17) Das ärztliche Gespräch - Gedanken zum Thema »Hoffnung« in einer technisierten Medizin
von Gerhard Paal 1987
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Unbestritten führte der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt innerhalb der Medizin zu großen Erfolgen im Kampf gegen Krankheit und Tod. Die ungeheuer gewachsenen technischen Möglichkeiten gehen jedoch mit einer »immer bedrohlicher erscheinenden Anonymität« einher, mit »dem Verlust der so persönlichen Zweierbeziehung zwischen Arzt und Krankem, einer durch und durch personalen Interaktion, die immer mehr übergeht in die Hände der Verwaltung, der Institutionen, der Versicherungsagenten oder der Juristen, der Verrechnung wie der Verrechtlichung« (Schipperges).
Zwingend stellt sich die Frage nach der personalen Beziehung zwischen dem Kranken und dem Arzt und ihrer beider Stellung in einer derart stark apparativ orientierten Medizin. Sollte schon morgen der Mensch, gleichsam auf einem Fließband der Diagnostik mit standardisierter anamnestischer Fragestellung, nach umfassender Analyse seiner Körper- und Organfunktionen unter Einsatz immer verfeinerterer und aussagekräftigerer biochemischer Analysen und bildgebender Verfahren, dann schließlich aufgrund der von einem Computer errechneten und als pathologisch gewerteten Befunde und der auf diesem Wege erstellten Diagnose einer Therapie zugeführt werden, die Aussicht auf Heilung bietet?
Ohne näher auf die sich hieraus ergebenden zahlreichen Fragen einzugehen, sei schon an dieser Stelle eine Antwort gestattet: Der Mensch ist nicht einem Automobil vergleichbar, das auf einem technischen Prüfstand in entsprechender Weise analysierbar und zu reparieren ist, und bei dem der Ausfall eines Aggregates beliebig ersetzbar ist, damit es wieder als Ganzes funktioniert.
Der kranke Mensch wird weder in der Diagnostik noch in der Therapie auf das ärztliche Gespräch, auf den Dialog mit dem Arzt verzichten wollen und können. Hierin gründet die Hoffnung des Menschen, als Person ärztliche Hilfe zu finden, die, je nach Erfordernis, selbstverständlich heute wie in Zukunft auch auf den sinnvollen Einsatz selbst kompliziertester technischer Methoden angewiesen ist.
Der Weg eines Kranken zum Arzt führt schon im Vorfeld der ersten Begegnung, bei der ersten Konfrontation mit Krankheit, bei gestörtem Wohlbefinden oder einer wahrgenommenen körperlichen Veränderung zu einer Vielzahl von Aktionen und Reaktionen von Seiten des Kranken wie auch von Seiten seiner Umgebung. Sie können bisweilen das Krankheitsbild selbst mitbeeinflussen und sich nur zu leicht einer einseitigen naturwissenschaftlich-technischen Analyse entziehen; ausgenommen akute Erkrankungen oder Unfälle, die einem Menschen die Verfügungsgewalt über sein eigenes Schicksal und somit auch über seinen Körper entreißen und ihn dem Handeln Dritter überantworten, etwa bei einem Verkehrsunfall auf der Straße, der dem Notdienst das weitere Handeln abverlangt. Außerhalb einer solchen Situation empfindet ein bis dahin Gesunder oder sich gesund Fühlender mehr oder weniger akut Schmerzen, oder er bemerkt eine Funktionsbehinderung, -beeinträchtigung oder eine organische Veränderung an seinem Körper. Er erleidet Schmerz, realisiert dies und möchte hiervon befreit werden, oder er fühlt sich in einer Funktion, einer Tätigkeit beeinträchtigt, etwa durch eine Lähmung seiner Hand, durch eine Ungeschicklichkeit oder ein Zittern, durch eine Lese- oder eine Sprachstörung, um nur einige Beispiele zu nennen. Er tastet eine Geschwulst, sieht eine Verfärbung des Körpers, fühlt sich in seiner allgemeinen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt oder empfindet eine Veränderung seines Wesens.
Schmerz, Übelkeit, Unbehagen auf der einen Seite, Funktionsbeeinträchtigung, verminderte Belastbarkeit, Unvermögen oder ein Mangel an Verfügbarkeit seiner selbst auf der anderen Seite, oder auch nur die Wahrnehmung einer körperlichen oder geistig-seelischen Veränderung veranlassen ihn zu der Feststellung: »Ich bin
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krank«, oder »Ich bin behindert« und. führen zu dem Schluß: »Ich brauche fremde Hilfe«, nachdem es ihm mit herkömmlichen Mitteln nicht gelungen ist, den Schmerz zu beseitigen, die Behinderung zu überwinden oder eine hinreichende Erklärung für seine wahrgenommene Veränderung zu finden. Diese Hilfe erwartet er von einem Heilkundigen, in der Regel von einem Arzt.
Der Leidende empfindet sich als krank - »Ich bin krank« - oder er nimmt eine Funktionsstörung oder -Veränderung an sich wahr, die er als Krankheit vermutet -»Ich habe eine Krankheit.« (E. Kahn) Seine bis dahin nicht wahrgenommene Körperlichkeit wird gegenständlich, der tragende Leib wird zum lastenden (Plügge). Es würde zu weit führen, an dieser Stelle auf die Bedeutung der Begriffe »sein« und »haben« im Sinne von Fromm näher einzugehen, nach dem »in der Existenzweise des Habens ... die Beziehung zur Welt die des Besitzergreifens und Besitzens« ist, »eine Beziehung, in der ich jedermann und alles, mich selbst eingeschlossen, zu meinem Besitz machen will«. Nach seiner Auffassung ist »das eigene Ich ... das wichtigste Objekt des Besitzgefühls«, als »die Basis unserer Identitätserfahrung«.
Wenn aber Sein eine vom Haben grundverschiedene Form menschlichen Erlebens ist und es unser Ziel sein müsse, »viel zu sein« und nicht »viel zu haben«, so kann Krankheit haben nur dann in dem dargelegten Sinne verstanden werden, als sie Verlust von Gesundheit bedeutet, Störung der Integrität der Person, des Seins, welche es wiederzuerlangen gilt. Lopez Ibor erweitert die Ambi-guität unseres Körpers - wir haben unseren und wir sind unser Körper- noch durch eine dritte Dimension: »er hat und er hält uns gleichzeitig«. In diesem Sinne kann Krankheit auch von uns Besitz ergreifen und so unsere Seinsweise einschränken; nicht ich habe oder besitze Krankheit, sondern Krankheit hat und besitzt mich, was Fromm als Verlust der Verfügbarkeit - »die Fähigkeit, zu sein und meine mir eigenen Kräfte auszudrücken, ist Teil meiner Charakterstruktur und hängt von mir ab« - in extremen Situationen beschreibt, »wie Krankheiten mit unerträglichen Schmerzen, Folter oder andere Fälle, in denen die meisten Menschen ihrer Fähigkeit zu sein beraubt sind«.
