Teil 3 Die mechanistische Weltauffassung
3.1 Der ökonomische Mensch im Dienste der Maschine
Mensch! Die Kräfte, die du beherrschst, sind dir zugefallen. Doch was
du planst: dem All wird es gleichgültig sein. -Gérard de Nerval-Die einseitige naturwissenschaftliche Basis
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Die vorherrschenden modernen Naturwissenschaften, die man auch die exakten nennt, betrachten die Welt als einen Mechanismus. Der Gegenstand ihrer Forschung war vorwiegend die unbelebte Welt und ihre Methode das Experiment. Die lebende Welt wurde von diesen Wissenschaften degradiert und, soweit man sie nicht umgehen konnte, möglichst mit den gleichen Methoden erklärt wie die unbelebte. Auch der Körper des Menschen wurde mechanistisch erklärt, als eine von Energie angetriebene Maschine.127 Kultur und Geschichte des Menschen haben in dieser Welt untergeordnete Bedeutung.
Der Beginn dieses mathematisch-physikalischen Weltbildes wird markiert von den großen Namen Kopernikus, Kepler, Galilei und Descartes, es erreicht dann die Vollendung mit Leibniz und Newton.
Der amerikanische Soziologe Lewis Mumford, der in einem der bedeutendsten Bücher unserer Zeit, <Der Mythos der Maschine>, diese historische Entwicklung eingehend darstellt, sieht in Galilei die Zentralgestalt, da dieser das astronomische Weltbild des Kopernikus auf die Erde übertrug.
Damit »verbannte er aus diesem Reich gereinigten Wissens den Menschen so völlig, wie die neue Astronomie den gläubigen Christen aus seinem erhofften Himmel verbannt hatte«.128 Fast drei Jahrhunderte lang folgten die Wissenschaften der Richtung Galileis.129 »Galilei und seine Schüler waren Philosophen der unbelebten Prozesse, die dann in den neuen Maschinen angewandt wurden.«130
Die Aufgabe der Wissenschaft beschränkte sich nun nicht mehr auf die Erweiterung der Erkenntnis, wie die Wissenschaft des Mittelalters auf das Erkennen Gottes gerichtet war, sondern richtete sich zugleich auf die praktische Verwertung der Erkenntnisse. Francis Bacon (1561-1626), englischer Philosoph und Politiker, erklärte als Ziele der Wissenschaften »die Erleichterung des menschlichen Daseins« und die »Verwirklichung aller Dinge, die möglich sind«. Die technische Anwendung der Erkenntnisse, so meinte man, werde Reichtum und materiellen Überfluß schaffen.
Damit hatten diese Wissenschaften praktische Folgen für das Leben der Menschen wie bisher noch nie. Zwei Jahrhunderte hat es dann gedauert, bis die Maschinen in großer Zahl verbreitet waren und damit immer mehr den menschlichen Alltag bestimmten.
Der deutsche Philosoph und Psychologe Karl Jaspers konnte 1947 noch sagen: »Was durch die moderne Technik und mit ihr gleichzeitig aber im Menschen innerlich geschieht, ist noch völlig unklar«.131 In den letzten drei Jahrzehnten ist es aber klargeworden. Bereits zu Beginn des Zweiten Weltkrieges (1939) hatte der Dichter und Wissenschaftler Friedrich Georg Jünger geschrieben:
»Die mechanischen Arbeitsvorgänge haben an Zahl und Umfang unermeßlich zugenommen. Können sie zunehmen, ohne daß etwas anderes zunimmt, die Abhängigkeit des Menschen von Automaten? Nein, es versteht sich, daß der Automatismus, der vom Menschen beherrscht und bedient wird, Rückwirkungen auf den Menschen ausübt. Die Macht, die er durch ihn gewinnt, gewinnt ihrerseits Macht über ihn. Er wird gezwungen, seine Bewegungen, seine Aufmerksamkeit, sein Denken ihm zuzuwenden. Seine Arbeit, die mit der Maschine verbunden ist, wird mechanisch und wiederholt sich mit mechanischer Gleichförmigkeit. Der Automatismus ergreift ihn nun selbst und gibt ihn nicht mehr frei.« 132
Das Dasein des Menschen ist inzwischen umstellt von den Produkten seiner Industrie, ob in der Wohnung, bei der Arbeit oder im Verkehr, in dem er auch einen großen Teil seines Lebens verbringt.
