Wanderzüge germanischer Stämme
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In den frühen Jahrhunderten nach Christi Geburt bestand Mittel- und Nordeuropa in der Hauptsache aus ausgedehnten Waldgebieten mit großen Mooren. Dementsprechend litten die dort siedelnden germanischen Stämme unter Landnot, um so mehr, als sie außerordentlich hohe Geburtenzuwachsraten hatten.
Da die Germanen um diese Zeit noch nicht rodeten — die großen Rodungen begannen erst im Hochmittelalter —, so kam es entweder zu Kämpfen zwischen den einzelnen Stämmen um die zum Ackerbau geeigneten Landstriche, woraufhin Teile des besiegten Stammes, und zwar vornehmlich die Jungmannschaft, sich mit ihren Familien auf die Suche nach neuen Ländereien begeben mußten, oder die Jungmannschaften faßten von sich aus den Entschluß zum Abzug aus dem bisher besiedelten Gebiet. Diese Wanderbewegungen verbreiteten sich lawinenartig, wenn auch die wandernden Stämme ihrer Zahl nach keineswegs so stark waren, wie dies die von ihnen bedrohte seßhafte Bevölkerung in ihren Hilferufen an die Römer beschrieb.
Im Durchschnitt lag die Zahl der Waffenfähigen bei den einzelnen Stämmen zwischen 20.000 und 35.000. Die Gesamtzahl der wandernden Angehörigen eines einzelnen Stammes hat mit Frauen und Kindern die Zahl 80.000, wie wir sie z.B. von den Vandalen kennen, kaum je überschritten. Aufgrund des den Weg nach Westen sperrenden Limes und der Schlagkraft der römischen Truppen ging die Stoßrichtung der frühen Völkerbewegungen nach Osten und Südosten, also in das Weichselgebiet, nach Schlesien und Südrußland.
Entgegen einer allgemein verbreiteten Ansicht waren der Wandertrieb, die Beutegier oder die Abenteuerlust einzelner Stammesfürsten nur in seltenen Ausnahmen die Ursachen für die Wanderbewegung der Stämme. Auch darf man sich diese Märsche der nach Land suchenden Bauernfamilien eines Stammes nicht etwa so vorstellen wie den Zug der Pioniere in die weiten Räume des Wilden Westens von Nordamerika. Nach relativ kleinen Etappen hielten die germanischen Wanderstämme an, um das Land zu bebauen, in dem sie sich gerade befanden, und die Ernte einzubringen. Auf ihrem Weg baten sie z.T. die einheimische Bevölkerung um Durchmarscherlaubnis und entsprechende Lebensmittellieferungen, oder sie nahmen sich mit Gewalt, was ihnen auf friedliche Weise verwehrt wurde.
Zweifellos marschierten die wandernden Stämme auch nicht in einer einzigen riesigen Kolonne, vielmehr bildeten sie auch innerhalb der Stämme mehr oder weniger große Gruppen, die getrennt marschierten und nur in etwa einem gemeinsamen Ziel zustrebten. Besonders deutlich wird das bei dem ersten mächtigen und gewaltsamen Einbruch in das Gebiet des Römischen Reiches durch die Markomannen, die ihrerseits von den Goten bedrängt wurden. Es führte das zu den Markomannenkriegen der Jahre 166-180.
Gerade dieses getrennte Marschieren einzelner Germanenhaufen machte es dem römischen Kaiser Marc Aurel schwer, den aus allen Teilen des Donauraumes ertönenden Hilferufen zur Abwehr der Markomannen und der mit ihnen verbündeten Quaden zu entsprechen. Nur so war es möglich, daß einzelne Germanenverbände während dieser Kriegszeiten bis nach Friaul und an die italienische Adria vordringen konnten.
Truppen aus anderen Reichsteilen abzuziehen, war dem Kaiser unmöglich, da sonst an diesen Stellen sofort ein Vakuum entstanden wäre, das, wie die Geschichte immer wieder beweisen sollte, unweigerlich neue Angreifer angezogen hätte. Daher stampfte er in den bedrohten Gebieten neue Legionen aus dem Boden, die insbesondere aus altgedienten Veteranen, aber auch aus Sklaven und Gladiatoren bestanden. Es gelang ihm erst nach schweren und wechselvollen Kämpfen, zunächst die Markomannen und dann die Quaden zu schlagen und sie im gesamten Donauraum und auch südlich des Flusses anzusiedeln. Dafür verlangte er als Gegenleistung außer dem üblichen Tribut Kriegsdienste für Rom.
Beinahe wäre es mit Hilfe dieser Siedlungspolitik gelungen, unterworfene Stämme dem Reichsgebiet einzugliedern und dieses damit auszudehnen. Auch später durchgeführte ähnliche Versuche hätten zu diesem Ergebnis führen können; allerdings wäre es nie mehr gelungen, geschlossen siedelnde Germanenstämme auch sprachlich zu romanisieren.
Allgemein betrachtet gab es drei verschiedene Möglichkeiten der Zuwanderung: als Kolonen (freie Pächter), Liten (Angehörige unterworfener Völkerschaften oder minderfreie Militärkolonisten) und Föderaten (ganze Völkerschaften im Grenzschutzdienst mit vertraglicher Regelung).
Der konzentrierte Stoß der wandernden Stämme setzte allerdings erst nach dem Auftauchen der Hunnen im Osten Europas im Jahr 375 n.Chr. und dem dadurch bedingten Ausweichen der Alanen und Westgoten ein. Dieser auch als Endwanderung bezeichnete Abschnitt der germanischen Völkerwanderung hat das westliche Römerreich als politische Einheit vernichtet, aber nicht seine Kultur. Die germanischen Wanderstämme, über die noch im einzelnen gesprochen werden muß, umfaßten....
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»viele unfreie Mitglieder. [Ihre] Menschen lebten in einer archaischen Religiosität, sie glaubten an die göttliche Abstammung und das göttliche Heil ihrer Könige und der adligen Führungsschicht. Dieser <Adel> hatte Sinn und Verständnis für Kunst und Literatur;... Es ist eine bedeutende Feststellung, daß die Goten bereits so zivilisiert und aufnahmefähig waren, daß sie nicht nur die Überlegenheit der römischen Kultur ohne Hemmung anerkannten, sondern sie auch nachzuahmen suchten.«149
Gerade diese innige Berührung der einzelnen germanischen Stämme mit der überlegenen römischen Kultur führte auch zu einem Aufblühen der eigenen Stammeskultur, deren schönste Früchte die uns überlieferten epischen Dichtungen sind. Mit der Völkerwanderung begann eine kulturelle, soziale und völkische Mischung zwischen den Germanen und den Römern. Die Wirkung dieses Vorgangs erlebte in der Folge ganz Westeuropa, so daß diese Völker ihrer Kultur nach in unterschiedlichem Maße römisch-germanisch wurden. Dort, wo die Überlieferungen der römischen Kultur durch die Eroberungen der Germanen scheinbar verschwunden waren, wie in Britannien und in Mitteleuropa, wurden sie durch das Werk der Kirche und der Klöster im 7. und 8. Jahrhundert wiedererweckt. Es entstanden die drei Pfeiler, auf denen die mittelalterliche Kultur des mittleren, westlichen und südlichen Teiles von Europa ruhte: das Romanische, Germanische und Christliche.
Gewiß hat die Völkerwanderung für unzählige Menschen entsetzliches Leid und Elend mit sich gebracht, insbesondere weil die Kriegführung nicht auf die Wehrlosmachung des feindlichen Heeres abzielte, sondern auf die Vernichtung und Versklavung ganzer Stämme und Völker. Dennoch waren die mit ihr verbundenen Kriege die Geburtswehen einer neuen Zeit, indem aus dem Zusammenströmen aus dem germanischen Norden, dem romanischen Westen und dem christlichen Süden neue Impulse für das Völkerleben entstanden. Ohne sie wäre die großartige Zeit des Mittelalters, von Aufklärung und Materialismus des 19. Jahrhunderts als finster und dunkel angesehen, in dieser Form nicht möglich geworden.
Stämme und Völker, die das europäische Hochmittelalter nicht erlebt haben, wie etwa die Russen, haben einen ganz entscheidenden Kulturimpuls nicht aufnehmen können. Diese litten aber wohl noch schrecklicher unter der Zeit des Mongoleneinfalls und der mongolischen Unterdrückung bis zum Beginn der europäischen Neuzeit. Doch ist immer wieder zu beobachten, wie durch die mit Leid erkauften Entwicklungen neue Impulse in der Geschichte entstehen können. Das beste Beispiel dafür ist die Ansiedlung der Markomannen und Quaden im Donauraum durch marc aurel, dem Philosophen auf dem römischen Kaiserthron. Doch noch bevor er sein Werk vollenden konnte, raffte ihn im Jahr 180 n.Chr. in Wien eine Pestepidemie dahin.
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Von den vielen germanischen Stämmen, die an der Völkerwanderung beteiligt waren, sollen hier nur diejenigen berücksichtigt werden, deren Schicksal und Taten in besonderem Maße die Aufmerksamkeit auf sich gezogen und entscheidende Auswirkungen auf die Entstehung der europäischen Völker, vor allem des deutschen, und deren Missionen gehabt haben. An erster Stelle stehen dabei die Burgunder. Ihre Heldentaten bilden das Kernstück der größten epischen Dichtung in deutscher Sprache, des Nibelungenliedes.*
Der ostgermanische Stamm der Burgunder saß ursprünglich in Skandinavien; noch heute trägt die Insel Bornholm in der Ostsee ihren Namen. Bereits im 1. Jahrhundert v.Chr. siedelten sie in Norddeutschland. Ptolemäus erwähnt als ihre Heimat das Gebiet zwischen Oder und Weichsel. Ihr Vordringen von Brandenburg über die Lausitz nach Schlesien wurde dort von den germanischen Gepiden aufgehalten. Den Wanderzügen der Vandalen und anderer Stämme folgend, setzten sie sich dann im Maintal fest und gerieten dort in kriegerische Berührung mit den Alemannen. Kurz nach 400 saßen sie am Oberrhein, in der Gegend von Mainz, Worms und Speyer, als Föderaten der Römer. Es wurde bereits erwähnt, daß niemals ganze Großstämme ihre Heimat verließen; Teile blieben dort stets zurück. Jener Teil der Burgunder, der in Norddeutschland seßhaft geblieben war, verschmolz dort mit den Langobarden, während jener, der sich in Schlesien niedergelassen hatte, später in das Schwarzmeergebiet auswanderte, wo er von den Ostgoten vernichtet wurde.
Als die am Rhein sitzenden Burgunder im Jahr 435 einen Vorstoß nach Belgien unternahmen, besiegte sie Aetius, der römische Heermeister, im Verein mit den Hunnen. Letztere richteten unter ihnen ein fürchterliches Blutbad an, bei dem auch der König Gundahar, der Günther der Nibelungensage, erschlagen worden sein soll. Aetius wies ihnen knapp zehn Jahre später Siedelland in Savoyen an, während in ihre alten Herrschaftsgebiete die Alemannen eindrangen.
Nach dem üblichen römischen System erhielten dabei die Neusiedler ein Drittel des urbar gemachten Landes, den Rest behielt die alteingesessene gallo-römische Bevölkerung. Aufgrund der rücksichtsvollen Behandlung, die die Burgunder dem gallo-römischen Adel und dem Volk angedeihen ließen, war eine Verschmelzung der beiden Volkskörper bald möglich geworden.
* Der durch das Werk von Heinz Ritter-Schaumburg, Die Nibelungen zogen nordwärts, München-Berlin 1981, neu entfachte Streit um die Frage, wer denn eigentlich die Burgunder des Nibelungenliedes gewesen seien, wird hier unberücksichtigt gelassen, da er für unser Thema nicht von wesentlicher Bedeutung ist.
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Erleichtert wurde diese Verschmelzung besonders dadurch, daß die Burgunder, die bereits am Rhein oberflächlich zum arianischen Christentum bekehrt worden waren, in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts vornehmlich unter dem Einfluß der katholischen Gemahlin König Gundobads, einer Fränkin, zum Katholizismus übertraten, dem die alteingesessene gallo-römische Bevölkerung anhing. Auch die Einverleibung der Burgunder in das Frankenreich im Jahr 534 vollzog sich damit ohne größere Schwierigkeiten.
Am Beispiel des Nibelungenliedes und seiner Vorgänger wird uns das Lebensgefühl des germanischen Frühmittelalters und des ritterlichen Hochmittelalters deutlich.
»Zwei Grundfabeln liegen der Nibelungensage zugrunde: die Geschichte von Siegfrieds Tod, mit Märchenmotiven verwoben, und die Geschichte vom Untergang der Burgunden am Hofe des Hunnenkönigs. Ein Dichter in Hochburgund, vielleicht im 6. Jahrhundert, formte die Überlieferung von der Niederlage der Burgunden durch die Hunnen am Rhein 436 und dem Tode Attilas (453) zu einem frei gestalteten Heldenliede um, das sich in seinen wesentlichen Zügen in dem alten Atli-Lied der Edda erhalten hat. Wild, grausam und unheimlich ist die Stimmung dieser Sagen.
