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    10)  Wir heißen Euch hoffen

 

 von August Everding  

 

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Wenn ich ausführen würde - was ich gerne täte -, nur des Künstlers Kreditkarte sei die Hoffnung, würden viele Lehrer einwenden, auch sie versähen ihren Beruf nur mit Er-hoffen. Ärzte leben neben ihrer ärztlichen Kunst von der Hoffnung auf Konstellationen, auf die auch Broker spekulieren.

Theologen versuchen, die Hoffnung der Gläubigen zu motivieren, für Politiker ist die erhoffte Zukunft Tagesthema, für Ideologen ist die Zukunft Gegenwart. Alte erhoffen einen gnädigen oder gar keinen Tod, Junge wollen Gegenwart gegenwärtig erhalten, der Hoffnungslose verfällt der Depression oder hemmungsloser Selbstliebe. Hoffnung ist dialektisch: Der Mörder hofft auf den Erfolg seiner Tat, die Mutter auf die Geburt ihres Kindes, der Krieger auf den Sieg, der Bekriegte auf das Ende. Dabei gibt es Hoffnung mit berechtigter Hoffnung - weil der Hoffende mitwirkt, aber auch Hoffnung wider den Heiligen Geist, weil sich der Hoffende nur auf die Hoffnung verläßt. Aber auch die kann sich verwirklichen ohne seine Mitwirkung - sie heißt dann Gnade. Hoffnung kann sich aus Zufall erfüllen, sie ist begreiflich und unbegreiflich, sie ist natürlich und oft widernatürlich, sie ist spes contra spem und cum spe. Die Hoffnung ist eine der sieben Gaben des Heiligen Geistes. Die frühen Volksreligionen betonten das Hier und Jetzt und erwarteten vom Jenseits wenig. Die universalen Religionen erweckten die Hoffnung auf eine veränderte Welt. Für die Buddhisten und Hindus ist die gegenwärtige Welt eine Illusion oder sie ist wie bei den Christen unvollendet. Gott hat in seiner Verheißung eine heilvolle Zukunft versprochen. Gabriel Marcel hat aus christlichem Geist vom Marxismus her eine eigene Philosophie der Hoffnung entwickelt. Sie ist das Organ für Weiterleben und Überleben. Hoffnung belebt nicht nur den Menschen, sie erfüllt das Tier, die Natur, unser Sein. Hoffnung ist die Selbstbehauptung des Starken und die Selbsterhaltung des Schwachen.

Und dennoch darf ich sagen: der Künstler Pläne und Tage sind so hoffnungstrunken, so essentiell hoffnungsvoll, daß ich ihre Haltung etwas genauer beschreiben will. Ich meine nicht den verständlichen, aber banalen Wunsch auf Erfolg, aufs »Ankommen« - obwohl das ein schönes Synonym für Advent, für Hoffnung ist. Der konstruierte oder erlebte Text muß vom Dichter formuliert werden, er muß gedruckt und veröffentlicht werden, er muß gelesen und angenommen werden. Die Musik muß empfunden und erdacht werden, aufgeschrieben, publiziert, gespielt und gehört werden.

Der Regisseur muß Text und Musik nachempfinden oder neu erfinden, er muß Phantasiegestalten zu wirklichen Personen, Phantasien zu Situationen machen; der Bühnenbildner muß aus Ortsangaben Landschaften bilden; der Dirigent formt mit dem Orchester Noten zu Klängen, aus Notationen werden Bewegungen. Das Licht macht aus leeren Bühnenräumen Hütten und Paläste, aus Barchent Seide, aus Blech Gold. Und das alles wird erdacht, geschrieben und gedruckt, geprobt, gesprochen, gesungen und aufgeführt mit der einzigen bewegenden Hoffnung: gehört, erhört und verstanden, geliebt und aufgenommen zu werden. Das alles geschieht mit der Wut, noch nicht erhört, verstanden, geliebt und aufgenommen zu sein. Alle, die in diesem Boot »Kunst« sitzen oder alleine auf einem Floß dahintreiben, sind der Hoffnung ausgeliefert, mit ihren Werken etwas auszurichten. Manche wollen eine neue Richtung in diese Welt bringen, manche Freude, manche Ärger, manche Ärgernisse, Anstöße und Anstoß.

Die Hoffnung gehört, verstanden und aufgenommen zu werden, ist das Spermafädchen, das unkontrolliert kontrolliert seinem Ziel zutreibt, getrieben und sich selbst treibend; Hoffnung auf Verwirklichung, auf Selbst­verwirklichung, auf Selbstfindung durch Finden. Nur wenige wissen das Ziel, kennen den Muttermund, das zu befruchtende Ei; alle sind nur auf dem Wege. Selbst wer verkannt werden will, wartet aufs Erkanntwerden, und Kafka ist Max Brod posthum dankbar.

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Unser ganzes Mitleid gehöre den Hoffnungslosen; sie sind die wirklich Verdammten. Kein Psychiater hilft ihnen, kein Beichtvater. Beim Aschermittwoch der Künstler gehört ihnen die Asche, die Vergänglichkeit. Die Melancholie läßt noch die verlorene Hoffnung nachklingen, die Depression entzieht dem Menschen jegliche Hoffnung und damit die Antenne für jede Nachricht. Für viele Künstler aber entsteht erst aus der Verzweiflung, aus der Trostlosigkeit der Trost der Hoffnung. Die letzte Hoffnung ist die Visio Dei. Die höchsten Häuser in New York heißen »windows of the world«. Wohin schaut man aus diesen Fenstern? Auf die Freiheitsstatue! Die Freiheit des Menschen ist seine Phantasie! Darf die grenzenlos sein? Phantasie ist grenzenlos. Aber Ethik setzt Grenzen - auch der Ästhetik? Ästhetik ohne Ethik? Welch gute Zeiten, als noch alles zusammen galt: verum, bon-um, pulchrum.

