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12)  Unter dem Zeichen des Phoenix - Kultur als Hoffnung
Der Aufbau der im Krieg zerstörten Münchner Residenz
von Tino Walz 

 

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In einer jahrhundertelangen Geschichte nimmt die Münchener Residenz als Herrschersitz des Hauses Wittelsbach - bis 1623 der Herzöge, bis 1806 der Kurfürsten und bis 1918 der Könige von Bayern - in der Reihe der großen europäischen Fürstenschlösser eine bevorzugte Stellung ein.

Sie ist nicht das Werk und der Ausdruck einer Zeit, einer Lebensform, eines Regierungs- und Sozialsystems, wie Versailles, die barocken Schloßanlagen oder - als letzter Repräsentant - das Schloß Herrenchiemsee Ludwigs II. Vier Jahrhunderte haben diesen Herrschersitz gestaltet, umgestaltet, erweitert und dabei jeweils den politischen, religiösen und sozialen Zustand ihrer Zeit dargestellt. Einheimische und Künstler aus den Niederlanden, aus Savoyen, Graubünden und Frankreich haben ein vielfältiges Bild der Residenz geprägt: Hans Krumper, Peter Candid, Friedrich Süstris, Jacopo Strada, Wilhelm Egkl, Joseph Effner, Frangois Cuvillies und Leo von Klenze.

Die Residenz war der erste Hort aller Wittelsbachischen Kunstsammlungen vom 16. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, die heute den Ruf der Kunststadt München begründen: der Pinakotheken für die Malerei, der Glyptothek, der Vasensammlung für die Antikensammlung und der Staatsbibliothek mit ihren wertvollen Handschriften sowie der unvergleichlichen Schatzkammer.

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Sturz der Monarchie machte der Freistaat Bayern als Nachfolger keinen Gebrauch von der Residenz, sei es aus Respekt oder aus Angst vor der Vergangenheit. Sie war buchstäblich ausgestorben - leblos wie durch einen bösen Zauber erstarrt. Das war gegen ihren Geist.

Es war ein Glücksfall, daß trotz der Um- und Anbauten im Laufe der Jahrhunderte noch alle Stilformen - Renaissance, Barock, Rokoko, Klassizismus - mit wesentlichen zusammenhängenden Raumfolgen einschließlich ihres Inventars bis 1943 erhalten geblieben waren und daß das riesige mobile Kunstgut und Teile der wertvollsten Vertäfelungen, Portale und Öfen im Zweiten Weltkrieg rechtzeitig in auswärtige Depots verlagert wurden.

Hoffnung und Glaube wechseln ihren Wert in der Menschheitsgeschichte. In Zeiten äußerer oder innerer Not sind sie zur Stelle. In den Jahren des Überflusses und geistiger Zufriedenheit verkümmern sie zu allegorischen Figuren, ohne bewegende Kraft.

Als die Münchener Residenz langsam in Trümmer zu sinken begann, fand sich in dem ständig verlegten Notbaubüro ein Kreis von Freunden zusammen, der sich später den Namen »Freunde der Residenz« gab und den aus der Asche wiedererstandenen Vogel Phönix zum Zeichen wählte. Man stellte die bedrückende Frage nach dem »Nachher«, einem Nachher, das sicher nicht »Endsieg«, sondern nur Untergang sein konnte.

Untergang wovon? Untergang von allem? Oder würde doch irgend etwas Beständiges bleiben, etwas Unverlierbares? Etwa ein Wort, eine Gedichtzeile, einige Takte Schubert, Bilder, gebaute Kostbarkeiten, Räume der Erinnerung an sie? In jedem von uns leuchtete eine dieser Welten auf und wurde zum Anker der Hoffnung.

Im April 1944 brannte die Residenz in einem Feuersturm ohnegleichen endgültig aus. Damit war in jeder Beziehung eine andere Ausgangslage in eine ungewissere Zukunft geschaffen. Bisher hatte man mit großem Opfersinn zu retten versucht, mit Abstützungen, immer neuen Notdächern und der Sicherung von wertvollen Teilen. Ohne andere Möglichkeiten zu erwägen, war dieses bestanderhaltende Denken nur auf eine Wiederherstellung gerichtet. Nach diesem Feuerofen war hierfür keine Hoffnung mehr.

Nach der ersten Lähmung keimte eine Erkenntnis und daraus ein neues Erlebnis: Wir hatten ja die Freiheit gewonnen. Nicht mehr Hoffen auf ein Wieder, sondern auf

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etwas Zukünftiges, Lebendiges. Denn bisher war eine Umorientierung nicht möglich gewesen. Bei einem unveränderten Wiederaufbau wäre die Residenz ein großer wohlkonservierter Baukomplex mitten in der Stadt geworden, ohne Aufgabe, ohne Ausstrahlung, ein unbelebtes Überbleibsel einer vergangenen Zeit. Jetzt, auf diesem Tiefpunkt, konnte man auf ihre Wiederbelebung hoffen.

Die Gespräche, das Plänemachen waren aufregend, und das Ziel war zündend. Die geistige Umstellung vollzog sich in einem Tempo, das uns später staunen ließ. Eine Aufgabe war gestellt, unter Umständen, die allerdings noch keiner kannte. Hoffnung wurde zum Glauben. Was war geschehen?

Eine säkulare Veränderung Europas, ja der ganzen Welt ahnend und im deutschen Bereich eines Zusammenbruchs sicher, konnte man sich nur an eine Idee und Aufgabe halten, die im Eigensten lag. Allerdings mußte der Gedanke Ausstrahlung haben, um wirken zu können, vielleicht sogar etwas phantastisch sein.

Deutschlands, ja Europas Grenzen waren ungewiß. Europas politische und wirtschaftliche Bedeutung für ungewisse Zeit überschattet. Welche Werte und Möglichkeiten blieben diesem geschundenen Kontinent und diesem Deutschland, dem das »unconditional surrender« bevorstand?

Wir sagten noch nicht: »Es bleibt die Kultur«, wir fühlten erlebnisnäher und meinten zunächst das Wort und die Musik. Das konnte doch nicht zerstört, konnte uns nicht genommen, nicht verpflanzt werden. Das würde sofort zur Verfügung stehen. Ja, das war Hoffnung und bedeutete Zukunft.

Der genius loci begann zu wirken und zu sprechen. Die Residenz war nicht immer ein Museum ohne Leben gewesen. Sie war vier Jahrhunderte lang fürstliche Residenz, Regierungssitz, geistiger Mittelpunkt für Wissenschaft und Künste eines Landes gewesen; Geburt und Tod, Hochzeit, Fest- und Trauertage waren hier zu Hause. Vieles strahlte einst von hier aus, vieles fand hier Heimat, Entwicklung und Prägung.

So sollte es wieder werden. Ein Wieder im geistigen

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Bereich, nicht ein Wieder nur der materiellen Substanz. Eine zündende, wohl zunächst utopische Vorstellung in diesen Trümmern. Aber der Vogel Phönix nahm Gestalt an.

Nun begannen die Ruinen zu sprechen. Auf manchen Teilen lag schon ein antikischer Glanz der Schwermut. Innenräume, Portale, Kamine, verblassende Wandbilder sah man nun unter offenem Himmel und erlebte sie neu. Säulenkapitelle, einst in entrückter Höhe, konnte man anfassen, nachdenklich auf ihnen ausruhen. Bald grünte es auch um sie. In all dem Schrecken hatten die Ruinen guter Bauten ihre Poesie: der Dom, St. Bonifaz, die Universität, der Marstall, das Odeon. Aber das ist heute kaum mehr nachzufühlen und hört sich an wie Hohn. Wenn Wolkenschatten über die offenen Räume hinzogen, offenbarte sich Größe, ja Schönheit der Vergänglichkeit in der Lautlosigkeit der verlassenen Stadt. Zwiesprache eigener Art war dann möglich. Das Zerstörte wurde ergreifender als das Heile. Phantasie fing an sich zu entfalten; eine neu gesehene, neu bewertete Formen- und Symbolwelt bot sich für künftige Gestaltung an, für erhoffte Wiederbelebung aus dem Zusammenklang von Altem und Neuem, als Anleitung und Maßstab in der Ungewißheit unserer Existenz. Phönix erhob sich aus der Asche.