Das Brünhild-Lied wurde mit stark mythischen Beimischungen wahrscheinlich erst in einer späteren Zeit, dem 7. Jahrhundert, gedichtet, als leidenschaftliche Zwiste im Reich der Merowinger blutige Spuren zogen. ...In Bayern, bei den Nachbarn der Ostgoten jenseits der Alpen, wurde der große Theoderich zum beliebten Helden ... Theoderich wurde ... zum Freund des guten Hunnenkönigs Etzel (Attila) ... Die Forschung hat in mühsamer scharfsinniger Deutung gezeigt, wie ein langdauernder und tief eingreifender Umbildungsprozeß den Stoff aus der düsteren, herben Tragik des frühen Typus, zwei große Lieder verbindend, in das gemilderte spätere Empfinden und Lebensgefühl umdeutete. Wohl blieben das Ethos der Ehre und die Leidenschaft der Rache die Grundspannungen des Geschehens, aber hinzu trat das mächtige Motiv der bis zum Untergang opferbereiten Treue als der ethische Kern des neuen Nibelungenliedes.«150
Das Atli-Lied ist, wie im Zitat erwähnt, die in allen germanischen Ländern altertümlichste Behandlung des Stoffes vom Untergang der Burgunder. Darüber hinaus belegt es am deutlichsten und klarsten die Ursachen für Kampfund Krieg entsprechend der germanischen Mentalität. Goldgierig ist Atli, der geschichtliche Hunnenkönig attila und Etzel des Nibelungenliedes, und aus Goldgier lädt er Gunnar, den Günther des Nibelungenliedes, mit seinen Burgundern zu sich an seinen Hof, der als eine germanische Fürstenhalle beschrieben wird. Doch Gudrun, im Nibelungenlied Kriemhild, warnt ihren Bruder Gunnar und die Burgunder, indem sie ihnen einen mit Wolfshaar umwickelten Ring sendet; wölfisch, d.h. von Verrat bedroht, ist die Fahrt der Nibelungen, wenn sie aufgrund dieser Botschaft ins Hunnenland reiten.
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Im Gegensatz zum Nibelungenlied warnt hier noch Kriemhild ihre Blutsverwandten, treibt sie nicht zur Reise, um damit den Tod ihres Gatten Siegfried zu rächen. Als die Burgunder im Hunnenland eingetroffen sind, verkündet die Schwester ihrem Bruder Gunnar, er sei verraten worden. Für eine Rettung ist es jetzt zu spät. Die Burgunder werden von den Hunnen niedergemacht, die beiden Könige, Gunnar und Högni, gefangengenommen. Atli fordert von Gunnar die Herausgabe des Nibelungenschatzes. Dieser aber erklärt herausfordernd, er werde den Schatz erst herausgeben, wenn er Högnis blutendes Herz in der Hand hielte.
Als Atli Gunnar mit dem Herz eines feigen Knechtes täuschen will, spottet der Burgunderkönig über das bebende Herz auf der Schüssel. Mit dem wirklichen Herz Högnis in der Hand verhöhnt er dann die törichten Feinde: Nun werde er erst recht nicht verraten, wo der Nibelungenschatz im Rhein verborgen sei. Von Gudruns bzw. Kriemhilds Flüchen begleitet, reitet Atli mit dem gefangenen Gunnar zur Schlangengrube. In einem letzten heroischen Bild erwartet dort Gunnar, die Harfe schlagend, seinen Tod. Eilends reitet nun Atli nach dem Mord heim. Gudrun tritt dem Gatten entgegen und lädt ihn mit zweideutigem Wort zum Mahl. Danach schenkt sie den Männern selbst das Bier. Dem trunkenen Atli ruft sie mit schneidendem Hohn zu, er habe die eigenen Söhne verspeist. Unerbittlich vollendet nun die Frau die Rache für den Untergang ihres Geschlechts. Mit eigener Hand ermordet sie Atli auf seinem Lager. Die Unschuldigen und Knechte sowie die Hunde entfernt sie aus dem Haus, zündet es an und stürzt sich selbst in die Flammen. Hier tritt uns noch die germanische Pflicht zur Blutrache für die Angehörigen des eigenen Geschlechts entgegen. Sie war eine der mächtigsten Antriebskräfte zu Krieg und Kampf.
Aber durch den Mord an ihren eigenen Kindern und ihrem Gatten hat Gudrun-Kriemhild schuldig-unschuldig die Gesetze der neu eingegangenen Blutsverwandtschaft verletzt. So gibt sie sich selbst den Tod in den Flammen. In einer versöhnlicheren Zeit, im Hochmittelalter, das die Liebe zwischen den Gatten bereits höher bewertet als die Blutsverwandtschaft, das aber bis zu einem gewissen Grad immer noch Verständnis für die Gesetze der Blutrache aufbringt, wird Kriemhild dann zur Rächerin am Mord ihres Gatten Siegfried.
Ein zweites Motiv, das zu zahllosen Fehden in der germanischen und in der mittelalterlichen Welt führte, war das der verletzten Ehre. Der durch den Streit der Königinnen um den Vortritt beim Eingang in den Dom und die Andeutungen Kriemhilds, nicht Günther, sondern Siegfried habe Brünhild besiegt und in die Ehe gezwungen, bedingte Mord an Siegfried, zeigt am deutlichsten, wie empfindlich jene Zeit auf jede Verletzung der persönlichen Ehre reagierte.
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Das erhabenste Motiv aber bleibt, wie gesagt, das der Treue. Diese Treue, die sich auf den Eid stützte und vor allem ein Erbe des germanischen Gefolgschaftswesens war, bleibt in allen Ereignissen des Krieges wie des Friedens unwandelbar. Am großartigsten findet sie ihren Ausdruck im Verhalten Hagens. Ungebrochen hält er bis zum Tod an seinem, Günther gegenüber geleisteten Treueid fest. Selbst vor dem Mord an Siegfried scheut er nicht zurück, weil dies ihm die Treue diktiert.
Ein ähnliches Verhalten zeigt Rüdiger von Bechlaren, der trotz seiner, mit den Nibelungen eingegangenen verwandtschaftlichen Beziehungen Etzel gegenüber die Treue hält und mit ihm fällt. Auch Dietrich von Bern hält im Schlußakt des Nibelungenliedes, bei all seinen freundschaftlichen Beziehungen zu den Nibelungen — und Freundschaft bedeutete damals ein innigeres Verhältnis als heute —, an dem einmal Etzel geschworenen Treueid fest. Blutrache, Treue und Ehre sind, wie die Lieder des Nibelungenkreises uns zeigen, die wesentlichsten Motive für den Kampf, oft auch für den Krieg.
Verfolgt man die deutsche Geschichte durch all ihre Licht- und Schattenseiten, so erhält man den Eindruck, als gehörte die Ausbildung der Treue, besonders wie sie uns in den Taten Hagens erscheint, zu einer der wesentlichsten Aufgaben, die dem deutschen Volk gestellt waren. Wie alles Menschliche hatte dies nicht nur positive, sondern in hohem Maße auch negative Folgen. Für letztere ist gerade die jüngste deutsche Geschichte von 1933-1945 ein eklatantes Beispiel. Gerade der zweite Teil des Nibelungenliedes, der vom Untergang der Burgunder an Etzels Hof berichtet, erscheint uns in diesem Licht wie eine großartige und erschütternde Vision vom Schicksal des deutschen Volkes. So gesehen hat der Untergang des verhältnismäßig kleinen Stammes der Burgunder, der geschichtlich betrachtet keineswegs zu dessen Vernichtung führte, eine weit über das tatsächliche Geschehen hinausgehende Bedeutung; die Auswirkungen zeigt vor allem die Geistesgeschichte.
Stellt man nun die Auffassung der Germanen, wie sie im Atli-Lied geschildert wurde, und diejenige des hochmittelalterlichen deutschen Nibelungenliedes vergleichend nebeneinander, so kann man sagen, daß die Einstellung der germanischen Völkerwanderungsstämme zu Kampfund Krieg zwischen diesem Anfangs- und Endpunkt einer geschichtlichen Entwicklung liegt. Ein Teil dieser Stämme hielt noch immer an ihrem altgermanischen Götterglauben fest, während ein anderer Teil bereits zum Christentum, und zwar in der Hauptsache zum arianischen, übergetreten war. Und dabei muß man in Rechnung stellen, daß große Teile nur deshalb zum Christentum übergetreten waren, weil ihr Gefolgsherr sich hatte bekehren lassen, also aus Treue, wie es dem Wesen der Gefolgschaften entsprach. Viele geschichtliche Beispiele geben davon Zeugnis. Die Bekehrung darf daher, wie bei den Burgundern, in der Masse nur als oberflächlich angesehen werden.
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Diese Behauptung einer Entwicklung von Atli-Lied zu Nibelungenlied und damit der Haltung der Wanderstämme gegenüber Krieg und Kampf wird gestützt durch die Aussage Andreas Häuslers, der die Zusammenlegung des Nibelungenstoffes, d.h. der Brünhildsage mit der Sage vom Untergang der Burgunder, in frühere Zeiten, also weit vor das 12. Jahrhundert zurückverlegt:
»Seitdem man in bayerischen Landen die Rolle des hortgierigen Etzel auf die Gattenrächende Kriemhild übertragen hatte, also nach herrschender Annahme seit dem 8.Jahrhundert, besaßen die beiden Sagen den inneren Zusammenhang, den die Epiker um 1200 als vollendete Tatsache übernahmen. Gewiß führte jene oberdeutsche Sagenerneuerung zu einem bewundernswerten dichterischen Ergebnisse, indem sie aus zwei Liederstoffen, die schon für sich zu den reichsten und gewaltigsten gehörten, eine höhere Einheit schuf, der an Weite des Grundrisses und Fülle der heroischen Kernmotive nichts in germanischer Sage, auch nichts bei den alten Griechen, an die Seite treten kann. Aber dieses Verdienst fällt dem achten Jahrhundert und nicht dem zwölften zu.«151)
Mit der Nennung Dietrichs von Bern, mit dem trotz der Forschungen von Heinz Ritter-Schaumburg noch immer die Mehrzahl der Sagenforscher den Ostgotenkönig Theoderich den Grossen verbindet, kommen wir zu dem zweiten ostgermanischen Wanderstamm, dem wir als letzten aus dieser Reihe eine eingehendere Betrachtung widmen möchten.
Vermutlich war die Urheimat des noch ungetrennten Gotenvolkes das südliche Schweden. Die Insel Gotland trägt noch heute seinen Namen. Etwa in der Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. sitzen die Goten in Ostpreußen und an der unteren Weichsel und ziehen von dort in der schon beschriebenen Marschform nach Südrußland.
Im Jahr 276 stoßen sie erstmals über die Donau vor und versuchen, Siedlungsgebiet auf dem Balkan zu erwerben. Schon wenige Jahre vorher, 263 n.Chr., hatten Teile das Heiligtum der Diana von Ephesus in Schutt und Asche gelegt. Im übrigen war dies der dritte Brand, dem das Artemision zum Opfer fiel; ihm voraus gingen der Brand von 678 v.Chr. und derjenige von 356 v.Chr. durch Herostrat, der damit seinen Namen verewigen wollte. Ziel dieses gotischen Raubzuges dürfte wohl weniger der Religionsfrevel, als vielmehr der Raub der kostbaren Weihegaben gewesen sein. Bei der Entwendung der Weihegaben muß es sich nicht unbedingt um Raubgier gehandelt haben. Die Goten waren in der Zwischenzeit im Umgang mit den Römern und den, in den von ihnen genommenen Gebieten sitzenden Stämmen gewitzt geworden und wußten, daß sie oftmals mit Korruption und Bestechung mehr erreichen konnten als mit nackter Gewalt. Dazu aber brauchten sie Geld oder Gold und andere Kostbarkeiten. Im übrigen entsprechen die Greueltaten, über die der römische Offizier Ammianus Marcellinus berichtet — er war ein Zeitgenosse dieser Ereignisse —, nur dem, was damals und auch früher bei allen Völkern üblich war.
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Nur schilderten die Römer Greueltaten anderer Völker als Verbrechen, die eigenen dagegen als Heldentaten. Auch das entspricht einer Gepflogenheit, die sich bis in die Neuzeit hinein nicht geändert hat. Die Scheu vor dem Numinosen scheinen die Wandervölker, wie mehrfach zu beobachten ist, mehr und mehr verloren zu haben. Das mag vor allem für Tempelbezirke wie den in Ephesus zutreffen, für die die Germanen in dieser Form kein Verständnis aufbrachten. Anders verhielten sie sich dagegen in der Stadt Anchialos mit ihren heilkräftigen Quellen. Solche Orte waren ihnen aus ihrer alten Heimat als heilig bekannt, und wenn Jordanes in seiner »Gotengeschichte« erklärt, sie hätten sich dort viele Tage aufgehalten und an den heißen Bädern erfreut, so darf hinter dem Baden vielleicht doch mehr vermutet werden. Geht es zu weit anzunehmen, daß sie sich dort von Blut und Befleckung reinigten, wie es fast alle Völker tun, die sich in einem ähnlichen Kulturzustand befinden wie die damaligen Goten?
Im Jahr 269 gelang es Kaiser Claudius II. Goticus beim heutigen Nisch mit seinem zumeist aus Germanen bestehenden Heer noch einmal, einen Sieg über die Goten zu erringen und deren Vormarsch aufzuhalten. Etwa um diese Zeit schieden sich die Goten in zwei verschiedene Stämme, die Ost- und Westgoten; die Grenze zwischen beiden bildete der Dnjestr. Seither siedelten die Westgoten (Visigoten) als Föderaten der Römer in der aufgegebenen Provinz Datien und griffen mehrfach in innerrömische Kämpfe ein. Die Ostgoten (Austrogoten) dagegen saßen in Südrußland, bis in die Höhe des Don (s. Fig. 5). Als Staat mit geschlossenen Grenzen im modernen Sinn des Wortes darf dieses Ostgotenreich jedoch nicht angesehen werden. Wenn ein Vergleich erlaubt ist, so ähnelte diese Reichsabgrenzung in etwa dem Verhältnis zwischen dem Siedlungsgebiet der Weißen und dem der Indianer im vorigen Jahrhundert in Nordamerika.
Wie aber stellten sich die Goten Rom und dem Imperium Romanum gegenüber? Wollten sie etwa Rom zerstören und an seine Stelle ein gotisches oder gar germanisches Großreich setzen? Es gibt darüber verhältnismäßig viele Aussagen gotischer Führer, auf die wir insbesondere im Zusammenhang mit Theoderich dem Grossen noch einmal zurückkommen müssen. An dieser Stelle sei nur eine typische, vom Nachfolger des Westgotenkönigs Alarich I., des Eroberers von Rom, geäußerte, erwähnt.
