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15)  Gedanken zum technischen Fortschritt

von Edgar Lüscher  1987

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  Vorbemerkung 

Voraussetzung für jedes Geschehen, jede Veränderung in der Natur ist die Existenz eines Gefälles - oder auch eines Gradienten. Ein Wärmefluß setzt einen Temperaturunterschied voraus. Wetterbestimmende Luft­massen­bewegungen finden von einem Hochdruckgebiet zu einem Tief statt, setzen also einen Druckgradienten voraus. In normalen elektrischen Leitern, zum Beispiel in Kupferkabeln, fließt nur ein elektrischer Strom, wenn ein Spannungs­unterschied zwischen den Kontaktstellen besteht. Während der Entwicklung des Gehirns scheint die Wachstumsrichtung von Axonen durch bestimmte Gradienten längs der Gehirnhauptachsen oder des Rücken­marks bestimmt zu sein.

Heinz Friedrich formulierte: »Streben, Tätigkeit, Bewegung - das sind Merkmale des Lebens - und die Hoffnung ist das Agens, das sie antreibt.« In unserer technischen Sprache könnte man dies auch folgendermaßen ausdrücken: »Hoffnung ist der wichtigste Gradient menschlichen Lebens.« Wahrscheinlich ist es gerade diese Größe, die den Menschen vom Tier unterscheidet, wenn wir annehmen, daß Hoffnung einen sehr hohen Komplexitäts­grad des neuronalen Systems zur Voraussetzung hat.

Im folgenden sollen einige wenige Errungenschaften des menschlichen Geistes auf dem Gebiet der Technik in Relation zu menschlichen Erwartungen, Hoffnungen gesetzt werden.

   Beispiele aus der Technik  

Auf der Gedenktafel in der Westminster Abbey für James Watt (1736-1819), der die Dampfmaschine zu einer brauchbaren Maschine entwickelt hat, steht geschrieben: »Dem Wohltäter der Menschheit«. Endlich wurde ein Gerät entwickelt, das für viele Betroffene damals zu der berechtigten Hoffnung Anlaß gab, beim Transport der gehauenen Kohle in den Stollen die armseligen Grubenpferde oder gar die Kinder durch eine Maschine ersetzen zu können.

Die Dampfmaschine als Antriebsquelle, zunächst für Spinn- und Webmaschinen, war auch das wesentliche Element zur Einleitung der industriellen Fertigung von Verbrauchsgütern. Dies markierte den Beginn des Maschinen­zeitalters.

Die hoffnungsvollen Entwicklungen in der englischen Textilindustrie wurden für einige kontinentale Staaten (Frankreich, deutsche Fürstentümer, Schweiz usw.) zur Katastrophe, weil dort die Textilherstellung und -verarbeitung noch in Handarbeit und zum großen Teil in Heimarbeit erfolgte.

Ganze Talschaften wanderten nach Übersee aus, um sich dort eine neue Grundlage zum Überleben zu erarbeiten. Dieses Beispiel aus der Frühzeit des sogenannten Industriezeitalters zeigt bereits die Januskopf-Natur von modernen Entwicklungen, wahrscheinlich von allen Entwicklungen.

Der 450. Todestag des bedeutendsten Vertreters des europäischen Humanismus, des Erasmus von Rotterdam, mag uns daran erinnern, daß er selbst den Humanismus jener Epoche als Januskopf empfunden hat. Er hat diesen römischen Gott mit den zwei Gesichtern, dem einen, das vorwärts, und dem anderen, das rückwärts blickt, als Symbol für sein Wirken angesehen. In seinem Grab im Basler Münster fand man bei seinem Gebein ein Medaillon mit dem Januskopf. Die Ambivalenz von Neuerungen ist also keinesfalls nur eine Erscheinung der jüngsten Zeit. Als neu empfinden wir lediglich das Tempo der Geschichte.

Das mittlere Reich der Pharaonen erstreckte sich über etwa 3000 Jahre, die Shang-Dynastie in China über 500, die Herrschaft der Romanows in Rußland über 300 und die Schreckensherrschaft Hitlers über zwölf Jahre. Von der Entdeckung der elektromagnetischen Wellen durch J. Maxwell und H. Hertz bis zum Radiogerät verstrich fast ein halbes Jahrhundert.

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Das Zeitintervall zwischen der Entdeckung des Transistoreffekts durch Bardeen, Shockley und Brattain und dem serienmäßigen Bau von Transistoren betrug zehn Jahre. Die mittlere Lebensdauer einer Generation von integrierten Schaltkreisen (chips) liegt bei weniger als zwei Jahren. Mit der Verkürzung der Zeitintervalle geht eine Zunahme der Komplexität und der Herstellungskosten der Produkte parallel. Die Entwicklung und der Aufbau einer Produktionslinie für den heute bereits veralteten 1 Megabit-Speicherchip - d.h. auf einem 1 cm2 großen Chip sind eine Million Transistorfunktionen möglich - kosteten mehrere Milliarden DM. In Europa gibt es nur noch zwei Elektrofirmen, die sich den Bau solcher Anlagen leisten können; auch weltweit sind es nur wenige. Mit der Zunahme der Integrationsdichte je Chip sanken die Kosten je Transistorfunktion, die heute bei weniger als einem Hundertstel Pfennig liegen; vor zehn Jahren waren sie um mehr als den Faktor 10 höher.

Was die Mikroelektronik uns bis heute gebracht hat, erweckt größte Bewunderung. Moderne Taschenrechner sind an Kapazität und Geschwindigkeit einem Rechner der ersten Generation, der einen Raum von der Größe einer Turnhalle erforderte, überlegen. Stereogeräte, Heimcomputer, Compact Disc, elektronische Kameras usw. finden sich im Angebot eines jeden Warenhauses. Ohne elektronische Datenverarbeitung kommen auch mittlere Unternehmen nicht mehr aus. Selbst viele kleine Firmen sind an Datenverarbeitungszentren angeschlossen oder besitzen sogar eine eigene vollständige Computerausrüstung. Von europäischen Universitäten und Forschungszentren aus kann man direkt mit großen Computern in den USA rechnen. Computer in Pasadena und Houston steuern die Landung von Raumfahrzeugen auf Planeten und Satelliten.