Die Sehnsucht, verstanden, anerkannt zu werden, ist groß. Mitleid soll all denen gelten, die vor ihrer Anerkennung, vor ihrem Ruhm gestorben sind.

Manchmal weiß man aus den Proben, daß die Premiere nicht gut werden kann und dennoch bleibt Hoffnung und wenn nicht auf heute, dann auf morgen. Darum fällt es so schwer, eine Generation zu verstehen, die aus der »Nicht-Zukunft« zu leben vorgibt. Viele sind von den Aussichten so erschreckt, daß sie lieber aussichtslos heute leben wollen. Andere spielen mit dem »No future«-Ge-danken als Zukunftsgedanken. Manche sind wirklich im Zweifel, ob die Sonne morgen noch aufgeht, andere wiederum können sich nicht vorstellen, daß die Natur Millionen Jahre brauchte, um mit der Entwicklung des Menschen fertig zu werden, der dann nach kurzfristigem Verweilen untergehen soll. Endzeitstimmung gab es oft in der Geschichte der Menschheit, auch Götterdämmerungen, die aber über Walhalls Trümmern eine »lichteste Helligkeit« zeugten.

Die Arbeit des Künstlers ist von Gegensätzen bestimmt: von der stabilitas und der Phantasie. Seine Arbeit, sein Fleiß, seine Vorbereitung, seine Ausdauer müssen stabil sein, seine Phantasie, Schwester der Freiheit, widersetzt sich immer wieder der Festigkeit. Sie reißt ein

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und baut auf, entführt und führt ein. Je mehr man in ein Werk eindringt, desto mehr erkennt man, wie unstabil das Wissen über das Werk ist. Kunstwerke sind deshalb Kunst, weil sie jedem Befrager, jedem Regisseur, jedem Dirigenten, jedem Leser eine jeweils neue Antwort ermöglichen und eröffnen. Es gibt nicht die Antwort, die Lösung, die Inszenierung, die Interpretation. Alles hängt ab vom Interpretierenden und dem Maß seiner Stabilität und der Kraft seiner Phantasie. >Tristan< ist als Oper so reich, so vielfältig, daß jede Begegnung von neuem den Interpreten fordert und den Zuschauer herausfordert. >Die Zauberflöte< als Volksoper und als ernstes Freimaurerstück, als Lustspiel und als Drama trägt und verträgt viele Deutungen, sie wehrt sich, wenn sie über einen Leisten geschlagen wird und ihre Vieldeutigkeit zu eindeutig mißdeutet wird. Die Phantasie, die legitime Tochter der Freiheit, ist das Geschenk, das den Menschen wirklich zum Menschen macht. Einstein meinte: »Phantasie ist wichtiger als Wissen«, und es ist zu bedauern, daß seit der Aufklärung das intuitiv symbolische Denken in Europa vernachlässigt wurde. Deshalb gibt es heute so viele Überreaktionen auf emotionalen und agnostischen Gebieten. Die Kunst nimmt einen wichtigen Platz in unserer Gesellschaft ein. Kunst ist aber zunächst platzlos. Die öffentliche Meinung oder die veröffentlichte Meinung räumt ihr nicht den richtigen Platz ein, sie verwechselt Plätze, gibt ihr einen Stellenwert, dem das Werk nicht gerecht werden kann.

Begonnen aber hat das Ganze mit einer Utopie. Und -hierin folge ich Paul Tillich nachdrücklich - »Menschsein heißt, Utopie haben«. Diese »ortlose Bestandsaufnahme« ist eine positive Stellungnahme. Denn alle Utopien sind Negation der Negationen. Eine Utopie wirft Steine in den ruhenden See, sie ent-wirft, sie ist eine vorwegnehmende Phantasie, die dann das Ort-lose ausschmückt und näher bestimmt. Menschen ohne Utopien - wenn es die überhaupt gibt - sind reine Gegenwartsmenschen.

Sie sind der Gegenwart verfallen und projizieren keine Zukunft, keine Kunst und keine Hoffnung.

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Im Laufe unserer Geschichte hat sich erwiesen, daß die Utopie, das »Platzlose«, effektiver ist, daß es sich mehr bewährt als das Bewährte.

Mit dem Bewährten bewährt und erhält man, mit der Utopie baut man auf und stellt in Frage. Die Utopie löst einen dialektischen Dialog aus. Und das Wort Dialog ist das Stichwort für die Hoffnung auf Hoffnung. Jeder Dialog erfordert eine zwischenmenschliche Beziehung, fordert Rede und Gegenrede, Frage und Antwort oder Gegenfragen. Dialog ist Gespräch und läßt Auseinandersetzung, läßt Logos aufscheinen und Gefühl zu. Dialog ist nicht möglich zwischen Computern, zwischen Tieren, zwischen Robotern, zwischen Plakatträgern. Dialog ist Menschen vorbehalten. Und der Mensch ist die einzige Persona dramatis. Jedes Drama wird immer menschliches Drama sein: In der Exposition, im Höhepunkt, im Schluß des Dramas, der Komödie oder der Tragödie. Jedes Schauspiel, jede Oper, jede Vorstellung ist aber auch ein Hoffnungskreis.

Wie Brünnhilde, vom Feuer Loges eingeschlossen, auf ihrer Felsenwarte auf den erlösenden Kuß Siegfrieds wartet, so beginnt unsere Arbeit mit der Hoffnung, daß alle Schauspieler ihre Texte beherrschen, daß die Technik funktioniert, die Beleuchtung erleuchtet, das Publikum die Botschaft versteht und das Stück auf dem Spielplan bleibt. In den USA geschah es kürzlich erst wieder, daß ein prominent besetztes, monatelang geprobtes Musical nach ein paar Tagen abgesetzt wurde, weil die Kritik schlecht war und daher die Säle leer blieben.