Von ihm berichtet Orosius: »Athaulf, der Westgote (412-416), erklärte selbst, einstmals habe er den Namen Rom austilgen und der Gründer eines neuen gotischen Reiches sein wollen. Aber allmählich habe er erkannt, daß die zuchtlosen gotischen Barbaren nicht die Kraft hätten, ohne die Gesetze Roms einen Staat zu schaffen, und nun zöge er den Ruhm vor, mit gotischer Macht dem römischen Namen einen neuen Glanz zu verleihen.«152)
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Und wie dachten die Römer über die Goten? Die Bemerkungen des Ammianus Marcellinus über die Greueltaten der einfallenden gotischen Scharen wurden schon erwähnt. Viel schlimmer aber als der römische Offizier und Historiker urteilte dessen Zeitgenosse Bischof Ambrosius von Mailand, der von 339-397 lebte und als Kirchenlehrer hervortrat. Allerdings scheint ihm, dem athanasianischen Christen, die Tatsache am wichtigsten gewesen zu sein, daß die Westgoten zum arianischen Christentum übergetreten waren; das wog schwer und zog einen erbitterteren Haß nach sich als das angebliche Barbarentum.
Wie schon eingangs dieses Kapitels erwähnt, wurden Glaubensverschiedenheiten, auch der Christen untereinander, mit der Zeit zum wichtigsten Kriegsgrund des Mittelalters. So schreibt Ambrosius am Vorabend des Kriegszuges des Kaisers Gratian (375-383) gegen die Goten, der ein besonders eifriger Anhänger des Athanasius war und Arianern wie auch den heidnischen Kulten seinen erbitterten Kampf angesagt hatte, den letzteren entzog er auch jede bisher übliche Beihilfe aus Staatsmitteln: »Geh voran, geh voran unter dem Schild des Glaubens und umgürtet mit dem Schwert des Geistes. Zieh hinaus zu dem in alten Zeiten versprochenen Sieg, der vorausgekündigt ist in den Weissagungen Gottes! Kein Siegesadler, kein Vogelflug führe die vordersten Reihen unseres Heeres, sondern dein Name, Herr Jesus, und deine Verehrung. Italien ist kein Land der Ungläubigen, sondern ein Land, gewohnt, Bekenner zu entsenden.«153
Sicher haben die germanischen Wandervölker nach den langen Jahren, in denen sie nicht seßhaft gewesen waren, zunächst keine staatenbildende Kraft besessen. Sie mußte erst errungen werden. Der Glanz des römischen Imperiums blendete selbst noch in seiner Dekadenz einen Mann wie den Nachfolger Alarichs im Königtum der Westgoten. Aber sie besaßen andere Kräfte, die außer in ihrer kriegerischen Tüchtigkeit vor allem im Geistesleben lagen. Schon Jordanes nannte sie in seiner » Geschichte der Goten« die weisesten unter den Barbaren, den Griechen beinahe ähnlich in ihrer priesterlichen Gelehrsamkeit. Er berichtet, daß zu den Kenntnissen, die bei ihnen zur Theologie gezählt wurden, die Lehre von den zwölf Himmelszeichen, den Tierkreisbildern, und von dem Lauf der Planeten gehörte. Unter ihrem weisen König Dicenäus, der im 1. Jahrhundert v.Chr. gelebt haben soll, hätten die Goten angeblich bereits 346 Sterne gekannt.
Das Unglück der Ost- und Westgoten, Vandalen und z.T. auch der Burgunder lag darin, daß sie ihre Herrschaften in den am dichtest bevölkerten und am intensivsten romanisierten Gebieten des alten Imperium Romanum, um das westliche Mittelmeer herum, errichteten (s. Fig. 5). In Zahlen gemessen, bildeten diese Germanenstämme lediglich eine große herrschende Minderheit. Das zwang sie, sich gegenüber der eingeborenen Bevölkerung abzuschließen, was wiederum deren Germanisierung verhinderte.
IV. GLAUBENSKRIEGE 161
Der Gegensatz zwischen den Bevölkerungsteilen wurde dazu noch durch die unterschiedlichen christlichen Glaubensbekenntnisse vergrößert. Vor allem dadurch konnten die herrschenden Germanen den Haß der Römer niemals überwinden. Im oströmischen Reichsteil dagegen benutzte man die germanischen Eindringlinge lediglich als Werkzeuge, um die Reichseinheit vielleicht doch noch einmal wiederherzustellen. Ostrom wartete daher stets nur auf die günstige Stunde, um die vorher so ausgenutzten Germanenstämme zu vernichten, was ihm schließlich ja auch gelang.
Dennoch erwiesen sich die Heere der erobernden germanischen Wandervölker, trotz mancher Rückschläge, zunächst den ebenfalls aus Germanen bestehenden römischen Heeren überlegen, und zwar so lange, wie diese noch auf die allmählich nicht mehr zeitgemäße Weise als schwerfälliges Fußvolk kämpften. Als die Goten zu wandern begannen, stießen sie sehr bald auf die Sarmaten. Im Bund und im Kampf mit ihnen lernten sie eine neue Art der Kriegführung kennen. Diese Sarmaten waren nämlich ein Reitervolk, und auf sie geht die Erfindung — oder doch wenigstens Einführung in Europa — von Steigbügel und Sporen zurück.
Steigbügel und Sporen ließen eine schwere Reiterei entwickeln, wie sie für die nächsten tausend Jahre in europäischen Kriegen ausschlaggebend sein sollte. Mit ihnen konnte man nun Kraft und Schnelligkeit des Pferdes ausnutzen. So wurde der gepanzerte sarmatische und gotische Reiter, der mit Lanze und Schwert bewaffnet war, zum Ahnen und Urbild des mittelalterlichen Ritters. Außerdem erlaubte nur das Transportmittel Pferd ein rasches Zusammenziehen der in ihren neuen Siedlungsgebieten weit verstreut wohnenden germanischen Bauern. So kam es, daß die Masse der germanischen Heere aus Reitern bestand, die sowohl zu Fuß als auch zu Pferd mit Lanze, Schwert und Bogen, dessen Gebrauch als Kriegswaffe immer gebräuchlicher wurde, kämpfen konnten.
Mit diesen Waffen und Erfindungen gelang es den Goten, trotz ihrer verhältnismäßig geringen Kopfzahl, die römischen Heere schließlich zu besiegen. Das jedoch wiederum nur, weil inzwischen auch jener Verfall eingetreten war, der zu Eingang dieses Kapitels beschrieben wurde. Der Reiter der germanischen Völkerwanderungsheere wurde zum Qualitätskrieger, der dem römischen Bauernkrieger weit überlegen war.
Diese Entwicklung zum Qualitäts- und Einzelkämpfer läuft dem immer stärker werdenden Ichbewußtsein des einzelnen Germanen parallel. Dafür lösten sich aber die alten Bande der Blutsverwandtschaft, die die Disziplin der germanischen Keile des Fußvolks in den alten Hundertschaften der Urzeit begründet hatten, im Lauf der Wanderzeit zwangsläufig auf.
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Die neuen Siedlungsräume, in denen sich jede Familie dort niederließ, wo sie den Boden für den Ackerbau am günstigsten hielt, unterstützten die Auflösung der alten Großsippenverbände und brachten den Einzelnen immer mehr dazu, sich nur auf sich selbst zu verlassen. Daß dies nicht ohne Geburtswehen abging, liegt auf der Hand. Entwurzelung und Auflösung der alten Blutsbande führten auch zu Mord, Meineid und Verrat, wie sie uns immer wieder aus der Geschichte der Völkerwanderung berichtet werden. Auf der positiven Seite aber stand der ich- und selbstbewußte germanische Krieger, der nur den achtete, der ihm in der gleichen Haltung entgegentrat.
Das einschneidendste Ereignis, das zur Endwanderung führte und damit den Anstoß zum Untergang des weströmischen Reiches gab, war der Einbruch der Hunnen in die von den Goten besiedelten Gebiete im Jahr 375. Jordanes, der Geschichtsschreiber der Goten, berichtet von König Filimer, der die Goten auf der letzten Etappe ihrer Wanderung zum Schwarzen Meer geführt hatte.
Dort entdeckte er in der Schar seiner Untertanen koboldartige weibliche Wesen, die Jordanes haljarunae nannte. Aus Furcht vor ihren dämonischen Zauberkünsten ließ Filimer diese Hexen in die weiten Ebenen des Ostens vertreiben. Dort verbanden sie sich mit bösen Geistern und zeugten mit ihnen Nachkommen, die zunächst im Sumpfland lebten. Sie waren ein untersetztes, häßliches und armseliges Geschlecht, das kaum den Menschen ähnelte und eine Sprache redete, die nur noch entfernt an menschliche Laute erinnerte.
Jordanes nimmt hier in bezug auf die Sprache der Hunnen ein Klischee des Altertums auf, mit dem Römer und Griechen sehr oft barbarische Völker, unter anderem auch Kelten und Germanen, belegten. Von diesen kaum menschenähnlichen Wesen also sollten die Hunnen abstammen, die an den Grenzen des gotischen Reiches auftauchten. Wie ein Wirbelsturm sind die hunnischen Reiterheere über die europäischen Völker hereingebrochen und haben Furcht und Schrecken verbreitet. Als dämonische Unholde und Verkörperung des Bösen und der Zerstörungswut leben sie im Gedächtnis des Abendlandes fort. Ein letzter Beweis dafür ist die Tatsache, daß die haßerfüllte britische Propaganda die Deutschen im Ersten Weltkrieg von 1914-1918 mit dem Namen der Hunnen belegte.
Doch es gibt auch noch ein ganz anderes Bild von den Hunnen und ihrem König Attila oder Etzel, das im Nibelungenlied erscheint. Dort wird der Hunnenkönig als edler Herrscher geschildert, dem die größten Helden gerne dienen; auch die hunnischen Mannen erwerben darin unsterblichen Ruhm. Der deutliche Gegensatz zwischen diesen beiden Bildern erklärt sich aus der Geschichte des Hunnenreiches.
Die Hunnen, ein von den Urturaniern abstammender türkisch-mongolischer Volksstamm, waren wohl mit den Hiung-Nu identisch, zu deren Abwehr sich die Chinesen im 3. Jahrhundert v.Chr. gezwungen sahen, indem sie aus bereits vorhandenen Schutzwällen eine Mauer von fast 2500 Kilometer Länge bauten, um ihr Reich vor den Einfällen dieser Reiternomaden zu schützen.
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Erst nach jahrhundertelangen Kämpfen gelang es den Chinesen, das Hunnenreich, dessen Mittelpunkt wohl in der Mongolei lag, zu besiegen. Ein Teil der Stämme und Stammesgruppen wurde nach Westen abgedrängt und führte weitere drei Jahrhunderte lang ein Nomadendasein um den Aral- und Baikal-See.
Reine Nomadenvölker, wie es die Hunnen waren, betreiben keine Vorratswirtschaft, sondern leben von ihren Herden und vom Sammeln wilder Früchte, Kräuter und Wurzeln. Lange und strenge Winter können daher zur Katastrophe führen. So geschah es auch Anfang der siebziger Jahre des 4. Jahrhunderts, als eine unverhältnismäßig lange Frostperiode die Hunnen an den Rand der Verzweiflung trieb. In dieser Lage brachen sie aus den Steppen nördlich des Aral-Sees hervor nach Westen, überquerten die Wolga und den Don und fielen in das Gebiet der Alanen, eines iranischen Steppenvolkes, ein. Diese wurden von den Hunnen überrollt und unterworfen. Dies geschah nicht in einer einzigen großen Schlacht, sondern, wie es Nomadenart ist, in ununterbrochenen Kämpfen um die besten Weideplätze. Wer sich zur Wehr setzte, wurde niedergemacht, wer sich ergab, zum Verbündeten.
So setzte sich der Stoß der hunnischen Reiterscharen und ihrer Verbündeten lawinenartig fort und riß ein Volk nach dem anderen mit sich. Als sie auf die offenen und nur schwach besiedelten Grenzen des Ostgotenreiches stießen, stellten sie sich nirgends zu einer offenen Feldschlacht. Den Gegenangriffen gotischer Scharen, die in der Weite des Raumes unverhältnismäßig lange Zeit zur Versammlung brauchten, wichen sie geschickt aus und überschütteten sie von den Flanken her mit Wolken von Pfeilen, stoben auseinander und griffen kurz darauf Gehöfte oder Siedlungen an, die von den gotischen Truppen nicht geschützt werden konnten. So mußten sich die Ostgoten den hunnischen Reiterscharen beugen, nicht etwa, weil sie eine oder mehrere große Schlachten verloren hätten, sondern weil sie in hundert kleinen Gefechten keine Chance gegen die rasch auftauchenden, ihre mörderischen Pfeile abschießenden und alles, was sich ihnen entgegenstellte, niedermetzelnden Reiterscharen hatten. Darüber hinaus verfügten die Hunnen überall, wo sie auftauchten, über die zahlenmäßige Überlegenheit.
Damit ist das Ende des Ostgotenreiches unter seinem König Ermanarich gekommen. Er kann seine Untertanen nicht mehr gegen die dauernden Überfälle schützen, und die Goten selbst müssen, wenn sie weiterhin in ihren alten Wohngebieten bleiben wollen, einen modus vivendi für das Leben unter der Herrschaft der Hunnen finden. Teile des ostgotischen Volkes durften danach in ihrer alten Heimat bleiben, andere Teile mußten sich den Hunnen als Hilfstruppen anschließen, viele allerdings wichen nach Westen aus, um bei den Westgoten Zuflucht zu suchen.