Roboter, Mikroelektronik im allgemeinen, sind genau betrachtet keine Job-Killer, sondern verlagern die Anforderungen an und zum Teil auch die Orte von Arbeitsplätzen. Viele Stellen gingen verloren, weil sich Unternehmen zu spät der Mikroelektronik zuwandten. Am Arbeitsplatz des heutigen Konstrukteurs steht nicht mehr das Reißbrett, sondern ein Computer-Terminal (mit Bildschirm). Dank der netzunabhängigen Transistorempfänger ist eine fast instantane und flächendeckende Informationsübermittlung möglich, mit Relaissatelliten sogar erdumspannend.

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Greifen wir aus dem Anwendungsspektrum der Mikroelektronik als weiteres Beispiel noch die Medizin heraus. Röntgenstrahlen-, Positronen-, Kernspin-Tomographen sind ohne Computer undenkbar. Die Patientenüberwachung in Intensivstationen geschieht über elektronische Sensoren. Weitere Beispiele in Stichworten: Herzschrittmacher mit Radiokontakt zur nächsten Herzklinik, implantierte Insulingeber, Sonographie, Narkosegeräte, Analysengeräte.

Es ist durchaus denkbar, daß die Biotechnologie auch in die Mikroelektronik Eingang finden wird. Den integrierten Schaltkreisen sind durch die quantenphysikalischen Gesetze Grenzen gesetzt. Mit Biochips wären noch wesentlich höhere Integrationsgrade erreichbar. Programmierte Viren könnten z.B. in Proteinen elektrische Schaltungen aufbauen.

Die Mikroelektronik, die Entwicklung der Transportsysteme - angefangen bei der Eisenbahn, die durch die Dampfmaschine möglich wurde - und die Anwendung der Kernspaltung, haben das Bewußtsein und damit auch das Hoffnungspotential der Menschen im 19. und 20. Jahrhundert stärker geprägt als alle anderen Erfindungen. Sowohl die Eisenbahn (und die Folgeentwicklungen Auto, Flugzeug, Weltraumvehikel) als auch die Erzeugnisse der Mikroelektronik sind Transportsysteme, die er-steren für materielle Güter und die zweiten für Information. Diese Systeme erweiterten die Begriffe Raum und Zeit der Menschen, aber auch den Inbegriff der Macht, die den Menschen über die Natur erhob. Dieses Gefühl der neuerworbenen Macht verleitete viele Menschen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts zu einer Überschätzung der technischen Möglichkeiten und Machbarkeit. Man hoffte, alle Probleme dieser Welt - Überbevölkerung, Armut, Hunger usw. - seien mit fortschreitender Entwicklung der Technik und den Ergebnissen der Grundlagenforschung prinzipiell lösbar.

Wegen der großen Erfolge der Naturwissenschaft und der Technik übertrug man diese auch auf naturwissenschaftsfremde Probleme aus Gesellschaft und Politik.

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Die Ernüchterung mußte folgen, als sich herausstellte, daß der Anwendungsbereich naturwissenschaftlicher und technischer Methoden beschränkt ist und nicht beliebig erweitert werden kann. Gedankengänge, Gespräche, Meinungsbildungen, Informationsweitergabe finden im wesentlichen auf drei Ebenen statt, nämlich der naturwissenschaftlich-technischen Ebene mit höchstem Objektivierungsgrad, der emotional-politischen Ebene mit dem zu optimierenden Machtbestreben und der arterhal-tend-wirtschaftlichen Ebene mit der zu maximierenden Belohnung. Leider ist die Kommunikation zwischen diesen drei Ebenen minimal und oft sehr verzerrt; dazu wurden die »Ismen« erfunden, naturgemäß ohne ethische Erfolge. Die Überwindung der Isolation dieser drei Ebenen ist eine der dringenden Aufgaben unserer Generation.

Die Jugendunruhen der sechziger Jahre, die starke, weltweite Zunahme fundamentalistischer Strömungen, wahrscheinlich auch ein Teil der terroristischen Aktivitäten und vielleicht auch ein Aspekt der Drogenabhängigkeit von Menschen, die keine Zukunft mehr sehen, sind Folgen dieser Überschätzung, dieser aufgeblähten Hoffnungen und der fehlenden Interkommunikation. Man beobachtet, daß bei vielen Menschen die »Überhoffnung« durch einen »Verlust der Hoffnung« ersetzt wird, bedingt durch moderne, unheilverkündende Diagnosen. Leszek Kolakowski gab 1983 zu bedenken, diese Haltung sei das Ergebnis einer ideologischen Einstellung und nicht das Resultat einer unvoreingenommenen Beobachtung: »Und diese Ideologie ist vielleicht nicht mehr als die Verzweiflung angesichts der frustrierten Erwartungen, die notwendig unerfüllt bleiben mußten, weil sie so aufgeblasen waren.« Bereits Epiktet (ca. 50-138 n.Chr.) hatte erkannt: »Nicht die Dinge beunruhigen die Menschen, sondern ihre Meinungen über die Dinge.« Gerade diese »Meinung über die Dinge« wird wesentlich durch die modernen Medien, die eine sofortige, weiteste Kreise erfassende Information ermöglichen, geprägt; sie kann aber gefärbt und einseitig sein.