Wir alle werden getrieben von der Hoffnung zu überleben. Werden wir auch getrieben, das Leben, nein, den Tod zu überleben?

Die Knaben singen in der >Zauberflöte<: »Zum Ziele führt dich diese Bahn.« Wenn wir doch nur die Bahn so genau wüßten und das Ziel so gewiß erreichen könnten! Wir hangeln uns von Hoffnung zu Hoffnung, in der Hoffnung, einmal das Werk zu schaffen, das uns »feuertrunken, Göttliche, dein Heiligtum« betreten läßt: das Gesamtkunstwerk.

Das Theater ist ein Spiel und ein Vergnügen. Laut Grimms Wörterbuch stammt das Wort »hoffen« von hüpfen. Wir hüpfen vor Freude, vor Ungeduld, wir hüpfen über etwas, um es zu überwinden.

In schlechten Zeiten gehen besonders viele Menschen ins Theater. In guten Zeiten ist die Hoffnung leichtfertiger, eingedickter, kurzatmiger.

Das Theater ist Aufklärung. Theater will der Wahrheit zum Sieg verhelfen und fragt gleichzeitig immer wieder: »Was ist Wahrheit?« Theater wurde von Diktatoren, Kirchen und Institutionen immer wieder in den Dienst genommen, weil Theater, weil Kunst die Menschen erreicht. Theater will die Menschen von Vorurteilen befreien und sie zum Urteilen anleiten. Theater ist eine optimistische Tragödie.

Wir alle ersehnen das Gesamtkunstwerk, in dem alles stimmt: die Stimmung, die Stimme, die Partitur, die Ausführung und die Aufführung.

Wir wissen, daß nur der Himmel, das Paradies, Nirwana, das Goldene Zeitalter, Atlantis, die Bühne dafür sein kann.

»Wir heißen uns hoffen.«

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11)  Bauen mit Zukunft - Baukunst ohne Hoffnung?

von Hans-Busso von Busse

Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen.
Wir müssen uns Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen.
Albert Camus

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Es hat wohl kaum eine Zeit gegeben, in welcher Kritik und Unbehagen am Bauen deutlicher, anhaltender und auch ergebnisloser zum Ausdruck gebracht worden ist als in unserer. Die Ursachen hierfür liegen in einer tiefgreifenden Verunsicherung und Orientierungslosigkeit unserer Industriegesellschaft. Der Tanz um das goldene Kalb Wohlstand stößt gebaute Umwelt in eine verhängnisvolle Entfremdung zu ihren Nutzern. Sie wird von ihnen beklagt und verteufelt, gleichwohl tausendfach betrieben und offenbar schicksalhaft hingenommen. Es scheint, als sei auch für die Architektur der Weg zur Hölle mit den wohlfeilen Wörtern des Fortschritts gepflastert - mit Mehrwert, Zuwachs, Produktivität, mit Freiheit, Freizeit und Mobilität. Unter der Einäugigkeit einer auf Anspruch und Konsum festgelegten Massengesellschaft pervertieren die Begriffe zu zerstörerischem Zugriff auf unsere Lebensräume. Unseren Städten, Dörfern und Landschaften, den Straßen, Plätzen und Wohnungen droht das »Trümmerfeld der Begierden und Bedürfnisse«, und in ihnen bedrückte Menschen: einsam, ihrer Umwelt entfremdet, sich in das Private zurückziehend.

Der wertblinde Glaube an eine perpetuierende Wohlstandsentwicklung ist heute erschüttert. Und es wird immer deutlicher, daß der emanzipierende Effekt der industriellen Entwicklung verbraucht und sich ins Gegenteil zu verkehren scheint. Ohne wertvermittelnden Lebenssinn aber verfällt auch Architektur.

Erwachsen hieraus Einsichten? Hoffnung also für die Baukunst?

Der enorme Entwicklungs- und der Veränderungsdruck auf unsere Umwelt hat mit Beginn der achtziger Jahre zweifellos nachgelassen. Der hemmungslosen »Umweltzerstörung durch Bauen« ist zumindest zeit- und teilweise Einhalt geboten; nicht durch Vernunft, sondern durch die Widersprüchlichkeiten einer Generation selbstmörderisch entschlossener Produzenten, Konsumenten, Discountkäufer und Verbraucher.

Was auch immer diesen Aufschub ausgelöst hat, er ist eine Chance, um nachzudenken, eine Chance und Hoffnung für Architektur. Sie liegen in Besinnung und Einsicht, liegen im Aufbrechen der durch den Dauerzustand von Bedürfnis und Befriedigung verkrusteten Verhaltensnormen, deren Ergebnis zweckrationale Verarmung und Gestaltzerstörung unserer öffentlichen und privaten Räume ist: die Monotonie und Ausdrucklosigkeit ganzer Stadtteile und Trabantensiedlungen, die Verödung des Milieus gewachsener Stadt- und Dorfstrukturen, die »Unwirtlichkeit« der Städte, kurzum, die Minimierung und Reduzierung des menschlichen Daseins in seiner gebauten Umwelt auf ein Kosten/Nutzen-Denken - ohne Phantasie, ohne Freude, ohne Menschlichkeit.

Wir erfahren diese Doppelseitigkeit der Entwicklung, die Ambivalenz des technischen Fortschritts heute in nahezu allen Lebensbereichen. Und wir sehen gleichwohl im gegenwärtigen Unbehagen über das Bauen Carl Friedrich von Weizsäckers Beobachtung bestätigt, daß »ein großer Teil des Unglücks unter den Menschen daraus entspringt, daß sie die Erfahrung der Ambivalenz nicht auf sich beziehen lernen, sondern ihre Gründe nach außen projizieren; an meinem Mißerfolg sind stets die anderen schuld.« Schuld ist der Beton. Schuld ist das Hochhaus. Ein Berufsstand gerät in Mißkredit. Man flüchtet in nostalgische Ersatzwelten oder verweigert sich dem Problem, indem man es ideologisch verdrängt; Flucht also in die Spekulation. Wir stehen uns beim Erkennen von Zusammenhängen, beim Einschätzen von Ursache und Wirkung offenbar selber im Wege. Aber eben hier, in einem durch Erkenntnis bestimmten Bewußtsein liegt gewiß einer der Schlüssel zu einem »Bauen mit Zukunft«.