Eine Schulerinnerung klang noch auf: War nicht die Staatenwelt der alten Griechen, das Reich Alexanders machtpolitisch bedeutungslos geworden? Aber hatten nicht der Geist Griechenlands und seine Kunst das viel größere römische Imperium zu erobern vermocht, ja auch noch dessen Zerfall überlebt? War das vielleicht ein Weg aus der Entmachtung für Europa? Also Kultur als Hoffnung!

Aber noch galt es, die letzten Monate Krieg und Not zu überstehen. Mit Musik und Wort sollte dann der Aufbau beginnen; sie würden die Menschen am ehesten erreichen, ihnen helfen, ihnen Licht bringen. Wir wählten den Grottenhof, den intimsten der Höfe, als erstes »Instrument«. Hier sollte in dem Ruinenfeld sofort nach dem Ende Musik als Lebenszeichen erklingen: ein Stück Voll-

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kommenheit in der Zerstörung. Mit wem, würde sich ergeben. Wir hofften nicht nur, wir wollten glauben.

Wohl hatte nach dem Feuersturm nochmals eine Bombe die edle Renaissance-Fassade, die man mit stützenden Baumstämmen zu erhalten versucht hatte, zum Einsturz gebracht. Trotzdem: mit verschleppten russischen Arbeitern wurde bis zum Winterbeginn 1944/45 der Hof besenrein von allem Schutt befreit und Gras angesät. Es war eine völlige Verrücktheit, für künftige Konzerte vorzu-sorgen angesichts der zusammenbrechenden Fronten in Ost und West, der Berge von Schutt und der allgemeinen Untergangsstimmung. Gott sei Dank fragte niemand, wofür.

Zwei Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner, ehe das Plündern begann, holten wir mit den letzten noch willigen Russen die Bänke als »Konzertbestuhlung« aus dem Luftschutzraum der Residenz in den Grottenhof. Wir waren bereit.

Bald nach der Kapitulation erklang in den Ruinen zum ersten Mal Musik. Alle zweifelnden Fragen, ob denn die geplagte, geprüfte, hungernde, rechtlose Bevölkerung keine anderen Sorgen habe, waren gegenstandslos. Ein dankbar ergriffenes Publikum füllte den Grottenhof an vielen Abenden. Das im letzten Kriegsjahr erkannte Ziel haben wir beim ersten Konzert in der Begrüßungsansprache formuliert, und dieses erhoffte Zukunftsbild blieb Jahrzehnte bestimmend:

»Verehrte Gäste, liebe Freunde der Residenz! Musik im Grottenhof, in den Ruinen. Viele werden sich gewundert haben. Doch sind es nicht allein die Not und der Mangel an Raum, die uns gerade hier spielen lassen. - Mehr soll damit gesagt sein: Wir wollen die schwer getroffenen Denkmäler unserer Kultur nicht aufgeben. Denn diese Kultur sichert uns auch jetzt nach dem Zusammenbruch einen vollgültigen Platz in der Reihe der Völker. So bitten wir diese und die kommenden Veranstaltungen zu werten. Sie sollen die Trümmer, von denen auch heute noch Schönheit und ein starker Zauber ausstrahlen, mit neuem Leben und Klang erfüllen.«

Es bleibt noch nachzuholen, daß - dank der Unterstüt-

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zung der Militärregierung — sofort mit den Aufbauarbeiten begonnen werden konnte. Diese Hilfe war für uns aber nicht nur materiell, sondern auch moralisch eine Stärkung. Wir waren zwar die Hoffenden, doch war es fast rührend, wie die Sieger, Offiziere von »Monuments and Fine Ans«, Mitverstehende, ja Mithoffende wurden. Sie waren ja genauso jung wie wir und freuten sich, wenn es uns gelegentlich gelang, die sich schon wieder installierende Behördenbürokratie zu überlisten.

Zum Zeichen unserer Präsenz wurden zwei sofort aus dem Schutt gezogene Löwen vor dem leidlich erhaltenen Residenzportal auf ihre Postamente gestellt. Die Patrona Bavariae, die Schutzherrin Bayerns, auch sie unter dem Schutt hervorgeholt, stand mit herrscherlich schützender Gebärde am Eingang zu unserem Baubüro. Beide Zeichen wurden verstanden.

So tastete man sich langsam in ein neues Leben hinein, ohne Hoffnung auf eine konkrete Zukunft. Beschlagnahmte Häuser, Reedukation, Zonengrenzen, Entnazifizierung, Demokratisierung, abendliche Ausgangssperre, Care-Pakete, schwarzer Markt bildeten ein unübersichtliches Kräftefeld, das es galt, unter Ausnützung des kleinsten Vorteils lavierend zu durchqueren.

In unseren »vier Wänden« jedoch wußten wir genau, was wir wollten, und handelten nach einem Plan, einer Idee, einem Wunschbild. Bei der amerikanischen Militärregierung brachte das Vorteile, denn Pläne wurden dort geschätzt. Doch nach dem gnädigen, schönen Sommer und Herbst 1945 würde der Winter kommen. Er war grausam und man war schlecht gerüstet. Eine niederdrückende dunkle Weihnacht folgte. Schnee legte sich auf die Ruinen. Eiseskälte drang in alle Behausungen, ließ die Wasserleitungen einfrieren, und die Lebensmittelrationen waren so klein wie noch nie.

Zukunft? Hoffnung? Hoffen nur noch auf das Überlebensnotwendige, über das irgendwo von fernen Instanzen verfügt wurde, zugeteilt von Monat zu Monat.

Als Lichtzeichen stand in jenem Dezember und auch noch in den nächsten Jahren im geöffneten Tor der Residenz ein Weihnachtsbaum in der Dunkelheit. Die Kinder

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wurden in den Grottenhof eingeladen, und es kamen viele. Die dachlosen Mauern standen zwar dunkel und hohläugig, doch unter einem Notdach aus Stangen war eine leuchtende Krippe aufgebaut vor dem Modell des geborstenen Residenzportals. Eindringlicher haben wir nie mehr eine Krippe erlebt in einer Umgebung, die selbst einer Krippe glich: wunderbares Licht in der Finsternis und Verlassenheit; Hoffnung, Glanz und Armut, welch ein Dreiklang! Lieder wurden vorgesungen, dann mitgesungen. Die erst zögernd, dann befreit einsetzenden Kinderstimmen in dieser unwirklichen Umgebung wird niemand vergessen, der dabei war.

Zum Abschluß zog die Kinderprozession hinter dem Lautenspieler durch die schweigenden Residenzhöfe, behütet vom Licht einiger Holzlaternen und angeführt von einem großen leuchtenden Stern. Leise klingelten kleine Glöckchen mit. Etwas Licht, ein wenig Wunderbares. Der Krieg war zu Ende, wenn auch noch lange nicht die Not. Doch ein solches Erlebnis, sei es noch so bescheiden, ist immer auch eine Hoffnung.

Deshalb mußten die Brunnen als sichtbares, hörbares, lebendiges Element sobald als möglich wieder zum Laufen gebracht werden. Im intimen Grottenhof plätscherte als erster der Perseus-Brunnen, und bald danach rauschte auch der figurenreiche Prachtbrunnen inmitten der Ruinen des Brunnenhofes; ein sprechender Gegensatz.

Die Residenz erhob sich langsam aus den Trümmern: ein Trakt an der Residenzstraße mit dem einen erhaltenen Tor; dann das Antiquarium und die anderen Teile um den Brunnenhof; der Kapellenhof mit der Hof kapeile; später ein Flügel am Kaiserhof und das Dach über dem ehemaligen Thronsaal. Jeder gesicherte, aufgebaute Bauteil wurde sofort für öffentliche Veranstaltungen genutzt. Es sollte damit gezeigt werden, daß der Aufbau der Residenz kein schöner Selbstzweck sei. So verstummte bald der Ruf: » ... und eine Residenz, die brauchen wir schon gar nicht!« Scheinbar Unnötiges aufbauend, konnte man Zukunft formen, Hoffnung geben.

