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4.4  Vom Lebenssinn und der Kunst

 

Und der Sinn kommt nur vom Heiligen, denn keine empirische
Forschung kann ihn hervorbringen.  Leszek Kolakowski

    Die Frage nach dem »Sinn«   

197-209

Hunderttausende von Jahren hat der Mensch wahrscheinlich auf dieser Erde gelebt, ohne sich mit der Frage nach dem Sinn seiner Existenz abzuquälen. Wenn er sich genügend Nahrung besorgen, den ihm überlegenen Tieren entkommen und sich menschlicher Konkurrenten erwehren konnte, dann dürfte für ihn darin genügend Sinn gelegen haben. 

Sinnvoll war es schon, das nackte Leben zu bewahren. Dies ist auch eine alte philosophische Auffassung, die wir bei Diogenes Laertios (2. bis 3. Jahr­hundert vor Christi Geburt) finden:

»Der erste Trieb eines Lebewesens, sagen die Stoiker, sei, sich selbst zu erhalten, weil die Natur es von Anfang an ihm selbst geneigt mache, wie auch Chrysipp im ersten Buch >Über die Ziele< sagt, indem er lehrt, das erste Interesse sei für jedes Lebewesen seine eigene Existenz und das Bewußtsein davon. Denn schwerlich konnte die Natur das Lebewesen selbstentfremden, noch auch, nachdem sie es geschaffen, es weder selbstentfremden noch mit sich selber vertraut machen. So müssen wir folgern, sie habe, was sie schuf, mit sich selber vertraut gemacht.« 354)

Der Mensch fühlte wohl schon in grauer Vorzeit, wie abhängig und gefährdet er war, und um dieses Gefühl kristallisierte sich Verehrung und magische Beschwörung, die der Lebensrettung diente. 

»Im Kampf um die Fruchtbarkeit des Ackerbodens haben die frühen Kulturen die Frucht und den Samen als hohe Werte geheiligt. <Wert> war, was lebenserhaltend und mangeldeckend wirkte: das Haus, die Nahrung und die Vorgänge, bei denen sie errungen wurde: Jagd, Saat und Ernte. Das Leben war ein Wert, weil es zu allen diesen Leistungen befähigte, der Tod war ein Wert, weil er der große Feind war, den man nicht unterwerfen konnte. Für alle diese Werte rief man die Götter zu Hilfe, beschwor man die Dämonen. Die Schöpfung lebte; Mythos kristallisierte sich um alle wesentlichen, existentiell bedeutsamen Erlebnisse und vor allem um die Rätsel der menschlichen Existenz.«355

Magische Vorstellungen und Mythen haben sich nach und nach jeweils zu einer Religion verdichtet, die dann den Sinn darbot, in dem Maße, wie das Bedürfnis danach stärker wurde. Im Zentrum der Hochkulturen stand jeweils der gemeinsame Glaube an transzendente Mächte, auf die sich das Leben wie der Tod bezog. Die Sinnfrage war somit geklärt, und sie ist es bei diesem und jenem Volk auch heute noch.

Erst der Sieg der mechanistischen Weltsicht hat jedem Glauben den Boden entzogen und damit den betroffenen Völkern die Gemeinsamkeit des Glaubens geraubt.356 Die Freigabe der religiösen Auffassungen war schließlich die einzige Rettung, um mörderischen Glaubenskämpfen zu entgehen, wie sie z.B. dreißig Jahre in Europa getobt hatten und zur Zeit hier und da noch wüten. Die Freistellung hatte aber die unausweichliche Folge, daß damit zusätzliche Zweifel in die Gültigkeit der Glaubensinhalte gesät wurden. Die »Sinnkrise« war da. Dennoch lebten einige Generationen zunächst ganz wohlgemut in dieser liberalen Welt. Dies, zumal man ja gerade die ungläubig Gewordenen mit einem neuen Sinn füttern konnte, den sie mit Eifer löffelten, dem grandiosen Fortschritt. Somit lag der Sinn des menschlichen Lebens vorübergehend in der Beförderung dieses Fortschritts. Den Ersatzcharakter des irdischen Himmelreiches für das jenseitige christliche haben wir beschrieben.