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Von denjenigen, die bei den Hunnen als Hilfstruppen dienten, stammt dann, besonders unter Attila, das positive Hunnenbild, das im Nibelungenlied zu finden ist.
Diejenigen Ostgoten aber, die bei den Westgoten Zuflucht gefunden hatten, sollten nicht zur Ruhe kommen. Die Westgoten waren durch innere Glaubenskämpfe geschwächt. Ein Teil von ihnen hatte sich unter dem heidnisch gebliebenen Atanarich von der Masse des Volkes getrennt und war in den undurchdringlichen Wäldern und Bergen der Karpaten und Siebenbürgens untergetaucht, wo eineinhalb Jahrtausende später Archäologen den sagenhaften Gotenschatz finden sollten. Der überwiegende Teil des Volkes aber stellte sich am Dnjestr unter Fritigern, dem Führer der christlich-arianischen Bevölkerung, zum Kampf. Aber wiederum wichen die Hunnen der offenen Feldschlacht aus und umgingen die Westgoten. Diesen blieb nichts anderes übrig, als an die Donau zurückzukehren und die Römer um Hilfe zu bitten.
Bevor wir uns der Christianisierung der Goten zuwenden, müssen wir noch einmal kurz auf die Frage zurückkommen, wer die Hunnen als Teile der Turanier wirklich waren.
Es wurde erwähnt, daß Jordanes ihre Entstehung auf eine Verbindung von Hexen mit bösen Geistern zurückführte. In dieser Erzählung des Jordanes, die uns wie eine abergläubische Fabel anmutet, steckt dennoch ein gutes Stück Wahrheit. Die Turanier waren jene Völkergruppe nach der Auswanderung aus der Atlantis, die im Norden Vorderasiens bis nach Sibirien siedelte. Es waren Nomadenvölker, bei denen ein starkes, aber niederes astralisches Hellsehen vorhanden war. Sie trieben Zauberei niederer Art und schwarze Magie.154 Damit waren sie echte Abkommen der atlantischen Urturanier, durch deren Mißbrauch geistigen Wissens und geistiger Kräfte die atlantische Katastrophe mit herbeigeführt wurde. Dennoch darf nicht übersehen werden, daß damit die Voraussetzungen zur Entwicklung der Menschheit in der nachatlantischen Zeit mit geschaffen wurden.
Die Evolution der Welt bedarf des Bösen — der Wesenheiten, die sozusagen die Mission des Bösen haben —, weil die guten Wesenheiten allein nicht die Kraft haben, die Welt zu gestalten.155 Auch der Einfall der turanischen Hunnen in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts n. Chr. in Europa bewirkte nicht nur unendliches Leid, Grausamkeiten und Böses, sondern öffnete auch den Weg für die geschichtliche Weiterentwicklung, die die Germanen geradezu auf die Bahn trieb, die sie ihrer Mission gemäß einschlagen mußten.
Für das Schicksal der Goten und weiterer ostgermanischer Volksstämme wie der Heruler, Rugier und Vandalen wurde es entscheidend, daß sie sich zum arianischen Christentum bekannten. Auch die meisten anderen germanischen Stämme wandten sich zunächst dem Arianismus zu, traten dann aber meist zum Katholizismus über, als letzte von ihnen die Langobarden, während die Franken unter Chlodwig I. unmittelbar den katholischen Glauben annahmen.
IV. GLAUBENSKRIEGE 165
Auch das sollte für die Geschichte des Abendlandes von entscheidender Bedeutung werden. Für die Germanenstämme arianischen Glaubens wurde gerade dieses Bekenntnis einer der wesentlichen Gründe ihres Untergangs. Mit dem Arianismus konnte man sie später als Ketzer abstempeln, gegen die der oströmische Staat im Verein mit der katholischen Kirche nicht nur die weltlichen, sondern auch die geistigen Kräfte aller Katholischgläubigen zu mobilisieren vermochte.
In Alexandria im heutigen Ägypten war nämlich in der Bewegung des asketischen Priesters und Predigers Arius der etablierten Kirche die größte Gefahr entstanden. Er hatte die Lehre von der Wesensungleichheit Christi mit dem Schöpfer um 318 n.Chr. verkündet. Den Angriff gegen die Lehre von der Dreifaltigkeit mit der Formel Wesensgleichheit oder Wesensähnlichkeit wehrte Kaiser Konstantin, der sich Sorgen um die Reichs- und Kircheneinheit machte, mit der Einberufung des Konzils von Nicäa im Jahr 325 zunächst ab. Der Kaiser stand dem Reichskonzil persönlich vor und eröffnete es mit einem Aufruf zur Einigkeit. Der schärfste und wortgewaltigste Gegner des Arius war Athanasius, der Erzdiakon des Bischofs von Alexandria, dem es schließlich gelang, die Kirchenversammlung davon zu überzeugen, daß sich die Vernunft dem Mysterium der Trinität unterzuordnen habe.
Arius wollte dies nicht anerkennen, wurde gebannt und des Landes verwiesen; man verbrannte seine Bücher, auf deren Besitz die Todesstrafe stand. Aber gerade der Teil der Lehre des Arius, nach dem der Christus den Menschen das Heil nicht eigentlich als Erlöser, sondern als sittliches Vorbild brächte, hat wohl wegen seiner leichtfaßlichen Verständlichkeit die germanischen Stämme angesprochen. Es mögen zudem der sich darin ausdrückende patriarchalische Zug und die Vorbildlichkeit Jesu den Germanen vertraute Vorstellungen gewesen sein. Sie entsprachen ganz ihrer Auffassung vom Gefolgsherren Christus, dem seine Gefolgschaft, die Gläubigen, in unverbrüchlicher Treue anzuhängen hätten. Noch im sächsischen »Heliand« steht dieser Gedanke im Vordergrund der Erzählung vom Wirken und den Taten des Königs aller Könige.
Der gotische Missionar und Bischof Ulfilas (Wulfila), der um 311 geboren wurde und 383 in Konstantinopel starb, war durch seine von kappadokischen Kriegsgefangenen abstammende Mutter Christ geworden. Seit 341 missionierte er unter den Goten. Zum Christentum bekehrte Goten trugen danach das Evangelium in seiner arianischen Form, zu der sich Ulfilas im Jahr 360 auf der Synode in Konstantinopel bekannt hatte, zu den anderen Germanenstämmen.
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Für seine Missionsarbeit schuf Ulfilas in genialer Weise aus griechisch-lateinischen Buchstaben und den bei den Germanen üblichen Runen ein gotisches Alphabet und übersetzte das Neue Testament aus dem Griechischen ins Gotische. Dabei zeigte er sich von einer Sprachgewalt, die nur mit der Luthers gleichzusetzen ist. Seine Schrift ist auch im profanen Leben von den in Italien sitzenden Ostgoten noch bis zu ihrem Untergang benutzt worden und blieb in vielen Handschriften, besonders in Gerichtsurkunden, erhalten.
Die Bibelübersetzung des Ulfilas ist das älteste uns erhalten gebliebene Zeugnis germanischer Literatur. Wohl wurde sie in einem ostgermanischen Dialekt verfaßt, aber dieses Ostgermanische stand als Schwestersprache dem Westgermanischen noch so nahe, daß es überall bei den Germanenstämmen der damaligen Zeit nach kurzem Einhören verständlich war. Diese leichte Verständlichkeit und die Tatsache, daß der arianische Gottesdienst nicht in Latein, sondern im jeweiligen germanischen Dialekt abgehalten wurde, schufen ein erstes Zusammengehörigkeitsgefühl der germanischen Stämme, das Theoderich der Grosse auch politisch zur Gründung eines germanischen Staatenbundes ausnutzen wollte. Er scheiterte mit diesem Plan nicht etwa an der Eigenbrötlerei der anderen Stämme, sondern allein daran, daß der Frankenkönig Chlodwig, eben weil er zum Katholizismus übergetreten war, ihn ablehnte.
Zweifellos ist das Werk des Ulfilas als eine der ganz großen geistigen Taten der Menschheitsgeschichte zu bewerten. Und dennoch hat sie letzten Endes zum Untergang nicht nur seines eigenen westgotischen Stammes, sondern der meisten Ostgermanen geführt. In Umkehrung dessen, was über die Mongolen gesagt wurde, ist also festzustellen, daß auch gute Taten sich äußerlich schlimm auswirken können.
Der gleiche Ulfilas muß sich unter den Westgoten befunden haben, die den arianischen Glauben angenommen hatten und sich unter ihrem Herzog Fritigern mit dem größeren Teil des Volkes und vielen ostgotischen Flüchtlingen um Hilfe an die Römer wandten. Kaiser Valens, der selbst Arianer war, verschloß sich der Bitte der Westgoten nicht. Tag und Nacht setzten diese mit allen erdenkbaren Mitteln über die Donau, wo sie von römischen Beamten erwartet wurden. Nach Angaben des Ammianus Marcellinus soll es sich dabei um 200.000 Krieger gehandelt haben. Diese Zahl ist zweifellos übertrieben; vielleicht ist es die Gesamtzahl der Goten mit Frauen und Kindern. Die Zahl der Krieger dürfte sich höchstens auf 25-30.000 belaufen haben. In den neuen Wohnsitzen der Goten, in denen sie nach ihren eigenen Gesetzen leben durften und den Römern nur Waffenhilfe zu leisten hatten, gab es für sie zunächst keine Möglichkeit, sich selbst zu ernähren. Das Land mußte erst bebaut werden. Kaiser Valens hatte daher den Goten für eine Übergangszeit Lieferungen von kostenlosem Saat- und Brotgetreide zugesagt.
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Aber ähnlich wie in manchen Reservationen der Indianer im vorigen Jahrhundert in Nordamerika scheiterte dieses großherzige, wenn auch nicht uneigennützige Versprechen am Egoismus der für die Regelung der Versorgung eingesetzten Beamten. Nach anfänglichen, wenn auch stockend anlaufenden Getreidelieferungen hörten sie bald ganz auf. Die nun unter den Goten ausbrechende Hungersnot nutzten die römischen Beamten genauso wie die erwähnten Indianeragenten in Nordamerika weidlich aus. Gegen gutes Geld lieferten sie Fleischabfälle aller Art, ja sogar Hunde, Katzen und Ratten. Als die Goten kein Geld mehr besaßen, verkauften sie zunächst ihren ganzen Hausrat, dann ihre Sklaven, wobei für einen Sklaven ein Laib Brot und zehn Pfund Fleisch gegeben wurden. Schließlich lieferten sie sogar ihre Kinder aus, um wenigstens diese am Leben zu erhalten.
Das aber war den Goten zuviel.
Ein Funke genügte nun, um das Pulverfaß zur Explosion zu bringen. Dieser Funke ging von einem Gastmahl aus, zu dem der römische Statthalter den Westgotenherzog Fritigern eingeladen hatte. Während dieses Mahles versuchten die Römer, die Begleitung des Gotenherzogs niederzumachen. Dieser hörte den Lärm, zog sein Schwert und kämpfte sich mit unerhörter Tapferkeit und Verwegenheit mit seinen Gefolgsleuten den Weg frei. Zu seinem Volk zurückgekehrt, zog er nun durch Thrakien und die Balkanhalbinsel und nahm sich mit Gewalt, was man ihm unter Vertragsbruch verweigert hatte.
Zu Beginn des Gotenaufstands befand sich Kaiser Valens mit seinen besten Legionen im Krieg gegen die Perser, während sein Mitregent und Neffe Gratian im Westen in schwere Kämpfe mit den Alemannen verwickelt war. Sofort eilten beide mit ihren Truppen in das gefährdete Gebiet. Auch hier ist es wieder bezeichnend, daß der Eiferer Ambrosius, der schon genannte Bischof, zwar den als athanasianisch und sehr fromm bekannten Gratian unterstützte, den Arianer Valens jedoch als Gott gegenüber eidbrüchig bezeichnete. Er nannte den Gotenaufstand geradezu eine gerechte Strafe Gottes. Daran ist zu sehen, daß Religionsstreitigkeiten zumindest einem Teil des Klerus und auch der Bevölkerung, vielleicht sogar dem maßgeblichen, wichtiger waren als die Verteidigung des Reiches. Dieses konnte Religionsstreitigkeiten aber am allerwenigsten brauchen.
Kaiser Valens war mit seinen Truppen, die sich mit Sicherheit ohne Hilfstruppen auf 15.000 bis 20.000 Mann beliefen — ihre Zahl muß also verdoppelt werden —, als erster an Ort und Stelle. Am 9. August des Jahres 378 kam es zur Schlacht bei Adrianopel. wikipedia Schlacht_von_Adrianopel
Diese Schlacht sollte sowohl im Hinblick auf den Fortgang der Weltgeschichte als auch in bezug auf die Taktik zu einer Entscheidungsschlacht werden, die das Schicksal des Abendlands mindestens für die nächsten Jahrhunderte bestimmte.
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Mochten auch auf beiden Seiten in der Hauptsache Germanen kämpfen — die in römischen Diensten nach der alten Art des römischen Fußvolkes fochten —, so lag der moralische Vorteil doch zweifellos von Anfang an bei den Westgoten. Sie führten einen Volkskrieg, bei dem es um Sein oder Nichtsein ihres ganzen Stammes ging, während die Germanen auf der römischen Seite den Krieg nur um Geld und Beute führten. Wie immer in solchen Lagen, errangen die den Volkskrieg führenden Westgoten einen Vernichtungssieg. Selbst Kaiser Valens fand dabei den Tod, wahrscheinlich verbrannte er in einer Hütte am Donau-Ufer, die die Goten angesteckt hatten.