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Überall stößt er auf Apparate. So konnte es nicht ausbleiben, daß diese mit ihrer funktionalen Struktur immer stärker die Denkweise des Menschen bestimmten. Um die technische Welt beherrschen zu können, muß der größte Teil der schulischen Ausbildung darauf ausgerichtet sein: auf die Kenntnisse, die in jeder Fabrik wie in jeder Werkstatt — bis hin in die »Werkstatt« des Arztes — benötigt werden.
Die mechanistische Denkweise beeinflußt schließlich auch die religiösen Vorstellungen des Menschen; genauer gesagt, sie bewirkt, daß er keine solchen mehr hat. Wenn die Maschinenwelt überhaupt einen Gott kennt, dann ist es der Mensch, ihr Schöpfer. Aber die Maschinen haben keine Gefühlsregungen, sie bedürfen keines Gottes. Nur der Mensch hat ab und zu immer das Bedürfnis nach einem Gott; aber wen soll er nun anbeten, wo er doch selbst der Herr, Herr seiner Maschinenwelt ist? Da bleibt ihm nur übrig, sein eigenes Produkt anzubeten — und das geschieht nicht selten.
Der Mensch im Dienste der Technik
Die neuzeitliche Naturwissenschaft hat die Voraussetzungen für die bisher weitaus bedeutendste Revolution der Menschheitsgeschichte, die technische Revolution, geschaffen. Günther Anders nennt sie sogar »die einzige echte Revolution der Epoche«, eine permanente Revolution, die immer noch anhält.133
Da die Technik systemneutral ist, kann sie ihre Herrschaft überall errichten, im Osten wie im Westen, unter welcher Staatsform auch immer. Politische Umschwünge und Revolutionen ändern nichts daran, daß sie sich hektisch weiterentwickelt. Immer dann, wenn die Technik in einem Land überhand nimmt, kommt es dahin, »daß sich das politische Geschehen schließlich in deren Rahmen abspielt.«134
Die Technik wurde zum Subjekt der Geschichte und sie ist auch das Ziel der Geschichte geworden. Denn sie ist der einzige Bereich im menschlichen Dasein, in dem eine fortlaufende Vervollkommnung verzeichnet werden konnte. »Der ungeheuren Entwicklung von der altpaläolithischen Technologie zu der mechanisierten unserer Tage entspricht kein ähnlicher Fortschritt in den Beziehungen der Menschen zueinander ...«153
Im 18. und 19. Jahrhundert schwang sich der Mensch zur gottgleichen Haltung eines Prometheus auf, der Gottes nicht bedürfe. Denn er glaubte sich inzwischen fähig, seine Welt selbst zu erschaffen.
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Erich Fromm schrieb:
»Wir haben die Maschine zur Gottheit erhoben und werden selbst Gott gleichen, indem wir sie bedienen. Welche Formulierung wir wählen, ist nicht wichtig; entscheidend ist, daß sich der Mensch im Augenblick seiner größten Ohnmacht einbildet, dank seiner wissenschaftlichen und technischen Fortschritte allmächtig zu sein.«
Aber:
»Wir sind nicht länger Herren der Technik, sondern werden zu ihren Sklaven — und die Technik, einst ein wichtiges schöpferisches Element, zeigt uns ihr anderes Gesicht als Göttin der Zerstörung (wie die indische Göttin Kali), der Männer und Frauen sich selbst und ihre Kinder zu opfern bereit sind.«135
Die Technik tritt nun an die Stelle der Religion.136 »Der fast religiöse Glaube an die Allmacht der Technik zum Guten« beherrscht auch den kommunistischen Osten.
Bei Hans Jonas ist nachzulesen: »Zum Opium für die Massen, das einmal die Religion gewesen sein soll, ist inzwischen eher der technische Fortschritt geworden, und es ist zu befürchten, daß er dies beim Marxismus noch weniger als beim Kapitalismus nur für die Massen ist.«137
Der prometheische Stolz des Menschen, der noch im vorigen Jahrhundert vorhanden war, ist nun eher in ein Gefühl der Minderwertigkeit umgeschlagen. Der Mensch schätzt jetzt seine gemachten Produkte höher ein als sich selbst, er »schämt sich, geworden statt gemacht zu sein«.138 Wem das abseitig vorkommt, der denke an die Anstrengungen, Babys in der Retorte herzustellen, durch Genmanipulation die Erbmasse zu korrigieren und durch das sogenannte »Klonen« menschliche Exemplare zu verdoppeln.
