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3.5  Die »Lösung« und das Ärgernis des Todes

Ich habe Angst vor dem Fertigen.
Pablo Picasso

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Lösung — so lautet eines der Zauberworte unserer Tage. Da an Problemen wirklich kein Mangel herrscht, gibt es eine ständige Nachfrage nach Lösungen, und Lösungs-Angebote haben Konjunktur. Friedrich Jünger leitete sein Buch <Die Perfektion der Technik> mit der Vorbemerkung ein: 

»Solche Leser, die vom Autor die radikale Lösung ihrer eigenen Nöte und Schwierig­keiten erwarten, sind ungeduldig und verlangen von ihm das, was der Deus ex machina in der griechischen Tragödie leistet. Sie sind nicht zufrieden damit, daß ihnen neue Zusammen­hänge aufgedeckt werden, sie wollen schnelle Lösungen, die ihnen von anderen fertig geliefert werden. Patentlösungen, an denen heute kein Mangel ist, sind die Sache technischer Erfinder. Im Umgang, im Zusammenleben von Menschen gibt es keine Patent­lösungen.«235

Der Begriff der Lösung stammt aus der technischen Vorstellungswelt. Die Lösung des Problems der Fortbewegung brachte das Rad, die Lockerung des Bodens der Pflug, die Erzeugung von Energie das Feuer. Ist die technische Lösung gefunden, so hat sich das Problem erledigt. Auch ein Kreuzworträtsel ist gelöst, wenn in alle Felder die richtigen Buchstaben eingesetzt sind. Und Rechenaufgaben zu lösen ist ein alltäglicher Vorgang in unserer Zeit, in der alles berechnet wird.

Weil wir in einem technischen Zeitalter leben, das mit wissenschaftlichen und organisatorischen Mitteln viele Probleme erfolgreich lösen konnte, hat sich der Glaube verbreitet, daß auf dieser Welt so gut wie alles lösbar sein müsse. Wenn etwas noch nicht gelöst sei, dann läge es nur daran, daß man diesem Problem noch nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt oder nicht genügend Mittel dafür investiert habe, oder weil böswillige Kräfte die Lösung sabotierten. Insoweit sind dunkle Kräfte und menschliche Emotionen gerade noch zugelassen: die Rolle des Bösen traut man ihnen zu, die Rolle des Guten könne aber nur auf der Seite der technischen und ökonomischen Rationalität liegen.236

Nicht nur Marxisten, auch westliche Wissenschaftler träumen von endgültigen »Lösungen«. So kam Maynard Keynes im Jahre 1930 zu dem Schluß, 

»daß die Lösung des wirtschaftlichen Problems in hundert Jahren zum mindesten in Sicht sein wird. Dies bedeutet, daß die wirtschaftliche Aufgabe, wenn wir in die Zukunft sehen, nicht die beständige Aufgabe der menschlichen Rasse ist ... Zum ersten Mal seit seiner Erschaffung wird somit der Mensch vor seine wirkliche, seine beständige Aufgabe gestellt sein, wie seine Freiheit von drückenden wirtschaftlichen Sorgen zu verwenden ist, wie seine Muße auszufüllen ist, die Wissenschaft und Zinseszins für ihn gewonnen haben, damit er weise, angenehm und gut leben kann.«237  

Doch es spricht für Keynes, daß ihm Zweifel kommen; er stellt die Frage: »Wird dies eine Wohltat sein?« Denn: »Wir sind also — mit all unseren Beweg­gründen und tiefsten Trieben — von der Natur ausdrücklich zu dem Zweck entwickelt, unsere wirtschaftliche Aufgabe lösen zu können. Wenn die wirtschaftliche Aufgabe gelöst ist, wird die Menschheit eines ihrer herkömmlichen Zwecke beraubt sein.« 

Keynes denkt mit Schrecken an die Umstellung der Gewohnheiten und Triebe, die dann nötig sein würde, und er zweifelt daran, daß der Mensch dies schaffen werde. Er glaubt nicht so recht an die Philosophie der alten Scheuerfrau, die sich ihren Himmel so ausmalte:

Freunde, betrauert mich nicht und weint um mich nimmer,
Denn ich werde nichts tun fortan für immer und immer:
Von Psalmen und süßer Musik werden die Himmel erklingen.
Aber ich brauch nicht mitzuhelfen bei diesem Singen. 237

Das wäre genau der Himmel, den sich die Perfektionisten vorstellen und worum sie Gott kritisieren, daß er die Welt nicht so eingerichtet hat; woraus sie dann messerscharf schließen, daß es keinen Gott geben könne, sonst hätte er diese Erde so eingerichtet, daß sie der Philosophie der Scheuerfrau entspräche.

