Die Frage nach dem Menschsein
Vorwort des Autors 1997
9-11
Die Frage nach dem Mitgefühl des Menschen ist die Frage nach seinem Menschsein, seiner Identität. Es ist zugleich die Frage, mit wieviel Schaden an Körper und Seele er noch an seinem Menschsein festhalten kann.
Auschwitz ist ein mahnendes Beispiel dafür, wozu Menschsein ohne Mitgefühl entarten kann. Primo Levi (1992) schreibt in seinem erschütternden Auschwitz-Bericht <Ist das ein Mensch?>, daß er sich dafür schäme, daß es Menschen waren, die Auschwitz erdacht und errichtet haben.
Aber Auschwitz ist weder Anfang noch Ende einer solchen Scham. Diese begann mit den Kindsmorden der Antike und ist auch heute Alltag, etwa bei den Verstümmelungen und Vergewaltigungen von Frauen und Kindern in Südamerika, Afrika, im früheren Jugoslawien, in Rußland, im Nahen Osten, in Indonesien und ebenso in Europa bei den Ausschreitungen aus Fremdenhaß und den Gewalttaten von Kindern gegen andere Kinder.
Die heutigen politischen Verhältnisse schwanken zwischen Konsolidierung bürokratischer Herrschaft einerseits und Ausbrüchen ohnmächtigen Zorns andererseits (E. R. Wolf, in: Diamond 1976).
Wie kommt es dazu, daß wirtschaftlicher Zusammenbruch, Rezessionen, Kriege, Zerstörung, Haß, Bruderstreit, Gewalttätigkeit, Drogenkonsum, Kriminalität, Verachtung gegenüber Frauen und Kindern, Verrohung und Grausamkeit überall auf der Welt zunehmen? Läßt sich diese Krise denn nur auf nationale, ökonomische oder technologische Probleme reduzieren?
Nein, sie liegt in unserer Definition dessen, was einen Menschen ausmacht, in unserem eigenen und eigentlichen Verständnis des Menschseins. Wir nennen das, worin wir leben, stolz »Zivilisation«, doch die darin waltenden Gesetze und Kräfte haben ein Eigenleben entwickelt, das sich gegen unser seelisches und körperliches Wohl richtet.
Warum lernen wir nicht aus unserer Geschichte?
Warum werden wir heute — in Zeiten der Informationsgesellschaft und auf hohem wissenschaftlichen Erkenntnisstand — wieder von der Vergangenheit eingeholt?
Wir leben in einer Welt, in der wir zunehmend voneinander abhängig sind, uns aber gleichzeitig vermehrt gegeneinander einsetzen. Warum also stellen sich Menschen gegen das, was sie miteinander verbindet, gegen das, was sie gemeinsam haben?
Die Frage nach dem Menschsein geht weit über Auschwitz hinaus. Auschwitz ist ein Mahnmal dessen, wozu Menschen imstande sind, und berechtigt zu der Frage, was Menschsein überhaupt ausmacht.
Es ist schwierig, eine Antwort darauf zu geben. Unsere wirklichen Bedürfnisse und das, was unser Selbstverständnis und unser Bewußtsein als Menschen formt, sind der gesellschaftlichen Ordnung unterworfen und damit fremdbestimmt. Wie ich versuchen werde darzulegen, sind Kräfte am Werk, die uns dazu zwingen, Macht und Gehorsam als Eigenziele einzuverleiben, so daß unsere ureigenen Bedürfnisse nach Wärme und Liebe von uns losgelöst und sogar verleugnet werden. Diese von uns abgetrennten Bedürfnisse werden zu Erfahrungen, die — von zerstörerischer Wut begleitet — zu einer Zersplitterung des Individuums führen.