1965 sagte der Präsident der »American Chemical Society«, ein Nobelpreisträger, in seiner Abschiedsrede wörtlich: »Laßt uns alle unsere wissenschaftlichen Kräfte einsetzen, um Leben zu erschaffen!«139 Obwohl Leben in Millionen Arten verbreitet ist, bildet sich der Mensch ein, es wäre ein wichtiges Ziel, Leben künstlich herzustellen. »Nicht deshalb, weil er nichts von ihm selbst nicht Gemachtes mehr duldete, will er sich selbst machen; sondern deshalb, weil auch er nichts Ungemachtes sein will. Nicht, weil ihn indignierte, von anderen (Gott, Göttern, der Natur) gemacht zu sein; sondern weil er überhaupt nicht gemacht ist und als Nichtgemachter allen seinen Fabrikaten unterlegen ist«140
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Der Mensch ist seinen Produkten auch unterlegen, weil er sterblich ist. Die Sehnsucht des Menschen, seinen perfekten Produkten gleich zu werden, kulminiert in dem »molussischen Industrielied«, das von Günther Anders herangezogen wird:
Täglich
steigt aus Automaten
Viel
zu früh aus dunklem Grunde
Ach,
im Umkreis des Genauen |
Aber
wenn's uns doch gelänge,
als
Prothesen mit Prothesen
würde
dies uns noch beschieden, |
In dem 1980 erschienenen Band 2 von <Die Antiquiertheit des Menschen> mit dem Titel <Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution> führt Günther Anders die Gedanken der fünfziger Jahre fort: »Nur dasjenige, was Eignung zum Apparatteil verrät, wird als <seiend> registriert und anerkannt.«142
*(d-2015:) G.Anders bei detopia
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So wie nach gewissen Vorstellungen das Universum eine Maschine ist und wie der französische Philosoph Lamettrie von der Mensch-Maschine sprach, so glauben moderne Menschen nun der Glorie der Maschine nur teilhaftig werden zu können, wenn sie sich selbst als Teile in den Apparat integrieren, um darin reibungslos zu funktionieren. Das heißt, die technische Revolution bewegt sich durchaus nicht in Richtung auf die »Freiheit des Menschen, sondern in Richtung: Totalitarismus der Geräte. Und als Stücke dieser Gerätewelt sind die Menschen im besten Falle — Proletarier. Wahrscheinlich aber viel Schlimmeres als das.«143
Der Glaube an die Perfektion der Maschine wird durch verschiedene Erscheinungen belegt. Bei Betriebsunfällen hat in der Mehrzahl der Fälle nicht die Maschine versagt, sondern der Mensch. »Der Unfall ist auf menschliches Versagen zurückzuführen«, heißt es dann lakonisch in den Nachrichten. Und selbst wenn es ein Fehler in der Konstruktion war, tragen eben die damals Beteiligten die Schuld, dann waren die Menschen unzulänglich, die die Maschine herstellten.
»Wenn es heute einen kategorischen Imperativ gäbe«, so meint jedenfalls Günther Anders, dann würde er lauten: »Handle so, daß die Maxime deines Handelns die des Apparats, dessen Teil du bist oder sein wirst, sein könnte — oder negativ: handle niemals so, daß die Maxime deines Handelns den Maximen der Apparate, deren Teil du bist oder sein wirst, widerspricht.«144 Obwohl diese Entwicklung wenige Generationen gedauert hat, so ist sie doch für den Einzelnen unmerklich verlaufen. Nur wer nachdenkt und historische oder weltweite Vergleiche anstellt, begreift unsere total veränderte Situation.
Der technische Fortschritt zeigt immer weniger menschliche Züge, je weiter er fortschreitet. »Erst als Sklave seiner Maschinen und in Angstträumen vor den Weiterungen seiner Entdeckungen besinnt sich der fortschrittliche Europäer auf den Menschen selbst.«145
Die totale Ökonomie
Wenn auch die Technik weitgehend in einer absurden Art und Weise zum Selbstzweck erhoben wurde, so steht hinter ihr doch noch ein bedeutender Zweck: ein ökonomischer. Und die moderne Technik ist die Voraussetzung der derzeitigen Ökonomie.
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Dabei ist nicht von Belang, in welcher Gestalt die Ökonomie auftritt, ob mehr planwirtschaftlich oder mehr marktwirtschaftlich. Nur mit Hilfe der Großtechnik gelang es der Ökonomie, die früher vielseitige menschliche Gesellschaft in eine einseitige Wirtschaftsgesellschaft zu verwandeln.