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»Um in der Weise eigentlicher Existenz existieren zu können«, so formulierte es Binswanger, »muß ich nicht nur völlig Herr meines Leibes sein, sondern mein Leib als völlig mir zugehörig (nicht Gegenstand oder Obstacle) erleben; muß ich, mit anderen Worten, zwischen meinem Leib und mir selbst keinerlei Trennung erleben, sondern beides in ungeschiedener Totalität sein.«
In dieser mehr oder weniger bewußt erlebten Situation muß der Patient die Möglichkeit haben, sich seinem Arzt zu öffnen, ihm gegenüber sich auch verbal zu äußern, zu sprechen. Nach Mauz handelt es sich bei dem Kranken um einen Menschen, »dem durch die Krankheit plötzlich in einer beunruhigenden und beängstigenden Weise seine Individualität zum Bewußtsein gekommen ist..., plötzlich ist sein Selbst gestellt und er muß sich diesem Selbst stellen.« Der Kranke empfindet das bis dahin unbewußt integrierte Organ als Objekt mit mehr oder weniger starker Distanz zu sich selbst. Schmerz und Übelkeit scheinen hierbei einen stärkeren Bezug zum personalen Sein zu besitzen als etwa die Funktionsstörung einer Extremität oder gar nur das bloße Wahrnehmen einer körperlichen oder geistig-seelischen Veränderung. So empfindet ein unter Schwindel und Erbrechen leidender Mensch sich insgesamt als krank: »Ich bin krank«, während ein anderer mit einer Lähmung der Hand verkündet: »Ich bin nicht krank, nur gehorcht mir meine Hand nicht mehr...« In beiden Fällen ist das Ich am Wahrnehmen beteiligt. Es läßt sich, nach Gabriel Marcel, »nicht auf einen spezifischen Inhalt zurückführen ..., der etwa mein Leib, meine Hände, mein Gehirn« wäre, »es ist eine Gegenwart, die ein Ganzes darstellt.« In beiden Fällen ist die Verfügbarkeit des Leibes eingeschränkt. Zugleich mußten wir jedoch trotz dieser Ganzheit erfahren, »daß unsere Körper in einem überraschenden und fast erschreckenden Ausmaß entbehrlich sind, und das wieder lehrt uns, daß wir unser persönliches Ich nicht einfach mit unserem Körper identifizieren können« (Popper). Auch diese Erfahrung des Kranken, sei sie bewußt oder unbewußt, ist eine jener Prämissen, die Grundlage sind für den Dialog zwischen Arzt und Patient.
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»Eingesperrt in mich selbst lauere ich auf alles, was, bald drohend, bald helfend, einer beunruhigenden Welt, in die ich geworfen bin, entströmt und die Wunde, die ich in mir trage, die ich bin, heilt, pflegt oder zum Eitern bringt.« (Gabriel Marcel) Der Kranke wendet sich daher an die Person des Arztes und erwartet Hilfe. Seine Schilderung der Symptomatik schließt in sich die Beziehung zu einem anderen ein. Hier begegnet uns jene Paarung »zwischen diesem Bewußtsein, zu existieren ... und dem Willen, von dem anderen erkannt zu werden ..., der (was man auch sagen mag) einen integrierenden Bestandteil meiner selbst bildet« (Gabriel Marcel). Nach Pauleikoff tritt »der Kranke ... mit seiner Begegnung in die Situation des Arztes ein, und der Arzt tritt in die Situation des Kranken.« Das Gespräch kann beginnen. Dabei hält Mei-nertz den Patienten »für gar kein Objekt im gewöhnlichen Sinne, sondern für ein Du. Ein Du ist aber immer ein Du zu mir, wie das Ich ein Ich zu Dir, und diese lebendige Gemeinschaft beider, das Wir, ist die Grundlage aller zwischenmenschlichen Beziehungen, auch der Gemeinschaft Arzt - Kranker.«
Der hilfesuchende Mensch, der sich an einen Arzt wendet, empfindet sich krank oder glaubt, Krankheit zu besitzen, von ihr befallen zu sein. Dieses Sichempfinden oder Glauben ist noch nicht Wissen; er, der Kranke, hat zunächst noch nicht Gewißheit, auch wenn er etwas fürchtet. Hoffnung hat er stets; dies beinhaltet schon der Entschluß, sich an einen Arzt, an einen Heilkundigen zu wenden, das Gespräch zu suchen, selbst dann, wenn er nur Erlösung von unerträglichem Leid, sogar durch vorzeitigen Tod erhoffen sollte. Er erwartet nicht nur einen Heilkundigen, sondern auch einen verständnisvollen, einen verstehenden Menschen. »Das Wesen der Krankheit ist«, nach Viktor von Weizsäcker, »eine Not, und äußert sich als eine Bitte um Hilfe: ich nenne den krank, ... in dem ich als Arzt Not erkenne.«
Der Arzt hat diese Not zu erkennen, und zwar durch und durch zu erkennen (diagnostikein), nicht nur ein
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Symptom in seiner Vordergründigkeit; er hat daher vor jeder Therapie eine umfassende Diagnose zu stellen. Sie beinhaltet die Zuordnung der gesamten Symptomatik zur Person des sich ihm anvertrauenden Menschen, wobei nicht selten Symptome gewissermaßen als Schiene anzusehen sind, auf der ein Mensch in seinem Leid sich einem Du hilfesuchend nähert.
Hinter einem sich darbietenden Symptom gründet nicht selten eine gänzlich andersgeartete und -strukturierte intrapsychische oder situative Problematik (Psy-chogenie, Soziogenie), während umgekehrt aber auch ein von der Person des Kranken vordergründig angeschuldeter geistig-seelischer Konflikt nur zu häufig als Ursache körperlicher Beschwerden, quasi als Entschuldigung für bestehendes Leid oder die eingeschränkte Verfügbarkeit des Körpers angeboten wird.
Eine Orientierung alleine am Symptom würde in keinem Fall eine echte Diagnose gelingen lassen und somit auch keine sinnvolle und erfolgversprechende Therapie ermöglichen. All dies offenbart sich nur im ärztlichen Gespräch.
Eine somatische Erkrankung ist charakterisiert durch eine typische Symptomatik und/oder durch einen charakteristischen (Lokal-) Befund, wobei es jeweils zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Einbeziehung der Person des Kranken in sein Kranksein kommt. Eine exakte diagnostische Analyse unter Einbeziehung aller erforderlichen technisch-apparativen Möglichkeiten ist unverzichtbare Voraussetzung einer naturwissenschaftlich orientierten Medizin, doch darf hierbei die Person des Kranken mit seiner Wertwelt und Umwelt, in seiner aktuellen Situation und seiner Biographie (Paal) nicht außer acht gelassen werden.
Im Falle einer primär nicht-organischen Erkrankung (Psychogenie) ist eine Diagnostik per exclusionem, also eine möglichst umfassende Analyse aller naturwissenschaftlich-technisch meßbaren Parameter und der hieraus resultierende Schluß, daß der Patient körperlich vollständig gesund sei und man ihn nun vielleicht an einen Psychotherapeuten, an einen Psychiater oder einen Seelsor-
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ger verweisen müsse, ärztlich fragwürdig, ganz abgesehen von den immensen Kosten, die diese Art der Diagnostik mit sich bringt. Dieser diagnostische Weg stellt für den Patienten selbst eine unzumutbare Belastung und in nicht wenigen Fällen auch eine Gefährdung dar, indem erhobene Minimalbefunde und erfragte Zufallssymptome eher zu einer Verunsicherung des Patienten beitragen und eine therapeutisch unsinnige Lawine ins Rollen bringen, die nicht selten zwar das Gewissen des so vorgehenden Diagnostikers vordergründig beruhigen, gleichzeitig aber den Kranken zusätzlich belasten, wenn nicht ihm Schaden zufügen.
In keinem Fall genügt es, sich diagnostisch allein auf die dargebotenen Symptome (Symptomatik) zu stützen. Vielmehr sind diese zu ergänzen durch das Gesamt der analysierten Zeichen (Semiotik), durch den erhobenen Befund. Ärztliche Diagnostik sollte in jedem Falle primär die Person des Kranken miteinbeziehen. Dies gilt in gleicher Weise auch für den weiteren, nun therapeutischen Weg, der ohne den ständigen Dialog zwischen Arzt und Krankem allenfalls Symptome zu beseitigen vermag, nicht aber zu heilen.
