2 Über Abstraktion:
Die Verminderung und Zerstörung des menschlichen Erlebens
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Ein Mittel, durch das sowohl die Spaltung des Selbst als auch Gewalttätigkeit in unserem Leben entstehen und erhalten werden, ist die Abstraktion. Teilweise ist es die Überschätzung der Intelligenz, die zur Glorifikation des abstrakten Denkens — abgetrennt von Leidenschaft, Enthusiasmus und Aufrichtigkeit — geführt hat.
Sören Kierkegaard bemerkte 1846, daß wenn die Intelligenz dergestalt überschätzt wird, sie die Wirklichkeit in gleichsam stellvertretende Ideen hinein transformiert (Kierkegaard, 1962). Diese Verwandlung führt dann dazu, daß Ideen, die von der Logik ihrer eigenen Verhältnisse her als Ideen bestimmt werden, dadurch eine Art höhere »Realität« beanspruchen, die sich von den wirklichen Vorgängen, denen sie entsprechen sollten, weit entfernen kann.
Auf diese Weise wird unser Leben durch eine Logik bestimmt, die wenig mit der Wirklichkeit der menschlichen Leidenschaft, des Enthusiasmus oder der Aufrichtigkeit zu tun hat. Deswegen schrieb Kierkegaard, daß solche abstrakten Vorgänge »die wirkliche Situation in unwirkliche Tricks und Realität in ein Spiel« verwandeln. Die Konsequenzen solcher Vorgänge zerstören unseren Geist und unsere Möglichkeiten als Menschen, gerade weil die Abstraktion sich dafür eignet, Gefühle auszufiltern.
Dadurch wird Abstraktion selbst zum Mittel unserer Destruktivität und insbesondere unserer verleugneten Destruktivität. Indem Ideen Vorgänge vertreten können, ohne die wirklichen Bedürfnisse und Beweggründe in Betracht zu ziehen, verlieren wir den Zugang zu ihnen, und unsere Sicht wird eine reduzierte und eingeschränkte, ohne daß wir uns dessen bewußt sein müssen. Aber eine reduzierte Wahrnehmung — sie mag zwar als wissenschaftlich gelten und dem Menschen kurzfristig Beherrschung und Erfolg bringen — muß unvermeidlich destruktiv auf das Leben wirken.
Einerseits ist es also die Abstraktion selbst, die zur Destruktivität führen kann; andererseits dient sie der Verleugnung jener Destruktivität, die sich unvermeidlich in jedem aufbaut und insbesondere dort, wo man von sich selbst und seinen Gefühlen getrennt ist. Es ist ein bösartiger Kreislauf. Je mehr unser Denken von Abstraktionen erfüllt ist, desto weniger Zugang haben wir zur Realität unseres Gefühlslebens und zu seinen destruktiven Ausläufern.
Zum Beispiel können wir uns dem »Fortschritt« widmen, ohne merken zu müssen, daß wir dadurch die Umwelt oder andere Menschen zerstören können. Die Logik der Abstraktion erlaubt uns, unser persönliches Involviertsein von den jeweiligen Resultaten abzutrennen. Es ist ja alles für den »Fortschritt« oder für die »Sicherung« des Friedens etc. Die Abstraktion dient der Depersonalisation, der Entfremdung von peinlichen und schmerzhaften Gefühlen. Und indem die Gesellschaft solch einen Vorgang (wie den Fortschritt) als erstrebenswert erklärt und dadurch auch jeden, der diesbezüglich Fragen hat, suspekt macht — zum Verräter am Fortschritt —, verbirgt die dahinter stehende Ideologie unser Gespalten-Sein. Dadurch wird aus der »Realität« ein boshaftes Spiel: Was dem Menschen wirklich angetan wird, zählt nicht.
Die Auswirkungen sind rings um uns zu finden.
Die Unterdrückung der Frau und die seelische Verarmung des Mannes wären dafür ein grundsätzliches Beispiel. Nur schreiben wir den daraus entstehenden Antagonismus »Instinkten« zu. In Wirklichkeit sieht der Mann sich selbst und Frauen durch Abstraktionen, die einer Metaphysik der Notwendigkeit von Stärke, des Herrschens und der Macht entsprechen und nicht der eigentlichen Realität des anderen. Grundlegend für das Verhalten des Mannes in unserer Kultur ist die Angst vor Hilflosigkeit, Schwäche und Verwundbarkeit. Er kann sie sich aber nicht eingestehen, da seine Metaphysik des Seins auf Heldentum zielt. Sogar wenn er Heldentum für sich selbst nicht für möglich hält, bleibt es immer noch sein Wertmaßstab. Seine Selbstachtung ruht deswegen auf dem Image seiner Wichtigkeit (also wirklicher oder auch nur eingebildeter Macht), für deren Bestätigung er Bewunderung benötigt. Und dazu dient ihm die Abstraktion der Frau, die in ihrer behaupteten »Minderwertigkeit« oder zumindest »Unterlegenheit« die Chance erhält, durch die Anerkennung seiner »Kraft« und »Überlegenheit« dieses Image aufzubauen und zu stabilisieren.
Wir lernen viel über die Auswirkungen solcher abstrakten Begriffe — in deren Sinne Menschen sich bewegen — durch jene Frauen, die hier nicht mitmachen. D. H. Lawrence gibt uns in seinem Roman >Der Regenbogen< (1915) ein Porträt solch einer Frau in der Person der jungen Lehrerin Winnifred Inger. Er läßt sie sagen:
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»Die Männer ... machen viel Getue und reden, aber in Wirklichkeit sind sie hohl. Sie pressen alles in eine wirkungslose Schablone. Liebe ist für sie eine tote Vorstellung. Sie kommen nicht zu einem und lieben einen, sie kommen zu einer Vorstellung und sagen >du bist meine Vorstellung<, so lieben sie sich selbst. Als ob ich irgendeines Mannes Vorstellung wäre! Als ob ich existiere, weil ein Mann eine Vorstellung von mir hat! Als ob ich von ihm verraten sein will, ihm meinen Körper als ein Instrument für seine Vorstellung leihen will, um nur ein Apparat mehr für seine tote Theorie zu sein ..., sie können eine Frau nicht nehmen. Sie kommen jedesmal zu ihrer eigenen Vorstellung und nehmen die statt dessen. Sie gleichen Schlangen, die versuchen, sich selbst zu verschlingen, weil sie hungrig sind.«
Also macht die Abstraktion uns Männer unwirklich, und die Liebe, nach der wir jagen, bleibt außer Reichweite. Statt wahre Intimität zu suchen, zielen wir auf Bewunderung. Die Wirkungen der daraus resultierenden gegenseitigen Bestätigung von Bildern wird Realität genannt. Aber dadurch rührt niemand den anderen an, bleibt unverwundbar, leider aber auch leer. Und die Leere erzeugt Angst, die Angst Wut, und die Wut Aggression. Und die treibt uns immer weiter in ein abstraktes Verhalten hinein, das die Abspaltung von den Gefühlen verstärkt.
Viele Frauen machen dieses Spiel mit. Sie nehmen das Image von der Macht des Mannes für bare Münze. Sie akzeptieren seine Vorstellungen, indem sie ihn einerseits bestätigen und dadurch aber auch ihrerseits »Macht« ausüben. Dadurch wird Sex zum Mittel, über den Besitz des Mannes zu seinen mythisierten Kräften zu gelangen. Daß dies ein Akt der Destruktivität und nicht der Liebe ist, ersehen wir an der verdeckten Rache solcher Frauen, die darauf bestehen, zum Lenker des Schicksals des Mannes zu werden: Sie zwingen ihn, immer und in jeder Lage Held zu bleiben.
Wieder ist es D. H. Lawrence, der uns in >Liebende Frauen< (1921) in der Gestalt der Gudrun und ihrer Beziehung zu Gerald, dem mächtigen Industriellen, davon ein Bild gibt:
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»... sie küßte ihn, obwohl ihre Leidenschaft eine unklare Angst war vor dem, was er darstellte, wobei sie sein Gesicht mit ihren unendlich sanften, fragenden Fingern berührte. Ihre Finger gingen über sein Gesicht, seine Züge. Wie vollkommen und fremdartig er war — ah, wie gefährlich! ... Sie küßte ihn und legte ihre Finger über sein Gesicht, seine Augen, seine Nasenflügel ..., um ihn zu erkennen, ihn durch Berührung zu besitzen ... Er war ein unaussprechlicher Feind, aber beschienen von unheimlichem weißem Feuer ... Ah, wenn sie die kostbare Erkenntnis seines Selbst haben könnte, würde sie erfüllt sein, und nichts könnte sie dessen berauben ... Ihre Finger hielten ihn in ihrer Macht. Das bodenlose Begehren, das sie in ihm hervorrufen konnte, war tiefer als der Tod, wo er keine Wahl hatte.« (Übersetzt von A. Gruen)
Lawrence wußte, daß solche Frauen Männer — genau wie die Männer, von denen sie erzeugt werden — nicht als Individuen sehen, sondern als Abstraktion der Macht, die sie besitzen müssen. Das Faszinierende ist seine Beschreibung von Gudruns Zärtlichkeiten, die vom Haß beflügelt werden, aber sexuell erregend sind — eine scharfsinnige Wahrnehmung der unbewußten Liebe für das Tödliche. Diese Liebe wächst aus der frühkindlichen Abhängigkeit von einem kalten und/oder abweisenden Liebesobjekt.