Dies ist das Thema des schon 1963 erschienenen Buches von Eduard Heimann <Soziale Theorie der Gesellschaftssysteme>. Darin versucht Heimann zu zeigen, »daß die Maschine beides ist: der Zerstörer des Menschlichen im Menschen und die Hoffnung des Menschen auf den Sieg über die Geißel der Knappheit... die wissenschaftliche Technik, die moderne Industrialisierung, ruiniert das Menschliche im Menschen.«146
Die Maschine benötigt Menschen zu ihrer Bedienung, wofür diese bezahlt werden. Sie verkaufen also ihre Arbeitskraft. Das Produkt, welches mit ihrer Arbeitskraft plus Maschine hergestellt wird, ist ihnen gleichgültig; die gefertigte Ware interessiert den Arbeitenden nicht. Entscheidend für ihn ist nur die Höhe seiner Bezahlung. Mit dem so erworbenen Geld kauft der Arbeiter Waren, die ihn interessieren, wobei ihm wiederum gleichgültig ist, wie sie hergestellt wurden und woher sie kommen. Produzenten und Konsumenten bleiben anonym, Bindeglied der anonymen Beziehung ist das ebenfalls anonyme Tauschmittel Geld. Dies hat Karl Marx als erster gesehen.
Im Zuge der Technisierung und Automatisierung wurde die Arbeit in immer kleinere Abschnitte zergliedert (Rationalisierung). Der Einzelne hat nur eine eng begrenzte Funktion zu erfüllen, was über diese hinausgeht, dafür ist er nicht verantwortlich, es geht ihn nichts an. Die Folgen des gesamten Arbeitsprozesses, wie verheerend sie auch sein mögen, fallen nicht in die Kompetenz des einzelnen Arbeiters oder Technikers, nicht einmal in jene des Erfinders. In der arbeitsteiligen Kette übt ein jeder zwar seine Arbeit »gewissenhaft« aus, aber ein Gewissen könnte ihm dabei nur hinderlich sein; denn Ziel und Ergebnis seiner Arbeit fallen nicht in seine Verantwortung. Das legt Günther Anders klar und kommt zu dem Schluß, daß auch der Angestellte im Vernichtungslager eben nicht »gehandelt«, sondern, so gräßlich es klingt, »gearbeitet« hat.147 Wer seinen Arbeitseinsatz »ableistet«, braucht an die Folgen nicht zu denken, seine Arbeit ist ebenso »moralisch neutral« wie das Produkt, das dabei entsteht; er darf mit dem besten Gewissen gewissenlos sein.
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Mit dem Industriezeitalter kam ein neuer unpersönlicher Begriff auf: <Arbeitskraft>. Gemeint ist zwar ein Mensch, aber nur in seiner Funktion als Arbeit Leistender, als Mensch ist er uninteressant. Was er sonst noch ist, bleibt ziemlich gleichgültig, es sei denn, es hätte Einfluß auf seine Arbeitskraft.
In der Industriegesellschaft bietet der Einzelne nicht seine ganze Person an, sondern seine Arbeitskraft; er übt irgendeine Tätigkeit aus, die schnell wechseln kann. Und der Unternehmer kauft sich die Arbeitskräfte wie die Rohstoffe, also die Energie des Menschen wie die der Erde.
Der in Ungarn geborene Ökonom Karl Polanyi, der in den USA lehrte, hat das in seinen Untersuchungen klar herausgearbeitet:
»Die maschinelle Produktion in einer kommerziellen Gesellschaft bedeutet letztlich nichts Geringeres als die Transformation der natürlichen und menschlichen Substanz der Gesellschaft in Waren. — Die Schlußfolgerung ist zwar unheimlich, aber für die völlige Klarstellung unvermeidlich: Die von solchen Einrichtungen verursachten Verschiebungen müssen zwangsläufig die zwischenmenschlichen Beziehungen zerreißen und den natürlichen Lebensraum des Menschen mit Vernichtung bedrohen.«148
Im Industriezeitalter gibt es einen »Arbeitsmarkt«, auf dem sich die Menschen gegenseitig kaufen. Nicht nur der Arbeitgeber kauft seine Arbeitnehmer — auch umgekehrt: wenn die Kräfte knapp sind, die über besondere Fähigkeiten verfügen, dann kann sich auch der Arbeitnehmer den Arbeitgeber aussuchen. Der Arbeitsmarkt wurde »die zentrale Festung des anonymen Marktes unter der Herrschaft der rein statistischen Größen von Angebot und Nachfrage außerhalb jeder persönlichen oder sozialen Verantwortung...«149) Die soziale Verantwortung wurde nach und nach dem Staat aufgedrängt, was wir zur Genüge erlebt haben.