Spiel, Musik und Dichtung waren die ständigen Begleiter während des Aufbaues: Eröffnung des Brunnenhof-

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theaters als ersten heilen Raum im Herzen der Residenz mit >Nathan dem Weisen< am ersten Jahrestag der Kapitulation im Mai 1946 — nach nur sieben Monaten Bauzeit. Fünf Jahre diente dieses kleine Theater dem Staatsschauspiel, der Musica Viva und bis zu seinem Abbruch den Veranstaltungen der Freunde der Residenz. Ein Christ-kindlmarkt im Kapellenhof mit Kasperltheater und Schlittenfahrt für die Kinder durch die verschneiten Innenhöfe der Residenz und einem Weihnachtsspiel im Brunnenhoftheater. 1947 im Grottenhof Shakespeares >Der Widerspenstigen Zähmung<. Wieder ein gnädiger Sommer, 15 000 Besucher hatten ihre Freude und konnten herzlich lachen. Wie diese Truppe sich in der Kürze zusammenfand, könnte ich nicht mehr sagen. In den »Katakomben« - erhalten gebliebenen Gewölben - und im Brunnenhoftheater lasen Hans Carossa, Frank Thiess, Werner Bergengruen, Regina Ulimann, Wilhelm Hausenstein - um nur einige zu nennen - aus ihren Werken. Rudolf Bachs Lesung aus dem Faust II war eine Offenbarung. Unter dem schützenden Notdach der Hofkapelle sang in der Adventszeit viele Jahre der Kiem Pauli mit seinen Sängern an der Krippe. Es war fast eine Andacht. In jenen Jahren war es tatsächlich so, wie Marion Dönhoff schreibt: »Dichtung, Musik, bildende Künste erhielten einen neuen Wert für das Überleben, denn sie empfand man als unverlierbar und wesentlich.«

Die Hoffnungen haben sich erfüllt. Nach 40 Jahren ist die Residenz vollständig aufgebaut - äußerlich wieder aufgebaut. Im Inneren ist die Hälfte in zusammengefaßter, überschaubarer Form ebenfalls wieder aufgebaut. Der andere Teil dient jedoch nicht musealen Aufgaben. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Die meisten Residenzen sind heute Museen, gelegentlich genutzt zur Festspielzeit, oder Verwaltungsbauten. Die vielseitige Aktivität auf kultureller Ebene sowie die tägliche Einbeziehung der Residenz in das Leben der Stadt sind einmalig: In diesem einen Komplex haben wir eine Oper, zwei Theater, einen großen Konzertsaal, einen kleinen Saal für Kammermusik, Vorträge und Ausstellungen, das vollkommenste Raum-Museum Europas, die Ägyptische-

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und die Münzsammlung, zwei Akademien und den Sitz der Max Planck-Gesellschaft. Zudem wurde die Residenz wieder Residenz: Alle Staatsempfänge finden hier statt, und viele Staatsoberhäupter - gekrönte und ungekrönte -logierten in der Residenz.

Nirgendwo in Europa ist eine ehemals herzogliche, königliche Residenz mit dieser Anzahl verschiedenartiger kultureller Wirkungsfelder aus Schutt und Asche neu erstanden. Ein Wunschbild, in den Stunden des Untergangs erhofft, ist Wirklichkeit geworden.

Die Wahrheit des viel zitierten Goethe-Wortes »was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen« haben wir eindringlich erfahren und wissen, daß sie auch für die Zukunft der Residenz eine bleibende Forderung ist.

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Heimat, Hoffnung und der Weg ins Freie von Alexander Freiherrn von Branca

Da sprach Jahwe zu Abram: Ziehe hinweg aus Deinem Lande von Deiner Verwandtschaft und aus Deines Vaters Haus in das Land, das ich Dir zeigen werde. Und ich will Dich zu einem großen Volke machen und will Dich segnen und Dir einen großen Namen machen und Du sollst ein Segen sein.

Moses 1.12,1-4

1. Ein Wesen der Hoffnung liegt also doch darin, daß im Aufkündbaren, im Transitorischen und durch dieses hindurch der eigentliche Sinn des Lebens erfahren werden kann - gewissermaßen durch die Dinghaftigkeit der Dinge hindurch (wohl ein antimaterialistisches Bekenntnis). Der Anruf aus der Mitte der Welt, der die Herzen in Bewegung bringt.

Was ist demgegenüber nun die Geborgenheit des Heimatlichen? Hat diese Geborgenheit im Sinne der Menschwerdung des Menschen einen Sinn? Oder ist sie hindernd, eingrenzend, ist Heimat nur die Idylle eines Ausweges gegenüber einer fordernden Wirklichkeit, eine Idylle, die uns hindert, den Anforderungen eines rauhen, technischen, gefährdeten Jahrhunderts zu begegnen, die harte Wirklichkeit zu vergessen, um träumend in eine heile Welt zurückzukehren, die es nie gegeben hat?

Oder ist Heimat nicht doch der Mutterbbden, aus dem jeder an seiner Stelle erwächst, dieser Zusammenklang all der Faktoren, die mich und meine, unsere Umwelt geschaffen und gestaltet haben?

Lassen Sie mich versuchen, aus dem einfachen Erfahrungshorizont meines Lebens zu berichten, eines Menschen, der mit der Dinglichkeit dieser Welt zu tun hat.

Der Blick zurück in die eigene Kindheit - wenn man das Glück hatte, den Beginn des eigenen Lebens als Kindheit erfahren zu dürfen - läßt Bilder aufscheinen: das Bild der Eltern, des Hauses, des Zuhause, der umliegenden

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Berge und der Landschaft, des behütenden Mädchens -das Faktotum für alles - die Kinderträume, dann später die Schule, die Freunde. Es ist das Bild einer vertrauengebenden Geborgenheit, die Aura des Zuhause und Daheimseins, das ungefragte Lebendürfen vor einem weiten unerforschten Horizont, der mehr erahnt als gewußt war.

In dem: das Erwachen eines Herzens, eines Lebens; die Erfahrung des eigenen Ich im Umkreis dieser nahen Welt.

Die Geborgenheit des Zuhause, dieses Sich-behütet-fühlen-Dürfen - umhegt sein von Menschen und Dingen -, das den Mut schafft, eines Tages die Türe zu öffnen und hinauszutreten in ein offenes Land, mutig hinauszutreten, weil es eine Ebene der Geborgenheit gegeben hat, aus der ich erwuchs, die mich trug und trägt, die Ruhe war. Und diese Ruhe gebar Stimmen - und diese Stimmen waren keine Halluzination, sondern die herausrufende Wirklichkeit.

Heimat und Sehnsucht zum Aufbrechen, zum Hinaustreten ins Freie sind in meiner Erfahrung eines.

Dieses Reden der Dinge aus den Dingen und durch sie hindurch war eine Begegnung schaffende Qualität, die das Ich herausrief - eine Begegnung, die ohne das ruhige Feld des heimatlichen Bodens anders verlaufen wäre, gerade weil der Boden der Welt im ganzen schon wankte und erzitterte. So hat in meinen Augen Heimat mit dem Kunstwerk das eine gemein, daß sie sprechend sind aus der Ruhe des Seins heraus, und daß diese Sprache Antwort findet in der Tiefe des Selbst.

Heimat als der Boden, erwachsen aus dem Erbe der Vielen, die ihr Leben an dieser Stelle der Welt, in dieser Landschaft unter diesem Breitengrade verwirklichten, die fragend und antwortend ihren Beitrag gaben und so eine Welt bauten, in die Welt hinein, die Frage und Antwort gleichermaßen war und ist. Diese Welt eines kleinen Bereiches, in dem aber die Ganzheit des Lebens aufscheint.

In einer Welt allerdings, die fortschreitend durch zwei Jahrhunderte ihre Hoffnung mehr und mehr im Vorwärtsdrängen sah und auch noch sieht, in einem Vorwärtsschreiten, einem Fortschritt in so verschiedene

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Richtungen des Gehenkönnens, daß die Ausgangspunkte der Gemeinsamkeit mehr und mehr aus den Augen schwinden und als unerheblich in Vergessenheit geraten. Das Gehen wird somit vielleicht die eigentliche Motivation, ein ortloses, bald zielloses Gehen um des Gehens willen, eine dimensionslose Motorik.