Geschichtliche Entwicklung
Paradoxerweise ist es der Entwicklungsprozeß der Wissenschaft selbst, der diese Vorgänge unterstützt hat. Er schuf ein geistiges Klima, in dem die Annahme vorherrschte, daß die Realität der Welt vollkommen mittels abstrakter Begriffe allein beschrieben werden könnte, da diese so erfolgreich im Aufbau der Wissenschaft waren. Dadurch wurde der intellektuelle Vorgang der Abstraktion so generalisiert und emporgehoben, daß diesbezügliche Zweifel oder Infragestellung gleichbedeutend wurden mit mangelnder Loyalität gegenüber dem menschlichen Fortschritt (A. Whitehead, 1925).
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Die wissenschaftlichen Konzepte, beginnend im 17. Jahrhundert, nahmen einfach an, daß die ganze Realität durch ihre Methoden beschrieben werden könnte. Das, was nicht auf diese Weise beschrieben werden konnte, wie zum Beispiel unsere moralische Natur und unser existentielles Bewußtsein, wurde einfach von »wissenschaftlicher« Betrachtung ausgeschaltet. Die Wissenschaft, so betonte der englische Mathematiker J. Sullivan (1927), blieb »durch kreisläufige Definition für immer auf einer Ebene (des Denkens), das nur gewisse Bereiche zum Wachsen und dadurch zur Maturität entwickeln ließ. Alles andere wurde gehemmt und verkümmerte.« Dadurch erhielt die Spaltung zwischen Intelligenz und Gefühl ihre kulturelle Sanktionierung.
Die daraus entstehende Verneinung der Gefühlswelt hält an und hindert immer mehr Menschen, ihre Intelligenz auch als Werkzeug der Anerkennung tiefster emotioneller Erfahrungen gebrauchen zu können. Insbesondere in den Sozialwissenschaften — trotz scheinbarer Sorge um unser Erleben — wird der Prozeß der Abstraktion als Mittel, uns von uns selbst zu trennen, immer mehr institutionalisiert. Unter dem Vorwand einer Methodologie, die nicht mit dem menschlichen Erleben zu Rande kommen kann, schafft sie dieses einfach ab. So schreibt J. Krutch (1954):
»... wenn man das Verhalten von Menschen oder Tieren beobachtet, als ob es in seiner Beschaffenheit eine mechanische wäre, wird es ganz unwidersprochen so erscheinen; . . . wenn man mit dem Vorschlag anfängt: Wir können uns nicht mit dem Bewußtsein befassen, weil es nicht bequem ist, deswegen haben wir das Recht, es auszuschalten — so erzeugt man ganz einfach die Verwirrungen, die in der Tat entstanden sind. Es wird einfach angenommen, daß das, was eine gegebene Methode als schwer zu handhaben ansieht, nicht existieren kann.« (Übersetzt von A. Gruen)
In den Sozialwissenschaften hat das Primat der Methodologie dazu geführt, die Methode mit der Wissenschaft selber zu verwechseln. Diese Begrenzung durch eine so verstandene Methodologie übernimmt unkritisch die Parameter der Definition, die stipuliert, was als wissenschaftlich gelten darf. Dasjenige menschliche Erleben, das sich nicht in eine gewisse Methodologie einordnen läßt, wird dann verneint. Es existiert nicht.
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Indem die Dimensionen des menschlichen Erlebens auf diese Weise auf ein lapidares »fiat« (es sei!) reduziert werden, ist es kein Wunder, daß ein B. F. Skinner (1972) diese zu Input- und Output-Charakteristiken vereinfachen kann, ohne Möglichkeiten für Freiheit und Würde. Die Ironie ist, daß solch eine Vereinfachung und Reduktion des menschlichen Erlebens und der Erfahrung ihre eigene Gültigkeit erschafft. Indem im voraus definiert wird, was relevant ist, braucht man sich nicht mehr um das, was wirklich vorgeht, zu kümmern. Und tatsächlich kann man Menschen und Tiere auf ihre einzelnen Verhaltensweisen reduzieren und ihr Verhalten immer noch »wissenschaftlich« voraussagen. Kavanaus Forschung, über die ich oben berichtete, ist ein Beispiel. Was eigentlich Ausdruck autonomer Triebe ist, wird für einen Wissenschaftler wie Skinner zum »Fehler«. Die Methode bestätigt das Resultat!
Es ist in dieser Sicht interessant, daß die dänische Schriftstellerin Tania Blixen (unter dem Pseudonym Isak Dinesen) in ihrem autobiographischen Bericht >Afrika< (1937) einen deutschen Wissenschaftler beschreibt, der sich bei ihr über seine »primitiven« eingeborenen Versuchspersonen beklagte. Der Validität seiner Resultate wegen wollte er ihr Verhalten systematisieren, sie aber sträubten sich gegen Standardisierung. Sie taten genau das, was die Mäuse in Kavanaus Forschungsexperiment taten: Sie reagierten mit fehlerhaftem Verhalten, um so Variabilität in eine sonst unerträglich einförmige Forschungswelt zu bringen. Ihr Verhalten war voller »Fehler«, und aus der Sicht dieses Wissenschaftlers waren sie »dumm«. Tania Blixen kam zur folgenden Überlegung: »Ich dachte öfters, daß das, was diese Einheimischen tief in ihren Herzen fürchteten, unsere Pedanterie war. In den Händen eines Pedanten sterben sie aus Kummer.«
Ein Wissenschaftler ganz anderen Formats, der Nobelpreisträger George Wald, beschrieb einmal eine Begegnung mit einem Kollegen seiner psychologischen Fakultät der Universität Harvard, die bezeichnend und erschütternd ist: »Eines Tages sagte er zu mir, sein Gesicht ganz erleuchtet: >Gebt uns die Spezifikationen, und wir werden euch diese Menschen produzieren.> Ich befürchte, daß ich meine Kontrolle ein bißchen verlor. Meine erste Antwort nämlich war: >Nicht, wenn ich dich nicht zuerst erschießen kann.< Das schien ihn zu irritieren.« (Wald, 1969) Auch Professor Skinner und sein Labor sind in Harvard situiert.
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Der Sinn des Lebens, wie er von den Sozialwissenschaften impliziert wird, steht nicht nur in Gefahr, mit menschlichem Erleben und Erfahrung in keiner Übereinstimmung mehr zu sein, sondern er erschwert es, uns selbst zu erkennen, weil in den Sozialwissenschaften das gesellschaftlich annehmbare Bewußtsein dominiert. Die Diskrepanz zwischen dem, was offiziell als Erleben annehmbar ist, und dem, was wirklich erfahren wird, blockiert den Zugang zu unseren Gefühlen.
Ein Beispiel
Sehen wir uns ein vielzitiertes Experiment aus der sozial-psychologischen Forschung von B. Latané und J. Darley (1969) an, es wurde 1968 mit dem Sozialpsychologischen Preis der Amerikanischen Gesellschaft für den Fortschritt der Wissenschaft (AAAS) ausgezeichnet. Ich hebe dieses Beispiel deshalb hervor, weil es diesen prestigereichen und bedeutenden Preis erhielt. Die Preisverleihung wirft gleichzeitig ein Licht auf den Geist der offiziellen Psychologie, ein Geist, der trotz aller Rhetorik bezüglich der Förderung menschlichen Fortschritts, emotionelle Spaltung, Entfremdung und Entmenschlichung zu legitimieren scheint.
Den Hintergrund dieses Forschungsprojektes »Zuschauer-Apathie« bildete die Ermordung der Sozialarbeiterin Kitty Genovese in einer Märznacht 1964 in Queens, New York, durch einen Geistesgestörten. Mindestens achtunddreißig ihrer Nachbarn schauten zu, ohne daß einer von ihnen der verletzten Kitty Genovese geholfen oder — obgleich der Mörder über eine halbe Stunde für seine Tat brauchte—auch nur die Polizei gerufen hätte.