Die Arbeit wird in der »modernen Arbeitswelt« in der Regel an einem entfernten Ort verrichtet, unter ändern Menschen als denen, die am Wohnplatz oder in der Freizeit die Umgebung bilden. Oft findet der Einzelne in keinem Bereiche innigere Beziehungen. »Der Mensch gewinnt als Verbraucher, was er als Produzent verliert«,150) meint Heimann, und weiter: »Der Mensch opferte seine Freiheit als Produzent und erwarb dafür seine Freiheit als Konsument«; doch es schien nur ein guter Tausch zu sein.151
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Denn auch als Verbraucher wird er schließlich ein Teilchen des technischen Apparats, der keinen Zweck mehr außerhalb seiner selbst kennt, lediglich die eigene Expansion. Auch der freie Markt ist nun nicht mehr der Diener des Verbrauchers, sondern er wird von der Reklame und vom Expansionsbedürfnis der Wirtschaft beherrscht.152 »Die Degradierung des Menschen zu einem bloßen Mittel in der vom Wirtschaftssystem organisierten Gesellschaft« ist nun vollendet.149
Früher trugen einzelne und ihre Großfamilien die soziale Verantwortung, wie das in nichtindustrialisierten Ländern heute noch der Fall ist. Dies geht so lange gut, wie die Familie auch gemeinsam arbeitet. Hier kennt man sich und überblickt die gegenseitigen Leistungsmöglichkeiten, hier ermahnt und kritisiert man sich, der Bessere leitet und spornt an. Alles geschieht aus unmittelbarer gegenseitiger Anschauung und kommt damit der Gerechtigkeit sehr nahe. Man gerät zwar aneinander, aber man versöhnt sich wieder; denn man teilt mit den gleichen Personen auch die Freuden des Lebens, die Mahlzeit, die Freizeit und die Geselligkeit.
In der Familie und Nachbarschaft ist das Dasein jedes einzelnen ein Geben und Nehmen. Die Folge ist, daß man sich umeinander Sorgen macht — weil man einander braucht. Ein Verstoß gegen die Regeln des Zusammenlebens wird sofort bekannt, der Schuldige schämt sich seines Vergehens, und dies ist Strafe und Erziehung zugleich. In solchen Lebensgemeinschaften gibt es die wenigsten Verbrechen, weil es keine Anonymität gibt, das Untertauchen ist hier nicht möglich.
Aber dieses enge Miteinander kann auch lästig sein. Indem ich mir helfen lasse, bin ich auch zur Hilfe verpflichtet. Ich bin zwar geborgen, aber nie frei, ja sogar abhängig von Personen, die ich nicht mag, an die ich aber doch gekettet bleibe. Die Dichtung lebt von solchen Konflikten. Sie stellt dar, wie sich Menschen bis aufs Blut peinigen und sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen — genauso, wie sie einander auch wieder glückliche Stunden bereiten. Das eine wie das andere Extrem ist vom Leben erfüllt, voller Emotionen und damit eben menschlich.
Der »moderne Mensch« will sich dagegen aus dem Geflecht persönlicher Verpflichtungen »befreien«, er will keine Wohltaten, sondern seine »Rechte«. Er verabscheut Geschenke, er fordert die pauschale, unpersönliche Versorgung, das, was ihm mathematisch »zusteht«.
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Seitdem über die großen anonymen Töpfe verteilt und umverteilt wird, erkennt der Erdenbürger nicht mehr, daß er sich selbst seinen Lebensunterhalt gegen die Widrigkeiten einer spröden Welt erringen muß. Er stellt nun seine Ansprüche an dafür eingerichtete Institutionen, vorzugsweise an den Staat. Die Forderungen heutiger Menschen an Staat und Gesellschaft lauten, wenn man es extrem formuliert:
1. Ernährt uns!
2. Bildet uns aus!
3. Unterhaltet uns in der Freizeit!
4. Gebt uns Wohnungen!
5. Macht uns gesund!
6. Gebt uns Liebe!
7. Zeigt uns den Lebenssinn!Da außer dem Lebenssinn scheinbar alles als käufliche Ware angeboten wird, erwartet man, daß es auch produzierbar und zuteilungspflichtig gemacht werden kann. Das, was dem Säugling und dem Kind zu allen Zeiten zugebilligt wurde, will nun auch der Erwachsene weiter beziehen. Mit anderen Worten: Die Verlängerung der Ausbildungszeit bis über das 20. Lebensjahr hinaus scheint dazu geführt zu haben, daß der längst Erwachsene der Fremdversorgung nicht mehr entwächst.