Plügge wies mit Recht darauf hin, daß der Einwand, Pathologisch-Physiologisches müsse von Psychologischem sauber getrennt werden, nicht gilt, »denn eine solche Trennung wäre ein wissenschaftliches Artefakt, das nicht von der Analyse der klinischen Wirklichkeit ausgeht, sondern von einer vorgefaßten Meinung. Der Meinung nämlich, es gebe realiter die Identität von Mensch = Organismus und, davon trennbar, ein cartesianisches Cogito, also ein freischwebendes Bewußtsein, Seelisches, Reflexion.« Entsprechend bedauert auch Riedl, »daß Vernunft und Erfahrung, Idee und Realität, Geist und Materie zu Unrecht und zu unserem Schaden gespalten werden.« Nach Popper scheint »das sich verändernde Ich, das doch es Selbst bleibt..., auf dem sich verändernden individuellen Organismus zu beruhen, der dennoch seine individuelle Identität behält.«
Die Begegnung zwischen Patient und Arzt führt einmal zu einem ersten Eindruck beider voneinander. Dieser
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vertieft sich dann jedoch im ärztlichen Gespräch, im Dialog, im Hinblick auf eine Analyse, nicht selten auch schon zugleich primär mit einem therapeutischen Effekt. Dieser erste Eindruck bleibt im weiteren Dialog dynamisch, Zwiesprache zwischen Krankem und Arzt mit all der sich hieraus ergebenden und a priori vorhanden seienden Affektivität und Voreingenommenheit auf beiden Seiten. »Was immer wir nun von den Objekten dieser Welt wissen können, baut notwendigerweise auf den Erlebnissen unseres Subjektes auf, gleich so unser Wollen, Denken und Handeln. Subjekt und Objekt erscheinen gleichzeitig als Gegensatz wie als Fundament aller Erkenntnis.« (Riedl) Im Gespräch zwischen Arzt und Krankem, in der Diagnostik wie in der Therapie, bedarf es auch der Bereitschaft des Arztes, dem Patienten offen, ohne Vorurteile und wahrhaft zu begegnen und regelmäßig sich und sein Verhalten im Sinne Balints (»Droge Arzt«) zu reflektieren und gegebenenfalls zu korrigieren. Dies gilt auch für die nicht verbalen Interaktionen zwischen Arzt und Krankem. Es würde den Rahmen dieser Ausführungen sprengen, hier auf die verschiedenen Techniken des ärztlichen Gespräches und ihrer Anwendung einzugehen. Der Dialog vollzieht sich in Aktion und Reaktion, mit Aufzählung und Erfragen der verschiedensten Symptome unter Berücksichtigung ihres Entstehens und ihres Verlaufs (Symptomatik). Demgegenüber fußt die Analyse auf einer weitestmöglichen Objektivierung der zutage tretenden Zeichen und gewonnenen Testergebnisse, die zu registrieren, schließlich apparativ zu bestätigen und zu objektivieren sind (Semiotik). Der erhobene Befund führt zu einem Status und so zu einer Diagnose als Grundlage für jeden therapeutischen Ansatz.
Ziel der Diagnostik kann aber nicht die Analyse eines kranken Organs, ja nicht einmal die eines kranken Körpers oder deren Ursache und krankheitsformenden Faktoren sein (Ätiologie und Pathogenese), sondern hat die Person des Kranken mit ihrem Bangen, ihrem Fürchten und ihrem Hoffen mit zu berücksichtigen, ihr Agieren und Reagieren in ihrem und auf ihren Schmerz oder ihr
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Behindertsein. Entsprechendes gilt auch für die ärztliche Behandlung. Nur unter Berücksichtigung von Person und Krankheit in ihrer aktuellen Situation kann der Arzt im Gespräch das Gesamt der gewonnenen Ergebnisse werten und interpretieren. Nur so kann er die Krankheit und letztlich die Person des Kranken verstehen, und nur aus diesem Verstehen heraus therapeutische Ansätze aufzeigen und eine sinnvolle umfassende Behandlung einleiten, die mehr anstrebt als das Funktionieren eines Organs oder des Organismus eines kranken Menschen. Nur so gelingt eine Therapie, die den Kranken gesund werden läßt, wenn möglich, es ihm gestattet zu heilen, das heißt, Krankheit zu überwinden, selbst dann, wenn sie sogar zum Tode führen sollte, zu einem Tod, der auch zu einer Erlösung von dem Leiden im Positiven führen kann, denn auch ein Sterbender besitzt und bewahrt Hoffnung und muß nicht verzweifeln. »Ich behaupte mich«, so formulierte es Gabriel Marcel, »als Person in dem Maße, in dem ich die Verantwortung übernehme für das, was ich tue, und für das, was ich sage«, und es läßt sich hinzufügen, auch für das, was ich erleide, »aber«, so fährt er fort, »vor wem bin ich oder vor wem erkenne ich mich verantwortlich? Die Antwort lautet, daß ich es zugleich vor mir selbst und vor dem anderen bin, und daß eben diese Verbindung für die persönliche Verpflichtung bezeichnend ist, daß sie das eigentliche Merkmal der Person darstellt.«
Nur auf dem Wege über das ärztliche Gespräch ist es möglich, die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Krankheit im psychosomatischen Sinne zu beantworten; nur selten gelingt dies dem Kranken allein in Zwiesprache mit sich selbst. Der so Leidende »hat« nicht nur Krankheit als Besitz - Görres spricht von einer »List der psychischen Natur, in der unbewußte Ziele verwirklicht, ungelebtes Leben verleiblicht, unerkannte Konflikte ausgetragen werden« -, sondern »macht« sie. Hier wird der Leidende zugleich zum Täter, zum »geheimen Hersteller seiner Krankheit« (Görres).
Außerhalb einer psychosomatischen Betrachtungsweise wird die Frage nach dem Sinn einer Erkrankung nur schwer zu beantworten sein, es sei denn, man definiert
menschliches Sein als bruchstückhaft, als endliches Seiendes, welches »den letzten Grund seiner Entwicklung in einer Setzung durch das unendliche Sein hat« (Görres), somit in einer Transzendenz, im Glauben. Dies klingt auch an in einer Formulierung Fromms: »Nur in dem Maße, in dem wir die Existenzweise des Habens beziehungsweise des Nichtseins abbauen ..., kann die Existenzweise des Seins durchbrechen. Um zu >sein<, müssen wir unsere Egozentrik und Selbstsucht aufgeben beziehungsweise uns >arm< und >leer< machen, wie es die Mystiker oft ausdrücken.« Hier stößt das ärztliche Gespräch an eine Grenze, die zu überschreiten dem Seelsorger vorbehalten bleibt.
In der aktuellen Situation eines nicht zu übersehenden Schwergewichtes der technisch-apparativen Entwicklung gegenüber dem personalen Bezug zwischen Arzt und Krankem kommt es mehr denn je auf den Arzt an, nicht nur eine optimale Diagnostik und Therapie unter Einbeziehung aller technisch-apparativen und medikamentösen Möglichkeiten anzubieten, sondern auch, sich dem Kranken zu stellen, sich ihm zuzuwenden, seine Fragen zu beantworten und ihn fachgerecht zu beraten. Der Patient erwartet im Arzt »keinen Schulmeister und keinen Seelsorger, keinen Polizeimann und auch keinen Gesundheitspolitiker« (Schipperges). In diesem Zusammenhang ist auch auf die zunehmende Aktivität von Patienten-Selbsthilfegruppen zu verweisen, denen ein antiärztlicher Affekt nicht völlig abzusprechen ist. Sie suchen »durch den Austausch mit gleichermaßen Betroffenen ... Bedrohung und Isolierung« zu überwinden (Schüffei), nachdem sie darin nur zu oft und zu lange von Ärzten sich allein gelassen fühlen.
»Krankheit macht Wahrheit offenbar. Sie ist eines jener Signale der Wirklichkeit, die uns drängen, unsere spontanen und naiven Hypothesen des Daseinsverständnisses zu korrigieren. Sie widerlegt zwingend jene schier angeborene egozentrische Lebenstheorie des Menschen, in der er sagt: Gott und die Welt sind dazu da, mir zu gefallen, und ich bin dazu da, sie zu genießen. Meine Hauptaufgabe und Berufung ist, mir Welt genießbar und genüßlich zu bereiten.« (Görres) Entscheidend für das ärztliche Können, für Diagnostik und Therapie und somit auch für die Heilung eines Kranken ist und bleibt, auch unter Berücksichtigung aller technisch-naturwissenschaftlich-apparativen Errungenschaften und Möglichkeiten, die Einbeziehung der Person des Kranken in ihrer Gesamtheit und ihrer Situation im ärztlichen Gespräch, denn nur in einem personalen Bezug gründet Hoffnung für den Kranken, wie auch für den Arzt. Nur auf diesem Wege ist und bleibt ärztliche Heilkunst human; so verstanden kann sie niemals inhuman sein oder werden.