Voraussetzung dafür, daß ein Volkskrieg siegreich geführt wird, ist natürlich die ungefähre Ausgewogenheit an Zahl und technischer Ausrüstung der Kämpfer. Aber die Goten besaßen einen Vorteil: Während die Römer noch immer in der altbewährten, nun aber antiquierten Art zu Fuß kämpften, verließen sich die Goten und die mit ihnen verbündeten Sarmaten auf ihre Kavallerie, die rasch hin- und herwogend mit ihren Bogenschüssen den Feind erschütterte und ihn dann durch die gepanzerten Lanzenreiter von beiden Flanken her niedermachte. Das gotische Fußvolk hatte nur noch die Aufgabe, die römischen Legionen zu binden.
Damit war eine völlig neue Art der Kriegführung in Europa gefunden, in der der gepanzerte Lanzenreiter und z.T. auch der berittene Bogenschütze bis zum Wiederaufkommen der von Feuerwaffen unterstützten Gevierthaufen des Fußvolkes am Ende des Mittelalters den Ausschlag gaben. Der gotische Sieg bei Adrianopel aber sollte innerhalb kürzester Zeit den Weg für die nach Süden drängenden Germanenstämme öffnen und zum endgültigen Untergang des weströmischen Reichsteiles führen.
Eine noch weitergehende Lehre auf militärischem Gebiet ist aus der gar nicht hoch genug anzusetzenden Bedeutung der römischen Niederlage bei Adrianopel zu ziehen, obwohl sie im Geschichtsbewußtsein des europäischen, besonders des deutschen Bürgers nicht zuletzt durch den Roman von Felix Dahn »Ein Kampf um Rom« und das Gedicht von Platen »Das Grab im Busento« in den Hintergrund gerückt ist: Nur zur taktischen Verteidigung fähige Streitkräfte, wie damals das römische Heer, sind nicht in der Lage, ein Volk und seine Grenzen gegen einen entschlossenen Angreifer zu schützen, sie müssen über kurz oder lang dessen Ansturm erliegen. Schlagkräftige Streitkräfte müssen ausgewogen stets zum Angriff wie auch zur Verteidigung in der Lage und im Gefecht dem Gegner an Feuer und Bewegung, den beiden Elementen des Gefechtes, mindestens gleichwertig sein.
So überlegen die Westgoten auch in der offenen Feldschlacht waren, so wenig waren sie in der Lage, befestigte Städte einzunehmen oder gut verteidigte Sperren zu überwinden. Daher gelang es ihnen auch nicht, den Sperriegel vor Konstantinopel, der Hauptstadt des Reiches, zu durchbrechen. Im Jahr 382 vermochte jedoch der neue, starke Kaiser des Ostens, Theodosius, die Lage zu stabilisieren.
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Mit den Goten schloß er Frieden und siedelte die Westgoten als Föderaten in Mösien und Thrakien an. Sie erhielten Sold und weitgehende Selbständigkeit als Gegenleistung für ihre Bereitschaft, die römischen Grenzen zu verteidigen. Kurz vor seinem Tod übertrug Theodosius jedoch die westliche Reichshälfte seinem Sohn Honorius und die östliche Arkadius; das geschah im Jahr 395, ohne daß die militärische Lage den alten Kaiser dazu gezwungen hätte.
Solange das römische Imperium die Goten bezahlte und beschäftigte, verhielten sie sich ruhig. Dann aber fanden sie in Alarich (395-410) einen König, der mit seinen militärischen und diplomatischen Fähigkeiten den Römern überlegen war. wikipedia Alarich_I.
Dieser sendungsbewußte König, der mit den römischen Verhältnissen ausgezeichnet vertraut war, wollte sich mit seinem Volk nicht mehr mit dem zufrieden geben, was ihm die Römer zugewiesen hatten. Ganz sicher spielte auch eine Rolle, daß in seinem Rücken das mächtige Hunnenreich mit den ostgotischen Verbündeten eine beträchtliche Gefahr darstellte.
Mit seinem etwa 35.000 Mann starken Heer, das nicht nur aus Westgoten, sondern auch aus anderen germanischen und nichtgermanischen Stämmen und Wandergruppen sowie aus abenteuerlustigen Gefolgschaftshaufen bestand, und dem dazugehörigen Troß aus Frauen, Kindern und Greisen brach er aus Thrakien auf und drang in die Peleponnes ein. In Eleusis zerstörte er den Demeter-Tempel. Die zum Christentum bekehrten Westgoten hatten inzwischen jede Scheu vor dem heidnischen Heiligtum verloren. Damit zerstörten die Westgoten eine der beiden Quellen der Mythologie, nämlich die hellseherische Kultur, die vor allem an Demeter anknüpfte.156
Die Goten vollzogen damit, wenn auch auf barbarische Weise, was die Entwicklung der Menschheitsgeschichte in Richtung auf das Ablegen der atavistisch gewordenen alten hellseherischen Kräfte förderte und das weitere Eintauchen in die physische Welt zur Entwicklung des vollen Ich-Bewußtseins ermöglichte. Athen selbst konnte sich 396 nur durch ein sehr hohes Lösegeld freikaufen.
Kaiser Arkadius versuchte es daraufhin noch einmal mit einer Beschwichtigungspolitik und wies den siegreichen Goten Siedelland in Epiros an, das diese zunächst auch annahmen. Der Grund mag auch darin gelegen haben, daß Epiros die Waffenschmiede Griechenlands war und die Westgoten so in den Genuß der Produkte dieses »Ruhrgebietes« der damaligen Zeit zu kommen hofften. Doch bereits im Jahr 401 fiel Alarich mit seinen Truppen in Italien ein. Die erschreckten Menschen flüchteten sich mit ihrer Habe und ihrem Vieh hinter die starken Mauern der Städte, während diejenigen, die es sich leisten konnten, auf die Inseln flohen.
Mit einem rasch zusammengezogenen Heer vermochte selbst der Heermeister des weströmischen Kaisers Honorius, der Vandale Stilicho, die Goten nicht zum Stehen zu bringen, obwohl er sie bei Pollentia während eines Gottesdienstes überraschte. wikipedia Stilicho Mit sehr viel Geld erkaufte sich der Kaiser den Abzug der Goten aus Italien.
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Trotz eines anderen Einfalles von 20.000 Alanen, Quaden, Ostgoten und Vandalen unter Radagais in Oberitalien, den Stilicho noch einmal abwehren konnte, führte man in Rom das Leben so weiter, als wäre nichts geschehen. Eine Kamarilla von Patriziern, Prinzessinnen, Bischöfen, Eunuchen und Generälen beherrschte den Hof, und die Masse der Bevölkerung steckte den Kopf in den Sand, verkroch sich im Luxus oder in den eigenen Sorgen und Nöten und war nicht zur Verteidigung bereit. Einem dieser Intrigenspiele erlag schließlich auch der einzige Mann, der Rom noch hätte retten können, der vandalische Heermeister Stilicho.
Nun kam die Stunde Alarichs. Wie ein Sturmwind fegte er mit seinem Heer, das gute römische Straßennetz, besonders die Via Flaminia ausnutzend, durch Italien, wobei sich ihm etwa 30.000 Söldner anschlossen — es waren wohl meist Germanen —, die wegen des Mordes an ihrem verehrten Führer Stilicho voller Haß auf die Römer waren. Im Jahr 410 stand Alarich vor Rom, das ihm wohl schließlich dadurch in die Hände fiel, daß germanische Sklaven seinem Heer während der Nacht ein Tor öffneten. Drei Tage lang gab Alarich die Stadt seinem Heer zur Plünderung frei, wobei nur die Peter-und-Paul-Kirche unberührt blieb. Unter den zahlreichen Gefangenen befand sich auch die Halbschwester des Kaisers Honorius, Galla Placidia, die später den Westgotenkönig Athaulf heiraten und wohl auch beherrschen sollte. Ihr Grabmal bei San Vitale in Ravenna gehört zu den größten Kunstwerken dieser Zeit und zieht noch heute in jedem Jahr Tausende von Bewunderern an.
Bei der Plünderung der Stadt zerstörten vor allem die haßerfüllten aufständischen Sklaven, die sich den Goten anschlossen, viele Meisterwerke der Bildhauerei und Baukunst, während die gotischen Krieger selbst sich bei ihren Plünderungen mehr an Edelmetalle, kostbare Steine und Geld hielten, die sie auf dem Weitermarsch mitschleppen konnten. Daß zur Beute vor allem auch Frauen und Jungfrauen gehörten, versteht sich für die damalige Zeit von selbst, zumal ihnen die Römer dafür jahrhundertelang negative Vorbilder gegeben hatten.
Nachdem Alarich seine Truppen wieder gesammelt und in Zucht genommen hatte, marschierte er mit seinem ganzen Stamm nach Süden, wahrscheinlich mit der Absicht, nach Afrika überzusetzen und dort in der Kornkammer des Reiches neues Siedlungsland zu erwerben. Sein vorzeitiger Tod durch Malaria oder, wie einige vermuten, durch Gift, das ihm die Kaisertocher Galla Placidia gereicht haben soll, setzte diesem Plan ein Ende. Bei Cosenza begrub ihn sein Heer, in voller Waffenrüstung auf dem Pferd sitzend, im Bett des Busento, dessen Lauf sie der Sage nach zu diesem Zweck zuvor umgeleitet hatten.
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»In der Stadt Rom gab es noch starke heidnische Minderheiten, die in etwa 700 Tempeln die alten Götter verehrten. Diese national gesinnten Kreise, für die altrömische Kultur und altrömischer Glaube eine Einheit bildeten, sahen im Untergang der Stadt die Rache der mißachteten Götter. Der Wunsch nach nationaler Wiedergeburt blieb in ihnen lebendig und führte nach der Zerschlagung des Ostgotenreiches durch Ostrom etwa in der Mitte des 6. Jahrhunderts zu einem gewissen Erfolg. Auch die römischen Christen glaubten bei der Plünderung Roms an eine Strafe Gottes, doch dieser Gedanke der Bestrafung führte bei ihnen nicht zum Wunsch, Rom in seiner alten nationalen und politischen Macht wieder erstehen zu lassen, sondern mündete in einen völlig neuen Rom-Gedanken der Theologie und der Philosophie und endlich in den großartigsten Ausdruck des Unsterblichkeitsdenkens in Augustinus' Buch vom Gottesstaat anstelle des verlorenen irdischen Reichs, des christlich-römischen Imperiums.«157
Dieser Gedanke vom ewigen christlich-römischen Imperium sollte das ganze Hochmittelalter beherrschen und mit der Vorstellung der Ecdesia militans sogar zu den, die europäische Geschichte entscheidend beeinflussenden Kreuzzügen führen.
Zwei große kriegerische Ereignisse sind es also, die den Anstoß zu den Umwälzungen des Mittelalters gegeben haben: die Schlacht bei Adrianopel, die den germanischen Wanderstämmen den Weg nach Süd- und Westeuropa öffnete, und der Untergang und die Plünderung Roms, die zu dem, das Mittelalter beherrschenden theologischen und philosophischen Gedanken des römisch-christlichen Imperiums mit seiner Ecdesia militans führten. Bevor wir uns den Westgoten erneut zuwenden, muß unsere Aufmerksamkeit dem dritten entscheidenden Ereignis jener Epoche, dem Hunnensturm, vor allem unter Attila, gelten.
In dem Raum, in den die Hunnen im Jahr 375 eingebrochen waren, herrschten, wie oben dargestellt, die Ostgoten unter ihrem sagenumwobenen, aber doch als erste Persönlichkeit ihrer Geschichte bekannten König Ermanarich über eine Vielzahl germanischer und iranischer Stammesgruppen. Die Größe des Reiches, die die Sage von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer ausdehnt, erlaubte kein rasches Zusammenziehen der Streitkräfte, zumal der angreifende Feind aus Reiterverbänden bestand, die blitzschnell an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten beliebig auftauchen und wieder verschwinden konnten. Angesichts des unvermeidlichen Zusammenbruchs seines Ostgotenreiches stürzte sich König Ermanarich, der zu jener Zeit bereits einhundert Jahre alt gewesen sein soll, in sein Schwert. Vielleicht wollte damit der in vielen Schlachten erprobte König den Platz frei machen für einen in seinem Königsheil ungebrochenen jüngeren Nachfolger.
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Im Sagenkreis um Dietrich von Bern erscheint er als Oheim des großen Ostgotenkönigs Theoderich zunächst als gütiger Herrscher, später aber als erbitterter, mit den Hunnen verbündeter Feind seines Neffen. Selbst in der Sage also können sich politische Lageveränderungen widerspiegeln, wobei das spätere Bündnis der Ostgoten mit den Hunnen zeitweise in der Vordergrund tritt, obwohl Theoderich der Grosse nur bedingt durch die epische Verschiebung in der Sage zum Bundesgenossen des Hunnenkönigs Attila werden konnte.