Bezeichnend ist, daß Keynes über die schöne Welt des Jahres 2030 nichts anderes auszusagen hatte als die ökonomische Prognose, der Lebensstandard werde dann vier- bis achtmal höher sein als 1930. Keynes irrte sich — diese Höhe wurde schon in fünfzig Jahren erreicht: heute! Und dennoch scheint niemand der Meinung zu sein, daß wir nichts mehr zu tun hätten, als dem Singen der Engel zuzuhören.

Doch bis in unsere Jahre gibt es weitere unzählige programmatische Vorschläge, die den Anspruch erheben, die Probleme der Menschheit lösen zu können. Und Millionen Menschen gebrauchen tagtäglich die Redensart, dies oder jenes müsse »gelöst« werden.

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Gelöst werden sollen zum Beispiel die Probleme des wirtschaftlichen Wachstums, der Energie- und Rohstoff­versorgung, der Finanzen und Währungen, der Arbeitslosigkeit, der Rentenzahlungen, der medizinischen Versorgung und so fort. Die einen wollen das Verteidigungs-, die andern das Friedens­problem lösen — manche das Problem der Bevölkerungs­vermehrung, andere das Welternährungs­problem. 

Überall im Leben gibt es Probleme: in Ehe und Familie, in der Erziehung und in der Freizeit, in der Schule und bei der Jugend. In den letzten Jahrzehnten sind ständig neue Probleme hinzugekommen: Umwelt-, Drogen-, Verkehrs- und Sexual­probleme.

Man darf wohl sagen, fast ein ganzes Jahrhundert, unser 20. Jahrhundert, habe so an die »Lösung« geglaubt wie die frühe Christenheit an die baldige Wiederkunft Christi. Die Wahrheit ist: Kein einziges der soeben aufgezählten Probleme kann jemals »gelöst« werden, man wird sie immer nur vorübergehend »regeln«, Auswege auf Zeit oder Kompromisse finden. Jede erfolgreiche Bewältigung wird in der Regel nur Schwierigkeiten vermindern, nicht für immer beseitigen.

So wie die Lebensvorgänge keine »Lösung« finden, sondern nur mit der Beendigung des Lebens entfallen, so gibt es auch keine »Lösung« für das Leben des einzelnen Menschen, ebensowenig für das Leben einer Gemeinschaft von Menschen, und auch nicht für die einzelnen Probleme dieser Gemeinschaft. Es gibt nur Auswege. Goethe sagt über die Natur: »Sie ist ganz, und doch immer unvollendet. So wie sie's treibt, kann sie's immer treiben.«238 Würde sie nämlich mit Lösungen arbeiten, dann wäre das Leben an seinem Ende angelangt; die Natur könnte es dann nicht weiter »treiben«, und für die Menschheit wäre das Ende der Geschichte erreicht.239

Das Wort »Lösung« ist ein Fetisch, an den die Technokraten und die ökonomischen Fanatiker glauben. Ihr Fanatismus ist aber für all das von Nachteil, was wirklich erreichbar ist. Der Kompromiß, dieses wunderbare Instrument der Natur, gerät durch das Streben nach der perfekten Lösung in Verruf. Die Geschichte des Menschen besteht aus einem ständigen Ausgleich zwischen gegensätzlichen Kräften, wobei noch nie eine Regelung von Dauer war. Die unheimliche Konsequenz und deren beständige Verfolgung ist ein Kennzeichen mechanistischen Denkens.

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Die organischen Vorgänge auf dieser Welt zeichnen sich gerade dadurch aus, daß sie niemals abgeschlossen sind und kein Vorgang völlig einem anderen gleicht. An tierische und pflanzliche Organismen werden ständig neue Anforderungen gestellt, denen sie unterschiedlich begegnen. Die Natur hält ein unübersehbares Repertoire von Hilfsmitteln bereit, die je nach Situation angewendet werden. »Sie baut immer und zerstört immer, und ihre Werkstätte ist unzugänglich.«240 Alles hilft ein Stück weiter, aber dann entsteht eine neue Situation mit neuen Problemen. Nie ist etwas so abgeschlossen, so daß man sagen könnte, nun sei die Lösung erreicht. Das einzig wirklich Endgültige, was dem Organismus bevorsteht, ist sein Tod. Doch normalerweise ist dann schon vorgesorgt, daß genügend Samenzellen vorhanden sind, die das Spiel in veränderter Kombination wieder aufnehmen.