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18) Leben ohne Zukunft? Überlegungen eines Psychiaters
von Hanns Hippius
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Welche Gründe rechtfertigen es, daß auch noch ein Psychiater aus der Sicht seines Fachs einen Beitrag zu einem Buch schreibt, in dem »Gedanken über die Hoffnung« zusammengetragen werden? Drückt sich darin nicht wieder einmal die ohnehin oft zu bemerkende Anmaßung der Psychiater aus, sich zu allen nur erdenklichen Problemen äußern zu wollen - auch wenn die Themen besser aus der Sicht der Theologie oder der Philosophie behandelt würden?
Diese vorwurfsvolle Frage wird sich vielen Lesern aufdrängen, die in den letzten Jahren immer wieder einmal sehr selbstsichere Stellungnahmen zu allgemeinen Problemen aus der Feder von Psychiatern gelesen haben. Nichts gibt es, wozu Psychiater sich nicht erklärend oder deutend geäußert hätten - angefangen bei allgemeinen Problemen der Geschichte und der aktuellen Politik bis hin zu grundsätzlichen Fragen des Glaubens. Das Recht hierzu wird vielleicht dem Psychologen und auch noch dem Psychoanalytiker zuerkannt, weil man Vertretern dieser Disziplinen Kompetenz zubilligt, aus der Perspektive ihres jeweiligen Fachs auch zu überindividuellen Problemen Stellung nehmen zu können. Doch vom Psychiater erwartet man, daß er - ausgehend von der primär auf individuelles Leiden gerichteten ärztlichen Aufgabe -Aussagen zu ärztlichen Fragen und allenfalls noch zu Problemen des Arzttums und zu allgemeinen Themen wie Krankheit und Gesundheit macht.
Trotz dieser sehr berechtigten Einwände gibt es aber einen Ansatzpunkt, von dem aus der Psychiater aus seiner engeren fachlichen Sicht doch zu vielen allgemeinmenschlichen Problemen etwas beizutragen vermag. Bei psychiatrischen Krankheiten erleben und erleiden die Betroffenen viele Bereiche der menschlichen Existenz in ihrer Verzerrung und Verfremdung bis hin zur Negation. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, daß sich - seit der Entwicklung der Psychiatrie zu einer eigenständigen Disziplin der Heilkunde zu Beginn des 19. Jahrhunderts - Philosophie und Psychiatrie immer wieder gegenseitig Anregungen vermittelt haben. So waren es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Philosophen und Psychiater der Romantik, die sich mit der- uns heute abstrus anmutenden - Frage nach den Zusammenhängen zwischen Krankheiten und Sünde befaßten. Das ist heute kein Thema mehr, weder für die Philosophie noch für die Medizin. Aber bis in unsere Gegenwart hinein gewinnt das Philosophieren über das Problem des freien Willens, ja, über das Phänomen der Freiheit überhaupt eine zusätzliche Dimension, wenn man sich vor Augen führt, wie dem Menschen mit bestimmten psychiatrischen Krankheiten (z.B. bei allen Suchtkrankheiten, bei Zwangs-Syndromen) Freiheit verlorengehen kann. Und auch heute noch gewinnt die Dialektik von Glaube und Wahn an Prägnanz, wenn psychiatrisch-ärztliches Wissen von Wahnkrankheiten berücksichtigt wird. Psychiatrie darf sich nicht im Philosophieren verlieren - sie muß ihr Selbstverständnis in erster Linie immer darauf gründen, daß sie eine Disziplin der Heilkunde ist. Doch immer wieder werden aus der ärztlichen Erfahrung des Umgangs mit psychiatrischen Patienten Erkenntnisse gewonnen, die zu Impulsen für die Philosophie, für die Anthropologie und die Sozialwissenschaften werden können. So hat Sigmund Freuds Psychoanalyse ihre Bedeutung am Beginn unseres Jahrhunderts nicht nur deswegen bekommen, weil mit ihr die Grundlagen für die tiefenpsychologische Psychotherapie geschaffen wurden. Die Psychoanalyse stellt - unabhängig von ihrem womöglich nur begrenzten therapeutischen Wert - in unserer Zeit aber ein in sich schlüssiges anthropologisches Modell dar. Und das philosophische Werk von Karl Jaspers ist entstanden, nachdem er als Mitarbeiter der Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg das für die Psychiatrie heute noch grundlegende Buch allgemeine Psychopathologie« geschrieben hatte. Es könnten noch viele andere Beispiele aus den letzten zweihundert Jahren angeführt werden, die zeigen, daß es immer wieder
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fruchtbare Anregungen aus der Psychiatrie für andere Disziplinen gegeben hat. Solche Impulse der Psychiatrie für die Philosophie gibt es allerdings nicht erst seit dieser Zeit, in der sich eine wissenschaftliche Psychiatrie überhaupt erst entwickelt hat. Eine Erscheinungsweise psychiatrischen Krankseins hat die Ärzte und Philosophen sogar schon seit dem Altertum immer wieder beschäftigt: die Melancholie, die Depression.
Schon im 5. Jahrhundert vor Christus hat Hippokrates erkannt, daß depressives Herabgestimmtsein Ausdruck einer Krankheit sein kann. Hippokrates hat die krankhafte traurige Verstimmung eines Menschen auf eine Überschwemmung von Körper und Seele mit »schwarzer Galle« zurückgeführt; deshalb hat er diese Krankheit als »Melancholie« bezeichnet. Auf dieser »Erkenntnis« fußend hat Aristoteles dann zum Normalitäts-Begriff philosophiert und Normalität als ein ausgewogenes Gleichgewicht von »kalter« und »warmer« Galle aufgefaßt. In dieser schlägt sich schon die zutreffende Beobachtung nieder, daß es bei Kranken mit melancholischen Verstimmungen im Verlauf des Lebens auch zu gegensinnigen Krankheitserscheinungen kommen kann - zu krankhafter euphorischer (manischer) Hochgestimmtheit. Depressive Krankheitsphasen wurden als Folge des Überwie-gens der »kalten, schwarzen Galle«, manische Krankheitsphasen als Ausdruck des Überwiegens der »warmen Galle« angesehen.
Dieser Beobachtung, daß bei einigen Kranken mit depressiven Verstimmungen gelegentlich auch manische Verstimmungen vorkommen können, ist es zuzuschreiben, daß schon in der Antike diese Form der Depression als eine Krankheit erkannt wurde, die man heute als »bipolare endogene Depression« bezeichnet. Zu dieser Einsicht wäre man in so früher Zeit wahrscheinlich nicht gelangt, wenn die Krankheit »Depression« sich nur in der Form der insgesamt häufigeren »monopolaren Depression« zeigen würde, bei der episodenhaft nur depressive Verstimmungen auftreten. So war es aber möglich, daß der Arzt Aretaios von Kappadokien bereits im 2. Jahrhundert nach Christus eine Schilderung der manisch-de-
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pressiven Krankheit gegeben hat, die bis heute zutrifft. Und so weiß man nun schon seit dem Altertum, daß es eine Krankheit gibt, in der der Mensch so melancholisch und verzweifelt ist, daß er ohne Hoffnung, ohne Glauben an eine Zukunft lebt.