Nun, wo die Ersatzreligion »Fortschritt« zusammenbricht, stellt sich die Sinnkrise in ihrer radikalsten Form. Der Sinnverlust wäre nie so gründlich eingetreten, wenn die mechanistische Denkweise nicht gesiegt hätte, die versprochen hatte, alle Rätsel der Welt »wissenschaftlich« zu lösen. Zur perfekten Lösung hätte dann natürlich auch die Lieferung konkreter Sinngehalte gehört; aber deren Fertigstellung wurde immer wieder verschoben, so daß heute immer weniger Empfänger noch mit dem Eintreffen der Ware »Sinn« von dorther rechnen.357 Doch die Mehrheit der Erdenbewohner hat auch gar nicht auf die Lieferung von Sinn durch die Ratio gesetzt, selbst in den Industrieländern nicht. Wäre das nämlich geschehen, dann hätte sich die Bevölkerung kaum mehr fortgepflanzt, und der Selbstmord wäre zur selbstverständlichen Todesart geworden. Nihilismus und Atheismus sind Weltanschauungen, die sehr hohe Anforderungen stellen, um ertragen werden zu können.

Was die Menschen über Jahrzehntausende erhalten hatte, war eben eine Art Urvertrauen, welches wir im Grunde mit den anderen Lebewesen gemeinsam haben. Der Mensch hat fast in seiner ganzen Geschichte unter der Sonne, zwischen Pflanzen und Tieren gelebt.

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Mit den letzteren hatte er stets vieles gemeinsam und hat es noch. Denn erst sehr spät baute er sich feste Häuser und ganz zuletzt Maschinen, als Ergebnisse seines intensiven Nachdenkens. Aber er dachte auch immer stärker über sich selber nach — und mit dem Nachdenken kamen eben die Zweifel am Sinn seiner Existenz. Das deprimierende Gefühl der Sinnlosigkeit und des Zweifels wurde zu einem akuten Problem.358

In dem Zitat des Diogenes fanden wir bereits ein modernes Stichwort: Selbstentfremdung. Die Selbstent­fremdung hat sich in den letzten Jahrhunderten gelegentlich bis zur Schizophrenie gesteigert. Dies war unausweichlich, weil der gewaltsame Versuch unternommen wurde, den Menschen auf die reine Rationalität seiner erdachten Mechanistik umzustellen, womit er sich von seinem organischen Nährboden immer mehr entfernte.

Winston Churchill hat im Jahre 1932 einen kurzen, aber eindrucksvollen Aufsatz geschrieben, der 1979 in Deutschland abgedruckt wurde. Darin kommt er zu dem Ergebnis, daß der materielle Fortschritt nicht das bringe, was der Mensch wirklich brauche, denn er könne seiner Seele keine Ruhe bringen.

»Nie gab es eine Zeit, da die dem Menschen innewohnende Tugend einen stärkeren und zuversicht­licheren Ausdruck im alltäglichen Leben gebraucht hätte; nie gab es eine Zeit, da Hoffnung auf Unsterblichkeit und Geringschätzung irdischer Macht und irdischer Errungenschaften für die Sicherheit der Menschen­kinder notwendiger gewesen wären.«359

Die folgenden Ereignisse trieben in die entgegengesetzte Richtung. Der Kampf um die irdische Macht erreichte im II. Weltkrieg den höchsten Punkt, und die Jagd nach den irdischen Errungenschaften steigerte sich nach dem Krieg in einer früher unvorstell­baren Geschwindigkeit. Der vorher trabende Fortschritt begann zu rasen. Und noch schlimmer: Die ständige Steigerung wurde zum Normalzustand erklärt.

Erst 25 Jahre nach Kriegsende begannen mehr als nur Einzelne darüber nachzudenken; nicht nur über das, was sie gewonnen, sondern auch darüber, was sie verloren hatten. Sogar in Moskau ließ Boris Pasternak — bereits in den fünfziger Jahren — seinen Doktor Schiwago ausrufen:

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»Umgestaltung des Daseins! So können nur Menschen reden, die vielleicht allerlei in ihrem Leben gesehen haben, die aber kein einziges Mal das Leben wirklich begriffen, den Geist des Lebens, seine Seele empfunden haben. Für sie ist das Dasein nur roher Stoff, der durch nichts veredelt wird und leblos daliegt, um von ihnen bearbeitet zu werden. Das Leben aber ist in Wirklichkeit niemals wesenlose Materie. Es ist, wenn ich es ihnen sagen soll, das eine sich immer aus sich selbst erneuernde und und umgestaltende Prinzip, das ohne unser Dazutun wirken wird bis in alle Ewigkeit.«

 

Es sind überhaupt meist die Dichter gewesen, welche die Dimensionen des Lebens, der Natur und die zum Transzendenten hin bewahrt haben. Dazu diejenigen Denker, die den Dichtern verwandt sind, die wohl Martin Heidegger gemeint hat, als er sagte, daß im Denken und Dichten eine Bereitschaft für die Erscheinung des Gottes oder für die Abwesenheit des Gottes im Untergang vorzubereiten sei.