Früher sah er, daß die Eltern es nicht mehr hätten schaffen können (selbst wenn sie es gewollt hätten), ihn weiter zu versorgen. Heute kommt alles über einen anonymen Apparat, den man für unbegrenzt leistungsfähig hält, da ihn niemand mehr überblickt. Und diejenigen, die ihn eigentlich überblicken sollten, die Politiker, gaukeln ihren Wählern vor, daß noch größere Ressourcen zur Verteilung kommen könnten, wenn man bloß ihrer Partei »Vertrauen schenken« würde.
Für die »Versorgung« gibt es nun neutrale, unpersönliche Instanzen. Wenn diese verteilen, was jedem »zusteht«, so ist ihnen niemand dafür Dank schuldig; sie müssen sich höchstens Kritik gefallen lassen, den Anteil nicht richtig errechnet zu haben. Zuständig ist nicht mehr diese oder jene vertraute Person, sondern »der Staat«. Von ihm erwartet man eine höchst eigenartige Partnerschaft. Er soll für jeden alles tun — aber dessen persönliche Verhältnisse sollen den Staat nichts angehen, da will ein jeder völlig frei und anonym bleiben. Und gerade das ist unmöglich.
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Wenn ein jeder selbst »gerecht« behandelt werden will, so muß er wie jeder andere seine Verhältnisse offenlegen: wenn der Staat einen jeden ganz individuell versorgen soll, dann muß er als »der große Bruder« genausoviel über ihn wissen wie der leibliche Bruder. Da er aber so viel nicht wissen kann und auch nicht wissen soll, bleibt ihm nichts anderes übrig, als jeden Menschen als anonymen »Fall« zu behandeln. Die sachliche Kälte der neuen Regelmechanismen wurde erst mit der Zeit wahrgenommen. Eine in früheren Kulturen bereits erkennbare Entwicklung dehnt sich nun aus:
»Als die Bedürfnisse der Technik die Gründer der frühesten Kulturen zwangen, menschliche Arbeitskräfte in größerem Umfang zusammenzuziehen, erfanden sie eine neue soziale Einrichtung: unpersönliche Institutionen. Diese können größere Gemeinschaften verwalten und versorgen, denn sie ermöglichen die Zusammenarbeit von Menschen, die sonst nichts miteinander zu tun haben. Aber institutionalisierte gesellschaftliche Beziehungen sind kühl und zerbrechlich. Der Mensch fühlt sich in ihnen nie so wohl wie im Rahmen persönlicher Beziehungen, und so sind die Institutionen stets in Gefahr, ihre Legimitation zu verlieren und zusammenzubrechen.«153, Toynbee
Das ist eines der großen Probleme heutiger Staatswesen: Die Bürger wollen zwar alle Vorteile aus unpersönlichen Institutionen ziehen, weisen aber die damit verbundenen Verpflichtungen weit von sich.
Als Regulator aller Lebensbereiche dient das Tauschmittel Geld. In ihm glaubt die ökonomische Gesellschaft einen Maßstab gefunden zu haben, an dem man alles, aber auch alles messen kann. Was wäre auch eine mechanistisch funktionierende Gesellschaft ohne ein automatisches Regulativ? Aber auch hier wird ein Maßstab, an dem man ursprünglich Inhalte lediglich ablesen wollte, zum Selbstzweck. Alles, was nicht mit Geld meßbar ist, erscheint fragwürdig, ja wertlos. Das ökonomische Zeitalter ist nur an meßbaren Erfolgen interessiert. »Auf diese Weise geraten viele Ziele, Tätigkeiten und Hoffnungen der vor-industriellen Gesellschaft in Verruf oder in Vergessenheit, wie das Glauben, das Dienen, das Leiden.«154
Der universelle Weltmaßstab heißt heute Bruttosozialprodukt (BSP). Dabei kommt dann heraus, daß das BSP 1979 für den Durchschnitts-USA-Bürger wie für den Bundesrepublikaner rund 11.000 Dollar betrug, für den Durchschnitts-Nepalesen dagegen 130 Dollar. Nach allen Regeln der Ökonomie müßte der Nepalese längst tot sein, denn er verfügt nur über ein Vierundachtzigstel unseres Einkommens!