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 »Die Intensivierung des Bewußtseins hat die technische Welt ermöglicht«, schreibt Alexander Mitscherlich in diesem Zusammenhang, »und diese technische Welt verlangt nun ihrerseits hohe Bewußtheit als Integrations­leistung.« Hoffnung also auf die Vernunft der Menschheit.

Geschichtliches Bewußtsein als Integrationsleistung

Ist nicht die Kenntnis der historischen Abläufe und Ereignisse Teil dieser Bewußtheit? Denn es bedarf des zeitlichen und kritischen Abstandes, um das Bauen der letzten ioo Jahre auch als die wechselhafte Abfolge von Widersprüchen, Enttäuschungen und Einsichten zu begreifen, in welcher die Hoffnung auf Verbesserung, in welcher der Lebens- und Überlebenswille kreatives Agens ist. Im Blick hierauf vermag historisches Bewußtsein auch Aufschluß über den Handlungsspielraum menschlicher Aktion im unbegreiflichen Fortgang der Geschichte zu geben. Hieraus Folgerungen zu ziehen, wäre Sinn historischen Bewußtseins.

Die mit der Industrialisierung aufbrechende soziale Frage traf Mitte des 19. Jahrhunderts auf ein Architekturverständnis, das sich in den sinnentleerten Ausdrucksformen zurückliegender Epochen verloren hatte, unfähig, auf die menschlichen Herausforderungen der Zeit Antworten zu finden. Es mußte in der Stillosigkeit ausufernder Städte das Elend der Mietskasernen offenbar erst durchlitten werden, bis sich Einsicht und Erkenntnis einstellen konnten. »Denn, Herr« - wer kennt sie nicht, Rilkes 1905 verfaßte bittere Anklage - »Denn, Herr, die großen Städte sind Verlorene und Aufgelöste ... Da leben Menschen, leben schlecht und schwer, in tiefen Zimmern, bange von Gebärde ...« Doch ist der Weg vom Erkennen zum Handeln - auch eine geschichtliche Erfahrung, aus der wir lernen müssen - mühevoll und langwierig. Er macht deutlich, wie sehr die einstmals elitäre Baukunst durch die Entwicklung fortschreitend in den Einflußbereich unterschiedlicher Interessen und Machtansprüche gerät, in welchem Maße Architektur und Stadtbaukunst in die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Zeit eingebunden werden.

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So finden erst die zwanziger Jahre Antworten auf die erste der säkularen Heimsuchungen unserer Städte. Und es bedurfte der Zeitspanne einer weiteren Generation, bis sich die Träume und Hoffnungen von Licht, Luft und Grün, von der sinnfälligen Ordnung des Wohnens, des Arbeitens und des Verkehrs zu verwirklichen begannen. Das den Wiederaufbau unserer Städte in wesentlichen Teilen mitformende Bundesbaugesetz ist ohne die aus einer historischen Erfahrung erwachsenen Überzeugungskraft einer Charta von Athen nicht vorstellbar. Jedoch war dies in allem die ersehnte Antwort der Architektur auf die ein Menschenleben zuvor ausgelöste soziale Frage? Wohl nur teilweise, denn mit den Ergebnissen dieser hoffnungsvollen Entwicklung brachen neue, ungekannte Widersprüche auf. Dieses festzustellen fällt um so schwerer, als man weiß, mit wieviel Verstand und Hingabe zwei Architektengenerationen um die Einlösung ihrer baumeisterlichen Verpflichtung gegenüber den ihnen anvertrauten Menschen gestritten haben.

Im Pendelschlag vollzieht sich die Entwicklung weiter, »wertblind«, wie Mies van der Rohe eher resignierend meinte. Ich glaube kaum, denn wir hofften, durch neuerliches »Verdichten« und »Verflechten« städtischer Funktionen jene Qualitäten für das Leben in der Stadt zurückzugewinnen, die in der Phase zuvor aus dem Blick geraten waren: Urbanität, Ambiente und Milieu.

Und wieder erfahren wir die Ambivalenz aus der Verstrickung dieser Ideen in die Widersprüche und Eigengesetzlichkeiten der Realität. So verkehrt sich das Verlangen nach Urbanität und Milieu als Daseinsvorsorge in Daseinsbedrohung, in die Massenhaftigkeit und Unwirtlichkeit der modernen Stadt. Wen wundert es, wenn aus der Unfähigkeit, die Ursachen zu sehen, ein dumpfer Mißmut gegen das Übermaß an Veränderung, gegen die Allgegenwärtigkeit des Neuen zu kritikloser Verklärung alles Alten führt, wie wir dies in unseren Tagen erleben. Kollektive Geisteshaltungen und Zeitströmungen artikulieren sich seit jeher auch in der Sprache der Architektur.

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Und man versucht, heute wie vor ioo Jahren, mit den vertrauten Bildern eines verfügbaren historisierenden Formenkanons »die Wirklichkeit zu poetisieren, um sich ihrer erwehren zu können«. Die Ausdrucksbilder der Architektur haben nicht selten auch in den Verdrängungskräften der menschlichen Natur ihren Ursprung. So scheinen Befürchtungen zuzutreffen, daß erhofftes geschichtliches Bewußtsein als neues, positives Faktum im Bauen mißverstanden umzuschlagen droht in fadenscheinige Applikation, zu vordergründiger Maskerade, zu Lüge.