Jeder hat es wahrscheinlich schon einmal erlebt: Ein Mensch, der womöglich noch wenige Tage zuvor ganz »unauffällig« war, tritt uns gegenüber und ist jetzt völlig verzweifelt und hoffnungslos. Bis zu dieser »Veränderung« kam dieser Mensch seinen täglichen Pflichten nach, lebte aktiv in seiner Umwelt, hatte Kontakt zu seinen Mitmenschen, nahm an vielem Anteil und konnte sich von ganzem Herzen freuen. Nun ist er lethargisch, teilnahmslos und traurig, vermag keine Freude mehr zu empfinden und ist von tiefer Hoffnungslosigkeit erfüllt. Die Zukunft ist für ihn jetzt nur noch schwarz und bedrohlich; ja, es kann sein, daß man die Äußerung hört, es gäbe überhaupt keine Zukunft mehr für ihn. Die Zukunft verschwindet. Die Depression umgreift das Erleben der Zeit. »Das fühlende Gegenwärtighaben der Erlebens-In-halte erlahmt - sie sind da, aber für den Kranken nur wißbar, nicht fühlbar. Wie alles, so versinkt auch die Zukunft: der Zeitbegriff ist da und das richtige Wissen von der Zeit, aber nicht das Zeiterleben.« (Jaspers) Die Verzweiflung darüber kann so tiefgreifend sein, daß Gedanken aufkommen, der Zeitlichkeit des Lebens, dem Leben selbst ein Ende zu machen.
Was ist mit diesem Menschen geschehen? Wie konnte er sich so verändern? Wenn sich die Veränderung sehr schnell vollzogen hat und in der Lebenswelt des Betroffenen nichts aufzuspüren ist, was ein einleuchtender Grund oder Anlaß für diese Traurigkeit und Niedergeschlagenheit sein könnte, dann kommt dem Außenstehenden schon bald der Gedanke, es könne sich um etwas Krankhaftes - vielleicht um eine »Depression« - handeln. Der Betroffene selbst hat diese Einsicht oft nicht; er sucht und findet Erklärungen dafür, daß er traurig und hoffnungslos geworden ist.
Die Begriffe »Depression« und »depressiv« sind in unserer Zeit so weitgehend zu Worten der Umgangssprache
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geworden, daß dem Außenstehenden der Gedanke oft jedoch nicht kommt, bei der Depression könne es sich um etwas Anomales, ja, vielleicht sogar um etwas Krankhaftes, um eine Krankheit handeln. Dieser Schluß unterbleibt vor allem dann, wenn der von Hoffnungslosigkeit und Traurigkeit Ergriffene von sich aus auf Gründe hinweist, die es doch wohl jedem verständlich machen würden, daß er jetzt depressiv sei. In dieser Situation beginnt dann das Gegenüber eines depressiven Menschen zu überlegen und abzuwägen, ob denn der vorgebrachte Grund tatsächlich ausreichend dafür sei, die eingetretene Veränderung verständlich zu machen und somit ursächlich zu erklären. Und nur allzuoft scheinen die Gründe zur Erklärung des Depressivwerdens durchaus einleuchtend und überzeugend.
Vor der grundsätzlich gleichen Situation steht auch der Arzt, wenn er mit einem depressiven Patienten spricht -mag dieser nun von sich aus oder nur auf Betreiben seiner Angehörigen zu ihm gekommen sein. Woher nimmt sich aber der Arzt das Recht, wie rechtfertigt er es, in solchen Situationen mit einer medizinischen Behandlung helfen zu wollen? Was berechtigt den Arzt, einen depressiven Menschen, der aus seiner Hoffnungslosigkeit heraus vielleicht sogar selbst seinem Leben ein Ende setzen will, dieses Vorhaben zu vereiteln - womöglich dadurch, daß er diesen Menschen gegen seinen Willen in die Obhut einer psychiatrischen Klinik überweist? Ist es vom Arzt nicht anmaßend, durch eine Therapie einen Menschen aus einer Situation herausführen zu wollen, in der dieser sich womöglich zum ersten Mal in seinem Leben mit allgemeinen Fragen der menschlichen Existenz, mit seiner individuellen Rolle in der Vergangenheit und in der Zukunft auseinanderzusetzen scheint? Liegt darin nicht Vermessenheit, einem sich mit sich und den Problemen des Sinns oder der Sinnlosigkeit der Existenz und des Lebens auseinandersetzenden Menschen von diesen Gedanken befreien, ihn davor bewahren zu wollen?
Der Medizin der Antike ist die Erkenntnis zu verdanken, daß das depressive Erleben zukunftsloser Hoffnungslosigkeit Ausdruck einer Krankheit »Depression«
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sein kann. Und einer der wichtigsten Fortschritte in der modernen Medizin liegt nun darin, daß für viele Formen der Depression - insbesondere für die endogene Depression - in den letzten Jahrzehnten sehr wirksame Behandlungsmethoden entdeckt und entwickelt worden sind. Daraus darf selbstverständlich nicht abgeleitet werden, jede depressive Verstimmung, jedes Verzweifeltsein, jede Hoffnungslosigkeit könne und müsse ärztlich behandelt werden. Für den Arzt besteht jedoch bei jedem Menschen, der ihn wegen einer Depression um seine Hilfe und seinen Beistand bittet, die verantwortungsvolle Aufgabe zu klären, ob es sich um eine krankhafte und dann womöglich behandelbare Depression handelt.
Der wichtigste Fortschritt in der Behandlung krankhafter depressiver Zustandsbilder wurde in den fünfziger Jahren gemacht, als durch klinische Zufallsbeobachtungen Medikamente entdeckt wurden, die als »Antidepressiva« inzwischen von Ärzten in der ganzen Welt zur Behandlung vor allem der endogenen Depressionen eingesetzt werden. Bei anderen Formen der Depression - z.B. bei den lebensgeschichtlich verursachten, psychogenen (reaktiven und neurotischen) Depressionen - haben die Antidepressiva nur einen begrenzten therapeutischen Wert. Zur Behandlung dieser Depressionen kommen in erster Linie psychotherapeutische Verfahren in Betracht. Und auch bei den »körperlich begründeten Depressionen« (Depressionen, denen entweder eine Gehirn- bzw. Körperkrankheit oder aber auch - wie beim Alkoholismus - eine chronische Intoxikation zugrunde liegt) können Antidepressiva allenfalls Hilfsmittel im Rahmen einer umfassenden Behandlung sein, die primär gegen das Grundleiden gerichtet sein muß.
Doch die Zahl der mit Antidepressiva (mit rund acht-zigprozentiger Wahrscheinlichkeit) erfolgreich behandelbaren endogenen Depressionen ist für sich genommen schon so groß, daß allein schon der quantitative Aspekt ausreicht, die Entdeckung der Antidepressiva zu den wichtigen und großen Fortschritten der modernen Arzneimitteltherapie zu rechnen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat aufgrund der Ergebnisse psychia-
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trisch-epidemiologischer Studien an unausgelesenen Bevölkerungsgruppen berechnet, daß zu jedem beliebigen Zeitpunkt 0,3 bis 0,4 Prozent der Weltbevölkerung - das sind immerhin 15 bis 20 Millionen Menschen! - an einer endogenen Depression leiden. Und durch die sorgfältige Behandlung mit Antidepressiva könnte das schwere subjektive Leiden der meisten dieser Menschen entscheidend verringert werden.
Die medizinische Forschung hat auf dem Gebiet der Behandlung der phasenhaften endogenen (mono- oder bipolaren) Depressionen in den letzten Jahrzehnten dann noch einen weiteren großen Fortschritt erzielt. Durch die Einführung der »Lithium-Prophylaxe« ist es möglich geworden, nach erfolgreicher Behandlung mit Antidepressiva weitere Rückfälle zu verhindern.
Wenn auch die Wirkungsmechanismen dieser aus der klinischen Empirie heraus entwickelten Arzneimittel (Antidepressiva und Lithium-Salze) noch nicht völlig aufgeklärt worden sind, so ist dennoch an deren großer therapeutischer Bedeutung nicht mehr zu zweifeln. So ist eine eigentümliche Situation entstanden: Mit einem in seinen Wirkungsabläufen noch nicht einmal eindeutig geklärten biologischen Therapieprinzip ist man ein gutes Stück einer der Krankheiten Herr geworden, die aus philosophisch-theologischer Sicht ein »Privileg« der menschlichen Existenz sind: der Depression.
Es ist eine inzwischen jedem Psychiater geläufige, aber immer wieder tief beeindruckende Erfahrung des ärztlichen Alltags, daß es mit einer Arzneimittel-Therapie gelingt, einen endogen-depressiven Patienten aus seiner niedergeschlagenen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit herauszuhelfen.