Eine nun nicht mehr ganz neue Welt, die alles hinterfragt, um des Fragens willen und die Antworten vielleicht gar nicht mehr erwartet.

Meine Erfahrung der Kindheit und des werdenden eigenen Ich war eben diese Kontrapunktik einer sich in ihrer Kontinuität aufkündigenden Welt: Einmal dieses Wegwerfen der inneren Identität, um Ismen und Phantomen nachzujagen, die ein neues Ich und Selbstwertgefühl vermitteln und sei es noch so sehr in Massenpsychose eingebunden oder aber dem reinen Ego verhaftet. Dieses ganze Außen, diese glitzernde Vordergründigkeit menschlicher Momentaufnahmen, in dem das Innen erstirbt. Und dem gegenüber das sprechende Erbe einer langen Tradition der Herzen, der Sprache und der Dinge, dieses Kunstwerk gelebter Leben, die ihre Dimension erhielten und immer erhalten werden aus der Tiefe der Eigentlichkeit des Seins - an diesem oder jenem Ort - über und durch alle Zusammenbrüche hindurch.

Aus dem zweiten erwuchs eine Erfahrung der Identität, einer inneren Wirklichkeit, die, in mir neu, als vorgefunden erscheint. Bei aller Relativität menschlicher Erfahrung schafft diese erlebte Identität einen Wahrheitshorizont, der bei allen Schwankungen der Seele - als Horizont der Hoffnung und der Erwartung an das Leben -nicht aus dem Leben schwindet.

Dies gab und gibt in seinem, vielleicht auch mitunter schwankenden Licht Maß und Vertrauen in den Wert des Lebens, das die Ismen relativiert und den Mut zum eigenen Weg im Leben gibt, der dann nicht an jedem Wegkreuz irrlichternde Fragwürdigkeiten projiziert.

Diese Erfahrung des Einschwingens in das Vorgewußte, das im Selbst aufleuchtet, jenseits der reinen Ratio, war für mich richtungweisend, dieses Heimatgefühl einer nicht beweisnotwendigen Zugehörigkeit in ein Ganzes.

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Diese Erfahrung ist fürs Leben ein Constitutivum, es ist bestimmend bei aller Unbestimmtheit der einzelnen Lebensschritte. Es ist die Lebenshoffnung, die auch in jeder Fremde Heimat schafft.

Die Dimension des Handelns liegt damit in dem Wissen begründet, daß mein Tun nicht voraussetzungslos geschieht; ich könnte nicht handeln, ohne daß andere vor mir und mit mir gestaltend wirkten. Ich handle damit nicht zuerst für mich, sondern auf der Suche nach dem Selbst für das Ganze, für den anderen, denn jedes Wort und Tun meines Selbst erhält erst dadurch Sinn, daß es mit der Tiefenerfahrung des Seins verbunden ist. Somit kann ich nicht anders handeln, als wissend ins Ganze gebunden zu sein, darin liegt meine Freiheit. Mein Tun sei Mitteilung, ein Beitrag in dem fortlaufenden Gespräch der Menschen.

Was ist nun diese Mitteilung? Das eine ist sicher: die Möglichkeit des Sichtbarmachens all der Wege, die sich aus dem Ausschreiten ergeben entlang der scheinbaren Unendlichkeit der endlichen Dimension der Welt und des Lebens. Ein Unterfangen, das, wenn es ohne salvatorischen Anspruch geschieht, Teil der Lebensaufgabe des Menschen ist, diese Welt zu erforschen und zu erhalten.

Das andere, die Chance - die hoffnungbringende in meinen Augen -, ist durch den Vordergrund der Dinge hindurchgestoßen, allen Aussagen des Materialismus zum Trotze, um aus der Erfahrung der Jahrhunderte auch heute sichtbar werden zu lassen, daß alles Tiefe, unendliche Tiefe birgt, und daß es daher ein redliches und sinnvolles Bemühen ist, aus dem Vordergrund der Dinge in die Tiefendimension des Seins vorzudringen. So eröffnet sich denn auch im Heute der alte neue Horizont eines ganzheitlichen Seins, das auch dem heutigen Menschen die Hoffnung auf ein menschlicheres tieferes Menschenbild gibt.

Geistige Heimat tut sich auf und geschieht dort, wo Töne, Worte und Dinge zu meinem Wesen sprechen, die es zum Klingen bringen. Diese Töne und Worte und Dinge sind zuerst nicht aus mir, sie sind von anderen gesprochen, die vielleicht lange vor mir waren, die aber in

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mir das Gefühl der Wahrheit erwecken, weil das eben gleiche verborgen und unausgesprochen schon in meiner Tiefe ist und auf Erweckung wartete.

Aus dieser Wahrheitserfahrung erwächst Vertrauen und Hoffnung in dieses das Leben überschreitende Leben, denn das, was in mir antwortet, redet, als ob es schon vor mir existierte.

Sehr gut kann ich mich an einen Lehrer erinnern, der, als er sprach, in mir die innere Antwort weckte: »Was du sagst, ist wahr.« Und dieses unrationale Wissen um Wahrheit ist - bei aller Gebrochenheit des eigenen Seins -ein Bleibendes, dieses Wissen um Ganzheitlichkeit, das Durchschauen auf eine ganze Wirklichkeit, wenn auch in fragender Gebrochenheit und weiter Ferne, ist ein tiefer Quell der Hoffnung. Somit sind Heimat und der Weg ins Freie aus einer Quelle. Es ist kein Zurücklehnen, sondern der Aufbruch ins Leben, um im Neuen die alten Stimmen in neuer Jugendlichkeit zu entdecken. 2. Was heißt das nun ins Praktische übersetzt? Im praktischen Leben arbeite ich als Architekt. Ich habe das Bild einer Welt vor Augen, die, soweit es menschliche Gestalt und Gestaltung betrifft, auf eine lange Ahnenreihe zurückschaut. Ich habe eine Fülle von Bauten im ganzen -als Bau der Städte - oder im einzelnen, als Solitär - als Schloß, als Kirche, als Haus eines Bauern, als Tempel oder Pyramide - vor Augen.

Diese ganze nahe und ferne Welt hat schon ein Gesicht, ist geprägt von Gestalt und Ungestalt, von Aufbauwillen und Zerstörung von Sinnvollem, von Bestehendem und Dahingesunkenem. In einer damals jungen Generation trete auch ich an, meinen Beitrag zu leisten.

Es war eine Welt, die von Zerstörung geprägt war, es war auch eine Welt, in der Traditionen verraten und das Erbe verschleudert waren. Das Alte war abgewertet in unseren Augen auf den ersten Blick. Die Falschmünzer machten es möglich, daß Wert und Unwert kaum noch zu unterscheiden waren. Das Wort »Heimat« war ohne Inhalt, denn sie hatte uns und wir hatten sie verraten. Die neuen Ufer schienen der einzige Ausweg. Das Abgewertete vergessen, um im Neuen wieder Boden zu finden.

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Das Erstaunliche war dann aber für mich, daß an diesem Horizont menschlicher Hoffnung und Erwartung, in all dem Neuen, die alten Bilder zaghaft sich wieder meldeten. Gerade im Gestalten des gewissermaßen voraussetzungslos Neuen, das es ja auch nicht war, und in dem Versuch, so unkompliziert und so schnell wie möglich eine neue, schlüssigere, funktionierende Welt zu schaffen, die funktionierend die Voraussetzung fürs Überleben schaffen sollte, stellten sich die Defizite sichtbar ein.

Was am Anfang ein richtiger Schritt war, um dem Leben überhaupt wieder Raum zu schaffen, wurde im Weitergehen fraglich und fraglicher. Das Sich-Einschnüren des Handelns auf den rein materiellen Nutzen, das am Anfang im wahrsten Sinne »notwendig« war, wurde im Weiterschreiten ein Zeichen geistiger Dürftigkeit, die sich mit vordergründigen Erfüllungshilfen zufriedengab. Die Bildlosigkeit des Tuns wurde immer offensichtlicher und die Frage nach der Menschlichkeit des gebauten Menschenwerkes - auch im Heute - dringender diskutiert.