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Doch siehe da: er lebt! Er lebt zwar weit unter dem sogenannten »Existenzminimum«, aber dennoch in der Regel ganz zufrieden. Siebzig von 125 Ländern der Welt leben mit einem durchschnittlichen pro-Kopf-Einkommen von unter 1000 Dollar jährlich.155
Des Rätsels Lösung ist einfach die, daß sich fast das gesamte Geben und Nehmen jener Menschen immer noch direkt, ohne Umwege über Geld, Markt und Staat abspielt. Damit werden dort die Reibungsverluste der großen Verbundwirtschaften und ihrer Bürokratien, die Fehlleistungen und der sinnlose Verschleiß vermieden. Das existentiell Notwendige ist, gerade weil die unproduktiven Umwege fehlen, billig vorhanden.
Entscheidender ist, daß den Menschen in den sogenannten unterentwickelten Ländern weithin noch die unmittelbare Zuwendung zuteil wird, die sie brauchen und wünschen, ohne daß unzählige Mechanismen zwischengeschaltet worden sind, die nur noch ein totes Gerippe ursprünglicher Menschlichkeit übriglassen, selbst dort, wo die Effektivität der sozialen Netze groß ist.
In den Industrieländern wird nicht nur die Arbeit und die Ware mit Geld bezahlt, sondern immer mehr auch die Dienstleistung, die man früher in der Familie oder in der Nachbarschaft einander zugute tat. Der ökonomische und staatliche Umweg führt zu einem höheren BSP auch dann, wenn gar keine Verbesserung in den empfangenen Leistungen eingetreten ist, ja selbst bei einer Verminderung.
Mit Geld versichert man sich gegen alle Widrigkeiten des Lebens. Wer das nicht möchte, wird in einem modernen Staat dazu gezwungen. Auch die letzten Lebensjahre sind über die Rente »abgesichert«, um deren Höhe oft schon die Gedanken der Jugendlichen kreisen. Das ganze System ist in Ost und West vom jeweiligen Staat eingerichtet, und dieser kann es gar nicht anders organisieren als über die Umverteilung finanzieller Mittel. Somit tritt auch in kommunistischen Staaten das absurde Ergebnis ein, daß das Geld sehr viel wichtiger geworden ist, als es vor der Revolution jemals war, als noch agrarische Strukturen existierten.
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Der kalte materielle Interessenstreit begann allerdings im Westen, wie Bert Brechts »Manifest« aufweist:
»Eisernen Trittes zerstampfte die Bourgeoisie all die alten
Patriachalischen stillen Idylle, zerriß die feudalen
Buntscheckig ewigen Bande, geknüpft zwischen Schützling und Schutzherrn,
Duldend kein anderes Band zwischen Menschen als nacktes Intresse
Und die gefühllose Barzahlung. Ritterlichkeit eines Herrn und
Treues Gesinde und Liebe zum Boden und ehrliches Handwerk
Dienst an der Sache und innre Berufung bespritzte sie mit dem
Eisigen Strahl der Berechnung.«156Diese Entwicklung vollzog sich nicht nur im Rahmen des Kapitalismus, sondern sie bereitete auch den Boden für den wissenschaftlichen Sozialismus. Diesem erlag entgegen der Theorie nicht zuerst der Westen, sondern der Osten. Die industriellen Unternehmungen schwollen überall zu Mammutkombinaten an, und die Bürokratie überzog die Länder mit immer dichteren Netzen. Denn auch im Westen ist die materielle Befriedigung der verschiedensten Ansprüche zur Hauptbeschäftigung des Staates geworden. »Wir sind in der Sozialreligion erzogen, die jedermanns Rechte auf unerschöpfliches Wohlergehen verbrieft.«157 So die Paderborner Germanistin Gertrud Höhler in ihrem Buch »Die Anspruchsgesellschaft«.
Unter Sozialpolitik versteht man heute den Transfer von Geld. Der Staat transferiert es direkt über seinen Haushalt, oder er steuert die Umverteilung mit Gesetzen. Dazu benötigt er eine lückenlose Bürokratie, die sich sowohl mit den steigenden Ansprüchen wie mit der Forderung nach immer größerer »Gerechtigkeit« weiter ausdehnt. Die Ansprüche organisieren sich in Verbänden der verschiedensten Klassen, die damit ihre eigenen Bürokratien aufbauen.