Es bleibt auch heute immer noch letztlich unbegreiflich und ist oft geradezu unheimlich, daß ein Mensch, der womöglich wochenlang in Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in einen völligen »Stillstand seiner inneren Lebensgeschichte« (v. Gebsattel) ohne jede Zukunft gelebt hatte, sich allmählich aus dieser Erstarrung wieder löst. Beeindruckend sind dann oft die Schilderungen und Stellungnahmen der genesenen Patienten im Rückblick auf
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ihre Depression. Die unverrückbare Überzeugung von eigener, nicht wiedergutzumachender Schuld und die totale Hoffnungslosigkeit, der Verlust der Zukunft sind für den Depressiven offensichtlich die quälendsten Erlebnisinhalte. Der erste Schritt aus der Depression heraus ist das Wiederaufkeimen der Hoffnung.
Was kann nun diese alltägliche, immer wieder jedoch überwältigende Erfahrung des Arztes bei der Behandlung von depressiven Menschen lehren? Melancholisch werden zu können, Trauer empfinden zu können ist vielleicht tatsächlich ein Privileg des Menschseins. Doch auch wenn dies so wäre - im Umgang mit und bei der Behandlung von depressiven Menschen beweist sich, daß im Menschen alle Phänomene seiner Existenz nicht nur eine geistig-seelische, sondern zugleich auch immer eine biologische Dimension haben.
19) Hoffnungen und Erwartungen am Beginn des Lebens von Josef Zander
In der Heilkunde der Gegenwart haben Hoffnungen und Erwartungen in allen Lebensphasen eine fundamentale Bedeutung. Dies trifft zu für den Beginn unseres Lebens und für jedes Krankheitsgeschehen im Verlauf des Lebens bis hin zum Sterben.
Im folgenden geht es um natürliche Hoffnungen. Sie sind auf Zukünftiges gerichtet, auf etwas, von dem nicht sicher ist, ob es eintreten wird. Hoffnung nimmt das Risiko, daß auch das Nichterhoffte eintreten kann, an. Sie ist der Wirklichkeit angepaßt.
Im christlichen Denken ist diese Form der natürlichen Hoffnung nicht von vornherein eine Tugend. Nach Josef Pieper »muß sie nicht so sehr auf das Gute ausgerichtet sein, daß sie auf keine Weise dem Bösen sich zukehren kann«. Die Frage, ob Leben ohne Hoffnung möglich ist, kann niemand gültig beantworten. Hoffnung, worauf auch immer sie gerichtet sein mag, vermittelt uns jedoch Mut und Kraft zum Leben.
Aus ärztlicher Erfahrung stelle ich der Hoffnung die Erwartung gegenüber. Beiden gemeinsam ist ihre Ausrichtung auf Zukünftiges. Während das Erhoffte immer mit dem Erwünschten identisch ist, kann das Erwartete beides, erwünscht und unerwünscht sein. Vielfach besteht noch die Möglichkeit, das erwartete, aber unerwünschte Ereignis durch eine Veränderung des gegebenen Zustandes abzuwenden.
Erwarten wir hingegen ein Ereignis, welches gleichzeitig erwünscht ist, so besteht die Neigung auszuschließen, daß an seiner Stelle auch Unerwünschtes, also Unerwartetes geschehen könne. Das in der Wirklichkeit der Hoffnung angenommene Risiko wird in der Erwartung verdrängt. Erwartung nähert sich nicht selten dem »Anspruch« auf ein zukünftiges Ereignis. Sie ist vielfach der Wirklichkeit weniger angepaßt als die Hoffnung, es sei denn, die Fakten sind so eindeutig, daß es außerhalb des
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Erwarteten keine Hoffnung mehr gibt. In diesem Fall wird Hoffnung zur Illusion.
Annahme eines nicht mehr abwendbaren unerwünschten Geschehens in unserem Leben ist eine wesentliche Voraussetzung für seine Bewältigung. Für den natürlich Hoffenden liegt die Annahme des Nichterhofften näher als für den Erwartenden die Annahme des Unerwarteten. Der Hoffende kann das Unerhoffte leichter bewältigen, weil es von vornherein in seine Hoffnung miteinbezogen war.
In der Medizin der Gegenwart ist vielfach zu beobachten, daß Hoffnungen mehr oder weniger durch Erwartungen ersetzt werden. Erwartungen können schließlich den Vorrang gewinnen. In Ereignissen am Beginn unseres Lebens wird dies besonders deutlich.
Veränderung der Sprachgewohnheit
Betrachten wir zunächst eine charakteristische Veränderung der Sprachgewohnheit. »Sie ist in Hoffnung«, sagte meine Mutter zu mir, wenn eine Frau in unserer Nähe sichtbar ihr Kind im Leibe trug. »Ich bin in Hoffnung«, sagte sie, als sie meine Schwester und mich trug. »Als ich in Hoffnung war«, sagte sie später, wenn sie aus dieser Zeit ihres Lebens erzählte. Die Weise des Hoffens meiner Mutter hat mich in meinem Leben stets begleitet. Noch als sie im Sterben lag, dachte ich daran, daß mich dieser Leib einmal in Hoffnung trug. Sicher nicht alle Schwangerschaften wurden in jener Zeit in guter Hoffnung getragen. Aber wenn es so war, wurde es auch ausgesprochen.
In meinem beruflichen Leben als Frauenarzt bin ich solcher Aussage, wenn überhaupt, so nur selten begegnet. Weit vorwiegend hörte ich »ich erwarte ein Kind« oder »ich glaube, ich erwarte ein Kind«, seltener auch »ich hoffe, daß ich ein Kind erwarte«. Damit wurde dann meist zum Ausdruck gebracht, daß ein besonders dringlicher Wunsch nach einem Kind bestand, zum Beispiel im fortgeschrittenen Alter oder nach langer ungewollter Kinderlosigkeit. Die viel weitergehende Aussage »ich bin
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in Hoffnung« ist jedoch im heutigen Sprachgebrauch praktisch unbekannt.
Diese Veränderung der Sprachgewohnheit beinhaltet nun keineswegs, daß sich an den vitalen Hoffnungen für den weiteren Verlauf der Schwangerschaft, für die Geburt des Kindes und für seine Zukunft, für eine Mutter, die dieses Kind erwünscht, in irgendeiner Weise etwas geändert hat. Das Bewußtsein, neugezeugtes Leben zu tragen, bewirkt früher oder später für diesen Menschen ein Ausmaß an Hoffnungen, welches für einen anderen Menschen nicht nachzuvollziehen ist. Trotzdem ist die Veränderung des Sprachgebrauchs im Ersatz der Hoffnung durch Erwartung wohl kein zufälliges Ereignis. Zumindest wird hier eine Scheu erkennbar, die Hoffnung in diesem Zustand der Umwelt mitzuteilen.
Hoffnungen und Erwartungen beim Liebesakt
Der Liebesakt kann verbunden sein mit der Hoffnung, daß ein Kind gezeugt wird oder auch, daß kein Kind gezeugt wird. Durch zuverlässige Methoden der Empfängnisverhütung kann die Zeugung bis auf seltene »Versager« ausgeschlossen werden. Sexualität und Fortpflanzung, welche früher stets miteinander verbunden waren, können auf diese Weise vollständig voneinander getrennt werden. Damit ist eine neue Situation im Leben der Geschlechter gegeben.
Ist ein Kind erwünscht, so behält der Liebesakt in der Verbindung mit der natürlichen Hoffnung nach wie vor seine höchste Bedeutung und Kraft im Leben der Geschlechter. Bei ungewollter Kinderlosigkeit wird durch die heute zur Verfügung stehenden Möglichkeiten einer erfolgreichen Behandlung in vielen vorher hoffnungslosen Fällen gute Hoffnung für die Zeugung eines Kindes erst möglich. Jede Sterilitätsbehandlung kann zunächst nur mehr Hoffnung geben. Die relativ geringen statistischen Wahrscheinlichkeiten eines Behandlungerfolgs lassen in der Regel eine ausgeprägte Erwartungs- oder gar Anspruchshaltung nicht zu.