Es ist bald sichtbar geworden, daß es hier eigentlich nicht um die Frage der Stilrichtung geht, sondern um die Grundbezogenheit des Menschen zum Ganzen des Lebens - was sich dann in seinen Werken spiegelt.

Das Erstaunliche aber ist, daß das Ungenügen, dies als eigentliches Lebensziel zu formulieren, überdeutlich aus dem Menschen hervorbricht.

Das volle Leben in einem vordergründigen Wohlstand ist eine in unserem Bereich weitgehend erfüllte Hoffnung, die aber im Eigentlichsten keine Lebensfülle entsprießen ließ. Die mürrischen Gesichter in unseren Straßen und die zunehmende Brutalität im Lande sind ein kleiner Hinweis. Ist dies nun schnöder Undank, oder fehlt tatsächlich etwas Wesentliches? Es ist sicher beides -das neue Unvermögen zur Freude - und ein verstellter Horizont.

Was ist die Hoffnung nun hier und heute? An der Architektur ist abzulesen, daß die reine vordergründige Erfüllung der materiellen Funktionen Werke entstehen läßt, die dem Menschen zutiefst Unbehagen schaffen, weil ganz offensichtlich in diesen Gestalten eine Aussage auf

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den Menschen hin fehlt, die er unbewußt dringend erwartet. Dies hat etwas mit seinem im Tiefen liegenden Wertgefühl zu tun und dem daraus erwachsenden Erwartungshorizont, anders gesagt: mit seiner Würde.

In dieser Situation, in der die äußere Not gemeistert war, ein großer Teil der Städte aufgebaut, die äußere Freiheit gesichert, blieb ein Rest, die Sinnfrage, die in allem nicht beantwortet schien.

Um im Bereich der Architektur zu bleiben, eine Welt, die sich breit macht mit bildlosen Bildern, die das Erschrecken des Menschen vor sich selbst dokumentieren. In diesem Zustande tauchten nun die Bilder einer verdrängten Vergangenheit wieder auf, die alten Städte, die Dörfer, das Land, eine scheinbar heile Welt, dieses Stück verlorene Heimat. Und die Fragen: Was haben wir falsch gemacht? Haben unsere Hoffnungen uns getrogen?

Im Einholen der Vergangenheit versuchte man eine neue Zukunft, und so hat der Begriff des Heimatlichen eine neue, wenn auch vielleicht sehr vordergründige neue Wertigkeit erfahren. Allerorten wird mit den Versatzstücken der Vergangenheit operiert, und man versucht -wieder im Vordergrund -, das Erscheinungsbild der Welt zu reparieren.

Sicher ist, daß Form auch Inhalt vermittelt, aber sie vermittelt ihn nur dann, wenn diese Form in ihrem Sinne, in ihrem tieferen Sinn verstanden wird. Die Erkenntnis des formalen Defizits ist sicher ein wichtiges Faktum und hat gestalterisch einiges in Gang gebracht, auch auf der Ebene der geistigen Reflexion. Aber es bleibt, daß diese Erkenntnis hinterfragt werden muß, auf das eigentliche Versagen hin.

Das Wesen dessen, was den Wert menschlicher Geborgenheit ausmacht, und dessen, was es ausmacht, das ihn, diesen Menschen, hinausschickt ins Weglose, damit er Wege finde, steht zur Diskussion: Die Frage auch nach dem eigentlichen Wert des Lebens, die Frage nach dem eigentlichen Wert des Kunstwerkes, seiner Botschaft und seiner Würde; die Frage nach unseren Hoffnungen und darin unserer Freiheit.

Diese Fragen, auf die uns die Werke der Väter Antwort geben können in ihrer Zeit, wenn wir sie nicht nur von der Oberfläche her bewerten. Die Frage nach unseren Hoffnungen, nach den Erwartungen unseres Lebens sind neu zur Diskussion gestellt. Die Früchte unseres Handelns verurteilen uns oder sprechen uns frei.

Es ist also nicht nur die Frage nach der Hoffnung allein — an sich - gestellt - haben wir noch Hoffnungen, dürfen wir sie haben? -, sondern welche Hoffnungen wir im Herzen tragen.

Es ist damit die Frage gestellt nach unserem Menschenbild und, daraus hervorgehend, nach der Dringlichkeit unserer Hoffnung und zu welchen Horizonten wir willens sind aufzubrechen. Ob wir bereit sind, uns auf den Weg zu machen, in ein offeneres, lebenswerteres Leben, aus der Mitte unserer Existenz heraus, hinein in eine größere Freiheit, den Vordergrund des Lebens als Schemel und die Offenheit des Horizontes vor Augen.

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  Hoffnung für die Natur?  

   Wohlstand für zehn Milliarden Menschen - ein ökologisches Problem 

von Hans Wolfgang Levi - Kernchemiker - wikipedia  Hans_Wolfgang_Levi  1924-2017 Hans Wolfgang Levi wurde am 28. August 1924 in Berlin geboren. Er studierte an der Technischen Hochschule Berlin und war ab 1973 wissenschaftlich-technischer Geschäftsführer des Hahn-Meitner-Instituts.[1] Von 1976 bis 1981 war er Vorsitzender der Kerntechnischen Gesellschaft und wurde 1988 zu deren Ehrenmitglied ernannt.[2] Er leitete von 1981 bis 1990 das GSF-Forschungszentrum und prägte dessen Entwicklung und die Ausrichtung des Zentrums auf die Gesundheitsforschung.[3] 1990 wurde er mit dem Verdienstkreuz 1. Klasse des Bundesverdienstkreuzes geehrt. Levi starb am 9. März 2017 im Alter von 92 Jahren.

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Zukunft und Hoffnung ist die Gedankenverbindung, die diesem Buch zugrunde liegt. Sie lädt eigentlich eher zu philosophischen als zu natur­wissen­schaftlichen Betrachtungen ein. Ob Menschen Vertrauen in die Zukunft haben, hängt ja doch weniger von deren objektiven Perspektiven ab, die sich vielleicht mit den Methoden der Naturwissenschaften analysieren lassen, als vielmehr von der Befindlichkeit der Menschen. Martin Luthers Wort vom Apfelbäumchen, das er heute pflanzen würde, wenn er auch wüßte, daß morgen die Welt untergeht, ist Ausdruck solcher Divergenz zwischen subjektiver Zukunftsperzeption und objektiver Zukunftsprognose.

Dies vorausgeschickt, wollen wir uns unserer eigentlichen Frage zuwenden: Wie steht es um die Natur? Gibt es Hoffnung für die Natur?

Wer so fragt, meint sicher nicht, daß die schiere Existenz der Natur gefährdet sein könnte. So vermessen wird kaum jemand sein, dem Menschen ernstlich zuzutrauen, er könne die Existenz der Natur in Frage stellen. Gemeint ist vielmehr etwas sehr Anthropozentrisches, deshalb aber nicht weniger Legitimes, nämlich ob wir hoffen können, die Natur in dem Zustand zu erhalten, in dem sie heute ist, in einem Zustand also, der sich zumindest in unseren Breiten als eine für das menschliche Leben überaus geeignete Umwelt erwiesen hat.

Die Bewohner nicht so begünstigter Zonen der Erde werden wohl die Natur, die sie als Umwelt erleben, für weniger konservierungswürdig halten. Man darf auch nicht übersehen, daß die Natur auch bei uns nicht immer so wirtlich war, wie sie es heute ist, und daß der Mensch viel dazu beigetragen hat, daß sie es wurde. Israel ist ein Beispiel aus heutiger Zeit, wo Menschen aus lebensfeindlicher Wüste Land machen, in dem sie eine Heimstatt finden können.

Wenn auch viele der Veränderungen, die der Mensch zu verantworten hat, nicht nur zum Guten, manche sogar überwiegend zum Schlechten ausgeschlagen sind, so ist doch festzustellen, daß die Veränderung der Natur durch den Menschen keineswegs a priori schlechter ist als der Erhalt des Status quo.