Hat Le Corbusier recht, wenn er diesen Kampf der Architektur um die Einlösung der Hoffnungen nach Freiheit, Solidarität und Menschenwürde im Gebauten als das »harte Lösegeld für das erste Jahrhundert des Maschinenzeitalters« deutet, als die »Eroberung der Maschinen und der Organisation?« Gewiß, eine Erklärung, manches spricht für sie. Aber wichtiger aus der Sicht geschichtlicher Ereignisse scheint mir folgendes: Wenn uns zur Bewältigung auch unserer baulichen Aufgaben unter den Bedingungen, die Wissenschaft und Technik gesetzt haben, ein höchstes Maß an Bewußtheit als Integrationsleistung abverlangt wird, dann wird geschichtliches Bewußtsein gewiß Teil dieser Bewußtheit sein müssen.

Im Nachvollzug historischer Abläufe und in der Projektion ihrer baulichen Ergebnisse auf die vorangegangenen Entwürfe aus Hoffnung und Erwartung werden die Chancen, gleichwohl auch die Grenzen menschlichen Handelns erkennbar; Chancen, die in Phantasie und Fähigkeit, Grenzen, die in der Unvollkommenheit und Schwäche der menschlichen Natur angelegt sind. Indem wir unsere Visionen entwerfen, bauen wir an unseren Widernissen. Offenbar steht die Hybris einer durch Wissenschaft und Technik geblendeten Rationalität einem Handeln im Wege, welches auch das Fehl-Sein und die Unvollkommenheit des Menschen miteinbezieht. Denn dieses spräche für mehr Bescheidenheit in unseren Plänen und Programmen, für Bescheidenheit gegenüber dem Wünschbaren, Bescheidenheit gegenüber dem Erwartbaren.

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Von den Ansprüchen, ihren Folgen und der politischen Dimension des Bauens - politisches Bewußtsein als Integrationsleistung

Die menschliche Behausung - die Wohnung, das Quartier, die Stadt, auch Landschaft, Architektur im weitesten Sinne - ist Anlaß und Auftrag des Bauens. Menschliche Behausung: das ist seit jeher das Ur-Bedürfnis nach Schutz und Zuflucht, ist das Verlangen nach Erbauung und Verheißung.

In der Vergangenheit erfüllte sich dieser Auftrag in den Grenzen, die durch die materiellen Möglichkeiten und Fähigkeiten der Menschen gezogen waren. Hierbei waren Anspruch und Erwartung, menschlicher Herkunft entsprechend, angepaßt einem Leben in Knappheit und Gefahr. Die technische Welt hat diese Grenzen heute weitgehend aufgelöst. Und in diese Grenzenlosigkeit hinein eskalieren gegenseitig Anspruch - längst losgelöst von seinem ursprünglichen Anlaß, der sozialen Frage - und dessen eilfertige Einlösung. Was ist hier Ursache, was Wirkung? Von emanzipierendem Fortschritt sprechen die einen, von Zivilisationskrise die anderen. Beide Extreme bestimmen mehr denn je die politische Auseinandersetzung. Und gleichwohl markieren diese Fronten das Konfliktfeld Bauen.

Im Spannungsfeld wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Ansprüche bestimmt deshalb wie nie zuvor in der Geschichte der Baukunst heute die politische Dimension dieses Bauen.

Bauen mit Zukunft: Dieses ist die Frage nach dem Auftrag des Bauens. Und es ist in ihrem Kern die Frage nach der Menschlichkeit im Bauen. Dieses ist der Maßstab, an welchem wir Anspruch und Ergebnis des Bauens heute messen, um für das Leben heute und morgen eine Vorstellung zu gewinnen.

Solche Ansprüche ergeben sich aus den wirtschaftlichen Aspekten des Bauens. Mit einem Gesamtbauvolumen (Inland) von heute rund 230 Milliarden DM, einem Brutto-Inland-Produkt von 12 Prozent und einem annähernd gleichen Anteil an den rund 25 Millionen Erwerbs-

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tätigen hat sich das Bauen in diesem Lande zu einem entscheidenden Wirtschaftsfaktor entwickelt. Bauen heißt hier Produktion, Absatz, Kapitalverwertung, heißt Verstetigung, Steuerung konjunktureller Abläufe, heißt Arbeit und Beschäftigung.

Die Frage drängt sich auf: Sind diese Ansprüche und Forderungen mit dem eigentlichen Auftrag des Bauens überhaupt noch vereinbar? Denn heute erleben wir in vielen Bereichen die Widersprüche. So wird das Bauen weniger als Erstellung des existentiellen Rahmens für menschliche Lebensvollzüge, sondern als machbarer Absatzmarkt für wirtschaftliche Bewegungen gesehen. Eben diese Geisteshaltung ließ es zu, daß Innovationen entwik-kelt wurden, nicht um unsere Umweltqualität, sondern um die Produktivität zu verbessern, und ließ zu, daß rationalisiert und industrialisiert wurde, um Kosten zu sparen und Massen zu produzieren, nicht aber, um den ganzheitlichen Nutzen von Bauwerken zu erhöhen. Hunderte gleicher Wohnsiedlungen, Studentenheime, Schulen, Schwimmbäder oder Arbeitsstätten sind genau das, was wir weder gebraucht haben, noch in Zukunft brauchen werden.

Wir verstehen uns offenbar besser darauf, einen Menschen auf den Mond zu schießen, als für viele Menschen an einem Lebensgebäude zu arbeiten, an den Städten, Dörfern, den Quartieren und Häusern, in denen sie mit Anstand wohnen, arbeiten und leben können. Mag im einen Fall unser Vermögen, alles Erdenkliche auch zu machen, noch vertretbar sein, so führt im anderen diese Einstellung nachgewiesenermaßen zu lebensbedrohlichen Folgen. Die Notwendigkeit einer Eingrenzung des technisch Machbaren, Teil der in Rede stehenden Bewußtheit, wird heute allenthalben erörtert. Auch an ein Bauen mit Zukunft muß deshalb die Frage lauten: Ist das technisch Machbare sozial und kulturell, ist es menschlich zu verkraften - die Ballungszentren in den Städten, die gigantisch gestapelten Wohnsilos, die Freizeit-Agglomerationen, die Schulkonzentrationen, die Ghettoisierung der Arbeitswelt in den trostlosen Gewerbeflächen vor den Toren der Städte. Der Beispiele gibt es viele, und die

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Folgen der gotteslästerlichen Ambitionen beim Turmbau zu Babel scheinen vergessen.