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Das Forschungsteam glaubte nicht, daß Apathie, Gleichgültigkeit, moralische Gefühllosigkeit, Entmenschlichung oder der Verlust von Anteilnahme am Mitmenschen hinter diesem grauenhaften Ereignis stecken könnte. Überhaupt weisen sie mit Geringschätzung auf »Prediger, Professoren und andere Moralapostel«, die in diesem Versagen, einem Mitmenschen, der in tödlicher Not ist, zu helfen, einen moralischen Mangel sehen. Sie definieren die »wirklichen« Dimensionen dieses Ereignisses, indem sie behaupten, daß »angesichts einer Situation, aus der für sie (die umstehenden Personen) selbst kein Vorteil zu holen ist ..., es wahrscheinlich überraschend wäre, wenn überhaupt jemand eingreifen sollte ..., es gibt nämlich wenig positive Belohnung für erfolgreiches Eingreifen bei einem Notfall.« (B. Latane und J. Darley, 1969)
Indem die Autoren annehmen, daß wir wie Maschinen funktionieren im Sinne von Input/Output und sofortigen konkreten Belohnungen (finanzielle Belohnung oder Status-Förderung), ist es ihnen unmöglich, Dimensionen zu erkennen, die solche Verhaltensweisen überschreiten. Dadurch entfällt das Transzendentale, und die Tatsachen der menschlichen Erfahrung und des Erlebens werden durch Verleugnung entstellt. Menschen antworten spontan auf Terror und die Verzweiflung eines anderen, da wir alle Anlagen für Empathie und Mitgefühl haben. Und diejenigen, die den größten Zugang zu sich selbst auf dieser Ebene des Erlebens haben, können nicht mit der Verneinung dieser Fähigkeit leben. Scheinbar können es diese Forscher. Das machte es ihnen möglich, kompliziert angelegte Versuchssituationen zu erfinden, um die Beziehung zwischen der zufälligen Anwesenheit von Umstehenden und dem Ausmaß, in dem eine einzelne Person auf die Notlage einer anderen reagiert, zu untersuchen. Ihre Ergebnisse, so behaupten sie, weisen darauf hin, daß Menschen weniger zur Hilfeleistung bereit sind, wenn noch andere Umstehende anwesend sind.
Ihre Untersuchungsmethode bezieht sich vor allem auf die unterschiedliche Distanz zwischen anwesenden Zuschauern und einer Person in Not. Da kann man natürlich »sehen« und die Distanzen »messen«. Was dabei verloren geht, ist das transzendentale Innere: die Frage, wie und warum der Mensch seiner eigenen Menschlichkeit ausweicht. Aber da nur das Meßbare bei dieser Methode zählt, geht ja scheinbar nichts verloren! Das rein Mechanische — die Entfernung der Anwesenden voneinander — bestimmt das Bewußtsein des Experiments, und alles andere existiert dann nicht. Und das Meßbare gibt Antworten, die mathematisch verarbeitet werden können. So wird unser Bewußtsein von äußeren Bedingtheiten dominiert, und eine ganze innere Welt geht verloren.
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Sehen wir uns einige bedeutende Befunde dieses Forschungsteams an, die die Forscher selbst gar nicht beachtet haben. Wir finden in ihren Tabellen eine erhebliche Anzahl von Versuchspersonen, die dem Opfer zu Hilfe kamen. Da diese nicht der Mehrzahl entsprachen, wurden sie mit Hilfe statistischer Methoden als unbedeutend erklärt. So schaltet die Methode menschliches Erleben, weil nicht statistisch relevant vorkommend, einfach aus. Die Methode bestimmt, was als Faktum zugelassen wird, nicht die Realität. Vielleicht noch wichtiger: Eine große Anzahl derjenigen, die dem Opfer nicht zu Hilfe kamen (also diejenigen, die dem statistischen »Beweis« dieses Forschungsprojekts zugrunde liegen), zeigen starke psychosomatische Symptome. Ich zitiere: »Viele dieser ... zeigten physische Anzeichen von Nervosität; häufig hatten sie zitternde Hände und schwitzende Handflächen.«
Was sagt uns dieses Verhalten, das von den Forschern zwar zur Kenntnis genommen, dann aber von ihnen beiseite geschoben wurde? Es veranschaulicht gerade, daß ein Mensch, der angesichts der Notlage eines anderen der Forderung seiner eigenen Menschlichkeit ausweicht, den somatischen Auswirkungen eines solchen Verrats am Mitmenschen nicht entgehen kann. Die erwähnte Arbeit von S. Milgram zeigte uns bereits, daß, wenn der eigenen Menschlichkeit ausgewichen und die eigene empathische Reaktion eingedämmt wird, sich diese in der Körpersprache als psychosomatisches Symptom ausdrückt. Das Forschungsteam informiert uns zwar über solche Tatbestände, übersieht aber ihre Bedeutung, weil sie, ideologisch bedingt, mithelfen, unser gefühlsmäßiges Erleben zu vermindern. Indem sie das tun, tragen sie dazu bei, die allgemeine Gewalttätigkeit und Aggression zu steigern.
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Wenn die Hilflosigkeit eines anderen Menschen unsere eigene anrührt, wir diese aber verneinen, weil wir sie als unsere eigene Schwäche verurteilen, erregt das Opfer in uns Selbsthaß. In der Hilflosigkeit verwandelt sich unsere eigene Angst in Wut auf den Unterlegenen. Das Opfer spiegelt unser eigenes gehaßtes Selbst wider. Wir machen das Opfer für unsere »Schwäche« verantwortlich. Dieser Mechanismus hat eine lange entwicklungsbedingte Vorgeschichte. Es ist die Rache für unsere eigene verdrängte Demütigung. Hier finden wir den Grund für die faktische Identifizierung mit der Gewalttätigkeit, die solche Wissenschaftler nicht nur verdecken, sondern gerade durch die Verdeckung noch fördern. Sie machen es uns schwierig, den Ursprung unserer tatsächlichen Grausamkeit und Gefühllosigkeit in der Verdammung unseres eigenen Leidens zu finden. Je unmenschlicher wir uns benehmen, desto stärker verwerfen wir unser eigenes Leiden und verraten das menschliche Selbst, das wir selbst nie haben durften.
Worüber B. Latane und J. Darley uns nicht informieren können und worüber sie, wie bewußt auch immer, einen Deckmantel des Verleugnens ziehen, ist nicht nur der eigentliche Prozeß der menschlichen Verrohung, sondern sie verleugnen auch den möglichen Widerwillen gegenüber solchen Geschehnissen. So verdeckt die offizielle Psychologie Perversität mit wissenschaftlichen Begründungen. Selbst Rudolf Höß, der gefürchtete Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz, konnte Überresten seiner Menschlichkeit nicht entgehen. Er selbst berichtet über einen Nervenzusammenbruch (Höß, 1978), als diese Gefühle seine Roboterisierung zu durchbrechen drohten (siehe auch: A. Kempinski, 1973).
Die moderne Sozialwissenschaft ist jedoch dabei, menschliche Perversität annehmbar zu machen. So legen uns die Autoren folgende Schlußfolgerungen vor: Wenn »mehrere Beobachter anwesend sind . . ., wird die Verantwortung für das Dazwischentreten von allen Zuschauern geteilt . . . Demzufolge mag der einzelne weniger geneigt sein, zu helfen. Situationsfaktoren, die die unmittelbare soziale Umgebung betreffen, werden als von größerer Bedeutung hinsichtlich der Reaktion einer Einzelperson angesehen als vage kulturelle und Persönlichkeitskonzepte wie >Apathie< und >Entfremdung durch Urbanisierung< . .. Die Weigerung, Hilfe zu leisten, kann möglicherweise besser verstanden werden, wenn man die Beziehung zwischen den Umstehenden kennt, als die zwischen Umstehenden und dem Opfer.« (B. Latane und J. Darley, 1969)
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Haß, Selbsthaß und das Böse als Flucht vor dem Selbst
Indem Latané und Darley verneinen, daß der entscheidende Punkt die Beziehung von Umstehenden und Opfer ist, legitimieren sie die Flucht des Selbst in die Gruppe und verändern damit unsere Auffassung der Realität. Indem sie die Spannung zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte, ausschalten (wie Herbert Marcuse es 1967 formuliert), setzen sie eine neue Realität ein, die wesentliche Strukturen unserer Erfahrung leugnet und das Verstecken hinter einer Gruppe rechtfertigt. Die Tatsache, daß somatische Symptome den Beweis für das Vorhandensein von Scham, Schuld, Feigheit und anderen versteckten Gefühlen erbringen, wird einfach übersehen. Objektivität, Genauigkeit und »wissenschaftliches« Vorgehen werden verdreht, um menschliche Erfahrungen über den Haufen zu werfen oder sie zu entstellen. Während unsere Patienten leiden, weil sie nicht aufrichtig leben können, bestehen diese Propagandisten der Dissoziation und des Gespaltenseins auf einer gefälschten Realität, die die Gültigkeit des Leidens in Abrede stellt.
Was von solchen modernen Wissenschaftlern zur Norm menschlichen Verhaltens erhoben wird, ist im Grunde gefährlicher Wahnsinn. Diese Normen verdecken die Ursachen unserer Verletzungen und Verletzlichkeiten: In einem raffinierten System wird eine eingeschränkte, pervertierte Menschlichkeit zementiert.