Es gibt keinen Sinn des Lebens ohne Einbeziehung des Todes. »Zu Unrecht verfluchen wir den, ohne den wir nicht wären.«360) Der Tod war von Anfang an Voraussetzung der biologischen Evolution auf dieser Erde. Nur mit dem Wechsel der Generationen und der zweigeschlechtlichen Fortpflanzung wurde die Entwicklung möglich. Ohne den Tod wäre das Leben für immer in der Uniformität erstarrt.

Der Tod schlägt die Schneisen für immer neue Möglichkeiten. Darum brachte Goethe eine tiefe Wahrheit zu Papier, als er von der Natur rühmte »... und der Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben«.361 Zwischen Leben und Tod pendelt sich in der Natur dieser Erde immer wieder ein dynamischer Gleichgewichtsstand ein. Der Tod setzt die Grenze jedweden Pendelschlags des Lebens.

Leben und Tod haben teil an uns, wir können eines nicht ohne das andere haben, denn sie bedingen einander.

Die Vielen nehmen das Sterben nicht groß
Weil ihr Leben zu klein verläuft
Darum nehmen sie das Sterben nicht groß.

Das sagt uns Laotse.362

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Denen es gelingt, Leben und Tod in einem zu erfassen, fühlen sich getragen vom großen kosmischen Geschehen, und das verleiht ihnen die Gelassenheit im Sterben. Dies ist nicht nur die Philosophie einzelner, es ist Wissen ganzer Völker. Ein Stamm in Afrika bewahrte folgendes Initiationslied:

Leben und Tod

Leben und Tod
bleiben für immer in uns.
Leib an Leib,
nebeneinander, gegeneinander.

Wie Wasser und Erde
kämpfen sie ohne Unterlaß.
Jeder Sieg des einen ist Niederlage des andern.
Jeder Gewinn im Osten ist Niederlage im Westen.

Unser Durst nach Erkenntnis
wird nicht erlöschen.
Der Atem eures Wissens
entfacht unser Feuer immer aufs neue.

Wir, die wir hier sind, haben unser Gebet zur vorgeschriebenen Stunde schon verrichtet.

Am vorgeschriebenen Ort haben
wir die Milch vergossen,
die nährt und für uns spricht.

Wir haben den Zehnten von Butter gezahlt.
Wir sind einem winzigen Tropfen entstiegen,
der im Goldregen herniedergefallen ist
in eine verborgene Höhle der Fruchtbarkeit.

Unser Schicksal ist, einmal zu zerfallen
in Fäulnis und Gestank.
Im Kreis des Lebens kehren wir wieder.

Wir sind geschaffene Geschöpfe, wir sind als Schöpfer geschaffen.

Wir sind auf unserem Weg nicht schwach geworden.
Wir lenken unsere Schritte ins Königreich Kaydara,
das ferne, das nahe Kaydara.363

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Das Leben ist kein Besitztum, das wir wie einen Gegenstand mit uns herumtragen könnten, dabei ständig besorgt, ihn nicht zu verlieren. Das Leben ist vielmehr ein dauernder und durch uns hindurchfließender Strom, der sich aus fernen Quellen nährt und uns unbekannten Meeren zufließt. Es ist der Überschwang der Strömung, die uns trägt, einer Strömung, die sich unserer Lenkung entzieht. Insofern ist alles, was uns zufließt und wozu wir selbst nichts beitragen konnten: Gnade, die unbegreiflich ist.  

»Eine Menschheit, die sich durch Gnadenangebote beleidigt fühlt, lebt nicht nur im Stande der Unwissenheit über ihren gnadenwürdigen Zustand. Sie lebt auch, wie das Wort von der <Erbarmungswürdigkeit> schon sagt, in Verkennung der menschlichen Würde. So reichlich wird unter uns von Menschenwürde geredet und so hochmütig wehrt dieselbe Menschheit es ab, daß sie von höheren Mächten abstammt und folglich würdig ist, von ihnen getragen und beim Gewinn der unentbehrlichen, menschenwürdigen Güter und Werte gestützt zu werden.«364) 