Viele beantworten die Frage nach dem Menschsein mit dem Hinweis auf die gesellschaftlichen Rollen, die Menschen spielen. Eine solche Definition des Menschseins setzt menschliche Identität mit der Identifikation mit Rollen und Symbolen gleich. Wenn aber in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs, wirtschaftlichen und politischen Chaos' diese Identifikationen keinen Halt mehr geben, weil die Rollen allmählich ihre Bedeutung verlieren, breiten sich Unsicherheit und Unruhe in der Gesellschaft aus: Die Menschen sind verwirrt, wissen nicht mehr, wo sie stehen, und fühlen sich bedroht.
Manche versuchen dann gewaltsam jenen alten Zustand wiederherzustellen, von dem sie glauben, daß er ihnen ihre verlorengegangene Identität zurückgibt. Historiker sprechen von Perioden des Auseinanderfallens und neuen Identitätsgeburten, ohne jedoch in Frage zu stellen, ob menschliche Identität tatsächlich aus gesellschaftlichen Rollen erwächst. Eine solche Definition klammert jedoch das, was unser Menschsein wirklich ausmacht, aus und beschränkt sich auf jenen Teil menschlichen Selbstverständnisses, der dem Selbsterhalt von Macht und Gehorsam dient.
Dennoch ist diese Definition unseres Menschseins die vorherrschende, weitgehend unser Denken bestimmende. Sobald wir aber Identität mit Identifikation gleichsetzen, müssen wir auch den Nationalismus als Ausdruck von Identitätsentfaltung akzeptieren. Und dann müssen wir auch akzeptieren, daß dieser in Gewalttätigkeit, in Entmündigung und Mißbrauch der Verwundbarsten — der Frauen und Kinder —, in Mord und Krieg mündet. Indem wir uns eine solche nationalistische Identität überstülpen lassen, liefern wir uns ihr aus, machen wir uns zu ihrem Opfer.
Sicher, die Identifikation mit einem Land und seinen Bräuchen, die Teilhabe an gemeinsamen Erfahrungen, Hoffnungen, Freude und Trauer geben Menschen das Gefühl von Gemeinschaft und Geborgenheit. Wir sind gesellschaftliche Wesen, die andere Menschen für ihr körperliches und seelisches Wachstum benötigen. Doch eine Identifikation mit der Macht, die aus dem Gefühl eigener Unzulänglichkeit resultiert, führt zu einem Verlust unseres Mitgefühls.
Ein Musterbeispiel hierfür ist der Faschismus, egal ob von links oder rechts. Das zersplitterte Individuum, das im disziplinierten Mob oder in der Armee seinen Platz findet, ist durch seine Identifikation mit Autoritätssymbolen bereit, sich Befehlen zu fügen, erspürt in dieser Identifikation seine Identität, um gleich danach in orgiastischer und nihilistischer Wut zu explodieren. Ein Menschsein, das die Verantwortung für sich selbst an übergeordnete Systeme delegiert, ist ein entfremdetes. Es ist gefangen in Emotionen, welche, losgelöst von ihren eigentlichen Ursprüngen, zu zusammenhanglosen Erfahrungen verkümmern. Menschen, die ihre Identität aus einer Identifikation mit Macht und ihren Symbolen beziehen, verlieren den Boden ihres Menschseins unter ihren Füßen, und ihr Selbstverständnis dient dann der Perpetuierung eines Gesellschaftssystems, das auf Macht basiert. Der Teufelskreis beginnt.
Eine zusätzliche Gefahr geht von der »bürokratischen« Persönlichkeit aus, in der Pflicht das Gewissen und Identifikation mit Macht die Identität ersetzt. Denn hier passieren Gewalt und Mord auf hochorganisierter Ebene und nur aus ihrer technologischen Machbarkeit heraus. In Wahrheit verdecken aber solche Vorgehensweisen nur die Entfremdung vom Mitgefühl.
Doch das Mitgefühl ist die in uns eingebaute Schranke zum Unmenschlichen. Mit seiner Unterdrückung und Verzerrung ist die Geschichte unserer Zivilisation nicht nur verflochten, sie ist ihr Fundament.
Es ist die Geschichte des Mitgefühls, seiner Entwicklung und seines Schicksals, der dieses Buch gewidmet ist.
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