Was uns da in Wahrheit glaubwürdig gemacht werden soll, ist eine Gesellschaft, in der ein allgegenwärtiger Konsens uns vor Selbstzweifeln, Ängsten und Beunruhigung bewahren soll. Aber das Gegenteil passiert. Eine neue Krankheit wird uns eingeimpft. Unter dem Deckmantel der Beschäftigung mit Gefühlen werden diese verneint. Und indem uns der Zugang zu ihnen versperrt wird, erhöht sich die Malaise der Gefühlslosigkeit. Aber Gefühlslosigkeit bedeutet immer gesteigerte Wut und Aggression.
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In dem Ausmaß, in welchem das eigene Selbst verlorengeht — die eigenen Mitgefühle und die Verantwortung für sie verschwinden —, wird ein Mensch rachsüchtig, ohne sich dessen wirklich bewußt werden zu können. Die Aggression ist eine Reaktion auf die Verminderung der eigenen Autonomie, selbst noch in den Fällen, in denen ein Mensch sich gegen diesen Verlust wehren möchte. Es wiederholt sich die ganze eigene Entwicklung: Die Unterdrückung der Rezeptionen und Gefühle der Kinder führt zu einem Gehorsam, der die hervorgerufene Aggression verdeckt, sie gleichzeitig aber auch steigert. Die Wut ist gegen das eigene Leiden und die eigene Lebendigkeit gerichtet, denn sie sind es, die offensichtlich die Willkür und Unterdrückung seitens der Eltern hervorriefen. Das bewirkt die erste Spaltung im eigenen Sein: die eigene Zurückweisung dessen, was zum Anhaltspunkt der eigenen autonomen Entwicklung hätte führen können, nämlich die eigene Lebendigkeit. Und obwohl man selbst zum Werkzeug der eigenen Unterdrückung gemacht wurde, bedeutet das nicht, daß der Haß gegen das eigene Sein sich etwa verminderte. Im Gegenteil, es ist ein anhaltender Spaltungs-Prozeß, der durch die gesellschaftlichen Normen gefördert wird.
Die Quelle unserer Aggression und Destruktivität liegt in der Kultur, nicht im einzelnen Menschen. Und alles, was unsere Spaltung fördert, unseren Zugang zu unserem Inneren verschließt, ist ein Teil dessen, was unsere zerstörerischen Triebe erzeugt und vermehrt. Die wahren Geschädigten sind nicht die seelisch Erkrankten, die als psychiatrische Patienten von der Gesellschaft gemieden werden. Es sind diejenigen, die uns ein reduziertes Mensch-Sein suggerieren wollen. Die Kranken weisen uns unbewußt den Weg zu uns selbst zurück. Die anderen versperren ihn mit ihren pseudo-einleuchtenden und -entlastenden theoretischen Gebilden.
Indem die Weigerung, Hilfe zu leisten, als eine rein geometrische Funktion zwischen Umstehenden und Opfer gedeutet wird, wird die Möglichkeit, mit sich selbst aufrichtig zu sein, vereitelt. Wenn das passiert, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Es wird einem so unbehaglich und unwohl, daß man zusammenbricht; oder man muß das zerstören, was die Unbehaglichkeit in einem erweckt. Aus dem letzteren aber folgen zwingend Grausamkeit und Sadismus. Jeder polizeiliche Apparat, der auf Grausamkeit beruht, und jedes Folterungssystem ist von jener
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inneren Logik geprägt, die ihre Funktionäre zwingt, stets von sich selbst wegzurennen. Das geschieht, indem sie ihren Opfern gegenüber immer grausamer werden. Erst wenn ein Opfer nicht mehr schreit und der Folterer damit sein eigenes, stets verleugnetes Leid weit hinter sich lassen kann, wird es ihm möglich, mit der Folterung aufzuhören.
Die Gewalttätigkeit und Destruktivität, von der hier die Rede ist, braucht nicht persönlich zu sein und nicht körperlich im unmittelbaren Sinne. Es ist nicht leicht zu erkennen, in welchem Zusammenhang und Ausmaß wir von unseren Gefühlen getrennt werden. Aber solch ein Vorgang ist ein Mord — wenn auch auf Raten — an unserem Selbst. Das erwähnte Forschungsprojekt über »Apathie von Zuschauern« ist seinem Ansatz nach und in seiner faktischen Wirkung gewalttätig und destruktiv. Es legitimiert die Verschmelzung eines Selbst mit der Gruppe, ohne es auszusprechen, indem es diesen Vorgang einem operationeilen, geometrischen Verfahren gleichstellt. Dadurch fördert es den Untergang unserer Denkmöglichkeit, unserer Fähigkeit, der Realität entgegenzukommen, und unserer Kapazität, uns moralisch-ethisch zu verhalten und zu urteilen.
Das reduzierte Selbst
Eine Person mit einem inneren Erleben, das solchen offiziellen Attributionen widerspricht, ist in Gefahr, als von der Norm abweichend, als behindert oder gestört gekennzeichnet zu werden. Es ist der reduzierte Mensch, der uns als normal vorgestellt wird. Er ist derjenige, der am erfolgreichsten (und scheinbar ohne Probleme) in einer reduzierten Welt zurechtkommt.
Im täglichen Leben mit unseren Mitmenschen, die auf solch reduzierte Weise »besser« funktionieren als wir selbst, fühlen wir uns manchmal sogar unterlegen.
Max Frisch gibt im Tagebuch 1966-1971 ein Gespräch wieder, das er mit einem Malermeister geführt hat — und öffnet uns damit die Augen für dieses eingeschränkte Menschsein.
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Die beiden Männer sitzen in einer Wirtschaft beim Essen. Der Malermeister hat sechs Angestellte, und man spricht über Tarife, Spritzverfahren, Sport etc. »Welche Arbeit macht Ihnen am meisten Lust? Ich würde lieber eine Wand malen als Fensterrahmen, lieber bunt als das fade Ton-in-Ton. Wie ist das? Er versteht die Frage nicht. Renovation oder Neubauten, was macht er lieber? Man macht eben beides, heute nacht eben eine Renovation. Graust ihm vor Nachtarbeit? Das muß eben sein. Da er der Boß ist und somit wählen kann, was er selber macht, frage ich: Welchen Teil der Arbeit wählen Sie? Grundieren denke ich mir langweilig, das Ablaugen alter Farbe noch langweiliger. Was macht mehr Lust, Streichen mit Pinsel oder Spritzverfahren? Seine Spezialität, sagt er, ist Hartlack; dabei komme er auf seine Rechnung. Also zurück zu den heutigen Tarifen ...
Zurück zu meiner Frage: Was in Ihrem Beruf macht Ihnen manchmal Lust? Seine Auskunft: Spritzverfahren ist einträglicher, Renovationen bringen wenig, Tarife für Fenster sind einfach zu niedrig, dagegen mit Hartlack kommt er auf seine Rechnung, schließlich hat er auch eine Familie, Nachtarbeit ist einträglich. Meine Frage nebenbei: Verdrießt es Sie nicht, wenn Farben gegen Ihren persönlichen Geschmack verlangt werden? Natürlich arbeitet er, um sein Leben zu verdienen, das verstehe ich; trotzdem meine Frage: Hätten Sie nicht manchmal Lust, eine andere Farbe zu wählen? Man legt doch Muster an und kann verdutzt sein, wenn dann das ganze Treppenhaus gestrichen ist; ich meine: Sind Sie gespannt, wie es zum Schluß aussieht? Er weiß nicht, was ich mit dieser Fragerei eigentlich will; sein Einkommen hat er mir gesagt. Hätten Sie manchmal Lust auf einen anderen Beruf? Das ist klar: wenn eine Arbeit sich nicht auszahlt, weil die Tarife teilweise einfach zu niedrig sind, ausgenommen bei Hartlack, der seine Spezialität ist, kann sich das Einkommen verringern. Also Hartlack macht Lust? Das kann er nicht sagen; Hartlack ist ein Verfahren, ... (er muß) jetzt gehen, ohne die Hand zu geben, unlustig —.« (Frisch, 1972)
Es ist schon ein Paradox, daß abstrakte Begriffe spontane Lebensäußerungen reduzieren. Aber es stellt sich die Frage, inwieweit unsere wissenschaftliche Fachwelt, der ganze Wissenschaftsbetrieb, vielleicht unfreiwillig solche Reduktion des Lebens betreibt und dafür Zustimmung verlangt.
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Der Außenseiter und Versager
Immer wieder sind es die Künstler und Außenseiter, die unser Bewußtsein von den Einschränkungen offizieller Ideologien befreien. Colin Wilsons Studie (1956) solcher Außenseiter im literarischen, malerischen und tänzerischen Bereich stellt ihre kreativen Errungenschaften als Kampf gegen die Fesseln einer das Individuum reduzierenden Kultur heraus. Das Eigenartige ist, daß ihre Erfolge meistens später von derselben Kultur als Ausdruck ihrer Förderung beansprucht werden. Es ist aber jedesmal der Versuch, sich nicht durch die Kultur im eigenen Gefühlsbereich spalten zu lassen, der es dem Künstler (und Außenseiter) ermöglicht, solche eigenständigen Kräfte zu entwickeln.