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Große Erwartungen setzt man heute auf die Erkennt-, niswissenschaften (Cognitive Science), eines interdisziplinären Arbeitsfeldes von Physik, Chemie, Biologie, Informatik und Psychologie. Während einer langen Periode, beginnend mit Paul Broca um die Mitte des 19. Jahrhunderts, konzentrierte sich die Forschung auf die Nervenzellen, den kleinsten Komponenten des Gehirns. Man hoffte, dadurch die Funktion des Gehirns zu verstehen, was sich nicht erfüllte. Moderne Neurobiologen untersuchen Verbände verknüpfter, kooperierender Nervenzellen. Man hofft, die Leistungen des Gehirns aus geordneten Verknüpfungen von Eingabe und Ausgabe zwischen Systemen verschalteter Nervenzellen zu verstehen. Das menschliche Gehirn weist etwa eine Billiarde Verknüpfungen auf. Die Verknüpfungen zwischen Nervenzellen und die Verschaltungen zwischen Nervenschichten ist von der Entwicklung des Embryos bis zum Tode des Menschen steten Veränderungen unterworfen. Durch neurophysikalische Untersuchungen stellte man eine Hierarchie ineinander verschränkter, molekularer und struktureller Prozesse fest, die dynamische Veränderungen an den Kontaktpunkten (Synapsen) von Nervenzellen auf verschiedenen Zeitskalen - Millsekunden bis Wochen - bewirken. Diese Änderungen sind nicht genetisch programmiert, sondern organisieren sich selbst.

Die heutigen Computer arbeiten nach ganz anderen Prinzipien als das menschliche Gehirn, das nicht als Maschine begriffen werden kann, die ein von den Sinnesorganen eingegebenes Programm ausführt. Im Gehirn kann man nicht zwischen »Hardware« und »Software« unterscheiden. Das Gehirn entwickelt während eines Prozesses selbständig Strategien; es antizipiert zeitlich in der Zukunft liegende Ereignisse und programmiert sich selbst. Diese Vorgänge stellen den Denkprozeß dar. Es ist ein Traum der Informatiker, neue Computergenerationen zu bauen, die dem selbstorganisierenden System der höheren Gehirnleistungen nachempfunden sind. Solche sich selbst organisierenden, technischen Systeme werden oft, etwas irreführend, unter dem Begriff »künstliche Intelligenz« subsummiert. Wir stehen hier an der Schwelle zu einem großen Tätigkeitsbereich der Zukunft - Hoffnungen? Ängste?

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Versuch einer Grenzüberschreitung

Dem »Siegeszug« der Naturwissenschaften und ihrer Anwendungen in der Technik in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts folgte in der zweiten Hälfte eine Ernüchterung, folgte Skepsis, die sich zum Teil bis zur totalen Ablehnung und Verweigerung steigert und die anfängliche »Überhoffnung« in eine »Antihoffnung« transformiert. Die Ideologie mancher modernen politischen Gruppierung - auch mancher Parteien - ist gerade diese »Antihoffnung«.

Die »Überhoffnung« konnte nur aufgrund einer falschen philosophischen Wertung naturwissenschaftlicher Erkenntnis entstehen. Der Forscher entwickelt und untersucht nur Abbildungen der Natur auf unser Gehirn; Physik, Chemie, Biologie sind lediglich Bildsammlungen, großartige für die einen, teuflische für die anderen. Vincent van Goghs Flur der Heilanstalt in St. Remy (Juni 1889) bildet die Trostlosigkeit des Lebens in einem Nervenkrankenhaus ab und ist nicht die Anstalt selbst.

Naturwissenschaftliche Erkenntnis liefert uns Aspekte der Natur, nicht die Natur selbst. Naturgesetze sind jederzeit reproduzierbare, universelle Formulierungen von Beziehungen zwischen den Elementen in diesem Bildraum. Mit physikalischen Methoden kann Kants »Ding an sich« nicht nachgewiesen werden, es können nur Projektionen davon in unserem Bildraum entstehen, dessen Dimensionszahl aus mathematischen Gründen endlich sein muß. Prinzipiell haben wir keine Möglichkeit, die Vollständigkeit der Abbildung »der Natur« auf diesen naturwissenschaftlichen Erkenntnisraum nachzuprüfen, also auch keine Aussage über die Dimensionalität »der Natur an sich« zu machen. Vielleicht liegt darin das Geheimnis des Todes, denn dieser könnte ein Übergang von einer beschränkten zu einer unbegrenzten, vielleicht unendlich großen Dimensionszahl bedeuten. Die physikalischen Begriffe Raum, Zeit, Materie verlieren dabei ihre Bedeutung.

Diese Betrachtungsweise kann einer urmenschlichen Hoffnung Nahrung bieten, nämlich derjenigen, die über den biologischen Tod hinausweist in eine Transzendenz, die naturwissenschaftlichen Methoden prinzipiell verschlossen bleibt, und von der die Religionen künden, von der aber auch die Musik, die schönen Künste, die Literatur uns eine Ahnung vermitteln können. Die Ergriffenheit beim Hören von Beethovens >Mis-sa solemnis<, vor der >Pietä< Michelangelos, beim >King ^ear< von Shakespeare ist nicht nur sentimentaler Natur,

jndern kann durchaus Hinweise, Ahnungen transzendentaler Bezüge vermitteln. Man könnte versucht sein, zwei Klassen von Hoffnungen zu postulieren. Eine Hoff-lung erster Art, ableitbar aus der evolutionären Entwick-

mg des Menschen in seiner Tätigkeit als Forscher und Techniker, also als »homo faber«, die vielleicht ein Überleben der Menschheit trotz des noch exponentiell ansteigenden Wachstums möglich erscheinen läßt. Und eine Hoffnung zweiter Art, die über die biologische Existenz hinausweist auf eine mögliche Unsterblichkeit, aber weder naturwissenschaftlich herleitbar noch erforschbar ist.

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  16)  Wissenschaft und Gentechnologie zwischen Gegenwart und Zukunft 

von Anton Mayr 

 

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Es gibt Zeiten, in denen Menschen von optimistischen Hochgefühlen bewegt und solche, in denen sie von pessimistischen Gedanken überwältigt werden. Wir scheinen heute eher dem letzteren Extrem zuzuneigen, Schwarz­malerei ist weit verbreitet. Oft resultiert diese Negativsicht nur aus der einfachen Extrapolation von Daten, Entwicklungen, Erfahrungen oder Zahlen. In geschichtlicher Zeit ist dies wohl eine normale Angelegenheit.