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Für die Hoffnung, daß kein Kind gezeugt wird, ist bei Verwendung zuverlässiger empfängnisverhütender Methoden kein Raum mehr gegeben. Es wird erwartet, daß solche Methoden im erwünschten Sinn wirksam sind. Allenfalls kann es darum gehen, ob eine Schwangerschaft im Falle des Versagens einer empfängnisverhütenden Methode angenommen wird oder nicht. Liegt ein Behandlungsfehler von seiten des Arztes vor, z.B. bei einer operativen Sterilisation, so haftet er für die Folgen, eventuell auch für das nicht geplante Kind. So kann er zum »Zahlvater« dieses Kindes werden.
Bewußte Empfängnisverhütung auf der einen Seite und bewußte Zeugung auf der anderen Seite sind Voraussetzungen für die sogenannte Familienplanung. Auch hier hat sich eine neue Sprachgewohnheit eingestellt. Das Wort Planung stammt zunächst einmal aus außermedizinischen Bereichen, der Technik und der Wirtschaft. Planung ist in der Regel mit der Erwartung verbunden, daß sie zu dem gewünschten Erfolg führt. Hoffnung hat in Planungen nur wenig Raum.
Familienplanung mit bewußter Zeugung eines Kindes in einem vorbestimmten Zeitraum ist eng verbunden mit Erfolgs- und wohl auch mit Glückserwartungen. Erwartungsdenken dringt hier in intimste Bereiche unseres Lebens. Ein Kind ist vielfach erst dann erwünscht, wenn die vermeintlichen beruflichen, wirtschaftlichen und häuslichen Voraussetzungen gegeben sind. Dabei können allerdings beste Lebensjahre für die Fortpflanzung verlorengehen. Die Partner können in zeitliche Bedrängnis geraten, vor allem dann, wenn sich der Wunsch nach baldiger Zeugung eines Kindes in der späteren Geschlechtsreifephase der Frau nicht unmittelbar erfüllt.
Hoffnungslosigkeit und Erwartungen bei der Abtreibung
Abtreibungen zeigen vielfach den Verlust von Hoffnungen oder auch von vornherein gegebene Hoffnungslosigkeit an, die bis zur Verzweiflung gehen kann. Die Hoffnung, eine Schwangerschaft nicht auszutra-
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gen, wird in unserer Gesellschaft vielfach durch die Erwartung des Schwangerschaftsabbruchs ersetzt. Gesetzliche Regelungen in dieser Richtung übertragen den Ärzten in ihrer Gesamtheit die Verantwortung für die Vornahme der dazu notwendigen Eingriffe im Rahmen bestimmter Fristen der Schwangerschaft. In einigen Ländern, zum Beispiel in der Bundesrepublik, werden neben den Fristen bestimmte Indikationen für den Schwangerschaftsabbruch gefordert. Wer sich allerdings zum Schwangerschaftsabbruch - aus welchen Gründen auch immer - entschieden hat, wird ihn in der Regel im Rahmen der gesetzlich vorgesehenen Frist auch bei der sogenannten Indikationslösung erhalten. Die Übernahme der Kosten durch die Gemeinschaft der Versicherten kann zu einer wachsenden Anspruchshaltung beitragen.
Umgekehrt kann allerdings ein zunächst nicht erwünschtes unerwartetes Kind schließlich voll angenommen werden und die Mutter mit guten Hoffnungen für die Zukunft erfüllen.
Erwartungen in die pränatale Diagnostik
In der Vergangenheit blieb eine Mutter bis zum Ende der Schwangerschaft in guter Hoffnung für die Geburt eines Kindes. Erst nach der Geburt wurde in der Regel erkennbar, ob es gesund war oder nicht. Ein behindertes Kind nahmen die Eltern meist als schicksalsbedingt an.
Nunmehr können mit Hilfe der pränatalen diagnostischen Methoden, also der Untersuchung des Fruchtwassers und der Chorionzotten sowie mit Hilfe bildgebender Verfahren zahlreiche Chromosomenanomalien, Erbkrankheiten und Entwicklungsstörungen erkannt werden, längst bevor das Kind lebensfähig wird. Viele dieser frühzeitig erkennbaren Störungen und Leiden sind nach der Geburt nicht mit Leben vereinbar. Andere führen nach einer Geburt im lebensfähigen Alter zu mehr oder weniger ausgeprägten Behinderungen, welche durchaus mit Leben vereinbar sind. Je nach der Art der bestehenden Störungen kann die Zuverlässigkeit der Voraussage
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von hoher Sicherheit bis zu mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit reichen.
Das frühe Wissen über ein geschädigtes Kind im Mutterleib oder ein berechtigter Verdacht in dieser Richtung führt zu schwersten Belastungen der Mutter. Die Hoffnung, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, endet damit frühzeitig in einer erheblichen Einschränkung dieser Hoffnung oder auch in Hoffnungslosigkeit. Gesetzgeber haben daraus die Konsequenz gezogen, der Mutter die Entscheidung zu überlassen, ob unter solchen Bedingungen ihr noch nicht lebensfähiges Kind weiterleben soll oder nicht. So wird der Mensch mit Hilfe der pränatalen Diagnostik in die Lage versetzt, frühzeitig darüber zu entscheiden, ob er ein behindertes Kind annehmen will oder nicht, selbst dann, wenn es bei der gegebenen Behinderung durchaus lebensfähig wäre. Verlust der guten Hoffnung führt damit zu großer Entscheidungsnot der Mutter.
Von dem betreuenden Arzt wird frühzeitig eine sorgfältige Aufklärung über die Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik erwartet, insbesondere, wenn ein vermehrtes Risiko für das Kind besteht, zum Beispiel im höheren Lebensalter der Mutter. Entspricht er solchen Erwartungen nicht, so muß er nach der gegenwärtigen Rechtssprechung für die Folgen haften, wenn ein Kind mit einer Behinderung geboren wird, welche durch die pränatale Diagnostik erkennbar gewesen wäre.
Hoffnungen und Erwartungen für die Geburt eines gesunden Kindes
In Ländern mit einer hochentwickelten Medizin ist in den letzten Jahrzehnten eine außerordentliche Senkung der sogenannten perinatalen Sterblichkeit (Sterblichkeit in den ersten sieben Tagen nach der Geburt, unter Einschluß der Totgeburten) sowie der Säuglingssterblichkeit im ersten Lebensjahr zu beobachten. Sie scheint mit einer Abnahme der Zahl neugeborener Kinder mit Behinderungen, welche im Verlauf der Schwangerschaft oder der Geburt entstanden sind, verbunden zu sein.
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Wird nun entgegen der Erwartung ein mehr oder weniger behindertes Kind geboren, so können sich für die Eltern sehr erhebliche Belastungen ergeben. Je nach Art und Ausmaß der Behinderung entstehen bei optimaler ärztlicher und pflegerischer Betreuung hohe Kosten. Früher oder später stellt sich dann für die Betroffenen die Frage nach der Verantwortlichkeit und damit auch nach der Haftung. In der Regel wird diese zunächst beim Geburtshelfer, bei der Hebamme oder dem Kinderarzt gesucht.
Diese Entwicklung wird gefördert durch Organisationen, die sich speziell mit sogenannten Kunstfehlern in der Geburtshilfe beschäftigen und Eltern behinderter Kinder ihre Dienste anbieten. In der Bundesrepublik Deutschland geht eine Arbeitsgruppe dieser Art von der Annahme aus, daß jährlich 30000 Kinder mit mehr oder weniger ausgeprägten Behinderungen zur Welt kommen und daß für jedes zweite, also für 15 000 Kinder, eine fehlerhafte Schwangerschafts- oder Geburtsbetreuung die Ursache für die Behinderung ist.