Wilson sieht es als Kampf um die eigene Wahrheit an, was sicher auch zutrifft. Aber im tiefsten Sinn ist es ein Kampf, integer und ganz zu bleiben, nicht da gespalten zu sein, wo die Kultur es verlangt. (Der Künstler kann natürlich auf anderen Ebenen gespalten sein.) Und sie verlangt dies immer wieder, insbesondere da, wo sie uns in unserem Autonom-Sein schädigt, damit wir uns den Ursprüngen unserer Aggression und Destruktivität nicht bewußt werden sollen.
Wenn das Ringen um Ganzheitlichkeit und Autonomie durch den Druck der offiziellen Verstellungen überwältigt wird, bleibt oft als einziger Ausdruck der Autonomie der Ausweg in ein gestörtes seelisches Verhalten. Charlotte Perkins Gilman schildert in einer brillanten und bewegenden Erzählung, >Die Gelbe Tapete< (1892), den einsamen und ohnmächtigen Kampf einer Frau gegen die Zersplitterung ihrer Gefühle; sie ist der gewalttätigen Besitzgier ihres Ehemannes ausgeliefert, die aber dem offiziellen Sinne nach als Fürsorge und Liebe dargestellt wird.
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Der einzige Weg, der aus dieser lebensbedrohenden Situation herausführt — sie selbst ist in diesen Abstraktionen eingesperrt und kann sich nicht direkt gegen ihren »guten« Mann wehren —, ist die Sprengung aller rationell aufgebauten Beziehungsarten. Und so wird diese Frau vor unseren Augen schizophren. (Dieses Buch entwickelt auf siebenunddreißig Seiten die eigentliche Entstehung einer Schizophrenie, wie man sie schlüssiger kaum je in der Fachliteratur findet.)
Der Schizophrene präsentiert uns das Bild einer übertriebenen Hilflosigkeit. Darin könnten wir unsere eigene, verneinte Hilflosigkeit erkennen. Unser Zugang zu ihr ist aber gesperrt, da unsere diesbezüglichen Erfahrungen aus unserer Kindheit durch die Erfahrung der elterlichen Willkür für uns so schmerzlich waren, daß wir sie sukzessive von uns abspalten, verdrängen mußten. Danach waren wir einer Kultur ausgesetzt, in der Hilflosigkeit mit Schwäche gleichgesetzt ist und Macht und Herrschaft als Ausweg aus Angst und Verzweiflung angeboten wurde. Und so lernten wir, von der Erfahrung der Hilflosigkeit davonzulaufen. Wenn wir es nicht tun, werden wir zu »Versagern«. Und so träumen wir fast alle von Erfolg, von Eroberungen, von mächtigen Taten, um unseren Gefühlen der Hilflosigkeit, der Angst und Verzweiflung zu entrinnen. Aber sie erreichen uns in den nächtlichen Alpträumen der Kindheit und auch später!
Die Abstraktionen, die wir als gültigen Rahmen unserer Existenz akzeptieren, steigern unsere innere Malaise, unseren inneren Drang zur Gewalttätigkeit, denn sie schneiden uns von den Gefühlen ab, die durch Hilflosigkeit erzeugt werden. Die einzigen Wege, auf denen wir mit unserer verneinten Hilflosigkeit zu Rande kommen können, sind irrsinnige Wege, die aber selbst vom Bewußtsein ihrer Irrsinnigkeit abgespalten sind.
Wie denn sollen wir den Größenwahn eines jeden Menschen einschätzen, der seiner Hilflosigkeit dadurch entrinnt, indem er von Welteroberungen, Massenmord, Schlachten und übermenschlichen Erfolgen träumen muß? Wir merken gar nicht, daß hinter diesen Größenphantasien die Ablehnung der Erfahrung der Hilflosigkeit steckt. Die Abstraktion, die uns den Weg dazu versperrt, ist jene Konzeption, die Verzweiflung mit Schwäche gleichsetzt. Sie verurteilt uns als schwach, wovor wir uns insgeheim alle schämen. Wir haben Angst vor einer Schwäche, die nur durch Abstraktion existiert.
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So können wir nie erfahren, daß Hilflosigkeit, wenn man sie annimmt, die Erfahrung möglich machen könnte, daß man ihretwegen nicht sterben wird. Solch eine Erfahrung ist uns aber durch den Begriff der Schwäche verschlossen. Die Angst vor dem Versagen treibt uns zu immer größeren Herausforderungen, oder sie vermittelt uns das permanente Gefühl des Zukurzgekommenseins und der Unterlegenheit. Dadurch bleiben wir ewig in einem Zustand innerer Spannung und Wut. Diese Ohnmacht wird außerdem zum Antrieb der ständigen Suche nach einer Identität, die nicht die eigene (nämlich die autonome) ist und dadurch wiederum zur Quelle einer unerschöpflichen Wut. Man kann sie weder überwinden noch erkennen, da die Abstraktionen, die unseren Lebensrahmen bestimmen, uns von unseren wahren Gefühlen fernhalten. Man sucht nach Gründen, aber nur bei den Opfern, nicht in der eigenen Wirklichkeit; genau wie man selbst zum Opfer wurde, ohne es zu wissen. Man rächt sich an dem, was man als Schwäche im anderen auffaßt, nämlich die Schwäche, die man in sich selbst verachten und hassen muß! Der Judenhaß ist ein grundlegendes Beispiel dafür.
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Ein anderes, das durch seine gespenstische Unwirklichkeit diesen Vorgang ebenfalls bestätigt, kommt aus dem Amerika der ersten Jahre der Wirtschaftskrise unter dem Präsidenten Richard Nixon. Man interviewte die Arbeitslosen in Spokane (State of Washington), meistens Ingenieure, die wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten in der Flugzeugindustrie ihre Stellen verloren hatten. Während sie auf die Auszahlung ihrer Arbeitslosengelder warteten, wurden sie gefragt, was für sie gegenwärtig das größte Problem sei. Fast alle sagten, es sei das Problem des »busing«. Damit war die Beförderung schwarzer Schüler mit dem Bus zu den Schulen in weißen Gegenden der Stadt gemeint!
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Man sucht andernorts Opfer, nicht die wahren Quellen der eigenen Wut, da man die eigene gar nicht erkennt und auch die eigene Verzweiflung nicht zugeben kann. Je mehr solche Wut ausgedrückt wird, desto mehr steigert sie sich. Wenn wir nicht auf die wahren Ursachen treffen, steigert sich dieser Krankheitszustand und führt zu einem magischen Selbst- und Weltbild. Man fühlt sich unüberwindbar, wenn man einen anderen zerschlagen, ihn foltern kann. Man erkennt nicht, daß es die eigene Hilflosigkeit ist, die zertreten wird.
Was kann im Grunde magischer sein, die Gefühle der Omnipotenz stärker fördern als Phantasien über Massenzerstörung und Eroberung? Solche Träume, als »nüchterne« Konzeptualisationen, losgetrennt von Gefühlen, steigern die Fähigkeit, Schrecklichkeiten mit Gleichmut betrachten zu können. Solche Phantasien werden heutzutage täglich als »Spiele« im Computer simuliert. Und zwar von Menschen, die sich als normal, gute Väter, ehrenwerte Professoren etc. verstehen.
Hier ein Beispiel eines modernen Kriegsspiels, wie es täglich von führenden Eliten in aller Welt als normale Gedankenübung praktiziert wird. E. O. Stillmann — er war damals Europäischer Direktor des Hudson Institutes und Berater der Amerikanischen Armee und der Kommission für Atomenergie — entwickelt in einem »wissenschaftlichen« Artikel, der in den >Annals of the American Academy of Political and Social Science< (1972) erschien, folgendes Szenarium nach einer angenommenen Konfrontation zwischen den USA und China: »Die USA verkünden die bevorstehende Zerstörung (sagen wir innerhalb achtundvierzig Stunden) von einer aus zehn chinesischen Städten und gibt im selben Moment aber auch Zufluchtsstätten bekannt. Diese Ankündigung von zehn möglichen Städten soll die Wirkung des Terrors steigern, um große Teile der Bevölkerung in Bewegung zu setzen, dadurch chaotische Verwirrung hervorzurufen und zur Zerstörung der Regierungsstruktur und Autorität beizutragen . . . Innerhalb von achtundvierzig Stunden bringen die USA eine Spätzünder-Atombombe (auf vierundzwanzig Stunden gesetzt) nach Mukden und ruft gleichzeitig das chinesische Volk auf, seine Regierung zu stürzen und sich zu retten. Diesem Angriff folgen ähnliche Angriffe auf drei zusätzliche Städte — Harbin, Chanhchow und Canton.«
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Hier führt Konzeptualisation, völlig getrennt von emotionalen Reaktionen, zu einer völlig gleichmütigen Betrachtung des Schrecklichen. Diese Zerstörungsphantasien befinden sich auf derselben Ebene wie die Machtphantasien der Ideologen. Krylenko, sowjetischer Generalstaatsanwalt und später Kommissar für Justiz unter Stalin, äußerte einmal, wie Solschenizyn berichtet, daß Menschen nicht Menschen seien, sondern
»Träger von spezifischen Ideen. (Deswegen) machen die individuellen Qualitäten (eines Angeklagten) gar keinen Unterschied, da nur eine Schätzungsmethode möglich sei: Beurteilung aus der Sicht der Klassennützlichkeit.« (Solschenizyn, 1973).