Bauen mit Zukunft? Wir dürfen deshalb nicht nachlassen, das Bewußtsein der Menschen dahingehend zu schärfen, daß unsere gebaute Umwelt keine Maschine, kein Auto, keine Einwegflasche ist, sondern ein vielschichtiges, verletzbares Gefäß, welches die in vielen Bereichen unmeßbare Natur des Menschen und die Gemeinschaft, deren Teil er ist, aufzunehmen hat - Bauen als Zu-Flucht, Bauen als Er-Bauung!

Erst wenn dies als der Auftrag des Bauens allgemein erkannt wird, wenn begriffen wird, daß das Bauen für den Menschen unverzichtbare Ansprüche an jeden stellt, der da baut, gleich, ob er entwirft, kalkuliert, finanziert, herstellt oder nutzt, erst dann werden wir auf Erfolg hoffen können, den inhumanen Antagonismus aufzulösen zwischen Kosten und Nutzen, Funktion und Milieu, Erlebniswert und Serie. Konkret: Es wird in Zukunft mehr denn je darauf ankommen, mit Phantasie, Vernunft und Augenmaß das ökonomisch Notwendige mit dem menschlich Richtigen in Übereinstimmung zu bringen.

So haben wir beispielsweise erkannt, wenn auch um den Preis nachhaltig wirksamer Mißerfolge, daß die weitgehend ökonomisch bedingten Großeinheiten im Städtebau mit den Mitteln der Architektur nicht bewältigt werden können. Es gibt im Bauen, zumal im Städtebau, Größenordnungen, die sich sinnfälliger Gestaltung entziehen. Die Elemente der Architektur, hundertfach wiederholt, büßen ihren Wert für Gliederung, Proportion und Maßstab ein. Sie verflachen zu monotonen Mustern, auswechselbar, ohne Eigenart, unfähig zur Mitteilung; Geschosse, massenweise gestapelt und verdichtet, zwingen zu Abstand und Raum, der sich in Zwischenraum verliert. Wo das eine Hochhaus noch gliedernder Akzent ist, bewirkt dessen Vielzahl nur noch diffuse Agglomeration. In der Großeinheit führt unter den Zwängen von Ökonomie und Zeit offenbar das ihr immanente additive Prinzip, sui generis Antipode von Gestalt, zur Un-Gestalt. Gestalt aber bedeutet hier Heimat, bedeutet Geborgenheit. Denn Architektur ist Lebensraum im weitesten Sinne.

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Und es ist deshalb nur folgerichtig, Baugestaltung als Teil jener Sozialpflichtigkeit zu begreifen, die nach unserem freiheitlichen und sozialen Demokratieverständnis Eigentum heute als verpflichtend legitimiert. Dies bedeutet: für jeden, der Umwelt gleich wo und in welchem Ausmaß für eigenes Bauen beansprucht, ist Gestaltpflichtigkeit Teil dieser einzulösenden Sozialpflichtigkeit.

Ansprüche ergeben sich nicht nur aus den wirtschaftlichen, sondern auch aus den gesellschaftlichen Aspekten des Bauens. Zwar ist der sozialen Frage der Anspruch der großen Zahl immanent. Zum Gestaltproblem für das Bauen jedoch ist sie erst durch die Verkürzung auf ihre

m wesentlichen materiellen Gesichtspunkte geworden.

In die Grenzenlosigkeit des Machbaren folgt die Hemmungslosigkeit des Wünschbaren. Verordnete und verwaltete Wohlfahrt, der Wildwuchs des Sozialstaates hatte bis in die jüngste Vergangenheit erheblichen Anteil an dieser Entwicklung. Die Folgen sind nicht zu übersehen: die stupiden Bildungsmonstren der Hochschulbauprogramme beispielsweise, die Pflege und Heilung barbarisch rationalisierender medizinischer Großapparate, die abscheulichen Abschreibungsgiganten oder die gedankenlose Verstraßung unserer Landschaften. Unter dem Druck von Zeit, Kosten, Struktur- und Arbeitsbeschaffungsprogrammen mißrät politisches Kalkül ehrgeizig und ohne Augenmaß nicht selten zu baulichen Ungeheuern. Im Blick hierauf ist das Erscheinungsbild unserer Umwelt vor allem ein politisches und weniger ein ästhetisches Problem. Denn Architektur kann nicht leisten, was

m politischen Vorfeld des Bauens geregelt werden muß. Deshalb scheint es mir für die Zukunft des Bauens in dieser Frage weitaus notwendiger, an Weitblick und Courage unserer Politiker zu appellieren, als allenthalben die Phantasie der Architekten zu beschwören. Um nicht mißverstanden zu werden: hier geht es nicht darum, Architekten aus ihrer Verantwortung zu entlassen, gewiß nicht.

Fortschreitende Massenhaftigkeit, das heißt auch fortschreitende Bürokratisierung, heißt Reglementierung, heißt Vernormung. Der lebendige Vorgang des Bauens,

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Inbegriff des Schöpferischen — schon im Wortstamm wird dies deutlich: das indogermanische bhu bedeutet erzeugen, entstehen, sein werden —, droht unter einer Flut von Gesetzen, Erlassen und Richtlinien zum bloßen Verwaltungsakt zu degenerieren.