Haftungsprobleme bei unerwünschtem und unerwartetem Ausgang einer Schwangerschaft mit Behinderung des Kindes gewinnen infolgedessen in der Geburtshilfe der Gegenwart zunehmend an Bedeutung. Ziel der Eltern ist es in der Regel, über Gerichtsentscheide wirtschaftliche Hilfen für die Versorgung ihres behinderten Kindes zu finden.
In vielen Ländern kommt es im Verlauf solcher Entwicklungen zu einem rapiden Anstieg von Klagen gegen Geburtshelfer, selbst dann, wenn seit der Geburt des Kindes schon Jahre vergangen sind. In den USA stehen Auseinandersetzungen dieser Art an der Spitze der Kunstfehler-Prozesse mit medizinischem Hintergrund. Etwa dreiviertel aller Geburtshelfer sind zur Zeit mindestens einmal wegen eines Kunstfehlers beklagt. Vielfach geht es um Beträge in immensen Größenordnungen. Ein entsprechender Anstieg der Prämien für die Haftpflichtversicherungen ist die Folge. Anzeichen dafür, daß sich in der Bundesrepublik eine ähnliche Entwicklung anbahnt, sind gegeben.
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Es ist nun nicht mein Anliegen, solche Entwicklungen ausschließlich zu beklagen. Ich möchte vielmehr auf die tatsächliche Situation verweisen. Infolge der außerordentlichen Fortschritte in der Geburtsmedizin gehört Geburtshilfe mehr denn je zu den schönsten und wohl auch bewegendsten ärztlichen Aufgaben. Aber es entstehen auch neue Probleme, welche der Bewältigung bedürfen.
Im Patient-Arzt-Verhältnis gewinnen die frühzeitige ärztliche Aufklärung, zum Beispiel über alternative Entbindungsmethoden und ihre Risiken, und gleichzeitig auch die Entscheidung des Patienten, zum Beispiel über den Entbindungsmodus, einen wesentlich höheren Stellenwert als dies bisher der Fall war. Aus den USA liegen Berichte vor, daß nicht wenige Geburtshelfer es vorziehen, wegen des relativ hohen eigenen Risikos auf eine geburtshilfliche Tätigkeit ganz zu verzichten. Die Bereitschaft, von ärztlicher Seite Risiken zu übernehmen, kann sich vermindern. Dies kann wiederum zu gewissen Formen einer mehr »defensiven Medizin« führen. Ausdruck von Entwicklungen dieser Art kann zum Beispiel ein starker Anstieg der Kaiserschnittfrequenzen gegenüber der Frequenz der Spontangeburten sein.
Die Erwartung eines gesunden Kindes wird zusätzlich dadurch gefördert, daß in der kinderarmen Gesellschaft unserer Kultur das Einzelkind naturgemäß höchste Aufmerksamkeit erhält. Ein einzelnes behindertes Kind oder ein behindertes Kind neben einem einzelnen gesunden Kind hat als solches wesentlich größeres Gewicht als ein behindertes Kind im Rahmen vieler gesunder Kinder. Eine Mutter aus einer kinderreichen Familie, die in der späteren Geschlechtsreifephase ihr fünftes Kind erwartete und bewußt auf die ihr angebotene pränatale Diagnostik verzichtete, sagte mir, »ich bin bereit, dieses Risiko zu tragen. In meiner Familie mit vielen Kindern gab es gelegentlich ein behindertes Kind. Auch dieses wurde voll in unsere Familie aufgenommen, wir alle haben so frühzeitig gelernt, auch Behinderte anzunehmen.« In der Wirklichkeit der Gegenwart wird nicht selten ein totes Kind sehr viel leichter angenommen als ein behindertes
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Kind. »Wir stehen vor Ihnen mit der Frage nach den Verantwortlichen, weil unser Kind lebt und schwer behindert ist. Warum hat man es nach der Geburt nicht sterben lassen?« sagten mir die Eltern eines Kindes. Es wurde in der Tat in schlechtem, aber durchaus lebensfähigem Zustand geboren. Meine Kollegen hatten »in guter Hoffnung« auf ein letztlich doch noch gesundes Kind Maßnahmen zur Reanimation eingeleitet. Die Hoffnung hatte getäuscht. Es überlebte ein behindertes Kind.
Schlußbetrachtung
In Ländern mit einer hochentwickelten naturwissenschaftlich orientierten Medizin wurden in den letzten Jahrzehnten in den genannten Bereichen am Beginn unseres Lebens die natürlichen Hoffnungen des Menschen in vielfältiger Weise durch Erwartungen modifiziert. Entwicklungen dieser Art sind immer dann zu beobachten, wenn Fortschritte in der Medizin unsere Lebensumstände tiefgreifend verändern. Das trifft zu für die Empfängnisverhütung in bezug auf die Regulation der menschlichen Fortpflanzung, für die pränatale Diagnostik in bezug auf die frühzeitige Voraussage von genetischen oder Entwicklungsstörungen des Kindes im Mutterleib, für die Abtreibung in bezug auf die frühzeitige Vernichtung des unerwünschten Kindes und schließlich für die Geburtsmedizin in bezug auf die Senkung der perinatalen kindlichen Sterblichkeit und Morbidität. Mit der Zunahme der Wahrscheinlichkeit, daß in solchen Bereichen im Endeffekt das gewünschte Ergebnis mit Hilfe der medizinischen Methoden erreicht wird, also das Risiko abnimmt, erhöhen sich die Erwartungen. Am Ende kann die Annahme stehen, das gewünschte Ergebnis müsse in jedem Fall erzielt werden, vorausgesetzt, die zur Verfügung stehenden Methoden wurden von jenen, die die Verantwortung übernommen haben, richtig angewandt. Über die Verminderung der Risiken hinaus drängt sich damit die Illusion einer Medizin ohne Risiken auf. Auf Folgen solcher Entwicklungen habe ich verwiesen.187
Zu ihrer Bewältigung wird die Medizin wahrscheinlich selbst erhebliche Beiträge leisten müssen:
Dazu gehören zunächst einmal vermehrte Anstrengungen in der kontinuierlichen Weiterbildung des Arztes. Der Geburtshelfer muß auch mit den jüngsten Fortschritten in der Geburtsmedizin eng vertraut sein. Andernfalls kann er sehr bald in Schwierigkeiten geraten.
Die Medizin muß aber auch deutlicher machen, daß in dem höchst komplizierten biologischen Geschehen im Einzelfall immer wieder mit Unbekannten zu rechnen ist, die Risikoabwägungen sehr ungenau machen können. Risiken können für den Einzelfall beim Zusammentreffen mehrerer ungünstiger Faktoren sehr viel größer sein als statistische Gesamterfahrungen zunächst vermuten lassen. Naturwissenschaftliches, kritisches Denken muß gerade auch in dieser Richtung stärker in die Medizin eindringen.
In der Anpreisung ihrer Erfolge sollte die Medizin mehr Zurückhaltung und Bescheidenheit üben. Hingegen sollte sie deutlicher auf die Grenzen ihrer Möglichkeiten und auch auf ihre Mißerfolge verweisen.
Der Patient muß wieder genauer erkennen können, daß Hoffnungen, die Risiken miteinkalkulieren, vielfach der Wirklichkeit mehr entsprechen als überzogene Erwartungen.
Die Rollen von Patient und Arzt müssen besonders in jenen Feldern, in denen die Medizin der Gegenwart sehr erfolgreich ist, neu überdacht werden. Tendenzen zu mehr eigenverantwortlicher Selbstbestimmung auf Seiten des Patienten und zur Entwicklung von Dienstleistungen auf ärztlicher Seite werden deutlich erkennbar. Der klassische Raum für ärztliche Entscheidungen wird damit eingeengt. Auch solche Entwicklungen sollte man nicht ausschließlich beklagen. Es muß vielmehr darüber nachgedacht werden, wie dieser Raum um so intensiver durch ärztliches Wirken erfüllt werden kann.
Die Vermittlung von Hoffnung wird aber über alle wis-senschafts- und zeitgebundenen Veränderungen der Medizin hinaus unverzichtbares Element einer humanen Heilkunst bleiben.
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