»Als Anspruchsgemeinschaft werden all jene plötzlich solidarisch in ihren Forderungen an den Staat, die im Privatleben kaum noch Ansprüche von Menschen dulden. Blindlings fordert die Mehrheit Ersatzleistungen für Familiengeborgenheit in den Sozialleistungen des Staates ein. Ratlos erleben wir, daß die erworbenen Güter keine humane Wärme entwickeln.«158
Die Politik wird nicht nur von der Ökonomie beherrscht, sie ist selbst ökonomisch geworden, ein Basar, wo zwischen Wünschen und Angeboten gefeilscht wird. Zwischen den Unternehmen und den Gewerkschaften wiederholt sich das Feilschen um die Zehntelprozente alle Jahre wieder, und über Monate berichten die Medien tagtäglich über das sinnlose Pokerspiel. Man einigt sich schließlich immer — auf Kosten der künftigen Generationen und der Völker der Dritten Welt.
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Nichts beweist besser als die Tarifrunden, daß die Gesellschaft unter die totale Herrschaft der Ökonomie geraten ist. Da gibt es weder Großmut noch Pardon, ja nicht einmal »soziale Gesinnung«, von der allerdings um so fleißiger die Rede ist.
Eine der schlimmen Folgen der totalen Ökonomisierung ist:
Die Parteien kaufen sich Wählerstimmen mit Wohltaten. Und das ist bedenklicher als die Geldverschwendung für ihre (primitive) Wahlwerbung. Ein schamloses Wettrennen um die Gunst der Wähler findet statt. Gesinnung läßt sich nicht marktgerecht verkaufen; darum haben selbst christliche Parteien längst darauf verzichtet. Und was unter dem Begriff »sozial« läuft, ist ein kalkuliertes Geschäft zwischen dem Staat und seinen Bürgern, ein Tauziehen zwischen organisierten Interessen.
Es geht längst nicht mehr darum, die hungernden, sondern die schreienden Mäuler zu stopfen. Für dieses Geschäft braucht man das immerwährende »wirtschaftliche Wachstum«, diesen Großangriff auf die Ressourcen unserer Erde. Dieses bisher gigantischste Unternehmen der Menschheit ist nun in die Krise geraten. »Der Traum, den Menschen durch die Macht der Bürokratie und die Kraft des Motors zu befreien, hat die Unterjochung der Produzenten und die Süchtigkeit der Konsumenten bewirkt.«159
Die Wasserscheide, die Sinn und Sinnlosigkeit trennt, ist nun erreicht, schrieb Eduard Heimann schon 1963.
»Die Symptome der Sinnlosigkeit sind die albernen, geschmacklosen, vulgären Dinge, die wir kaufen, da wir etwas kaufen müssen, aber keinen Bedarf für einen zweiten Kühlschrank haben oder für mehr Betten, als wir für die Familie und das Gastzimmer brauchen, oder für mehr Nahrung, als wir essen. So kauften wir also Wagen, die doppelt so lang wie nötig, von anstößiger Häßlichkeit, die als elegant galt, und unmöglich zu parken waren. Jedermann kennt die Güterorgie, die alljährlich zu Ehren des Kindes in der Krippe ausbricht ... Technisch betrachtet sind Expansion vom Elend zum Sättigungspunkt und Expansion über den Sättigungspunkt hinaus in mehr und mehr Sinnlosigkeit hinein ein und derselbe Vorgang; sozial und menschlich betrachtet aber sind es zwei ganz und gar verschiedene Dinge.«160
Indem man heute nur noch die ökonomisch-technische Zielrichtung verfolgt, ist die Rangordnung der menschlichen Ziele auf den Kopf gestellt. Das soziale und kulturelle Dasein des Menschen in der Wirtschaftsgesellschaft rangiert weit hinter seinem ökonomischen.
Alle sind von der fixen Idee der Produktionserweiterung besessen und bereit, ihr Leben diesem abstrakten Ziel zu opfern. Damit ist das Gleichgewicht, das frühere Gesellschaftssysteme zwischen der materiellen Wirtschaft und der kulturellen Wirtschaft bewahrt hatten, zerbrochen, weil alle Überschußenergien in die ökonomische Expansion geleitet wurden.161
Selbst wenn wir die wirtschaftliche Expansion heute noch fortsetzen könnten — was gewiß nicht mehr geht — dann müßten wir uns fragen, welchen Sinn diese totale Unterwerfung des Menschen zugunsten einer ökonomischen Utopie noch hat.
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* wikipedia Eduard Heimann (1889-1967)
www.detopia.de
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Herbert Gruhl Das
irdische Gleichgewicht Ökologie unseres Daseins