Theorie und Praxis, Wissenschaft und Gesellschaft haben von jeher nur langsam zueinander gefunden. Presse, Rundfunk und Fernsehen tun heute das Übrige, wenn sie die Wissenschaft allein für eine zukünftige Gesellschaft verantwortlich machen, die etwa wie folgt aussieht: Gentechnologisch manipulierte Menschen, Tiere und Mikroben mit neuen Eigenschaften, beim Menschen etwa mit künstlich selektierter Meinungs- und Willensbildung, beim Tier mit veränderten Erbanlagen und bei den Mikroben mit neuen pathogenen Eigenschaften, »in vitro«-Zeugung von künstlichem Leben, Übertragung von Gedächtnisinhalten, Spermabanken, neue Pflanzenarten mit ungehemmtem Wachstum, Massenvernichtungsmittel, Zerstörung der Umwelt, Erschöpfung der Ressourcen, Überbevölkerung mit Ernährungsproblemen, Schäden durch Kernenergie und vieles andere mehr.

All diese teils hypothetischen, teils aber realen Möglichkeiten bringen es mit sich, daß das Bild, das sich die öffentliche Meinung von der Wissenschaft macht, mehr und mehr verzerrt wird, und das zu einer Zeit, in der die moderne Gesellschaft auf Wissenschaft und Technologie mehr denn je angewiesen ist.

Das alte Vertrauensverhältnis zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit scheint derzeit jedenfalls tief gestört zu sein. Spätestens seit dem Reaktorunfall in der UdSSR nimmt man die Resultate wissenschaftlicher Forschung nicht mehr ergeben hin.

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Mißtrauen, ja oft Feindseligkeit gegenüber der Forschung greifen um sich. Dabei beobachtet man ein merkwürdiges Phänomen: Nachweisbar Mögliches wird als zu gefährlich und deshalb als unzumutbar abgelehnt, gleichzeitig werden Wissenschaft und Technik so hoch bewertet, daß man Unmögliches sowie allenfalls in weiter Ferne Verwirklichbares als eine Sache betrachtet, mit der man fest rechnen kann. Wie ist dieses Dilemma zu erklären?

Viele Menschen trauen eben im Unterbewußtsein der Wissenschaft doch die »Bewältigung des Fortschrittes« zu, weil es immer die Wissenschaft war, die durch Entdeckungen, Erfindungen und neuartige Technologien in Augenblicken ernsthafter Begrenzung menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten diese Grenzen gesprengt und neue und in summa auch bessere Daseinsformen geschaffen hat. Diese anscheinend zufällige Koinzidenz zwischen dem Auftauchen einer Grenze unserer Möglichkeiten und dem zunächst gedanklich damit nicht verbundenen Beginn von Versuchen zu ihrer Überwindung begegnet uns immer wieder, und was spricht dagegen, daß sich nicht auch in Zukunft eine derartige Koinzidenz stets wiederholen wird?

Dagegen spricht, so paradox dies ist, eigentlich nur der Pessimismus unserer heutigen Gesellschaft, einer Gesellschaft, die sich in Verkennung der Realitäten als Wohlstandsgesellschaft bezeichnet. Ich gehöre nicht zu diesen Pessimisten, aber auch nicht zu denen, die von einer Wohlstandsgesellschaft träumen, sondern zu denen, die an die Bewältigung und die Sicherung unseres Fortschrittes zum Wohle unserer Menschheit glauben. Warum ich dieser Überzeugung bin, möchte ich zuerst mit einigen Beispielen aus der Vergangenheit belegen.

Im 18. Jahrhundert reichte die Arbeitsleistung der Pferde nicht mehr aus, um die Kohlebergwerke trockenzuhalten. Dadurch war die Ergiebigkeit der Energiequelle Kohle, mit der damals der wachsende Energiebedarf fast ausschließlich gedeckt wurde, nicht mehr zu steigern. Jeder weitere Fortschritt drohte am Energiemangel zu scheitern.

In diesem Augenblick erfanden Thomas Newcomen und James Watt die Dampfmaschine und beseitigten damit eine entscheidende Grenze für das Wachstum der Menschheit. Sie schufen nicht nur die Möglichkeit zum Gewinn schier unerschöpflicher Mengen an Rohstoff für die Energie, sondern formten diese Energie auch in mechanische Arbeit um.

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Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Äcker der alten Welt erschöpft waren und durch die rapide Zunahme der Bevölkerung Hungersnöte drohten, vermochte die von Justus von Liebig begründete Agrikulturchemie die Ernährungsbedingungen für Millionen von Menschen entscheidend zu verbessern und sicherzustellen. Die Chemie wurde zum Motor des technischen, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts und trug nun gemeinsam mit den anderen Naturwissenschaften und der Physik, der Medizin, der Agrikultur, der Tierzucht und schließlich der Umweltforschung dazu bei, den Menschen prinzipiell aus der Abhängigkeit von den Naturgewalten zu befreien. Der Mensch lernte, den in einem umweltveränderten Biotop ablaufenden biogenen Kreisprozeß zwischen Mikroorganismen, metazoischen Parasiten, Pflanzen, Tieren und Menschen zu erkennen, zu regeln und sich damit dienstbar zu machen.

Neben den großen wirtschaftlichen Nöten und Zwängen belasteten die Menschheit die im säkularen Rhythmus wiederkehrenden Seuchen von Mensch und Tier. Je dichter die Bevölkerung und die für die Beschaffung von tierischem Eiweiß notwendigen Nutztierbestände wurden, um so verheerender wirkten sich die Seuchen aus. Es waren Edward Jenner, Louis Pasteur, Robert Koch, Paul Ehrlich und Emil von Behring, um nur die bedeutendsten Forscher zu nennen, die es ermöglichten, auch diese Gefahren zu bannen oder zumindest einzuschränken.

So haben heute die spektakulären Seuchen beim Menschen, wie Cholera, Pest, Poliomyelitis, Masern, Influenza, Röteln, Gelbfieber, Tuberkulose, Lepra und Pocken, oder beim Haustier Maul- und Klauenseuche, Lungenseuche, Schweine-, Pferde-, Rinder- und Geflügelpest, Tollwut und Protozoenkrankheiten, zumindest in den Industrieländern, ihre Schrecken verloren. Sie konnten durch die Entwicklung wirksamer und unschädlicher Impfstoffe unter Kontrolle gebracht werden.