Der wesentliche Punkt, sagt Solschenizyn ironisch, ist, daß manche die Existenz anderer Menschen einfach als störend empfinden. Aber wenn die Ideologie der Macht von Bürgern für die eigentliche Realität gehalten wird, geht Autonomie verloren, und es herrscht Abstraktion. Diesen Vorgang veranschaulicht eine Zeitungsnachricht aus der >New York Times< vom 3. Juli 1970. Anläßlich eines Prozesses, für den Geschworene ausgewählt werden mußten, fragte der Richter einen voraussichtlichen Geschworenen, ob er den Angeklagten für schuldig halte. Er antwortete: »Wenn er nichts getan hätte, würde er doch nicht hier sein.« (Der Prozeß ging um einen »Black Panther« der damaligen Schwärzen-Bewegung.) Als daraufhin der Richter weiter fragte: »Nehmen wir an, ich setze Sie jetzt unter Arrest.« — »Das«, antwortete darauf dieser Mann, »würde heißen, daß ich was getan haben muß.« Eine bezeichnende Schlußfolgerung! Dies ist die vollkommene Auslieferung der eigenen Autonomie, kompensiert mit Hilfe einer vollkommenen Identifikation mit den herrschenden Mächten und ihrer Ideologie.
Wer aber nicht abstrakt lebt, kann so etwas gar nicht tun. Abstraktion zwingt einen, Rache an Opfern auszuüben, die in letzter Konsequenz die eigene Unterdrückung, den eigenen Selbsthaß hervorrufen.
Wir sehen, ideologische Abstraktionen können dazu führen, daß des Mörders eigene Mordlust verhüllt bleibt. Dadurch bleiben die Beweggründe unseres Verhaltens unzugänglich. Man empfindet sich selbst als friedlich. Aber wenn Grausamkeit als abstrakter Begriff gefaßt wird, entfernt sich das Grausame von der Realität der Gefühle. Dann wird es möglich, Menschen der Grausamkeit auszusetzen, ohne daß Entsetzen zu einer bewußten Gefühlswahrnehmung zu werden braucht.
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Die »Body-Count«-Mentalität des Vietnam-Krieges, Nixons Gebrauch des »Drehbuch«-Konzepts für Taten, die schreckliches Leid über Menschen brachten, sind Aspekte dieses Phänomens. Sie entfernen den Menschen von seinen Gefühlen, und da, wo er sie noch hat, gehen sie in Richtung einer Identifikation mit der Gruppe, so daß er der Verantwortung für die eigenen Gefühle entrinnen kann. Darin liegt das Ungeheuerliche, recht eigentlich Verbrecherische von Gelehrten wie Latane und Darley und Scharen von »wissenschaftlichen« Nachbetern. Die Tatsache, daß Menschen, die vor solchen Vorkommnissen wie jener brutale Mord und den pseudowissenschaftlichen Erklärungsversuchen und daraus legitimierten Normen schaudern, als unrealistisch bezeichnet werden, ist ein Symptom für das Ausmaß, in welchem Perversität die offizielle Realität definiert.
Wenn ein Mensch mittels abstrakter Begriffe über sich selbst schließlich zum Roboter wird, ist die Gefahr sehr groß, daß er böse wird. Nur wird er sich dessen nicht bewußt. Wenn man abstrakten Begriffen des Seins unterworfen wird, die den eigenen Möglichkeiten nicht entsprechen, muß sich Wut wegen des Verrats am eigenen Ich aufbauen. Wir merken es nicht, obwohl jeder sich über Alkohol- und Drogenmißbrauch, sexuelle Promiskuität und Aggression beklagt. Der Zusammenhang mit der gestörten Autonomie wird nicht bemerkt. Die Abstraktionen, die auf einer reduzierten Menschlichkeit aufbauen, versperren unsere Sicht. Wir verzeihen eher das Böse, das sich rings um uns türmt, aber nicht die Rebellion, mit der wir das wahre Böse identifizieren.
Es ist bemerkenswert, wie sehr eine gewisse Entmenschlichung als Voraussetzung für das Überleben in den Vernichtungslagern der Nazis gesehen wird. »Um zu überleben, muß man primitiv und asozial werden.« So sehen wir auch die »Notwendigkeit« einer Primitivierung im Falle von Kriegen und Katastrophen. Wir denken uns sogar die Geschichte der Menschheit als einen Fortschritt von der Verrohung zum Zustand der Zivilisation. Alle diese Begriffe sind wohl eher zum Verdecken unserer Gefühls-Verneinungen geeignet als zum Aufdecken der Wirklichkeit.
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Kempinski (1972) und Pawelczynska (1973), ein polnischer Psychiater und eine Soziologin, zeigen, daß diejenigen, die im KZ überlebten, jene waren, denen es gelang, der Verrohung entgegenzutreten, und die an ihrer Menschlichkeit festhielten. Das ist natürlich ein vollkommen gegensätzlicher Befund zu Theorien unserer »Autoritäten« in der Psychologie und Psychiatrie, die der Entmenschlichung eine gewisse Legitimität zugestanden haben. Dazu gehört auch Bruno Bettelheim (1958, 1961), obwohl gerade er viel von der Autonomie versteht, wie seine brillanten Arbeiten mit autistischen Kindern zeigen!
>The Survivor< (Der Überlebende) von Terrence DesPres (1976) ist ein Zeugnis zu Ehren des Menschlichen, das in den Vernichtungslagern zum Überleben führte. Er schreibt, daß die psychoanalytische Methode, wenn sie sich mit dem Konzentrationslagerverhalten beschäftigt als ob es symbolischem und vermittelndem Verhalten gleichgestellt ist, uns irreführt. Solch eine Art Interpretation kann nicht auf Handlungen angewendet werden, wo der Sinn des Lebens von äußerster Not und Verzweiflung bestimmt ist. »... wenn Tod selber Handlungen bestimmt — dann hat Verhalten keine Bedeutung in symbolischem oder psychologischem Sinne.«
Der Überlebende, schreibt DesPres, war derjenige, der, indem er die »Prozeßordnung des Todes« annahm, auch der erste war, für den >Du sollst nicht töten< zum Gebot wurde. »Da ist eine schreckliche Ironie in diesem Tatbestand, denn indem das Sich-dem-Tode-bewußt-Sein eine entschlossene Sorgfalt für das Leben selbst erzeugt, die Verneinung des Todes sich in einer Raserei der Destruktivität auswirkt.« Der Überlebende ist das Gegenteil dessen, zu dem die Zwänge unserer Kultur uns bringen, worin »die Angst vor dem Tode nur dadurch gestillt wird, indem man darauf besteht, daß das Leben selber ohne Wert ist. Der Überlebende ist der Beweis dafür, daß Männer und Frauen jetzt stark genug sind, reif genug sind, genügend wach, um den Tod ohne Grübeln zu erkennen und dadurch das Leben ohne Vorbehalt zu umarmen.« (Übersetzt von A. Gruen)
Viktor Frankls Bericht, wie er das Konzentrationslager überlebt hat (Frankl, 1982), ist genau ein solches Zeugnis zu Ehren des Besten im Menschen. Unter dieser brutalen und unwirklichen Wirklichkeit zeigte sich menschliche Verwirklichung. »Ein inneres Siegen ..., daß der Mensch innerlich stärker sein kann als sein äußerliches Schicksal.« Das war es, was zum Überleben führte, nicht die Entmenschlichung.
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Wenn unsere Überlegungen allein von Macht diktiert sind, werden wir niemals die Frage stellen können: Überleben wofür? Jene, die die Abstraktionen der Politik, der Macht und des Herrschens manipulieren, nehmen einfach an, daß das, was zum Überleben führt, immer das Beste widerspiegeln muß. Solche gedanklichen Ansätze kommen aus einer falschen Auffassung von Darwins Ideen. Im Darwinschen Konzept des Überlebens ist das »Geeignetste« nicht gleichgestellt mit dem »Besten«. Der am besten geeignete Organismus, einen atomaren Krieg zu überleben, ist die Küchenschabe. Sie wird einst unseren Planeten erben!