Eine Schule zu bauen, um ins Beispiel zu kommen, Räume zu fügen, in denen Lehren und Lernen zum Erlebnis werden, eine Baugestalt zu finden, die dieses sinnfällig mitteilt, die den genius loci bereichert, nicht zerstört, dieses wird in Zukunft erst dann wieder möglich sein, wenn wir aufgehört haben, Einheitsprogramme zu abgepreßten Flächen, Volumina und Kosten vorzuschreiben. Hier verzweifelt Phantasie, unfähig, den vorprogrammierten Lern-Container für Höchstleistungsvorgänge abzuwenden. Warum eigentlich wundern wir uns über die Ängste an unseren Schulen heute? Auch Räume tragen hierzu bei, durch ihr Übermaß an Sachlichkeit und Fachlichkeit, durch ihre fehlende Menschlichkeit.

Gleichwohl trägt ein ausuferndes Normenwesen zu dieser Entwicklung bei. Normen sind verordnete Ansprüche. Denn längst ist das Maß notwendiger und vernünftiger Konventionen im Technischen überschritten. Normen, nachvollziehbar, meßbar, justitiabel diktieren heute das Bauen; von »Regeln der Baukunst«, aufweiche sich das Baugeschehen seit Generationen berufen konnte, ist kaum mehr die Rede. Normen werden zu Übergriffen verselbständigter Produktionsinteressen. Als Beispiel sei die DIN 18000 angeführt. Hier besorgt eine europäische Baulobby mit dem Blick auf die Verlockungen des Gemeinsamen Marktes durch Maß- und Systemvereinheitlichung - Maßunifizierung - für Einschränkung der Arten, für große Serien, für Verstetigung der Nachfrage, für maximale Produktivität und Wirtschaftlichkeit. Zauberwörter eines verdächtigen Fortschritts, an dem wir alle noch und immer wieder mitwirken.

Fortschreitende Massenhaftigkeit schafft fortschreitende Anonymität. Ich lege den Schnitt dort, wo es für das Bauen um den Verlust des personalen Bauherrn geht, um die Verlagerung also von Kompetenz und Verantwortung in die Institution. Denn bei den meisten Bauvorhaben

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heute treten Verwaltungen, Behörden und Gesellschaften in die Bauherrenfunktion. Es kann keinen Zweifel darüber geben, daß mit dieser fortschreitenden Auflösung der personalen Bindung an das Bauwerk wichtige Voraussetzungen für sein Entstehen und damit letzten Endes auch für seine gestalterische Qualität verloren gehen. Man wird dies sicherlich nicht verallgemeinern dürfen, denn auch heute vermögen starke Persönlichkeiten ihre Bauherrenrolle auszufüllen und ihre Vorstellungen auf Entscheidungsgremien zu übertragen. Aber dies ist nicht ;der Regelfall, und immer stärker verschaffen sich Bürokratien aus der sicheren Deckung hierarchischer Anony-

. mität Geltung und Gewicht. Notgedrungen gerät das Bauen dadurch immer mehr unter den Einfluß partikularen Denkens, droht die verhängnisvolle Vereinzelung der Planungsaspekte. Der aus dem Sinnzusammenhang des

: ganzen Bauwerkes herausgelöste Einzelaspekt ist es, der unter institutionellen Planungsbedingungen mit technokratischer Akribie optimiert wird: Funktionszusammenhänge, Sicherheitsbelange, Bauunterhak oder die Kosten beispielsweise. Verantwortet wird, was meßbar ist. Der »unmeßbare Mensch« aber, wie Otto Bartning es formulierte, »bleibt ungetröstet«. Auf der Strecke bleibt der ganzheitliche Wert eines Bauwerkes, bleiben seine Gestalt und die in ihr wirksam zum Ausdruck kommende Menschlichkeit. Mehr denn je wird es deshalb darauf ankommen, dieses Bauen nicht nur als eine praktische, sondern auch als eine moralische Herausforderung der Öffentlichkeit verständlich zu machen. Denn es geht letztlich um die Frage, in welcher baulichen Umwelt wir uns in Zukunft menschliches Dasein vorstellen. Architektur ist allgegenwärtig, niemand kann ihr entgehen; sie umgibt uns dienend, erhebend und als Ärgernis. Behält Hans Magnus Enzensberger recht mit seiner bösen Einschätzung gegenwärtigen Bauens als einer »terroristischen Kunst im Gegensatz zur Poesie«, oder wird es uns gelingen, die Architektur aus den zweckrationalen Anmaßungen und der Hybris des vereinzelten Anspruchdenkens unserer Tage zu befreien, in ihr also wieder mehr zu sehen und zu wagen als den bloß nützlichen und billigen

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Gebrauchsbehälter? Denn zu allen Zeiten war die Architektur immer auch ein Stück Kulturproduktion, in der sich Selbstwert und Hoffnung einer Gesellschaft manifestierten. Ich halte es für undenkbar, daß ausgerechnet unser Demokratieverständnis es zulassen kann, freien und mündigen Bürgern Lebensqualitäten vorzuenthalten, die Architektur zu leisten imstande ist. Bauen mit Zukunft ist deshalb auch politisches Handeln.

Ich sehe in diesem Vorfeld des Planens, in der politischen Auseinandersetzung, einen Teil unseres Bauauftrages. Er muß heute sehr viel weiter ausgreifen, als dies in der Geschichte der Baukunst jemals der Fall war. Autonomie, das Für-sich-Sein, ist ihr nicht gegeben. Wie alle Kunst ist auch sie eine der Formen der Er-Kenntnis und verlangt das Be-Kenntnis. Dies duldet nicht das Exil zwischen den Fronten. »Kunst« - so schreibt Max Frisch, der Literat und Architekt in seiner Laudatio auf Alfred Andersch - »Kunst kommt ohne das politische Gewissen nicht aus, auch wenn es sich in einer Erzählung oder Malerei nicht inhaltlich manifestiert, sondern als ästhetische Position.« Gewiß hat es die Baukunst ungleich schwerer. Ihre pragmatischen Anlässe und Bedingungen, ihre zweckrationalen Unerläßlichkeiten verstricken sie tiefer in Konflikt und Widerspruch. Jedoch als ästhetische Position ist sie an der Einlösung des ihr immanenten Anspruches auf Menschlichkeit zu messen.