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Mit dazu beigetragen haben aber auch Individualhygiene in Verbindung mit Umwelthygiene und ein leistungsstarker Sanitäts- und Veterinärdienst. Internationale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung sorgte darüber hinaus für einen weltweiten Erfolg; dies gilt vor allem für die globale Eradikation der Pocken, der größten Geißel der Menschheit. Seit nunmehr zehn Jahren ist die Welt von Pocken frei, ein Erfolg, den niemand für möglich gehalten hatte. In vielen Fällen sind diese Maßnahmen mit der gleichzeitigen Bekämpfung der Überträger und Erregerreservoire - zum Beispiel durch Vernichtung der Arbo-Viren übertragenden Moskitos und Zecken durch Insektizide oder durch Umweltveränderungen, wie Trockenlegung oder Rodung - gekoppelt worden. Letztlich haben auch die Chemotherapie und die Antibiotika dazu beigetragen, daß die gefährlichsten Infektionskrankheiten ihre Schrecken verloren haben.

Die Entwicklung der Immunprophylaxe und die Entdeckung von Krankheitserregern, die kleiner sind als die kleinsten Viren (Viroide, Prions), die Chemotherapie, die Antiparasitika, die Pflanzenschutzmittel, die Gentechnologie - von Atomenergie will ich gar nicht sprechen - und viele andere solcher Schritte, z.B. die erfolgreiche Züchtung ertragreicherer Getreide- und Reissorten oder leistungsfähigerer Nutztierrassen, haben Hemmungen und Grenzen beseitigt, unter denen die Menschheit litt.

Umgekehrt stellt aber die durch all diese Erfolge mit ausgelöste Bevölkerungsexplosion (um das Jahr 2000 etwa 6 Milliarden Menschen) der Sicherung der Ernährung neue Probleme, für deren Beseitigung letztlich nur die Wissenschaft humane Lösungen liefern kann. So eröffnet der weltweite Einsatz hormonaler Kontrazeptika zur Beeinflussung eines physiologischen Geschehens (Fertilitätskontrolle) einen neuen Weg, der zum Überleben der Menschen beitragen kann.

Dieses letzte Beispiel weist besonders nachhaltig darauf hin, daß die Menschheit zur Sicherung ihres Fortbestandes noch niemals in ihrer Geschichte so sehr von der Entwicklung der Wissenschaft und Technik abhängig war wie heute; und diese Abhängigkeit wird vermutlich in Zukunft noch stärker werden.

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Dem einen oder anderen mag sich in einer Anwandlung von Kulturpessimismus die Frage aufdrängen, ob der Mensch reif genug ist, die sich jeweils ergebenden Sachzwänge human zu ertragen, ohne das zur Bewältigung dieser Sachzwänge notwendige Instrumentarium inhuman einzusetzen. Die Aufgabe, für die Zukunft der Menschheit zu sorgen, bestand jedenfalls schon immer. Sie ist nur heute besonders aktuell geworden, weil der Fortschritt in Wissenschaft und Technik Grenzen überschritten hat, die bisher unser Weltbild geprägt haben. Um so mehr ist es heute notwendig, der Öffentlichkeit Zutrauen zur Wissenschaft zu vermitteln. Ein Zutrauen, das sich aus folgenden Fakten ergibt:

Die Wissenschaft umfaßt all jene Aktivitäten des menschlichen Geistes, bei denen ausschließlich objektive Daten und die Logik maßgebend sind. Ein wichtiges Merkmal der Wissenschaft ist die strikte Kontrollierbarkeit. Sie befaßt sich also einerseits mit der Entdeckung von Tatsachen und Naturgesetzen und studiert andererseits die Grundlagen, worunter aber, im Gegensatz zu früher, nicht die metaphysischen Aspekte, sondern die logischen und methodologischen Begriffe verstanden werden.

Die Ergebnisse der Wissenschaft bestimmen damit, ob es der Weltanschauung des Einzelnen gefällt oder nicht, stets das Weltbild der Zeit. Es gibt keine philosophische und auch keine ideologische Theorie, welche auf Dauer die Erkenntnisse der Wissenschaft negieren kann. So basiert unsere reale Existenz heutzutage fast ausschließlich auf den modernen Erkenntnissen der Wissenschaft, das heißt die Theorien der Wissenschaft sind unentbehrlich für das Selbstverständnis der Menschen. Von allen wissenschaftlichen Theorien haben in der Vergangenheit die Evolutionstheorie, die Theorien der vergleichenden Verhaltensforschung und Karl R. Poppers evolutionäre Wissenschaftstheorie das Menschenbild am stärksten geprägt. Noch gravierender aber werden die Erkenntnisse der molekularen Biologie und der Gentechnologie das Selbstverständnis des Menschen beeinflussen.

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In der Öffentlichkeit wird derzeit vehement über die Auswirkungen der Gentechnologie diskutiert, die man auch Genmanipulation, Genchirurgie, Rekombinationstechnik oder Technik der Neukombination von Erbmaterial nennt.

Im Streit liegen dabei zwei klassische Gruppen von Intellektuellen unserer Gesellschaft, die über neue wissenschaftliche Entwicklungen stets uneins sind. Die eine Gruppe besteht aus jenen, die den Fortschritt bejahen. Sie verweisen auf die großen Möglichkeiten der neuen Biotechnologie zum Segen der an Krankheiten leidenden und vom Hunger geplagten Menschheit. Die andere Gruppe bilden die Skeptiker, die hinter dem Nutzen den Schaden so schwarz wie nur möglich an die Wand malen.

Über Eingriffe in die Vererbung, und zwar solche, die bereits möglich sind, und solche, von denen man erwartet, daß sie in naher Zukunft möglich werden, berichten laufend Tageszeitungen, Illustrierte, Rundfunk und Fernsehen in mehr oder weniger sensationeller Aufmachung. Viele Berichte schließen mit einem Appell an die Verantwortung der Wissenschaftler und werfen die Frage auf: Sollten wir nicht besser auf die sich zur Zeit rasant entwickelnde Gentechnologie verzichten, um Gefahren, die sich möglicherweise für die Menschheit daraus ergeben, zu entgehen? Dürfen wir wirklich alles machen, was machbar ist?