Die Herrscher der Ostgoten stammten aus der mythischen Königssippe der Amaler, deren Ahnenreihe durch Gaut eröffnet wurde. Gaut war aber ein Beiname des bei den Goten besonders verehrten Gottes Odin, der dem westgermanischen Wotan entspricht.'s8 Damit kommen wir zu einer ganz entscheidenden Feststellung. Die zunächst im südlichen Schweden beheimateten Goten unterschieden sich dadurch von den ihnen benachbarten Stämmen, deren Königsgeschlechter ihren Stammbaum auf den Gott Ing/Freyr zurückführten. Wie die nordische Göttersage berichtet, hatte es immer wieder Zeiten gegeben, in denen andere Götter als Hauptgötter den Wotansglauben ablösten. Der atlantische Wotan war dort im Bewußtsein des Volkes zurückgetreten, während er sich bei den im späteren Deutschland sitzenden Germanenstämmen, vor allem im Westen Germamens, erhalten hatte. Von ihnen ging auch der neue Impuls zum Wotansglauben wieder aus.159 Wenn sich nun ein ostgermanisches Fürstengeschlecht wie die Amaler auf den Stammvater Odin berief, so heißt das doch nichts anderes, als daß es in traditioneller Weise in die Mysterien Odins eingeweiht war. Nach Rudolf Steiner war Wotan ein Erzengel, der Verzicht auf Aufstieg geleistet hatte. Er impfte den Seelen die Sprache ein.160
Als eine der hervorragendsten Auswirkungen dieser Tatsache darf wohl gelten, daß bei den Goten der Sprachgenius so gewaltig wirkte, daß es Ulfilas gelang, das griechische Neue Testament in die gotische Sprache zu übersetzen. Schon Saxo Grammaticus berichtet von einer Herkunft des schwedischen Odinkultes aus dem Osten, aus Thrakien und Byzanz, wo der Ursitz der Äsen gewesen sein und der Äsen- und Wanenkrieg stattgefunden haben soll. Steckt hinter dieser Geschichte doch mehr als gelehrte Fabelei? Hören wir kurz, was von der Verbannung Odins erzählt wird: »Frigg hatte sich einem Diener hingegeben, damit er eine goldene Bildsäule Odins zerstöre, deren Gold sie zu ihrem Schmuck verwandte. Darüber grämte sich Odin so sehr, daß er das Land verließ und freiwillig in die Verbannung ging [nach Osten]. An seiner Stelle herrschte Mitodin, ein berühmter Zauberer, der das Opfer neu ordnete, indem er befahl, jedem Gotte einzeln, nicht mehr allen gemeinschaftlich zu opfern.
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Als Odin zurückkehrte, mußte Mitodin nach Fünen fliehen, wo ihn das Volk erschlug [es handelte sich dabei um Kimbern und Goten]. Er rächte sich nach seinem Tode, indem aus seinem Grabe die Pest hervorging, bis man die Leiche ausgrub, den Kopflostrennte und einen spitzen Pfahl durch den Leib trieb. Frigg starb, Odin setzte alle falschen Götter ab, die unter Mitodin aufgekommen waren, und vernichtete ihre Priester, die Magier, mit einem einzigen Blick seiner Augen.«161
Zu dieser Zeit schon erwiesen sich die Goten neben den Kimbern als treue Anhänger des Gottes Odin. Möglicherweise hatten auch sie neben den westgermanischen Stämmen den alten Odin-Glauben aus der atlantischen Zeit bewahrt. Vielleicht findet sich hier auch ein weiterer Grund für die Auswanderung der Goten in jene Gebiete, die als die Urheimat der Äsen bekannt waren. Dort lag ganz in der Nähe auch das Ziel des Argonautenzuges der Griechen. In der Sage von diesem Zug wird das Suchen nach dem gold-durchleuteten Astralleib, dem Goldenen Vlies, dargestellt, der durch den Eintritt des Egoismus verdunkelt worden war.162
Dies kann auch das Ziel der von den Odinsmysterien geleiteten Amalerkönige der Ostgoten gewesen sein, denn durch den Einfluß des Ätherleibes wurde der Astralleib seit der atlantischen Zeit so verändert, daß er nicht mehr hellseherische, sondern intellektuelle Kräfte entwickelte,163 die die Goten als ichbewußtes germanisches Volk unbedingt brauchten. Andererseits benötigten auch die Goten eine Aufhellung des Astralleibes, damit sie nicht im Egoismus völlig versanken, eine Gefahr, die durch die Entwurzelung der Völkerwanderung besonders gegeben war. Nach der erneuten Aufhellung des Astralleibes konnten sie bewußt an ihm arbeiten, eine Möglichkeit, die erst seit der Erscheinung des Christus gegeben war.164
Die uns so unsinnig erscheinende Wanderung der gotischen Stämme (s. Fig. 5) mit ihrem unendlichen Leid, ihren ständigen Kämpfen, Opfern und Qualen erhielten so einen Sinn innerhalb der Menschheitsentwicklung, denn das, was sie dort in den neuen Räumen für sich erwarben, gaben sie ja vor allem an die germanischen Stämme weiter. Den Anstoß dazu gab nicht zuletzt der Hunneneinfall.
Bereits die frühen Hunnenkönige führten ihre Herkunft auf den Adler zurück. Eine vorwiegend orientalische Überlieferung erkannte den Adler nicht nur als Herren der Steppe, der mit seiner Scharfsichtigkeit überall seine Beute findet und schlägt, sondern schrieb ihm auch hohe Weissagekraft zu.165
Das fügt sich ins Bild von den Nachkommen der Urturanier, die sich mit Hilfe von Magie und Zauberei einen Einblick in die Zukunft zu sichern suchten, und stellt damit die Negativseite des Adlersymbols dar, das auch als Symbol des Johannesevangeliums erscheint. Allerdings kannten die Hunnen, die zunächst in lose zusammenhängenden und vielfach getrennt operierenden Stammesgruppen in den Westen vorgedrungen waren, erst nach ihrem Einfall in Europa ein zentrales und erbliches Königtum, das zumindest in zwei Perioden aus einem Doppelkönigtum bestand.
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Zur selben Zeit, als der Vandalenkönig Geiserich auf der Höhe seiner Macht die Hand nach Rom ausstreckte, standen auch die Hunnen vor den Toren des Kernlandes des Imperiums. Mit ihrer Hilfe riß Aetius, der zunächst als Geisel an ihrem Hof gelebt und seit 432 bei ihnen als Flüchtling Unterschlupf gefunden hatte, die Macht in Westrom an sich. Zum Dank für diese Hilfe wies er ihnen Westungarn als Land zu, in dem sie als Nomaden ihre Herden weiden konnten. Inzwischen waren etwa im Jahr 434 Attila und dessen Bruder Bleda als Könige an die Macht gekommen. Von Anfang an war Attila der stärkere der beiden; er scheute sich auch nicht, seinen Bruder bald durch Mord beseitigen zu lassen.
Immer wieder können wir in dieser Zeit erleben, daß Herrschaftsfragen auf diese Weise gelöst werden. Damit nahmen die Regierenden der damaligen Zeit das Verhalten der Fürsten der italienischen Renaissance vorweg, die um der Macht willen auch vor keinem Mord zurückschreckten. Unter Attila breitete sich die Herrschaftsgewalt des hunnischen Königtums aus; sogar Ansätze einer zentralen Verwaltung wurden verwirklicht. Schon längere Zeit hatten die plündernden Horden der Hunnen den östlichen Balkan und Kleinasien verheert, und der gegen sie ohnmächtige Kaiser in Byzanz mußte in der Form von Subsidien schmachvolle Tribute zahlen. So lange dies anhielt, war das Verhältnis zwischen Attila und dem Westreich gut.
Als er jedoch aus Byzanz nichts mehr herauspressen konnte, wandte sich Attila nach dem Westen und stieß plündernd und alles verheerend der Donau entlang zum Mittelrhein und bis zur französischen Atlantikküste vor.
Dabei hatte er jedoch nicht mit der Tatkraft seines ehemaligen Verbündeten Aetius gerechnet. wikipedia Flavius_Aetius *390 bis 454
Als Attila im Jahr 451 mit seinem höchstens 100.000 Mann zählenden Heer, das sich jedoch überwiegend aus germanischen Gepiden, Ostgoten, Rugiern, Skiren, Herulern, Sueben, Thüringern, Burgundern und Franken zusammensetzte, in Gallien einbrach, trat ihm Aetius mit einem ebenfalls zumeist aus Germanen bestehenden Heer von Burgundern, Franken, die vielleicht unter Merowech standen, Alanen, Sachsen, Sarmaten und Armorikanern entgegen.
Vermutlich bei Troyes, möglicherweise aber auch auf den Katalaunischen Feldern bei Chälons, entbrannte eine Schlacht, die darüber entscheiden sollte, ob das spätere Europa sich auf seine griechisch-römisch-germanische Grundlage stützen sollte oder ob es ähnlich wie das mittelalterliche Rußland unter dem Mongolensturm für Jahrhunderte, ja vielleicht für die ganze Zukunft ein durch die Nachfahren der Turanier bestimmtes Schicksal erdulden mußte.
Die auf Seiten der Hunnen stehenden Germanen erhielten durch diese Schlacht und Attilas späteren Tod die Möglichkeit, das hunnische Joch von sich abzuschütteln und sich dem großen europäischen Kulturkreis wieder einzuordnen.
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Fig. 5 Germanische Völkerwanderung
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Für die auf weströmischer Seite kämpfenden Germanen jedoch wurde diese Schlacht zu der ersten Gelegenheit, zur Rettung Europas den Ansturm asiatischer Steppenvölker aus dem Osten abzuwehren. Im Lauf der Geschichte sollte sich dazu noch mehrmals Anlaß bieten. Germanische Stämme retteten Europa vor dem Ansturm von Völkern aus fremden Kulturkreisen, die vornehmlich aus dem Osten, wenige Jahrhunderte nach der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern aber auch aus dem Süden kamen.
Die Schlacht entwickelte sich zu einer der schrecklichsten der Geschichte.
Schon am Vorabend fielen bei einem ersten Zusammenstoß zwischen Franken und Gepiden angeblich 15.000 Krieger. Dabei gelang es Aetius und Thorismund, dem Sohn des Westgotenkönigs Theoderich, eine beherrschende Höhe zu besetzen. Der Zusammenstoß am folgenden Tag, bei dem in der Hauptsache Germanen auf Germanen trafen, muß von unbeschreiblicher Gewalt gewesen sein, wenn sich auch, wie in der übertreibenden Darstellung der Quellen geschildert, das Wasser eines Baches nicht blutrot gefärbt haben kann. Doch waren Erbitterung und Kampfgier so groß, daß sich noch drei Tage danach die Geister der Erschlagenen in den Lüften ineinander verkeilt weiter bekämpften.
An der Spitze seiner Westgoten ritt König Theoderich, der den gleichen Namen trägt wie der später in Italien herrschende Ostgotenkönig, den die Schlacht entscheidenden Kavallerieangriff. Er fand dabei den Tod. Sein Sohn Thorismund, der ebenfalls schwer verwundet wurde, konnte von seinen Gefolgsleuten herausgehauen werden. Durch diesen kühnen und kraftvoll geführten Reiterangriff wandte sich das Schlachtenglück dem Westen zu.
Attila hatte bereits den Befehl gegeben, einen Scheiterhaufen aus Holzsätteln aufzurichten, auf dem er sich verbrennen lassen wollte, falls die Sieger sein Lager, in das er sich zurückgezogen hatte, stürmen sollten. Doch angeblich rettete ihn Aetius selbst vor diesem Schicksal, indem er Thorismund, den seine Truppen noch auf dem Schlachtfeld auf den Schild erhoben hatten, zur Heimkehr nach Aquitanien bewog, um etwaigen Thronwirren vorzubeugen. Zwar waren die Heerscharen des Ostens nicht endgültig besiegt, doch Attila entschloß sich zum Rückzug.
Die Gefahr war noch nicht ganz abgewendet, wenigstens so weit sie das weströmische Reich betraf. Kurz nach seiner Niederlage fiel Attila in Italien ein und zerstörte Aquileia so gründlich, daß es sich nie mehr davon erholen sollte. Die anderen großen Städte in Oberitalien kauften sich nur unter Aufopferung ihres gesamten beweglichen Vermögens los. Nun lag für Attila der Weg nach Rom offen. Aetius gelang es nicht, eine neue Widerstandslinie aufzubauen. Da er zu lange am Po stehenblieb, mußte der unfähige Kaiser Valentinian Papst Leo I. und zwei Senatoren bewegen, dem Hunnenkönig entgegenzutreten.
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Diese Übernahme der Verantwortung für Verteidigung, Ernährung und öffentliche Ordnung durch die Bischöfe ist ein typisches Symptom jener Zeit. Damit wuchs die Kirche aus ihrer bisher dienenden Rolle in diejenige der Teilhabe an der Herrschaft hinein. Hier liegen die Ursachen für die spätere politische Theorie des Papsttums, die Gelasius in seiner Zweischwerterlehre konzipiert und niedergelegt hat.166
Über das Zusammentreffen des Papstes Leo I. mit Attila berichtet die Legende, Leo I. habe sich beim Erscheinen des Hunnenheeres mit den Worten »Ich aber opfere« zurückgezogen und die Messe gehalten. Attila sei er dann ohne Waffen entgegengetreten. Mit Sicherheit hätte es sich der Papst nicht erlauben können, dem Hunnenkönig in Waffen zu begegnen. Aber es war auch nicht allein die Macht des Wortes, die letzteren dann doch bewog, abzuziehen. Wie alle noch tief im Heidentum verwurzelten Menschen, so hatte auch Attila eine große Scheu vor dem Numinosen.
Leider haben Heiden, deren Glauben sich bereits in der Dekadenz befand, diese Scheu vor dem Numinosen abgelegt, nachdem ihnen darin die Christen vorangegangen waren, die es vor allem den Angehörigen »ketzerischer« Bewegungen gegenüber an jeder Scheu fehlen ließen. Zudem wirkten wohl persönliche Ausstrahlung und Kraft dieses großen Papstes so sehr auf Attila, daß dieser den Rückzug antrat. Bei all dem sollte man auch nicht vergessen, daß Attila durch die in seinem Gefolge befindlichen germanischen, besonders ostgotischen Großen wohl mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bereits von der christlichen Lehre, wenn auch in arianischer Gestalt, gehört hatte.
Diese Vermutung wird noch bekräftigt durch die Tatsache, daß der Hunnenkönig bei seinem Vorstoß in das Gebiet des heutigen Frankreich u.a. auf den Bischof Lupus von Troyes gestoßen war, der sich mit einem anderen Bischof zusammen energisch für die Schonung der Bevölkerung vor Greueln eingesetzt hatte. Attila führte ihn schließlich auf seinem Rückzug bis zum Rhein mit sich. Der ganzen Natur des Lupus nach darf angenommen werden, daß dieser mit seinem christlichen Sendungsbewußtsein diese Zeit nicht ungenutzt hatte verstreichen lassen, sondern sie zu Bekehrungsversuchen nutzte, sicher nicht ohne Erfolg.