Über viele Jahrhunderttausende lebte der Mensch ziemlich unauffällig auf der Erde. Seine Zahl war klein, und er konnte von dem existieren, was die Natur ihm bot und was er mit zunehmender Effektivität zu gewinnen und zu nutzen verstand. In der Jungsteinzeit (Neolithikum), die vor etwa 8000 Jahren begann, wurde aus dem Jäger und Sammler ein Landwirt. Damit vollzog sich eine Entwicklung, gelegentlich als Neolithische Revolution bezeichnet, mit gewaltigen ökologischen Auswirkungen. Zum ersten Mal griff ein vernunftbegabtes Wesen gestaltend in die Natur ein, veränderte Landschaften, beeinflußte die Entwicklung von Arten und begann so - auf Kosten des Status quo der Natur-, seine Lebensgrundlage zu verbessern und damit die Voraussetzungen für ein starkes Anwachsen der Erdbevölkerung zu schaffen.

Eine zweite Entwicklungswende, die schließlich in die Industrielle Revolution einmündete, vollzog sich, als der Mensch die Technik in seinen Dienst stellte. Auch damit war ein fundamentaler ökologischer Eingriff verbunden. Zusätzlich zu den Kreisläufen der Natur wurden mit Hilfe der Technik Stoffströme in Bewegung gesetzt, um sie für die weitere Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen nutzbar zu machen. Ein ganz eklatantes Beispiel ist die heute kaum noch überschaubare Vielfalt organischer Chemikalien. Ihre Hauptquellen sind das Erdöl und die Kohle, die aus Lagerstätten stammen, die tief unter der Erde, also außerhalb der Biosphäre, liegen und in den Anlagen der Industrie in Produkte umgewandelt werden, die dem Menschen nützen und die schließlich in der Biosphäre - beispielsweise in Form von Agrar-chemikalien auf landwirtschaftlichen Nutzflächen oder als Haushaltschemikalien auf Mülldeponien - enden.

Andere Beispiele sind die Kohle-, Erdöl- und Erdgasströme, die ebenfalls aus der Erde kommen und als Energie-

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rohstoffe verwendet werden und deren Endprodukt, das Kohlendioxid (CO2), an die Atmosphäre abgegeben wird. Die mannigfaltigen Schwermetalle, die oft tief unter der Erde bergmännisch gewonnen und dann in der Biosphäre genutzt werden, sind ein drittes Beispiel. Das ökologisch Entscheidende an solchen anthropogenen Stoffströmen ist, daß ihre Quellen in aller Regel außerhalb der Biosphäre liegen, während die Senken, in denen sie enden, Teil unserer Umwelt sind.

Eine dritte und sicherlich die folgenreichste ökologische Revolution, nämlich die gegenwärtige Bevölkerungsexplosion, geht auf die gewaltigen Fortschritte der Medizin zurück. Am Beginn des Neolithikums lag die Zahl der Menschen höchstens in der Größenordnung von 10 Millionen. Für die Zeit um Christi Geburt schätzt man sie auf 200 bis 300 und um 1650 auf etwa 500 Millionen. Diese Zunahme entspricht Verdopplungszeiten von 1000 bis 2000 Jahren. Die nächste Verdopplung und damit die erste Milliarde war 1850, also in 200 Jahren erreicht. In weiteren 80 Jahren waren es 2 Milliarden, und dann dauerte es nur noch 45 Jahre, nämlich bis 1975, um 4 Milliarden zu erreichen. 1988 werden es 5 Milliarden sein.

Das Wachstum der Weltbevölkerung, das seit dem 19. Jahrhundert im wesentlichen auf die Zunahme der Lebenserwartung zurückgeht, hatte seinen Schwerpunkt zunächst in den Industriestaaten, seit Ende des Zweiten Weltkrieges aber ganz überwiegend in den Entwicklungsländern. Die Zahlen zeigen, daß die Weltbevölkerung nicht nur ständig gewachsen ist, sondern daß auch die Geschwindigkeit, mit der sie gewachsen ist, ständig zugenommen hat. Eine Umkehr dieses Trends deutet sich seit der Mitte der siebziger Jahre an, und nach einer jüngst veröffentlichten Schätzung der UNO könnte die Weltbevölkerung im Jahre 2100 die 10 Milliarden erreichen. Das wäre immerhin, bezogen auf 1988, eine Verdopplungszeit, die bereits wieder bei über 100 Jahren liegt. Viele Erwartungen gehen aber sogar dahin, daß die Zahl der Menschen sich zwischen 8 und 12 Milliarden stabilisieren wird.

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Das explosive Bevölkerungswachstum der letzten Jahrzehnte hat uns mit Problemen konfrontiert, deren sich die meisten von uns wahrscheinlich noch gar nicht voll bewußt sind.

Hoffnung für die Natur kann es überhaupt nur geben, wenn sich die Erwartung einer Bevölkerungsstabilisierung erfüllt. Wir stehen damit vor dem Paradoxon, daß diejenige Konsequenz des zivilisatorischen Fortschritts, die wie keine andere durch allgemein akzeptierte ethische Normen gerechtfertigt ist und über die es einen entsprechend breiten Konsens gibt, gleichzeitig die ist, die zu dem wirklich fundamentalen ökologischen Problem unserer Zeit geführt hat: Es geht darum, so vielen Menschen auf einer sehr begrenzten Erde nicht nur eine Überlebens-, sondern eine echte Lebenschance zu verschaffen. Gelingt dies nicht, werden politisch-soziale Spannungen die Erde unwirtlich machen. Kann es aber gelingen, ohne daß die Überbeanspruchung der natürlichen Lebensgrundlagen letztlich zum gleichen Ergebnis führt?

Von der ökologischen Dimension dieses Problems können wir uns ein Bild machen. Seit Ende des Krieges findet in den Industriegesellschaften bereits eine Entwicklung statt, deren Tendenz die allgemeine Teilhabe an ständig wachsendem Wohlstand ist, und die ökologischen Folgen dieser Entwicklung sind es ja gerade, die uns heute zu der Frage veranlassen, ob es Hoffnung für die Natur gibt. Ein paar Zahlen mögen eine Vorstellung von dem globalen Nachholbedarf an Wohlstand vermitteln: 1975 lag das Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt in dem Teil der Welt, in dem 2100 mindestens zwei Drittel der Weltbevölkerung leben werden, im Durchschnitt unter 3 50 Dollar pro Jahr, gegenüber rund 7000 Dollar in Nordamerika und rund 4250 Dollar in Westeuropa und einigen anderen Industrieländern. Das gleiche Bild findet man beim ProKopf-Energieverbrauch, der in Afrika und Südostasien nur 2 Prozent und in China 5 Prozent dessen beträgt, was der durchschnittliche US-Bürger verbraucht.

Selbst wenn man realistischerweise unterstellt, daß der Wohlstand, den man für die Dritte Welt anstreben kann, deutlich unter dem der heutigen Industrieländer bleiben muß, ist doch das integrale Wachstumsvolumen, das global in den nächsten 100 Jahren gebraucht wird, um ein Vielfaches größer als das der letzten 40 Jahre in Westeuropa.

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Die Grundelemente materiellen Wohlstandes sind Nahrung, Energie und Rohstoffe. Keines davon ist zu haben, ohne mit Veränderungen der Natur dafür zu zahlen. Dabei ist die Natur drei grundlegenden Bedrohungen ausgesetzt:

Die Vielfalt der Arten, die die Erde bevölkern, ist das Ergebnis einer Jahrmilliarden dauernden Evolution und im Grunde das, was die Natur ausmacht. Ihre Erhaltung ist daher eine fundamentale Sorge des Naturschutzes. Um einen Begriff von der Größenordnung der Bedrohung zu geben: Weltweit sind etwa 10 Prozent der Pflanzenarten gefährdet, das heißt sie werden in der »Roten Liste« geführt. In Industriestaaten liegt dieser Anteil natürlich höher. In der Bundesrepublik führt die »Rote Liste« zum Beispiel über 600 von 2350 Farn- und Blütenpflanzen als gefährdet an, d.h. etwa 25 Prozent. Als Beispiele aus der Tierwelt sind bei uns von 486 Wirbeltierarten 216, das heißt fast 45 Prozent und von 1420 Schmetterlingsarten 475, also etwa 33 Prozent gefährdet.