Dabei wird immer wieder das »Geheimnisvolle« der Gentechnologie als »Biologische Revolution in aller Stille« angesprochen. Dies trifft heute aber insofern nicht mehr zu, als sich Industrie und Wirtschaft in allen Ländern mit enormen Investitionen dieser Technik inzwischen bemächtigt haben. So ist es zum Beispiel gelungen, erstmals dem Diabetiker, dem bislang nur Rinder- und Schweine-Insulin zur Verfügung stand, menschliches Insulin über die Gentechnik zur Verfügung zu stellen.

Für eine andere Verwirrung sorgte die Verflechtung mit der »in-vitro-Fertilisation«, also der Keimzellmanipulation mit der Gewinnung von Klonen und der Erzeugung von Chimären und Hybridwesen. Beide Forschungsrichtungen laufen derzeit aber noch streng parallel und müssen als solche auch realisiert werden. In naher

Zukunft bietet die »in-vitro-Fertilisation« natürlich auch neue Möglichkeiten für die Gentechnologie. Durch die Verbindung beider Biotechnologien werden sowohl Genom als auch Keimzellen von Pflanzen, Tieren und Menschen der Manipulation von Grund auf zugänglich (Biotechnologie).

Die Gentechnik gibt dem Menschen die Fähigkeit in die Hand, lebende Organismen, die Produkte von etwa 5 Milliarden Entwicklungsjahren, umzukonstruieren. Derartige Eingriffe dürfen nicht mit früheren Einwirkungen auf die natürliche Ordnung lebender Organismen verwechselt werden, Tier- und Pflanzenzüchtung etwa oder artifizielle Auslösung von Mutationen durch Röntgenstrahlen. All diese früheren Verfahren erstreckten sich auf einzelne oder nahe verwandte Arten. Das Wesentliche der neuen Technik besteht darin, daß Gene nicht nur zwischen den Linien einer Art hin- und hergeschoben werden, sondern über die verschiedensten Grenzen hinweg, die jetzt noch lebende Organismen voneinander trennen, insbesondere über die grundlegendste dieser Grenzen, nämlich diejenige, welche Prokaryota (Bakterien und Blaugrünalgen) von Eukaryota (höhere Pflanzen und Tiere) scheidet. Das Ergebnis wird ein völlig neuer Organismus sein. Ob sich ein derartiges Kunstprodukt in unserer, in Jahrtausenden gewachsenen Umwelt jedoch halten kann, ist eine andere Frage.

Bisher haben sich lebende Organismen sehr langsam entwickelt, und neue Formen hatten reichlich Zeit, sich einzugliedern. Es waren 4 bis 20 Millionen Jahre erforderlich, bis sich eine einzelne Mutation, z.B. die Veränderung einer Aminosäure in der Hämoglobin- oder Cytochrome-c-Sequenz als Speziesnorm durchgesetzt hat. Nun können ganze Proteine über Nacht in völlig neue Verbindungen übertragen werden, dabei aber mit Konsequenzen, die im Gegensatz zur Evolution kalkulierbar sind und nicht dem Zufall oder dem Gesetz der »zufälligen Zuteilung« unterliegen.

Über den Nutzen der Gentechnik und was alles machbar sein könnte, wissen wir sicher noch nicht alles, aber immerhin so viel, daß diese Forschungsrichtung in einer Zeit, in der das Schreckgespenst Übervölkerung droht, weiterentwickelt werden muß im Sinne des 1. Kapitels Moses 1.1 (6. Schöpfungstag), in dem es heißt:

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»Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch, und füllet die Erde, und machet sie euch Untertan, und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.

Und Gott sprach: Sehet da, ich habe euch gegeben allerlei Kraut, das sich besamt, auf der ganzen Erde, und allerlei fruchtbare Bäume, die sich besamen, zu eurer Speise, und allem Getier auf Erden und allen Vögeln unter dem Himmel und allem Gewürm, das da lebt auf Erden, daß sie allerlei grünes Kraut essen. Und es geschah also.«

Die Gentechnologie ist inzwischen durch eine Fülle euer Erkenntnisse und neuer Techniken zu einer auch in er Praxis anwendbaren Genmanipulation entwickelt und in kürzester Zeit in Hunderten von Labors auf der ganzen Welt verfeinert und vereinfacht worden.

Die Realisationssysteme der Gentechnologie sind Viren und Bakteriophagen, Bakterien mit ihren Plasmiden, Hefen und tierische wie pflanzliche Zellen. Die Werkzeuge der Gentechnologie sind Schneide- und Verbindungssysteme: Restriktionsenzyme, Ligasen, Synthetasen, Polymerasen, Transskriptasen und andere Enzyme. Die zu manipulierenden Bioeinheiten sind die Nukleinsäuren als Träger der Erbmerkmale, der genetischen Information, also der Gene.

Beim Rekombinieren von Nukleinsäuren unterscheidet man zwischen einer »Fremd«- oder »Passagier«-Nuk-leinsäure und einer »Träger«- oder »Vektor«-Nuklein-säure. Die Vektor-Nukleinsäure muß folgende drei Eigenschaften haben: Sie muß zunächst unabhängig vom Wirtszellgenom repliziert werden; zweitens muß sie die »Passagier«-DNS (Desoxyribonukleinsäure) aufnehmen können, unter Umständen unter Austausch gegen einen Teil ihrer eigenen DNS; drittens sollte sie mit hoher Effizienz in die Wirtszelle eingeführt werden können.

Die »Passagier«-DNS kann eine DNS-Sequenz jedes

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beliebigen Ausgangsmaterials (vom Virus bis zum Menschen) sein. Voraussetzung hierfür ist, daß »Passagier- und »Vektor«-DNS in reinster Form isoliert oder synthetisiert werden. Die »Passagier«-DNS enthält das zu inserierende Gen. Beim »Vektor« handelt es sich um eine genau definierte DNS-Art, deren Gewinnung meist in einfachen biochemischen Isolierungsschritten durchgeführt werden kann.

