft wertbeständiger oder wiederentdeckter Werke just darin, daß sie gewandelten Aspekten, Ansprüchen und Erwartungen entsprechen, daß sie immer wieder einen neuen Nerv treffen, daß sie vielleicht mißverstanden oder anmaßend benutzt werden.
Beethovens selbstbewußtes Wort zielte auch auf den interpretatorischen Fortschritt. Die instrumentale Technik hat sich gesteigert. Das manuelle Rüstzeug eines Virtuosen der Jahrhundertwende steht heute jedem zweiten Pianisten zu Gebot. Der spieltechnische Standard hat sich gehoben, nicht nur in Einzelfällen, vielmehr im ganzen. Die Medien haben die Perfektion gefordert und erzwungen. Es läßt sich im Spieltechnischen kaum noch etwas vervollkommnen. Wir sind an einer oberen Grenze angelangt - zumindest erscheint es uns so. Mehr Schwierigkeiten können vom Komponisten kaum mehr aufgehäuft und vom Interpreten bewältigt werden. Das Zeitalter der Interpretation, in dem wir leben, verfuhr gründlich, zumindest im Technischen.
Die Entwicklungen greifen ineinander; so sehen sich denn die hoffnungsvoll dem permanenten, zum Prinzip erhobenen Fortschritt verschriebenen Komponisten in einer vergleichbaren Lage. Jahrzehnte, nachdem die To-nalität zum Abdanken gezwungen worden war und die kuriosesten Praktiken der Notation, der Behandlung der Instrumente, der Elektronik, der Verfremdung und Verzerrung des Klangs erprobt worden sind, gehen die Möglichkeiten aus, die Hoffnung auf neue und unerhörte Kompositionstechniken zu setzen. Es zeigt sich, daß den Innovationen Grenzen drohen. Wir sind bereits in einigen Partituren bei der Verweigerung des Klangs, beim Verzicht auf jeden sinnlichen Reiz angelangt.
Der unermüdliche, sich mit dem allgemeinen Lebens- und Entwicklungstempo beschleunigende Fortschritt muß befürchten, auf der Stelle zu treten.
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Das interessante Individuum - eine weitgehend romantische Gestalt - findet kaum noch Möglichkeiten, sich interessant zu machen.
Die Hoffnung auf bessere Zeiten in der Musik hatten Liszt und Wagner schier als Glaubenssatz gelehrt. Wenn auch Wagner das ursprünglich abfällig gemeinte Wort »Zukunftsmusik« nie gebraucht hat, er und Liszt haben die Zukunft zum Adressaten einer neuen Musik erhoben. Liszt sprach davon, es gelte, den Speer weit hinaus in die Zukunft zu werfen; Wagner schrieb 1850 gar eine ausführliche theoretische Abhandlung über >Das Kunstwerk der Zukunft<, worin er die ästhetische Utopie des »Gesamtkunstwerks« in eins faßt mit einer umgreifenden Revolution, die »die Befreiung des Gedankens in die Sinnlichkeit« genauso bringt wie die Aufhebung der »Selbstunterscheidung des Menschen von der Natur«, also nach den Zeitaltern des antiken Griechentums und der modernen Zivilisation eine schier paradiesische Gesellschaft der Zukunft heraufführen hilft. »Der Künstler der Zukunft« stellt die verlorengegangene Einheit der Künste in neuer Herrlichkeit her. Die Schrift widmete Wagner dem Philosophen Ludwig Feuerbach, und Feuerbachsche Gedanken kehren denn in ihr wieder, nach Wagners Art breit und mit instrumentalem Aufwand weitergeführt, beziehungsweise auf sich zurechtgebogen.
Die Hoffnung auf das Morgen wurde nach Liszt und Wagner schier zum Gesetz für den Musiker. Die Möglichkeiten, den Speer nach Liszts Diktum weit in die Zukunft zu schleudern, schienen damals schier unbegrenzt. Heute sind sie es nicht mehr. Die Geschwindigkeit der Neuerungen hat die Menschen schwindeln gemacht. Der zum Selbstzweck erhobene Fortschritt ließ mehr und mehr den unabdingbaren Adressaten der Musik außer acht: den Hörer, das Publikum. Die unselige Spaltung in E- und U-Musik zeigt es, die steife Unterscheidung von ernster und unterhaltsamer Musik. Sie wäre Mozart, ja sogar noch Beethoven unverständlich gewesen. Das musikalische Schisma gehört zu den traurigen Errungenschaften unserer Zeit.
Was dürfen wir hoffen?
Wie vermag die Musik auf diese (leicht sinnentfremdete) Kantische Frage zu antworten? Wir dürfen hoffen auf eine neue Selbstbescheidung der Musik, wie sie sich angekündigt hatte bei Satie, wie sie weiterschwingt in einigen jüngeren Kompositionen von Karlheinz Stockhausen und Wilhelm Killmayer. Die Musik gibt es weitgehend auf, der Schauplatz verwegener, nie dagewesener Ausbrüche eines subjektiven Ausdrucksdranges zu sein, sie nimmt sich des Zuhörers als des unabdingbaren Partners an, sucht Kontakt statt monologischer Besessenheit und gebietet sich Einhalt an einer Grenze zum bloßen Geräusch. Es melden sich freundliche Zeichen: Die fortschrittsbewußte Unduldsamkeit der Tonalität gegenüber schwächt sich ab, und man darf da und dort einen Dur- oder Mollakkord anbringen, ohne gesteinigt zu werden. Das Vertrauen auf kompositorische Universalrezepte, die wahre Fortschrittlichkeit garantieren, hat längst nachgelassen. Doktrinär zu sein, ist nicht mehr »in«. Duldsamkeit ist an die Stelle verhärteter Fronten getreten. Das nährt die Hoffnung auf die Zukunft der Musik.
Man muß gewiß nicht Hegelianer sein, um auf eine Synthese der Gegensätze zu bauen, wie sie die letzten Jahrzehnte als starres Frontensystem aufgerichtet hatten. Vermutlich bietet sich gar kein anderer Weg an als der einer ausgleichenden Synthese. So gesehen, läßt sich hoffen, daß die Musik der kommenden Jahrzehnte nicht mehr nur das aberwitzig gesteigerte Aufgebot von Innovationen und geballtem subjektiven Ausdrucksdrang sein wird, sondern daß sie ihr eigenes Accelerando und Crescendo mäßigt und sich auf sich selbst besinnt. Eine matte Gefälligkeit, wohlausgewogen und beifallsgierig, wird gewiß nicht das Ziel sein. Aber das Publikum soll von der Furcht befreit werden, zeitgenössische Klänge seien zur Züchtigung des Ohres in der Welt. Worauf man hofft, ist eine junge Musik, zu der das Publikum so gerne oder fast so gerne kommt wie zu garantiert bildungswertvollen Klängen der Vergangenheit.
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