Knapp drei Generationen später berichtet nämlich der Indienfahrer Kosmas Indikopleustes, ein ägyptischer Kaufmann, um etwa 530, »... auch in Baktrien, bei den Hunnen... [gäbe] es viele Christen, zahlreiche Mönche und Bischöfe«. Er vermerkte das in seiner »Topographia christiana«. Attila wußte also zumindest, daß Papst Leo I. der damals höchste Vertreter jenes Christenglaubens war, dem vielleicht schon einige seiner Großen anhingen.
Darüber hinaus wußte der Hunne aber ganz bestimmt, daß er sich durch die Zerstörungswut seiner Truppen selbst um die weitere Versorgung seines Heeres mit Lebensmitteln als Voraussetzung für einen kraftvollen Vorstoß nach Süden gebracht hatte.
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Die drei großen Kontrahenten dieses entscheidenden weltgeschichtlichen Geschehens, Thorismund, der Westgote, Aetius, der »letzte Römer«, und Attila, fielen durch Mord. Thorismund wurde das Opfer dynastischer Streitigkeiten, Aetius wurde von Kaiser Valentinian selbst ermordet, den daraufhin wieder Anhänger des Ermordeten erschlugen. Attila aber starb, zumindest der Sage nach, ganz unheldisch im Hochzeitsbett, wo ihn die burgundische Prinzessin Hildiko aus Blutrache erstach; möglicherweise erlitt er dort aber auch einen Blutsturz.
Was hat nun Attila die Möglichkeit gegeben, zu seinen Lebzeiten, wenn auch nur für kurze Zeit, zum Beherrscher fast ganz Ost- und Mitteleuropas zu werden? Attila verfügte über ein außerordentlich ausgeprägtes Sendungsbewußtsein und ein starkes Empfinden für königliche Würde. Das mag ihn auch dazu bewogen haben, sich mit germanischen Fürsten und Gefolgsleuten zu umgeben. Darüber hinaus verlangte er eine Angehörige des Kaiserhauses, Honoria, die Tochter der Galla Placidia, zur Frau und die Anerkennung als Mitkaiser.
Den römischen Unterhändlern erklärte er ganz offen, der ihm angebotene Titel eines »Magister militum«, also eines Heermeisters oder Feldmarschalls, sei ihm zu gering, man müsse ihn auch einen Kaiser nennen. Im übrigen werde er seine Macht sehr bald noch weiter vergrößern. Dieser Sache sei er so sicher, weil ein Hirte das langverschollene sagenhafte Schwert des Kriegsgottes, das von den Hunnen seit Urzeiten heilig gehalten wurde, gefunden hatte. Der Hunnenkönig war demnach überzeugt, daß er mit seinen Eroberungen der Vollstrecker der Aufträge seines Kriegsgottes war. Darin erkennen wir wiederum die religiös untermauerte Begründung zur Kriegführung, wie wir sie schon früher bei allen heidnischen Völkern beobachten konnten.
Noch einmal, wenn auch nur sehr kurz, müssen wir uns den Ostgoten zuwenden.
Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß ihr größter König, Theoderich I. , den die Geschichte zu Recht den Großen nennt, keineswegs so viele Kriege geführt hat, wie man vermuten könnte. Ist er doch als einer der größten Helden der mittelalterlichen Sage, als Dietrich von Bern, in das Gedächtnis des Volkes eingezogen. Selbst wenn Heinz Ritter-Schaumburg recht haben sollte und aufgrund der nordischen Thidrek-Saga den Helden auf einen fränkischen Herzog zurückführen und den Untergang der Burgunder an den Hof von Soest verlegen könnte, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß einige Lieder und Kurzepen aus dem Sagenkreis um Dietrich von Bern sich in Südtirol abspielen und sicher auf den großen Ostgotenkönig zurückzuführen sind.
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In diesen Liedern und Epen erscheint Dietrich, mit Ausnahme der Rabenschlacht, weniger als großer Schlachtenlenker und Heerkönig als vielmehr als ein Mann, der seine persönliche Tapferkeit und seinen Heldenmut in Kämpfen mit menschlichen und dämonischen Wesen beweist, ja sogar eheliche Verbindungen mit Frauen des Feenreiches eingeht. Darüber hinaus bieten diese Sagen einen Einblick in die Glaubensvorstellungen der Ostgoten wie wohl auch der übrigen germanischen Stämme jener Zeit, in denen sich uralt-heidnische Elemente mit modernen christlichen mischen.
Auch der Einfluß der katholischen Kirche ist zweifelsfrei zu erkennen, wenn der Arianer Theoderich am Ende seines Lebens auf einem schwarzen Roß in die Lüfte verschwindet. Für die einen hat Walhall den großen Helden aufgenommen, für die anderen verschwindet er von der Erde auf einem höllischen Roß. Daß die mittelalterlichen Sagen in weit ältere Zeiten zurückreichen als in der sie niedergeschrieben wurden, zeigen auch rein waffentechnische Aussagen. Wenn die Helden um Dietrich den Schild auf den Rücken werfen, um ihr Schwert mit beiden Händen fassen zu können, so war das mit einem mittelalterlichen Schild einfach nicht möglich, wohl aber mit den leichten Schilden der germanischen Reiter der Völkerwanderungszeit.
Auch die Tatsache, daß die Schwerter Namen tragen, wie Mimung, Baidung, Eckesachs, Nagelring usw., weist auf eine Zeit hin, in der das Schmieden eines hervorragenden Schwertes noch ganz hohe Kunst war. Nur so konnten Schwertern wie Menschen Namen verliehen werden, ja sogar ein Eigenleben führen, wenn sie z.B. aus Kampfbegier »in der Scheide klirrten«. Noch ganz der germanischen Vorstellung entsprechend durften nach diesen Sagen Kämpfe nicht bei Nacht ausgetragen werden, weil in der Nacht die Hexen und Schwarzalben herrschten. Auch der Gedanke des Gottesgerichts im Zweikampf tritt in verschleierter Form immer wieder hervor, wenn etwa Dietrich von Bern Heime oder Wittichis droht, sie am Galgen baumeln zu lassen, wenn sie von ihm besiegt würden. Großmütig verzeiht ihnen dann aber der königliche Held. Soweit die Sage.
Als im Jahr 487 Theoderich der Grosse mit einem Heer von etwa 20.000 Germanen, deren Kern Ostgoten bildeten, aus dem Balkanraum kommend in Italien einbrach, herrschte dort ein anderer Germane, der Skire Odoaker. Dieser war im Jahr 476 von den in weströmischen Diensten stehenden »ligurischen« Truppen, die sich aus Herulern, Franken, Burgundern, Alanen und Skiren zusammensetzten, zum König ausgerufen worden, nachdem er vorher den wetterwendischen und halbbarbarischen Provinzialen Orestes, zu dessen Leibwache Odoaker nach einem wilden Leben als Söldner in allen Teilen Europas gehörte, getötet hatte.
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Dem damaligen römischen Kaiser Romulus Augustus wies Odoaker einen Zwangsaufenthalt an, wo jener sich dem von ihm so geliebten Luxusleben ergeben konnte. Dann machte sich Odoaker zum Herren in der neuen weströmischen Hauptstadt Ravenna, in Rom und in ganz Italien. Außerhalb dieses Gebietes gab es praktisch kein weströmisches Reich mehr.
Als Königssohn wollte sich Odoaker nicht »Imperator Augustus« nennen, sondern nahm den Titel »Rex Gentium«, König der (Barbaren-)Völker, an. Kaiser Zeno in Ostrom erkannte er formal als Oberherren an, indem er ihm die kaiserlichen Insignien schickte. Obwohl er der eigentliche Auflöser des weströmischen Reiches war, fühlte er sich doch ganz als Römer, setzte eine kaiserliche Regierung mit allen alten Ämtern in Ravenna ein und ließ das römische Rechts- und Wirtschaftsleben ungeschoren. Seine Stütze war das germanische Heervolk, das aber dem Römischen Reich zu dienen hatte. Er wollte nicht Erneuerer, sondern Vollender sein.
In kluger Weise mied er jeden Zusammenstoß mit der katholischen Kirche, obwohl er Arianer war. Doch durch die Besetzung Dalmatiens und einen Vorstoß ins Noricum machte er sich Kaiser Zeno in Byzanz zum Feind, der Gefahr für Ostrom witterte. Zeno mobilisierte daher die Ostgoten unter ihrem König Theoderich I., um sie gegen Odoaker auszuspielen. Dieser hatte nur auf seine Stunde gewartet. Obwohl Odoaker Theoderich am Isonzo und vor Pavia für kurze Zeit zum Stehen bringen konnte, wurde er schließlich in der neuen Kaiserstadt eingeschlossen. Dieses Ereignis bildete den Hintergrund für die Rabenschlacht der Sage.
Bei einer Verhandlung stieß dann Theoderich, ganz im politischen Stil seines Jahrhunderts, Odoaker eigenhändig nieder, während seine Männer die Familie des Skiren umbrachten. Theoderich befand sich damit genau in der gleichen Lage wie zuvor sein besiegter Gegner. Seine Truppen wurden zu einem Heervolk, das ihn als König auf den Schild hob. Von Ostrom erreichte er die Anerkennung als in Vertretung des Kaisers amtierender Reichsregent im Westen. Er selbst nannte sich König der Goten und Römer und ließ sogar Münzen prägen, auf deren Vorderseite das Bild des Kaisers und auf deren Rückseite sein eigenes Monogramm zu sehen waren.
Als großer Bewunderer der römischen Kultur und Staatsverwaltung, die er als Geisel in Konstantinopel kennengelernt hatte, beließ er wie Odoaker alle diese Einrichtungen unangetastet. Aber er beging den Fehler, für seine Goten eine Art Apartheid-Politik durchzusetzen, allerdings nicht, um eine angebliche rassische Überlegenheit für alle Zeiten zu bewahren, sondern um ihre Kampftüchtigkeit zu erhalten und ihr auf Schenkungen begründetes Treueverhältnis im Sinne des alten germanischen Gefolgschaftswesens und hamingja-Glaubens zu stärken. Darüber hinaus aber hielt er seine Goten noch nicht für reif zur Übernahme der römischen Zivilisation. Er verbot ihnen daher den Besuch von Schulen und das Erlernen der lateinischen Sprache, die er selbst vorzüglich beherrschte.
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So schuf er aus seinem Gotenheer einen Staat im Staate, und die Gegensätze, die aus den unterschiedlichen Sprachen zwischen dem germanischen Heer und der italischen Bevölkerung erwuchsen, verschärften sich noch dadurch, daß die Goten dem arianischen Glauben, die eingesessene Bevölkerung aber dem Katholizismus angehörten. Dies erzeugte Haß auf selten der Goten und Verachtung auf Seiten der Römer. Obwohl Theoderich dieses Problem erkannte, vermochte er keine Lösung zu finden. Als er schließlich im Jahr 526 ganz gegen die Gewohnheit germanischer Stämme dem Katholizismus den Kampf ansagte und Papst Johannes ins Gefängnis warf, starb er vermutlich durch Gift.
Damit waren die Voraussetzungen geschaffen, daß Ostrom den Krieg gegen seine Nachfolger nicht nur aus politischen Motiven eröffnen konnte, sondern auch aus solchen des Glaubens und gegen die Ketzer, was zu jener Zeit schon weit schwerer wog. Das Vorgehen Ostroms gegen die Goten entsprach dann in seiner Erbarmungslosigkeit auch ganz dem Kampf von »Rechtgläubigen« gegen »Ketzer« oder »Dissidenten« und führte zu deren Untergang und Vernichtung. Die Grundstruktur dieses Ablaufs wiederholt sich im Lauf der folgenden Geschichte noch des öfteren. Allerdings darf auch nicht vergessen werden, daß ganz wesentlich durch die Niederlage der Goten wie auch der späteren oder gleichzeitigen anderen germanischen Völker, die dem Arianismus anhingen, dieses Glaubensbekenntnis allmählich verschwand und sich das nicäische Glaubensbekenntnis durchsetzen konnte, das zu Recht Christus als Sohn für ewig ungeschaffen und wesens-eins mit Gott dem Vater erkennt. Diese für die Menschheitsentwicklung ganz entscheidende Tatsache wurde durch den Sieg Ostroms und weit im Westen durch denjenigen der inzwischen zum Katholizismus übergetretenen Franken begründet.
Die Gefahr einer arianischen Dominanz war um so größer gewesen, als der Ostgotenkönig Theoderich erstmals an die Schaffung eines germanischen Reiches in der Form eines erneuerten Römerreiches dachte. Als Kernland dieses Reiches betrachtete er das von ihm eroberte Italien und begann nun von Ravenna aus eine Germanenpolitik, die unter anderen Umständen die Politik der Habsburger vorwegnahm. Durch Verträge und Allianzen, überwiegend durch Heiraten , aber auch durch bewaffnete Interventionen versuchte er, die unter sich uneinigen Königsgeschlechter der benachbarten und weiter entfernt siedelnden Germanenstämme für seine Pläne zu gewinnen und mit ihnen gewissermaßen in einen Sippenverband, ja sogar in die Verbindung einer Großfamilie zu treten, als deren Oberhaupt er sich selbst sah. Auf diese Weise hätte ein germanisch-arianisches Reich mit ungeheurer militärischer Macht in Europa entstehen können, das bei seinem Fortbestand mit Sicherheit auch die Geistesgeschichte Europas für Jahrhunderte bestimmt hätte.
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Der Plan scheiterte im Westen an der Machtfülle des Frankenkönigs Chlodwig I. und im Osten an derjenigen Ostroms, die Theoderich der Grosse frevelhaft unterschätzt hatte.