Diese Zahlen sind sicher nicht ganz so alarmierend wie sie klingen, denn bei weitem nicht alle heute gefährdeten Arten wird man in 50 Jahren als verschollen registrieren müssen. Außerdem wäre es natürlich unvernünftig, gerade die Festschreibung des heute existierenden Artenbestandes zu einer Forderung des Naturschutzes zu machen, wie ja überhaupt der Erhalt des gegenwärtigen Zustandes nicht der dominierende Maßstab sein kann, an dem sich vernünftiger Umgang mit der Natur beweisen muß.

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Es bleibt aber festzustellen, daß an unserer heutigen Situation zumindest eines neu und beunruhigend ist: Veränderungen, die wir heute beobachten und die der Mensch auslöst, vollziehen sich viel schneller als »natürliche« Veränderungen.

Der Mensch als erstes Produkt der Evolution, das mit Vernunft ausgestattet ist, hat die Verpflichtung, der Natur Pflege angedeihen zu lassen, und zwar auch da, wo es, wie beim Erhalt der Artenvielfalt, nicht unmittelbar um die Abwendung von Gefahren für seine eigenen Lebensbedingungen geht. Diese Verpflichtung ist im Bewußtsein des Wohlstandsbürgers der Industriestaaten heute aber schon ziemlich fest verwurzelt. Wer an der Zukunft verzweifeln zu müssen glaubt, weil er keine Hoffnung für die Natur sieht, möge sich einmal klarmachen, welch eine Wendung es ist, daß der Mensch zumindest im Grundsatz bereit ist, Verzichte zu üben um des Reichtums der Natur willen, und in wie kurzer Zeit diese Wendung vollzogen wurde. Die Bereitschaft zum Verzichten setzt allerdings Wohlstand voraus, und die Bewohner der Dritten Welt haben wenig, worauf sie verzichten könnten. Es ist daher nur zu verständlich und ein ganzes Stück weit auch legitim, daß der materielle Nachholbedarf hier die Priorität hat.

Die Bedrohung durch die Anhäufung von Fremdstoffen in unserer Umwelt ist von ganz anderer und die menschlichen Lebensbedingungen viel unmittelbarer betreffenden Art. Damit korrespondiert die Fülle der Berichte über eingetretene oder zu erwartende »Katastrophen«, die beinahe täglich auf uns einstürmen. In der Tat enthalten Luft, Wasser und Boden zunehmend Fremdstoffe, die von industriellen Ableitungen, chemischen Hilfsmitteln der Landwirtschaft, aber auch vielen Chemikalien des täglichen Lebens herrühren und die der Mensch beim Atmen, Trinken und Essen aufnimmt. Auch Ökosysteme, auf deren Nutzung der Mensch angewiesen ist oder an deren Nutzung er sich zumindest gewöhnt hat, sind der Einwirkung solcher Fremdstoffe ausgesetzt.

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Zwischen neuartigen Waldschäden, solchen also, bei denen sich kein bekanntes Ursachen/Wirkungsmuster wiederfindet, und Fremdstoffen in der Luft wird ein Zusammenhang für wahrscheinlich gehalten. Seen und Flüsse sind durch Fremdstoffe, die mit Abwässern eingeleitet werden, aus dem biologischen Gleichgewicht geraten. Die Zahl der Chemikalien, die heute produziert werden, nähert sich der Größenordnung von 100.000. Die global erzeugte Menge organischer Chemikalien betrug 1950 noch 7 Millionen Tonnen, während sie heute bereits bei 250 Millionen Tonnen liegt.

Objektiv betrachtet stehen wir derzeit zwar weder vor dem Zusammenbruch unserer natürlichen Lebensgrundlagen, noch gibt es bisher wissenschaftlich belegte Anzeichen für eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung. Die industrielle Produktion und der private Verbrauch haben aber in den letzten Jahrzehnten in einem solchen Maße zugenommen, daß die Stoffströme, die der Mensch heute in Bewegung setzt, nicht mehr vernachlässigbar sind gegenüber den natürlichen, wie das in den frühindustriellen Jahrhunderten der Fall war. Damals war die Kapazität der natürlichen Ökosysteme für anthropogene Abfallströme, verglichen mit dem, was sie tatsächlich aufzunehmen hatten, praktisch unendlich groß. Wir sind heute im Begriff, gerade hier an Grenzen zu stoßen, von denen noch vor wenigen Jahrzehnten niemand etwas ahnte. Die Sorge um die Erschöpfung der Quellen beschäftigt die Menschen schon ziemlich lange, noch vor 20 Jahren wäre aber niemand auf den Gedanken gekommen, daß es die Erschöpfung der Senken sein könnte, die der Expansion eine viel frühere Grenze setzt.

Dieses Problem ist in den Industrieländern, vor allem aber in der Bundesrepublik, erkannt. Das wird nicht nur durch entsprechende gesetzgeberische Aktivitäten deutlich, sondern auch durch beachtliche Anstrengungen der Industrie, ihre Emissionen zu vermindern, und vor allem durch tatsächliche und sehr substantielle Verbesserungen der Umweltqualität, die gerade in unserem Land zu verzeichnen sind.

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Auch hier klafft natürlich wieder die Schere zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern. Quantitativ ist es für die globale Zukunft nur von begrenzter Bedeutung, daß in unserem und in einigen anderen Ländern der Höhepunkt der Emission von Fremdstoffen in die Biosphäre offenbar überschritten ist. In den Teilen der Welt, in denen im nächsten Jahrhundert die große Expansion stattfinden wird und stattfinden muß, ist die Werteskala noch eine ganz andere. Wer gerade erst der Gefahr entronnen ist, einer Hungersnot zum Opfer zu fallen, und dabei ist, sich einen minimalen Wohlstand aufzubauen, schert sich nicht viel darum, wieviel S02 er einatmet und ob durch radioaktive Emissionen seine Strahlenbelastung gegenüber der natürlichen um 10 oder 20 Prozent erhöht wird. So verschieden sind die Sorgen der Menschen und so verschieden dementsprechend ihre Prioritäten.

Auch die dritte Bedrohung der Natur, von der hier die Rede sein soll, die Bedrohung durch anthropogene Klimaveränderungen, hängt mit den Stoffströmen zusammen, die der Mensch sich zunutze macht. Das Problem besteht darin, daß gewisse Spurengase in der Atmosphäre den sogenannten Treibhauseffekt verursachen, das heißt daß eine mit diesen Gasen angereicherte Atmosphäre, ähnlich wie die Glaswände eines Treibhauses, zwar die relativ kurzwellige Lichtstrahlung herein-, aber die längerwellige Wärmestrahlung nicht wieder hinausläßt. Auf diese Weise kann das Energiegleichgewicht der Erde gestört werden, und es kann zu einer im Treibhaus erwünschten, auf der Erde aber unerwünschten Erwärmung kommen.

Das wichtigste, aber nicht das einzige Gas aus anthro-pogenen Stoffströmen, das diesen Effekt hervorruft, ist das Kohlendioxid (CO2), das bei der Verbrennung aller fossilen Energieträger (Kohle, Erdöl, Erdgas) entsteht. CO2 ist allerdings in der Erdatmosphäre kein Fremdstoff, andern es geht hier um die Konzentration. Vorindu-triell betrug diese 0,027 Prozent; sie ist bis heute auf 1,035 Prozent angestiegen. Selbst wenn die Freisetzung 3n CO2 ab sofort konstant bliebe und nicht, wie es tatsächlich der Fall ist, weiter zunähme, könnte die Konzentration innerhalb von 50 bis 100 Jahren auf 0,04 bis 0,0 j Prozent steigen.