Bauen bedeutet Baukunst - Kunst als Integrationsleistung

Mit diesem letzten Gedanken wende ich mich der Architektur unmittelbar zu. Bauen war nicht immer Baukunst. Bauen war auch handwerkliches Können. Bauen kann nicht überall Baukunst sein. In der Geschichte waren es die bedeutsamen Orte, die Stätten des öffentlichen Lebens, der Mächtigen, waren es die Kirchen, bei denen sich das Bauen zu Baukunst verdichtete. Das andere Bauen -für das Wohnen und Arbeiten - blieb im Anonymen. Es war selten mit gleichem Anspruch entstanden. In den

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großen Lehrbüchern der Architektur von Vitruv bis zu Schinkel ist hierüber kaum etwas zu lesen. Ein verlockender Gedanke, die Kunstlosigkeit moderner Städte zu erklären! Sie hiermit heute begründen zu wollen hieße, den Emanzipationstraum der Menschheit auf seinen materiellen Teil unstatthaft verkürzen, hieße, den ihm immanenten kulturellen Anspruch leugnen. »Es ist Kunst nötig, damit das politisch Richtige zum menschlich Exemplarischen werde«, schreibt Brecht in solchem Zusammenhang. Und deshalb ist das Bauen, ist Baukunst heute und morgen untrennbar und unteilbar mit diesem Menschheitstraum verbunden.

Technik ist hierzu Instrument. In der durch sie verursachten Leerstelle handwerklicher Traditionen, die stets auch kultureller Ausdruck waren, muß deshalb heute und morgen um so notwendiger Baukunst wirksam werden. Dieses ist das Unvergleichbare und Neue unserer geschichtlichen Situation. In diesem Architekturverständnis kann es kein »anonymes Bauen« geben, weder für das Wohnen, noch für das Arbeiten oder gar eines, das durch die Maschine selbst verursacht wäre. Noch sieht die Wirklichkeit anders aus. Zwar erwartet der Einzelne Identität und Heimat, Harmonie und Schönheit in der gebauten Umwelt. Deren Einlösung als Ausdruck eines kollektiven, kulturellen Anspruches jedoch ist heute noch weitgehend durch die gesellschaftliche Wirklichkeit eingeschränkt.

Auch als Architekten stehen wir uns hierbei im Wege. Anstatt von Stadtbaukunst, sprechen wir von Stadtplanung; nicht vom Gestalten öffentlicher und privater Räume, von Raumfolgen, von unverwechselbaren Orten, vom Spielraum für Leben ist öffentlich die Rede, sondern von Stadt- und Infrastrukturen, von Verkehrs- und Fußgängerzonen, tertiären Bereichen, von Bauleitplanung, Abstandsflächen, Flächennutzung und dergleichen mehr. Verfälschende Wortgebilde dies, hinter die der Sinn des Bauens im Bewußtsein der Menschen bis zur Unkenntlichkeit zurückgedrängt wird. Hier offenbart die Sprache Wertverluste. Planungsmittel und -methoden werden für Planungsinhalte genommen.

Kann in diesem gegenwärtigen Klima zweckrationaler Verkürzungen von den Architekten das Außergewöhnliche als das Selbstverständliche erwartet werden? Auch sie stehen in und nicht neben einer gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Dennoch, im Blick auf die zuvor geäußerten Gedanken deshalb die Frage: Da kulturelle Werte kaum in Situationen des Überflusses entstehen - dieses lehrt die Geschichte -, vermag nicht die asketische Erfahrung der Bedürfniseinschränkung und der Selbstbeherrschung, vermag die Erfahrung der Selbstfindung und Selbstverwirklichung nicht jene verschütteten Lebensinhalte in das Bewußtsein zurückzuheben, an denen sich kultureller Anspruch neu entwickeln kann?

Wie beispielsweise bewerten wir in solchem Zusammenhang die mit großem Ernst geführte Diskussion um die Kernenergie? Ist es die behauptete Angst oder nicht doch die bessere, weil umfassendere Einsicht vieler Menschen von einem Leben mit Zukunft, auch wenn dieses für sie den Preis persönlicher Einschränkung bedeutet? Wie bewerten wir die Skepsis einer immer größer werdenden Zahl von Menschen, insbesondere in unserer Jugend, gegenüber den eingefahrenen und wertblinden gesellschaftlichen Normen und Verhaltensmustern, die häufig genug als Staatsverdrossenheit, als Parteienmüdigkeit oder Technikfeindlichkeit undifferenziert und kurzsichtig abgetan werden? Wer kann bestreiten, daß diese nicht auch Zeichen der Suche nach einer neuen kulturellen Identität sein können, auf die sich die Hoffnungen vieler Menschen stützt?

Baukunst setzt den kulturellen Anspruch unverzichtbar voraus. Denn ihrem Wesen nach ist sie jenseits aller pragmatischen Anlässe Ausdruck kultureller Inhalte, vermittelt sie durch ihr Gestalten Sinn- und Bedeutungs­zusammenhänge. In diesem Selbstverständnis wird das Bauen auch wieder seine Dimension als Kunst zurückgewinnen können; Baukunst als Sinn-Bild einer Kultur.

Baukunst ohne Hoffnung? Neue Welten wollen erträumt sein. Großer Architektur ging immer ein Traum voraus. Keine Baukunst deshalb ohne das Geschenk des Träumens. Träume aber sind Hoffnungen, sind Ziele für ein Bauen mit Zukunft.

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