Dieser Vorgang der Abstraktion wiederholt sich als verhängnisvoller Kreislauf und steigert seine Folgen. Indem uns die Abstraktion von unseren Gefühlen trennen kann, macht sie die Menschheit menschlich zu Krüppeln. Menschen, die auf diese Weise verkrüppelt sind, suchen unvermeidlich, um es mit den Worten Miguel de Unamunos zu sagen, »verhängnisvolle Entspannung, indem sie rund um sich alles verstümmeln«. Er formulierte dies anläßlich einer Feier an der Universität von Salamanca, zu einer Zeit, in der die Abstraktionen des Faschismus die hemmungslose Willkür einer verkrüppelten Macht verherrlichten. Er antwortete dem Ausruf des Franco-Generals Millán Astray, »Lang lebe der Tod«, mit: »... ein Krüppel, dem die seelische Größe eines Cervantes fehlt — einem Mann, nicht einem Über-Mensch, kräftig und vollkommen trotz seiner (körperlichen) Verstümmelung — ein Krüppel, sage ich, dem ein erhabener Geist fehlt, sucht unheilvolle Entspannung in Verstümmelung rund um sich herum.« (Payne, 1962)
Durch die Abstraktion aber kann Verstümmelung auch auf anderem Wege als durch körperliche Gewalt erfolgen. Gewalttätigkeit wird nicht nur durch die direkte Unterdrückung der autonomen Entwicklung freigesetzt, sondern ebenso durch das Fördern von Werten und Lebensorientierungen, die Autonomie negieren.
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Der gegenwärtige Druck in der Erziehung auf kognitive Leistung ist dafür ein Beispiel. Bruner, Oliver, Greenfield u. a. (1966) stehen zum Beispiel in der vordersten Reihe jener pädagogischen Psychologen, die das geistige Wachstum als Ausdruck von Abstraktionen darstellen, deren Beherrschung Beweis für solches Wachstum ist. Auf diesem Weg wird das Meistern kognitiver Aufgaben ein gesellschaftlich wünschenswertes Ziel. Das frühkindliche Beherrschen solcher Abstraktionen treibt dann die Prozesse an, die das Kind befähigen, die Leiter, die zu Beförderung und Erfolg führt, zu erklimmen. Ironischerweise wird ein Kind, das sich problemlos diesen Prozessen einfügt, als unabhängig eingestuft! Unabhängigkeit bedeutet hier Erfolg und materielles Glück. Aber es ist genau diese Art des Strebens und des Meisterns, die diejenigen Aspekte des kindlichen Gefühlslebens blockiert, die die einzige Basis für eine wirkliche Unabhängigkeit — die Autonomie — darstellen: seine lebendige Verbindung zu Freude, Trauer, Mut und Verzweiflung. Diese sind die Brücke zu seinen eigenen Wahrnehmungen. Das »unabhängige«, »erfolgreiche« Kind wird aber keine Zeit für sie haben, da sie beim kognitiven Meistern der Abstraktionen stören.
Die leistungsorientierte Kindererziehung zerstört auch die Art der mütterlichen Betreuung, die dem Kinde die Möglichkeit gibt, sich emotionell integriert zu entwickeln. Eine noch nicht lange zurückliegende Forschungsarbeit über mütterliche Fürsorge in bezug auf kognitive Leistungen (Wieder, 1972), zeigt klar, daß mütterliche Verhaltensweisen, die als »gut« betrachtet werden (das heißt: die nicht-strafende Manipulation, die beim Kleinkind zur frühen Beherrschung des Essens fester Speisen, des Selbstfütterns und der Reinlichkeitserziehung führt), eine positive Korrelation mit guten kognitiven Leistungen schon im achtzehnten und zweiundzwanzigsten Lebensmonat aufweisen. Dabei handelt es sich aber im Grunde um eine Art der Mütterlichkeit, die durch Belohnung manipuliert. Sie befriedigt lediglich den Ehrgeiz der Mütter und ist nicht Ausdruck der Freude über die Lebendigkeit ihrer Kinder. So wird Erfolg im kognitiven Bereich (zum Beispiel das Beherrschen mathematischer Techniken) gleichgestellt mit Fortschritten in der persönlich-menschlichen Entwicklung. Mit anderen Worten: Jene mütterlichen Verhaltensweisen, die dem Kind scheinbare Unabhängigkeit ermöglichen — und zugleich unverfälschte Autonomie verhindern —, produzieren hohe kognitive Leistungen!
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Alice Miller (1979) hat mit Kraft und Mitgefühl diesen Werdegang der Unterdrückung des kindlichen Selbst um des Erfolgs willen beschrieben. Jedoch unterscheidet sie nicht zwischen Anpassung, die der Rebellion dient, und Anpassung, die zum Bösen führt. Das kommt wohl daher, daß sie wirkliches Leiden und Leiden, das dem Manöver gewidmet ist, nicht differenziert. In ihrem zweiten Buch (1980) sieht sie Hitler und Christiane F. als leidende Menschen. Jedoch gehören diese beiden nicht zu den Menschen, die aus Empfindsamkeit leiden. Im Gegenteil, sie gehören zum Typus der Pseudoaffektivität, wie Helene Deutsch (1934, 1942) ihn unter dem Titel >Als ob< beschrieben hat, und ähneln den Psychopathen, die H. Cleckley (1964) erforscht hat. Das Böse therapeutisch wegzuerklären, reduziert Wirklichkeit.
Das ist jedoch nicht alles. Das Destruktivste an diesem Mechanismus ist nämlich, daß Kinder, die ständig einem Zwang ausgesetzt sind, der ohne offenkundige Strafen auskommt, unfähig sind, ihre eigene Wut gegenüber der »Manipulation durch Belohnung« zu erkennen. Sie verspüren eine tiefe Unzufriedenheit, deren Quelle ihnen aber verborgen bleibt. Diese moderne Psychologie bringt also Menschen hervor, die von einer ihnen selbst unbekannten Wut gesteuert werden. Streben nach Leistung, die Struktur ihres Seins, wird zum Ausdruck ihrer unerkannten Wut. Der Antrieb dieser Menschen ist das Zerstörerische, dessen Auswirkungen aber unter dem Deckmantel der Leistung verneint werden (können). Man braucht die eigene Motivation nicht anzuerkennen; denn die Abstraktion segmentiert das Blickfeld.
Henry T. Nash, ein amerikanischer Professor der politischen Wissenschaft (1980), selbst einmal wissenschaftlicher Mitarbeiter im Amerikanischen Verteidigungsministerium, beschreibt solche Menschen in der militärischen Abwehr. ».... Menschen, deren Sprache und Benehmen ihre Gesellschaftlichkeit empfiehlt ..... Nichts in der Atmosphäre scheint unheimlich oder deutet Schuldbewußtsein an.« Aber unter dem Deckmantel einer Sprache, deren abstrakte Begriffe die Wirklichkeit segmentierte, konnten solche gütigen Menschen »..... Pläne entwerfen, unermeßliche Zahlen von Menschen einzuäschern, ohne ein moralisches Übel zu fühlen«.
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Wir »sehen« uns durch Vorstellungen, die unserer Wirklichkeit nicht entsprechen. Die wahre Aufgabe der heutigen Psychotherapie muß sein, die Dissoziation, die uns in den Abgrund führen kann, zu reduzieren. Der Mensch sucht sich in der Gruppe zu verstecken, um seine Wut und Destruktivität zu verleugnen. Er hat gelernt, sich ein gesellschaftliches Image zu beschaffen, aber in seiner Tiefe lauert die Rache für die Unterdrückung seiner Autonomie. Gelernt wurde im Grunde, oft völlig unbewußt, daß Ko-Existenz nicht möglich ist. Das ist eine Erfahrung, die den gesellschaftlichen Normen (der Ideologie des Pluralismus) widerspricht. »Einer von uns muß weichen«, das ist die erlebte Evidenz, wenn Autonomie getötet wird. Und der so Verletzte, wenn »angepaßt«, gebraucht das gesellschaftlich akzeptierte Streben und die Leistung, um seiner Rache Ausdruck zu geben. Schrecken muß heutzutage nicht mehr in der Gestalt eines Dschingis Khan oder eines Hitler vorkommen; Schrecken manifestiert sich in der Form der Güte, des Lächelns, des Fortschritts.
Hugo Ball (1919) schrieb einmal: »Das Wissen, wo es als höchstes Prinzip auftritt, tötet notwendig den Enthusiasmus, den Geist. . .« Albert Szent-Györgyi (1964) legte es mehr persönlich dar: »Ich verachte nicht das Wissen«, aber wir müssen »lernen zu lernen, unseren Appetit auf Erkenntnis zu wetzen, damit wir Freude haben können, eine Arbeit zu tun, die Erregung der Kreativität zu erspüren, zu lernen zu lieben, was wir gerade tun, und das herausfinden, was wir gerne tun würden.«
Es ist sicher kein Zufall, daß junge, überintellektuelle Patienten in der Psychotherapie ihre eigenen Befindlichkeiten oft nicht verbalisieren können. Ihre Talente wurden nämlich ausschließlich auf ein einziges Ziel hin gefördert: Für den Wettbewerb auf der »kognitiven Kampfbahn« möglichst gut gerüstet zu sein. Inzwischen ist es ihnen unmöglich geworden, einen Dialog mit sich selber zu führen.
Eine solche junge Patientin, die sich einer Psychoanalyse unterzog, erfuhr jedesmal intensives körperliches Zittern, wenn sie in einer Situation war, in der von ihr verlangt wurde, das Spiel von gegenseitiger Nettigkeit und dem daraus entstehenden gegenseitigen Gefühl eines tugendhaften Zusammenseins mitzuspielen. Das wurde zum Beispiel im Forschungslabor verlangt, in dem sie tätig war.