Die menschliche Gesellschaft ist Teil der Natur, somit fehlerhaft und wandelbar. 
Es ist unmöglich, ein unfehlbares System einzuführen.

Die Frage nach der »Lösung« wird immer wieder von den Puristen und Fanatikern gestellt, die nichts von den ökologischen Prinzipien, nach denen die Natur arbeitet, wissen; sie kennen nur ihre mathematisch-mechanistische Logik.

Wie auch immer die »Lösungs«-Vorschläge für unsere Welt aussehen, die größte Macht ist darin nie unterzubringen: der Tod. Er bleibt die unbeherrschbare Größe, die jederzeit hereinbrechen kann. 

»Denn die Versuche, Fortschritt und die Blamage des Sterbens unter einen Hut zu bringen, sind zum Scheitern verurteilt.« Darum muß die »Schande des Sterbens« vertuscht werden, wie Günther Anders weiter sagt, um »eine Welt herzustellen, deren Positivität so nahtlos ist, daß sie keine Ritzen für peinliche Fragen über den Tod offenläßt.« 241) 

Zwei Fragen wurden mir schriftlich und mündlich immer wieder gestellt:

1. Wie sieht nun Ihre Lösung aus?
2. Wenn der Welt dieses katastrophale Ende droht, wie können wir da noch weiterleben?

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Daß es keine »Lösung« gibt, habe ich dargestellt. Verwunderlicher ist die zweite Frage. Wie kann denn der mögliche Untergang mehr schrecken als der eigene Tod, der doch jedem seit jeher absolut sicher ist. Offensichtlich ist der eigene Tod bereits so erfolgreich verdrängt, daß er kaum noch wahrgenommen wird. Diese Verdrängung ist zu erläutern. 

Man spricht nicht mehr über den Tod. Und um dem Tod nicht mehr begegnen zu müssen, werden seine Anzeichen schnell beseitigt. Das kann ohne Zwangs­mittel geschehen, weil es sich aus der technischen Arbeitsteilung ergibt. Denn nur in Kranken­häusern stehen die modernen teuren Apparate bereit, nur dort gibt es die Fachleute für körperliche Defekte, nach Körperteilen säuberlich aufgegliedert. So kann man mit höchst humanitären Argumenten bereits die Kranken aus dem Umkreis der Gesunden verbannen. Früher blieben sie in der Familie und erinnerten immerzu an die Hinfälligkeit alles Lebens.

Damals hatte die arme Familie kein Geld, sich von der Pflege freizukaufen, und die wenigen Reichen konnten es sich leisten, die Pflegepersonen ins Haus kommen zu lassen. So erlebten alle Schmerz und Leid — und auch den Tod — im eigenen Hause. Darüber ist der Fortschritt hinweggegangen, im Namen der Humanität. »Der humanitaristische Furor« ist aber, so meint Gertrud Höhler, »ein lächerliches Spektakel von Maskenträgern, ein Wohltätigkeitsfest, das Leute mit schlechtem Gewissen geben, solange er von Menschen inszeniert wird, die nicht einmal das Allermenschlichste verdaut haben, ihren eigenen absolut sicheren Tod, bevor sie das große Hohelied von der weltweiten Menschlichkeit anstimmen.«

Die Tatsache des Todes hat weder im Raum noch in der Zeit und ebensowenig in den Zukunftsentwürfen einen Platz. »Eine Zukunftslehre vom Heil aller, die den Tod — totschweigt: das ist unsere armselige Bilanz im aufgeklärtesten aller Jahrhunderte.« Bei Gertrud Höhler heißt es weiter:

»Im Vollbesitz aller sinnlichen Wahrnehmung, die phantastisch werdende Technik uns ermöglicht, erschrocken und gebannt zugleich von den Möglichkeiten der unerschöpflichen Natur, kundig wie nie zuvor in der Physis und in der Seele des Menschen, im Wasser und auf der Erde, unter der Erde und in der Luft, den kleinsten Teilen der Materie auf die Spur gekommen, wahrhaft Herren des Kosmos, im Guten wie im Bösen; — Besitzer so vieler gesicherter und so vieler ungesicherter Gewißheiten und Beweise, lassen wir die eine und einzige Gewißheit aus, an der niemand vorbeikommt, die den Erfahrenen wie den Unerfahrenen, den Armen wie den mit Gütern Gesegneten bevorsteht, solange sie leben: den Tod.«243