Die Ostgoten scheiterten also, weil sie mit Attila auf den falschen Verbündeten gesetzt, mit dem arianischen Glauben den falschen gewählt und unter ihrem größten König Theoderich die falsche Politik betrieben hatten. Und doch strahlt von ihnen ein Zauber und ein heroischer Mythos aus, der bis in unsere Zeit reicht. Sie verdanken diesen Mythos nicht nur der strahlenden Herrschergestalt eines Theoderich und seiner vornehmlich in der Sage begründeten unwandelbaren Tapferkeit und Treue, sondern vor allem auch dem Schicksal König Totilas mit seiner großen Seele und demjenigen des Heldenkönigs Teja, der beim letzten Waffengang mit Ostrom am Fuße des Vesuvs stundenlang selbst den Eingang zu einer Enge deckte, in der sich die Reste seines Heeres gesammelt hatten. Als er seinen mit Speeren bespickten Schild gegen einen neuen tauschen wollte, traf ihn das tödliche Geschoß. Vor allem diese Haltung entsprach ganz dem Bild, das sich die Germanen in ihrer Untergangs- und Todessehnsucht von einem großen Helden machten.
Ganz anders dagegen wirkten sich die Taten der Westgoten aus. Mit der schon erwähnten Schlacht bei Adrianopel hatten sie für die germanischen Wanderstämme endgültig die Pforten zu den Ländern des römischen Imperiums aufgestoßen. Nach dem Tod Alarichs waren sie nach Norden und Westen abgezogen und hatten in Südfrankreich und Aquitanien ein gewaltiges Reich gegründet (s. Fig. 5), als dessen Verteidiger sie in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern als entscheidender Heeresteil dem Hunnenkönig Attila Halt geboten. Und seit 466 bestand ein westgotisches Reich, das vom Ebro bis zur Loire und vom Atlantik bis zur Cote d'Azur reichte.
Verstärkt durch einen bedeutenden Volksteil aus Ostgoten, die nicht mit Theoderich des Grossen Vater zum Balkan gezogen waren, bildeten sie vor den Ostgoten und Franken die größte Militärmacht Europas der damaligen Zeit. Doch ihre Herrlichkeit war nicht von langer Dauer, denn im Jahr 507 besiegte sie der Frankenkönig Chlodwig in der Schlacht von Vouille und besetzte Aquitanien. Nur das Eingreifen Theoderichs des Grossen verhinderte, daß schon jetzt das ganze restliche Gebiet nördlich der Pyrenäen in die Hände der Franken fiel. Dies geschah dann aber sofort nach Theoderichs Tod doch. Damit blieb das einstmals so weit ausgedehnte Westgotenreich auf seine spanischen Gebiete beschränkt. Zunächst verhinderte der Arianismus der Westgoten genau wie bei ihren ostgotischen Brüdern eine Verschmelzung der römischen und germanischen Reichsuntertanen. Auf dem Konzil von Toledo im Jahr 589 konvertierten die Westgoten zum Katholizismus, König Reccared ging ihnen darin persönlich voraus.
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Daraufhin konnte rasch jene Verschmelzung eintreten, aus der die moderne spanische Nation hervorging. Von der Gefahr, daß das Heervolk, also die Westgoten, einen Staat im Staat bildeten, konnte nicht mehr gesprochen werden. Der westgotische Adel behielt zwar seine alten Stammestraditionen und sein germanisches Lebensgefühl bei, aber bereits die Geistlichkeit bestand aus Römern und Germanen. Mischehen und der gemeinsame Gebrauch der lateinischen Sprache besiegelten diesen Prozeß der Verschmelzung, aus dem ein neues Vaterlandsgefühl mit römisch geprägter Kultur hervorging.
Dennoch brach das Westgotenreich unter den Schlägen der im Süden der Iberischen Halbinsel gelandeten mohammedanischen Araber rasch zusammen, die 719 bis ins Roussillon und in das untere Languedoc vorstießen, wo sie auf den entschiedenen Widerstand der Franken trafen. Doch der Krieg, der nun ausbrach, war nicht mehr ein Krieg zwischen Goten und Arabern, sondern ein Religionskrieg zwischen Heiden und Christen. Letztere zogen sich in das Bergland von Gahzien und Astunen zurück und eröffneten von Oviedo aus den »Heiligen Krieg« unter Führung des westgotischen Königs Pelajo. Mit seinem ersten Sieg begann die Wiedereroberung, die Reconquista, Spaniens, als deren legendärer Held der Cid (gest. 1099) auftrat.
Die dem spanischen Nationalepos zugrundeliegenden Kurzepen, die Cantares, atmen noch ganz germanischen Geist, während das hochmittelalterliche Gesamtepos von ritterlichen Standesauffassungen und vom christlichen Glauben geprägt ist. So haben die Westgoten, trotz ihrer Romanisierung, durch ihre Eroberung und Rückeroberung des spanischen Gebietes zusammen mit den Franken, wie wir noch hören werden, den Ansturm einer fremden Kulturnation mit fremdem Glaubensbekenntnis auf den Süden Europas abgewehrt und der spanischen Nation wesentliche Impulse verliehen, die sie dann befähigte, durch kühne Eroberungen vor allem in der beginnenden Neuzeit einem großen Teil der südlichen Hemisphäre dieser Erde den spanischen Charakter aufzuprägen.
Sie bildeten genau wie andere Germanenstämme Europas jenes Ferment, das die neuen Nationen zusammenhalten sollte. Ohne ihre militärische Tüchtigkeit in Kriegen und Feldzügen wäre die Geschichte Europas anders verlaufen. Wer von einem Weltenplan überzeugt ist, der sich unerbittlich vollzieht, muß auch anerkennen, daß die Kriege und Schlachten, die im Verlauf der Geschichte geführt wurden, diesem Weltenplan nicht entgegenwirkten, sondern ihn förderten, so bitter diese Erkenntnis in Anbetracht all der schrecklichen Leiden, die damit einhergingen, auch sein mag.
Etwa zur gleichen Zeit als auf der Iberischen Halbinsel die spanische Nation entstand, erwuchs auf den Britischen Inseln die neue Nation, die in der beginnenden Neuzeit ihr erbitterter Widersacher werden sollte und den nördlichen Teil der westlichen Hemisphäre mehr oder weniger vollständig eroberte.
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Unter römischer Herrschaft hatte sich Britannien zu einem blühenden Land entwickelt. Als nach den Angaben des angelsächsischen Kirchenhistorikers Beda im Jahr 409 die römischen Truppen abgezogen wurden, um auf anderen Kriegsschauplätzen eingesetzt zu werden, besaßen die meisten der bei den alten römischen Truppenlagern entstandenen Städte bereits ein christliches Gepräge.
Seit dem 4. Jahrhundert aber schon hatten Kelten aus dem Norden und Sachsen aus dem Osten und Süden versucht, die gallo-romanische Bevölkerung in den Städten sowie die keltische Landbevölkerung zu unterjochen. Nach dem Abzug der römischen Truppen verstärkte sich dieser Druck. Dabei muß wohl den im heutigen England sitzenden keltischen Briten die Gefahr aus dem Norden größer erschienen sein als die aus dem Süden und Osten. Der Grund dafür ist leicht einzusehen. Während die germanischen Piraten mit ihren schnellen Schiffen wie die späteren Normannen meist rasch auftauchten, ihre Beutezüge durchführten und dann wieder verschwanden, drohte von den Pikten und Skoten im Norden die dauernde Unterwerfung.
Als die Briten sich der groß angelegten Pikteneinfälle nicht mehr erwehren konnten, rief ihr Führer Wortigern Sachsen von der Elbe, Angeln aus Schleswig und Jüten aus Jütland zu Hilfe. Die Frage, ob es sich tatsächlich um Jüten gehandelt hat, ist heftig umstritten; viele glauben, es seien fränkische Euten, ein Teil der Salfranken aus der Gegend der Rheinmündung, gewesen. Nach einer sagenhaften Überlieferung, die in ihrem geschichtlichen Wahrheitsgehalt umstritten ist, schlugen Jüten unter ihren Führern Hengist und Horsa im Jahr 449 als Soldkrieger die Pikten und Skoten zurück. Ihre Erzählungen von dem schönen und fruchtbaren Land lockten weitere Heer- und Volkshaufen an. Ein ganzes Jahrhundert hindurch tobten nun Kämpfe, zwischen den ehemaligen Befreiern und Rettern aus Feindesgefahr und den Eingeborenen, die im Jahr 577 schließlich durch den Sieg der Angeln in der Schlacht von Deorham entschieden wurden.
Während die Briten bald mit den germanischen Eroberern verschmolzen, führten die ebenfalls keltischen Waliser ihren Kampf in dem zur Verteidigung günstigen Bergland von Wales weiter. Ein beträchtlicher Teil von ihnen setzte jedoch auf die Armorika über und gründete dort die noch heute so genannte Bretagne. Führer des keltischen Widerstandes in Wales und Cornwall wurde König Artus, der dem Hochmittelalter zum Inbegriff christlich-ritterlichen Heldentums wurde. Bald auch verknüpften sich mit ihm und den Helden seiner Tafelrunde die Sagen vom Heiligen Gral, jener kelchartigen Schale, aus der Christus das Abendmahl genommen und mit seinen Jüngern getrunken hatte und in der das Blut, das aus seinen Wunden floß, durch Joseph von Arimathia aufgefangen worden war.
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Nach diesem Heiligen Gral, in dessen Mysterium alles umschlossen liegt, was zur Verbreitung des Christusverständnisses beitragen sollte, suchten die edelsten aus der europäischen Ritterschaft.
»Und die Menschen, welche den Wandel von kosmischen Kräften durch die Tierkreiszeichen ausdrückten, das waren die, welche man nannte die >Ritter von König Artus' Tafelrunde<. Zwölf waren es, die umgeben waren von einer Schar anderer Menschen, sie waren aber die Hauptritter. Die anderen Menschen stellten gleichsam das Sternenheer dar, in sie flossen die Inspirationen ein, die mehr zerstreut im Weltenraume waren; in die zwölf Ritter aber die Inspirationen, die von den zwölf Richtungen des Tierkreises herkamen. Und die Inspirationen, welche von den spirituellen Kräften von Sonne und Mond herkamen, waren dargestellt durch König Artus und seine Gemahlin Ginevra. So hatte man den vermenschlichten Kosmos in >König Artus' Tafelrunde<. Das, was man nennen kann die hohe pädagogische Schule für die Empfindungsseele des Westens, das ging aus von König Artus' Tafelrunde.«167
Diese erneute, außerordentlich nahe, wenn auch z.T. kämpferische Berührung von Kelten und Germanen in Britannien und auf dem Festland wurde notwendig, damit der Erzengel der germanisch-keltischen Völker zur Zeit des Beginns des Christentums als Inspirator des esoterischen Christentums, das durch den Gral und durch das Rosenkreuzertum fortwirken sollte, seine Kraft entfalten konnte.168
Die Berichte über das Kampfgeschehen zu jener Zeit in Britannien bestätigen, was bereits von der Antike über das Austragen von Schlachten und Kriegen berichtet wurde. Noch immer wird der Schlachttag verabredet, und die Kämpfe beginnen erst, wenn die beiden Heere aufmarschiert und schlachtbereit sind. Der Ausgang wird als unwiderrufliches Gottesurteil angesehen. Typische Beispiele hierfür bietet u.a. das Buch über das »Leben des Zauberers Merlin«.169
Doch der Einfall der Angeln, Sachsen und Juten hatte auch nachteilige Wirkungen. Handel und Wirtschaft verfielen, und die städtischen Zentren bewahrten nur noch einen blassen Abglanz dessen, was sie früher einmal gewesen waren. Nur dort erhielten sich kleine christliche Gemeinden unter ihren Priestern und Bischöfen, denen es nur mühsam gelang, einen Teil des kulturellen Erbes der Antike zu bewahren. In den von den germanischen Eroberern besetzten Landstrichen verschwand das Christentum zunächst ganz. Neuere Untersuchungen und archäologische Funde in England machen jedoch wahrscheinlich, daß die christlichen Gemeinden durch ihr Fortbestehen in den mehr und mehr vernachlässigten Städten später den Weg der Angeln, Sachsen und Juten zum Christentum beträchtlich erleichterten.
Die Sprache in Britannien wurde germanisch, doch kam ab 1066, dem Jahr der normannischen Eroberung durch Herzog Wilhelm von der Normandie mit seinen bereits romanisierten Normannen, ein starkes französisches Element hinzu.
Andererseits wirkten auch keltische Züge im Volkscharakter, der Literatur und der Kunst weiter.170 So entstand mit der britischen Nation ein germanisch-keltischer Volkskörper, der es dem späteren Vereinigten Königreich ermöglichen sollte, begünstigt durch seine Insellage, einen großen Teil der Erde nicht nur zu unterwerfen und zu kolonisieren, sondern auch kulturell auf die Ebene des Abendlandes zu erheben.
Der ebenfalls aus der Insellage sich ergebende Zwang zum Handel mit dem Kontinent und den Kolonialgebieten bereitete den Weg zur wirtschaftlichen Beherrschung der Welt. Darüber hinaus konnten damit die Angelsachsen als eine der führenden Volksgruppen unter den Germanen der fünften nachatlantischen Kulturepoche ausführen, wozu sie berufen waren, nämlich den Blick auf die äußere physische Welt zu richten.171
Auf keinem anderen Weg als dem der Eroberung Englands und durch keine anderen germanischen Völker hätte diese Aufgabe erfüllt werden können, denn die skandinavischen Völker waren dazu zu klein und das zahlenmäßig größte germanische Volk war aufgrund seiner geographischen Lage stets mehr binnenländisch orientiert.
Nur die Auswanderung der größeren Teile der Angeln, Sachsen und Jüten ermöglichte den Ausbruch ins Freie und damit die Erfüllung der Mission des sich neu bildenden Volkes, wenn dieser Ausbruch zunächst auch lediglich machtpolitisch und wirtschaftlich zu sehen ist.
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