Gentechnologisch am einfachsten zu manipulieren sind Viren und Bakterien. Hier hat man auch bisher die größten Erfolge erzielt, z.B. bei der Entwicklung gentechnologisch hergestellter Impfstoffe. So ist dem chronischen Mangel an Hepatitis-B-Impfstoff, der bisher mühsam aus menschlichem Blut gewonnen wurde, durch einen gentechnisch produzierten Impfstoff inzwischen abgeholfen worden. Ähnliches trifft für andere Impfstoffe in der Human- und Tiermedizin zu. Das synthetische Potential von Bakterien, Hefen, höheren Pilzen sowie Zellen bzw. Geweben aus höheren Pflanzen und Tieren kann genützt werden, um technisch interessante Produkte zu gewinnen (Biosynthesen), bestimmte Stoffe in andere umzuwandeln (Biotransformation) oder bestimmte Stoffe abzubauen (Abbaureaktionen). Das Spektrum der Biosyntheseprodukte und Zwischenprodukte ist sehr breit und umfaßt z.B. Lebensmittelgrund- und Zusatzstoffe (Eiweiß, Aminosäuren), pharmazeutische Grundstoffe (Antibiotika, Alkaloide), umweltfreundliche Substanzen (Zitronensäure, biologische Insektizide) und Rohstoffe (Metalle, Ethanol).

Mit Hilfe der Gentechnologie ist es somit möglich geworden, gezielte Erbinformationen auf Mikroorganismen zu übertragen und dort zur Ausprägung (Expression) zu bringen. Darüber hinaus können auch technisch interessante Erbinformationen, die Bestandteile der Erbsubstanz von höheren Lebewesen (Pflanzen, Tiere, Mensch) sind, auf Mikroorganismen übertragen werden. Es wird dadurch möglich, auf mikrobiellem Wege Naturstoffe herzustellen, die in der Natur nur in höheren Organismen vorkommen.

So ist es der Molekulargenetik z.B. gelungen, die Gene

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(oder Teile davon) für Proinsulin, Wachstumshormon, Globulin, Ovalbumin und andere Verbindungen in bakterielle Plasmide einzubauen, diese in E.coli-Bakterien einzuschleusen und die Gene dort zur Expression zu bringen, d.h. die Colibakterien zu veranlassen, das Genprodukt zu bilden. Auch Somatostatin wurde auf diese Weise von Colibakterien hergestellt. Man hofft auch, Colibakterien die Information zur Herstellung völlig einheitlicher Antikörpermoleküle, von Interferon oder Impfstoffantigenen vermitteln zu können. Anstelle von E. coli-Bakterien können natürlich auch andere Mikroorganismen, z.B. Hefen, wie auch tierische und pflanzliche Zellen benutzt werden.

Das Schwergewicht der Gentechnik betrifft aber zweifelsohne die tierische und pflanzliche Reproduktion, z.B. Züchtung neuer Nutztierrassen mit optimaler Nutzung der Umwelt für die Herstellung vom Tier stammender Nahrungsmittel oder im Anbau von Nutzpflanzen, z.B. Getreidepflanzen zu lehren, ihren eigenen Stickstoff aus der Luft und nicht aus dem Boden aufzunehmen. Oder betrachten wir eine freie industrielle Entwicklung. Man kann Pseudomonasbakterien eine Genkomposition inkorporieren, die es ihnen ermöglicht, Rohöl vollkommen zu verdauen. Es lassen sich auch Bakterien züchten, die den anfallenden Müll abbauen und verwerten. Weitere Ziele bei den Pflanzen des Anbaues sind: höhere Erträge, Resistenz und Unempfindlichkeit gegen Kälte, Dürre und gegen Schwermetalle. Machbar ist auch eine gezielte Aminosäure-Zusammensetzung von Kartoffelknollen, so daß diese eine optimale Ernährungsqualität erreichen. Neben der Pflanzen- und Tierzucht wird die Gentechnologie vor allem für den Umweltschutz nützlich sein: Abbau und Entgiftung von Chemikalien, bessere mikro-bielle Systeme für die Reinhaltung von Luft, Wasser und Boden, leistungsfähige Bakterien für Kläranlagen, Pflanzenresistenz und Herstellung umweltfreundlicher Insektizide, Fungizide und Herbizide.

Einen großen Durchbruch erhofft man sich auch auf dem medizinisch-pharmazeutischen Sektor. Lebenswichtige menschliche und tierische Hormone, Mediatoren

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und andere für die Abwehr wichtige Faktoren sowie Plasmaproteine, Enzyme, Antibiotika in praktisch unbegrenzten Mengen zu produzieren, ist ein Ziel.

Einer der interessantesten Aspekte liegt aber sicher in der möglichen Restaurierung oder Substitution genetisch bedingter Enzymdefekte, wie beim Lesh-Nyhan-Syndrom, der Thalassämie oder aber auch beim genetisch bedingten Diabetes. Erste Versuche in dieser Richtung verliefen bereits erfolgreich. Dabei handelte es sich aber ausschließlich um Arbeiten an Gewebekulturen.

Und hier kommt die Gentechnologie vorläufig an ihre Grenzen. Denn was in der Kulturschale oder im Reagenzglas an undifferenzierten Gewebezellen möglich ist, ist nicht auf einen lebenden Organismus zu übertragen. Zu gering ist noch das Wissen um die molekularen Regulationsvorgänge im Organismus.

Die Vorstellung, durch Manipulation am Erbgut, genetische Krankheiten zu heilen, muß derzeit noch als ein erstrebenswertes Ziel betrachtet werden. Es müßten dabei nicht nur kleine DNS-Stückchen ausgetauscht oder eingefügt, sondern komplette Chromosomen verändert werden. Solche Defekte könnten nur durch Manipulation der elterlichen Keimzellen behoben werden und dann auch nur über den Weg der vegetativen anstatt sexuellen Fortpflanzung. Auf die kommende Verflechtung von Gentechnik mit der Keimzellmanipulation habe ich anfangs schon hingewiesen. Beide Forschungsrichtungen laufen zielstrebig aufeinander zu, und sie ermöglichen vielleicht eine derartige Zukunftsperspektive.