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Alle bestätigten dadurch das geltende Image netter, kooperativer Mitarbeiter. Es wurde der Patientin jedoch im Verlauf ihrer Therapie klar, daß sie widersprüchliche Wahrnehmungen erlebte, wie zum Beispiel die Verachtung der diese Gruppe dominierenden Person. Nicht nur wurden solche Wahrnehmungen von der Gruppe nicht geteilt, sondern der Mythos der Gemeinsamkeit brachte die Gruppe dazu, sich gegen jeden zu wenden, der diese Fiktion in Frage stellte. Die Schwierigkeit in der Therapie war, daß die Patientin nicht verbalisieren konnte, was sie so intensiv fühlte. Sie hatte keine verbalen »Werkzeuge«. Ihre Erziehung in der eigenen Familie war von Leitbildern geprägt, die Zusammengehörigkeit und ein Image der Gemeinsamkeit betonten; für Widersprüche, wie sie im wirklichen Leben vorkommen, war da kein Platz. Alles, was ihre Eltern für sie taten, geschah immer aus »gutgemeinter« Fürsorge.
Ihr Zittern war ein Teil ihres »Aussteigens«, in welchem das Gefühl zu versagen ein Aspekt ihres Kampfes war, sich aus dem falschen Leben zu befreien. Zugleich war sie unfähig, sich selbst zum Beispiel die Erfahrung einer Beleidigung eingestehen zu können. Der abstrakte Verhaltensmodus, dem sie noch verhaftet war, ließ so etwas nicht zu. Es war ihr Körper, der buchstäblich für sie sprechen mußte.
Im selben Sinne sind die Erfahrungen von Sylvia Ashton-Warner (1963), einer außergewöhnlichen Volksschullehrerin in Neuseeland, zu verstehen. In ihrer Arbeit mit Maori-Kindern, die nach den Wertvorstellungen unserer westlichen Kultur erzogen wurden, fand sie heraus, daß diese Kinder ihre inneren Ängste entweder verneinten oder nicht erkennen konnten. Diese Ängste äußerten sich in destruktivem Verhalten: »Ich habe keine Angst vor irgend etwas«, schrie einer ihrer Schüler. Auf ihre Frage, ob er vielleicht nicht doch ängstlich sei, fuhr er weiter: »Nein, ich ramme mein Messer in alles!« Als es ihr gelang, mit ihren Schülern Begriffe zu erarbeiten, mit denen sie Brücken zu ihren Ängsten schlagen konnten, gaben sie ihr destruktives Verhalten auf. In dem Maße, in dem sich ihr Zerstörungsdrang verminderte, wurde dieser durch Kreativität und positives Lernen ersetzt.
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Das Interessante ist, daß sich hier die Aggression unmittelbar ausdrückt, wenn abstrakte Vorgänge den Zugang zur Gefühlswelt sperren. Erfolg und Leistung waren für diese Maori-Kinder noch nicht zum Sinn ihres Lebens geworden, deswegen die sichtbare Aggression. Aber dieselbe Sperre ist bei uns nachweisbar.
Ich las einmal ein Kapitel aus Henry Millers autobiographischem >Schwarzem Frühling< in einem Psychotherapieseminar an der <Rutgers-Universität> vor. Das Kapitel handelt von einem Familientreffen, als Miller etwa zwölf Jahre alt war. Essen, Alkohol und »Gemütlichkeit« flössen in Strömen. Doch unter der Oberfläche waren alle damit beschäftigt, sich gegenseitig das Messer in den Rücken zu jagen. Nur seine Tante Melia hatte Herz, aber sie war gerade dabei, den Verstand zu verlieren. Der Familienclan beauftragte Henry ausgerechnet an diesem Tag, sie in ein staatliches Irrenhaus zu bringen. Sie wollten sie loswerden, ohne dafür zahlen zu müssen. Und das, während alle »lustig und vergnügt« waren. Als Henry sich vor dem Kliniktor von ihr verabschiedete, weinte er. Sie hatte ihm immer vertraut. »Obwohl sie schwach im Kopf war, war sie immer gut zu mir. Die anderen waren intelligenter, aber ihre Herzen waren schlecht ... Als Melia am Tor stand, mit Augen, so rund und so glänzend, muß ihr Geist zurückgerast sein wie ein Expreßzug. Alles muß ihr auf einmal ins Gedächtnis gesprungen sein. Ihre Augen waren so groß und glänzend, als sähen sie mehr, als sie fassen konnten. Glänzend vor Entsetzen und unter dem Entsetzen eine grenzenlose Verwirrung. Das war's, was sie so glänzen ließ. Man muß verrückt sein, um Dinge so klarsichtig zu sehen, so alles auf einmal.« (Miller, 1973)
Ich forderte die Seminargruppe auf, aufzuschreiben, was ihrer Ansicht nach Millers Gefühle gewesen seien. Nur einer, ein junger Student aus Mexiko, schrieb über Millers Verzweiflung; die übrigen gaben mir soziologische Diagramme von Familienkonstellationen und ihren Wechselwirkungen ab. Niemand, außer diesem jungen Mann, konnte sich mit der Realität der Verzweiflung auseinandersetzen. Ich war fassungslos. Gab es denn überhaupt irgendeine Möglichkeit, Menschen etwas über sich selbst beizubringen, die dermaßen von sich selbst abgetrennt waren? Ich kam zur nächsten Vorlesung, entschlossen, ihnen meine Meinung zu sagen. »Oh«, sagten sie fast unisono, »Sie wollten, daß wir etwas Einfaches schreiben, über Gefühle!«
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Ich erzählte das Henry Miller. Er lachte schallend über die Absurdität einer Erziehung, die Menschen vom Leben abtrennt, indem sie ausschließlich Abstraktion und »Kompliziertheit« belohnt. Diese jungen Leute wurden geschult, nicht mit Gefühl auf Erleben zu reagieren, sondern indem sie sich distanzieren. Abstraktion vermittelt das. Ihr Leben wurde durch die Fähigkeit, abstrakte Formeln virtuos manipulieren zu können, bestimmt. Diese Fähigkeit zur Abstraktion bestimmt dann den Erfolg. Und indem Erfolgreichsein zum Vorwand für Rücksichtslosigkeit wird, üben sie gesellschaftlich akzeptierte Aggression aus.
Der Schriftsteller David Harris, der als Opfer der Nach-McCarthy-Zeit im Gefängnis war, schreibt in seinem Buch >Goliath< über jene »institutionalisierten Abstraktionen«, die Menschen hervorbringen, deren Handlungen keinerlei Zusammenhang mit ihren Bedürfnissen haben. Seine ehemalige Frau, die Sängerin Joan Baez, sagte, Harris hätte immer darauf bestanden, die Welt durch die Fenster seiner eigenen Seele zu betrachten. »Wenn unsere Handlung nicht ein unmittelbarer Prozeß des sich selbst Verwirklichens ist, (also wenn das Objekt und die Absicht einer Handlung nicht in der Handlung selber verwirklicht werden), ist eine direkte Beziehung zu unserem Selbst unmöglich.« (Harris, 1970)
Solche Menschen widerspiegeln in dem, was sie für ihre eigenen Gefühle ansehen, lediglich das, was die Gesellschaft verlangt, daß sie fühlen sollen. »Soldaten machen Krieg in der Jagd auf Frieden .... Die Absicht der Tat ist auf keinen Fall von der Tat selber getragen.«
Was übrig bleibt, ist eine Identität, welche nur wie eine Montage an einem Fließband zusammengesetzt werden kann, die nach den Regeln montiert wird, welche von den abstrakten Vorstellungen einer Gesellschaft verlangt werden. Wenn wir diese ablehnen, riskieren wir, ausgestoßen zu werden. Und wenn wir dadurch genügend geschwächt werden, riskieren wir unsere Existenz.
Der Druck der Abstraktionen, die uns prägen, ist gegen die Authentizität gerichtet. Abstraktionen als Umwelt, die unsere Vision trübt, und als Prozeß, der die emotionelle Verantwortung dem Leben gegenüber beiseite schiebt, werden zum Feind des Lebens selbst. Unsere Intelligenz wird dann zu einer Kraft, welche die Realität in ein gefährliches, selbst-zerstörerisches Spiel umwandelt. Diejenigen, welche aus diesem Gefüge auszubrechen versuchen — indem sie sich nicht ergeben —, werden als unangepaßte und Versager eingeordnet.
Schon im dreizehnten Jahrhundert schrieb ein unangepaßter Geist, Meister Eckhart, unter ähnlichen Zuständen wie heute:
»Wenn ich in Paris predigte, sagte ich — und ich halte es als gut formuliert —, daß mit all ihrer Wissenschaft diese Leute in Paris nichts Göttliches in den niedrigsten der Kreaturen erkennen konnten — nicht einmal in einer Fliege!« (Blackney, 1941)
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