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Alle diese Äußerungen, aber noch stärker das alltägliche Leben beweisen: Der Tod ist aus der Erlebniswelt des modernen Menschen ausgeklammert — damit ist aber auch der Wert des Lebens gemindert. Denn:

»Vom Tode her erst ist der Mensch voll zu würdigen, und wenn er mit dem Bewußtsein seiner Vergänglichkeit nicht die Auseinandersetzung sucht, so ist das ein Zeichen seiner Selbstentwürdigung, weil er offenkundig die Sehnsucht eingebüßt hat, über seine kläglich bemessene Spanne hinauszureichen.«244

Der Mensch kann nur dann sein Leben in Todesferne verbringen, wenn er sich auch vom Leben distanziert. Im Mittelalter lebte man mit dem Tod, wie in jeder Religion. Noch bei Goethe heißt es:

Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
auf der dunklen Erde. 245

Es bedarf der Schlußfolgerung kaum, daß die Erde nun voll der trüben Gäste ist.

Genauso, wie die Fortschrittsgläubigen vor dem individuellen Tod die Augen verschlossen haben, so auch gegenüber der Apokalypse, deren Ankündigung früher periodisch ganze Völker in Schrecken versetzt hatte. Dergleichen Unheilsverkünder konnten in der herrschenden Fortschrittseuphorie keinen Glauben finden, dagegen schenkten die Völker verschiedenen »Heils­bringern« leicht Vertrauen.246

Doch nun, am Ende des zweiten Jahrtausends n. Chr., verdichten sich die Beweise, daß der großflächige Katastrophen-Tod so real droht wie früher die Apokalypse in den Visionen. Immer mehr Menschen können immer weniger dieser Erkenntnis ausweichen und sehen sich gezwungen, sich nicht nur auf ihr eigenes Ende, sondern auch auf ein gemeinsames Ende mit Schrecken gefaßt zu machen. 

Tun sie das aber, dann kann dieser schärfere Stachel auch zu einer Kehre ins Positive führen — nicht in dem vordergründigen Sinne, daß wir nun diese neuen Probleme »bewältigen« oder gar »lösen« und damit der Katastrophe entrinnen, sondern daß wir unser Bewußtsein vom Sein auf eine höhere Ebene heben.

Wenn wir den Weg des Lebens zurückverfolgen, dann stoßen wir immerzu auf den gleich mächtigen Tod. »Zu Unrecht verfluchen wir den, ohne den wir nicht wären.« Tod und Leben bilden ein dynamisches Gleichgewicht, das allen anderen über­geordnete Gesetz der Natur; sie pendeln sich immer wieder auf eine mittlere Position ein. Sie erfüllen ein ewiges Gesetz, das Grundgesetz der organischen Welt, welches sich nur organischem Denken erschließt.

Die mechanistische Denkweise erweist sich dagegen als Sackgasse des menschlichen Gehirns, das in diesem Fall nicht mehr dem Leben, sondern der Ausbreitung der unbelebten Welt dient.

Wenn der Mensch — wie viele Arten vor ihm — bald den Planeten räumen muß, dann wird die Ursache in dieser Verirrung des menschlichen Gehirns liegen, welches eine erdachte tote Welt an Stelle der organischen errichten will. Die lebendige Welt geht an der Ratio zugrunde, die alles rationalisieren will. Darunter leiden alle Kreaturen, und auch der kreatürliche Mensch siecht dahin. Er degeneriert zum Psychopathen.

In dieser Lage sucht nun ein großer Teil der »fortgeschrittenen« Menschheit den Ausweg nicht in weniger, sondern in noch mehr Rationalität — ohne zu begreifen, daß exakt diese Vorwärtsstrategie die Straße des Todes beschreitet. Wen die Götter vernichten wollen, den schlagen sie zunächst mit Blindheit, hieß es in der Antike. Die heutige Blindheit ist ein selbst­produziertes Hirngespinst — und darum um so gefährlicher.

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Herbert Gruhl   Das irdische Gleichgewicht 1982