Der Nutzen der Gentechnologie für die Bewältigung unserer Zukunft ist unbestreitbar. Über den möglichen Schaden gibt es bis jetzt keinen einzigen Beweis, lediglich Phantastereien. So gibt es bis jetzt auch keine substantielle Grundlage für die schauderhafte Prophezeiung, daß die öffentliche Gesundheit oder ganze Staaten durch rekombinierte Organismen gefährdet werden könnten. Schließlich darf nicht vergessen werden, daß es sich stets um Kunstprodukte handelt, deren Überleben in der natürlichen Umwelt mehr als fraglich ist.

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Was ist trotzdem für die Sicherheit getan worden bzw. was soll noch getan werden?

Erstens haben die mit der Gentechnik befaßten Wissenschaftler schon seit Jahren mögliche Gefahren untersucht und analysiert und auf freiwilliger Basis Vorsorge getroffen, daß sämtliche Experimente unter optimalen Sicherheitsmaßnahmen durchgeführt werden.

Zweitens ist und wird die Öffentlichkeit weitreichend durch eine breite demokratische Informationssteuerung informiert.

Drittens haben inzwischen fast alle Staaten begonnen, die Gentechnik zu überwachen und gesetzliche Bestimmungen zu erlassen. Dies betrifft auch die industrielle Forschung. Zweck der Sicherheits­richtlinien ist es, Mitarbeiter bei entsprechenden Forschungsvorhaben und die Allgemeinheit vor unerwünschten Folgen der Gentechnik zu schützen (Richtlinien zum Schutz vor Gefahren durch in vitro neu kombinierte Nukleinsäuren. 5. überarbeitete Fassung. Herausgegeben vom Bundesministerium für Forschung und Technik. Mai 1986).

Die überwiegende Mehrzahl der informierten Wissenschaftler und der Experten auf dem Gebiete der Gentechnologie halten diese Sicherheitsmaßnahmen für mehr als ausreichend.

Die Frage der Öffentlichkeit bezieht sich vor allem auf genetische Manipulationen am Menschen. Menschen werden aber anders manipuliert. Die herkömmlichen Methoden sind auch im negativen Aspekt wesentlich wirksamer als die Manipulationsexperimente, die der Wissenschaftler durchführt, um überhaupt erst einmal hinter die Geheimnisse lebender Materie zu kommen.

So sind im genetischen Bereich ionisierende Strahlen, Wärmeeinwirkungen, chemische Agenden, bakterielle und virale Infektionen, cocarcinogene Substanzen, Erbkrankheiten und vieles anderes mehr jedenfalls weitaus schädlicher als dies die Experimente der Molekularbiologie bzw. Gentechnologie jemals sein können.

Lassen Sie mich kurz das Fazit ziehen:

Die moderne Welt ist unabdingbar auf Wissenschaft und Technologie gewiesen. Die Wissenschaft dient dem Fortschritt, ohne den wir auf unserer dichtbevölkerten Erde mit unseren hohen Lebens­ansprüchen nicht bestehen können. Sie hat die Aufgabe, das Leben lebenswerter zu machen.

Die politische Funktion des Wissenschaftlers in einem modernen Staat erschöpft sich nicht darin, im Bedarfsfall dem Politiker für eine intensive, objektive Beratung zur Verfügung zu stehen. Er hat darüber hinaus die Pflicht, auf rationale Entscheidungen von Seiten der Politiker zu drängen. Der Politiker sollte sich andererseits daran gewöhnen, daß sich sein Entscheidungsspielraum in der modernen Welt verkleinert hat. Er ist gezwungen, ein Höchstmaß an objektiven Informationen einzuholen und seine Entscheidungen auf dieser Grundlage rational zu begründen.

Das Zusammenleben der technisierten Massengesellschaft auf engstem Räume verlangt eine politische Ordnung, die den technischen Möglichkeiten adäquat ist, das heißt, es muß eine politische Theorie entwickelt werden, die sich nicht nur an den bestehenden orientiert, die vor Jahrhunderten entsprechend den damaligen technisch-wissenschaftlichen Gegebenheiten geschaffen wurden.

 Mit anderen Worten: Das theoretische Fundament der Demokratie bedarf einer Revision, wenn es für die künftige Gesellschaft tragfähig bleiben soll. Wenn wir den Blick nur in die Vergangenheit richten, verspielen wir die Chance, die Zukunft zu meistern.

Ich meine, die neue gesellschaftliche Entwicklung sollte sich an den Gesetzen der biologischen Evolution orientieren und die Vorgänge in der Zelle studieren, in der sich ein Ordnungssystem über Millionen Jahre erhalten hat, das stets Änderungen unter neuen Gegebenheiten erlaubt.

Unsere Analyse ist durchwegs positiv, widerspricht also ganz nachhaltig dem allgemeinen Trend einer postulierten Vertrauenskrise zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Was wir heute und in den nächsten Jahren brauchen, ist die Zuversicht, daß die Vernunft die Herausforderung der kommenden Jahre meistern und auch in der Zukunft in der Lage sein möge, erkennbare Fehlentwicklungen immer wieder zu korrigieren.

Ideologien, welche auch immer, helfen uns nicht weiter.

Aufschwung, Wandel und neue Perspektiven in der Forschung sind unsere große Chance, und sie geben uns die Zuversicht, auch all die Hemmnisse zu überwinden, die durch eine Vielzahl bürokratisch-administrativer Regelungen und Kontrollen und durch den Mangel an Verständnis für eine neue Epoche unser wissenschaftliches wie praktisches Handeln in vermehrtem Maße erschweren.

Das Schlagwort »no future« war nur für kurze Zeit modern, es gehört inzwischen der Vergangenheit an.

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