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Viele Studien, beispielsweise die der National Academy of Science in den USA und die der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, kommen zu dem Ergebnis, daß unter diesen Umständen schon innerhalb von 100 Jahren eine Erhöhung der mittleren Temperaturen auf der Erde um mehrere Grade möglich ist. Als Folge könnten eine Ausweitung der äquatornahen Trockengebiete nach Norden, in Europa bis in den Mittelmeerraum, und wegen des Abschmelzens von Festlandeis ein erheblicher Anstieg der Meeresspiegel und damit der Verlust von bewohnten Gebieten eintreten. Solche Warnungen werden gekoppelt mit Appellen, die Produktion der Treibhausgase, insbesondere natürlich des CO2, sofort zu reduzieren.

So ernst diese Befürchtungen zu nehmen sind, so unrealistisch ist wohl die Erwartung, Appelle dieser Art könnten Erfolg haben. Es ist völlig undenkbar, daß Entwicklungsländer - etwa China mit seinen riesigen Kohlevorkommen - eine Beschränkung ihrer CO2-Produktion auch nur erwägen. Dies zu hoffen, ist um so utopischer, als es auch nach Meinung der Physiker in absehbarer Zeit kaum möglich sein wird, schlüssig nachzuweisen, wann und um wie viele Grade die Mitteltemperatur der Erde steigen und welche Folgen das für die Bewohnbarkeit der Erde haben wird. Weiter kompliziert wird das Problem dadurch, daß die Erwärmung in verschiedenen Regionen der Erde verschieden verlaufen wird und die Folgen keineswegs überall überwiegend negativ sein müssen.

   Hoffnung für die Natur? 

Oder werden unsere Urenkel in der Unwirtlichkeit und Dürftigkeit einer an Arten verarmten und mit Fremdstoffen vergifteten Welt leben müssen, in der überdies heute blühende Naturlandschaften durch Klimaveränderungen zu Dürregebieten geworden sind?

Das ist natürlich eine rhetorische Frage, und niemand wird erwarten, daß sie mit ja oder nein beantwortet wird. Eins ist aber sicher: 10 Milliarden Menschen lassen sich nicht unauffällig auf der Erde unterbringen.

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Ihre Existenz muß die Natur nachhaltig verändern, und zwar um so nachhaltiger, je stärker sie ihren Anspruch auf Humanisierung ihrer Lebensbedingungen geltend machen. Erhalt der Natur und Schaffung der materiellen Voraussetzungen für ein Leben unter humanen Bedingungen sind gleichwertige und gleichberechtigte Ziele. Eines macht ohne das andere keinen Sinn. Wir haben es also mit einem Optimierungsproblem zu tun: So viel Wohlstand wie nötig und so wenig Umweltbelastung wie möglich. Optimieren heißt aber abwägen, und abwägen ist eine Fähigkeit, die Nüchternheit verlangt. Sie gerät in Gefahr, zu kurz zu kommen, wenn Angst zur Tugend wird und Weltanschauung das Verhältnis zur Natur bestimmt. In unserem Land ist es um die Bereitschaft abzuwägen derzeit nicht gut bestellt. Die wichtigsten Werkzeugarsenale für diesen Optimie-ingsprozeß sind Wissenschaft und Technik. Er wird im-er wieder einmal auch auf falsche Wege führen, und 'ann wird die Hilfe von Wissenschaft und Technik geraucht, um diese falschen Wege zu korrigieren. Das mag nerfreulich sein, aber einfacher ist das Problem nun einmal nicht, und es wäre falsch, die Werkzeuge dafür verantwortlich zu machen und sie zu verwerfen. Es sind in erster Linie die industrialisierten Länder, die heute über diese Werkzeuge verfügen, mit deren Hilfe sie sich ja ihren Wohlstand geschaffen haben. Wenn man gerade in solchen Ländern ihrer jetzt überdrüssig würde, wäre es jedenfalls um die Zukunft der Erde schlecht bestellt.

Um was geht es? Es geht beispielsweise darum, im Jahre 2100 eine Erdbevölkerung von 10 Milliarden angemessen mit Energie zu versorgen und das mit geringstmöglicher Schädigung der Umwelt. Dies ist auch zu bedenken, wenn in unserem Lande wieder einmal um eine Entscheidung für oder gegen die Kernenergie gerungen wird. Vielleicht spricht wirklich vieles dafür, eine Energiever-rgung der Bundesrepublik ohne Kernenergie vorzuzie-en. Sicherlich könnten wir dabei sogar einen gewissen irtschaftlichen Nachteil in Kauf nehmen, wenn sonst e Vorteile eindeutig sind.

Hat aber jemand gefragt, ob im Jahre 2100 ohne Kernenergie eine Chance geben

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wird, 10 Milliarden Menschen mit Energie zu versorgen? Vielleicht ist das möglich. Solange es aber nicht erhärtet ist, ja nicht einmal als Frage in der Diskussion eine Rolle gespielt hat, müßte eines der reichsten und technisch avanciertesten Länder der Erde zögern, einen solchen Schritt zu tun.

Es geht auch darum, 10 Milliarden Menschen, von denen der größere Teil heute am Rande des Hungers lebt, angemessen zu ernähren. Moderne Techniken der genetischen Veränderung von Nutzpflanzen und -tieren könnten ein Schlüssel dazu sein. Große Teile der Öffentlichkeit stehen der Gentechnik mit engagierter Ablehnung gegenüber. Vielleicht ist es wirklich zu riskant, genetisch veränderte Organismen in die Natur einzuschleusen. Dieses Risiko und die Möglichkeiten, es zu minimieren, müssen aber sehr sorgfältig abgewogen werden gegen das Potential dieser Technik, zur Lösung der Ernährungsprobleme in der Welt beizutragen. Vielleicht kann sogar gerade sie helfen, diese Probleme mit geringerem Schaden für die Umwelt zu lösen, als die konventionellen landwirtschaftlichen Techniken das können.

Es geht schließlich darum, den Rohstoffhunger von 10 Milliarden Menschen zu stillen, die zum größeren Teil an den Annehmlichkeiten einer rohstoffintensiven technischen Zivilisation bisher noch keinen Anteil haben. Der Umfang der anthropogenen Stoffströme und der Energieverbrauch werden also weiter zunehmen müssen, ob wir das wollen oder nicht. Diese Entwicklung in Grenzen zu halten, ist ein wichtiges Ziel. Sparen kann aber allenfalls für die wenigen hochprivilegierten Länder, zu denen die Bundesrepublik zählt, die hohe Priorität haben, die man ihm heute oft einräumen will. Sparen kann nur, wer hat, und es sind zu wenige, die haben, als daß das Sparen die Hauptquelle des Wohlstandes für die vielen Unterprivilegierten sein könnte.

Ein ebenso wichtiges Ziel ist es daher, neue technische Lösungen zu finden, die es erlauben, auch weiter wachsende Stoffströme so zu nützen, daß sie die Biosphäre weniger belasten. Dazu ist es notwendig, diese Stoffströme zu schließen und damit im Prinzip das Entstehen von

Abfällen zu vermeiden. Dies ist eine der größten und dringlichsten technischen Herausforderungen der Zukunft. Daneben ist allerdings eine zuverlässige Kenntnis des Auftretens von Fremdstoffen in der Umwelt sowie das Verständnis ihres Verhaltens und ihrer biologischen Wirkungen eine ähnlich fundamentale Notwendigkeit. Auch dies sind Grundlagen für unumgängliche Abwägungen, denn es wäre eine Utopie, eine Umwelt, in der 10 Milliarden Menschen leben, von den Produkten der Chemie wirklich freihalten zu wollen.

Ob es Hoffnung für die Natur gibt, wird letztlich davon abhängen, ob es der Technik und denen, die sie vorantreiben, gelingt, das Vertrauen der Menschen wiederzugewinnen. Der industrialisierte Teil der Welt kann es sich jedenfalls nicht leisten, sich in eine privilegierte Idylle zurückzuziehen und es in Kauf zu nehmen, daß der Rest der Welt entweder weiter in Armut lebt und damit einer sozialen Explosion entgegensteuert, oder daß er sich seinen Anteil an materiellem Wohlstand mit unzureichenden Mitteln und dann ohne Rücksicht auf die Natur erobert.

Nur hochentwickelte Technik in vernünftiger Anwendung kann bei der gefährlichen Gratwanderung zwischen Sorge für die Natur und Wohlstand für 10 Milliarden Menschen der Wegweiser sein.

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