Das Leben und das Sterben benötigt keinen Sinn, der im Sinne des Menschen läge. Hinter einer allein für den Menschen gestellten Sinnfrage steht die Selbstherrlichkeit, um nicht zu sagen Selbstgefälligkeit des Menschen; wenn er für sein Leben einen Sinn dargeboten haben will, während er der übrigen Natur keinen autonomen Sinn zubilligt. In diesem Fall ist er auf sich selber zurückgeworfen. Die Folge ist, daß es ihm dann mißlingen muß, sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen. Nur wenn er sich als abhängiger Teil eines höheren Ganzen betrachtet, gewinnt er ausreichend Halt für sein eigenes Leben. Diesen Halt liefern nicht die wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern die seelischen Erfahrungen, deren höchste, die mystischen, nur wenigen vergönnt sind. Andere Zugänge bieten die Religionen, die Künste und die Dichtungen sowie die Naturerlebnisse, aus denen jene vornehmlich entstehen. Wir müssen uns hier auf Worte stützen. Jede höhere Sprache besitzt solche Worte, die von einem höheren Geheimnis umgeben sind.

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Zum Wesen der Sinnsuche gehört, daß der Sinn nie handgreiflich gefunden wird; denn hätte man die »Lösung«, dann gäbe es nicht nur keine Suche mehr, sondern das Leben würde zu einem höchst überflüssigen Vorgang ohne höheren Gehalt. Der Künstler ist ein begabter Sinnsucher, der sich ins Offene begibt, wohin die objektive Erkenntnis nicht reicht. Was er dabei erfährt, ist nur in der Sprache der Kunst und der Dichtung aussagbar. Laut Friedrich Schiller ist die Kunst »eine Tochter der Freiheit«, die von der »Notwendigkeit der Geister«, nicht von der »Notdurft der Materie« ihre Vorschrift empfängt.365 »Das Reich des schönen Scheins erstreckt sich aufwärts, bis wo die Vernunft mit unbedingter Notwendigkeit herrscht.... es erstreckt sich niederwärts, bis wo der Naturtrieb mit blinder Nötigung waltet und die Form noch nicht anfängt.«366

 

    Kultur durch Wohlstand?   

 

Es gibt unzählige Voraussagen einer Kulturblüte, wenn erst die Menschen von der Bürde, für ihr physisches Dasein sorgen zu müssen, entlastet sein würden. Nun leben gegenwärtig rund 1000 Millionen Menschen auf diesem Erdball unter so gesicherten materiellen Umständen, wie sie frühere Generationen nie erträumt hätten. Obschon dieses Viertel der gegenwärtig Lebenden größer ist, als es vor dem Jahre 1800 die gesamte Erdbevölkerung war, übertrifft ihr materieller Wohlstand bei weitem alles, was frühere Kulturen auch nur für einige 10.000 Menschen hervorbrachten.

Den Voraussetzungen nach müßten wir also jetzt in der üppigsten Kulturblüte aller Zeiten leben. Aber es gibt wohl kaum jemanden, der solches mit kühner Stirn behaupten würde — ganz abgesehen davon, daß eher das Gegenteil bewiesen werden könnte. Es ist auch bemerkenswert, daß weder der Westen noch der Osten behauptet, um die Palme der höheren Kultur zu ringen; für beide ist es erklärtermaßen ein Wettstreit um die wirtschaftliche wie um die technische Überlegenheit, die auch auf einen Rüstungsvorsprung hinzielt. Auch die weitreichenden Freiheiten, die zum Beispiel die Künstler in den Hauptländern des Westens genießen, vermochten keine Blüte zu entfachen.

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Darum müssen wir fragen: Stimmt die Annahme, daß erst die materielle Sicherheit gegeben sein müsse, bevor sich der Mensch der Kultur zuwenden könne, überhaupt? Oder ist diese Annahme lediglich ein Ergebnis mechanistischen Denkens, wonach eine Maschine erst dann in Gang gesetzt werden kann, wenn alle ihre Teile eingebaut sind?

Die Geschichte des Menschen auf dieser Erde beweist, daß die weitverbreitete Meinung, die Kultur entstehe im Wohlstand, absolut falsch ist. Diese Annahme hat bereits Eduard Heimann zurückgewiesen: 

»In Amerika wie in Europa ist die Trostlosigkeit der im 19. Jahrhundert entstandenen Industriestädte und ihrer Arbeiterquartiere damit entschuldigt worden, daß es in der Natur des Menschen liege, zuerst für materielle Produktion zu sorgen und erst lange nachher für geistige Bedürfnisse. Jeder Blick auf die primitiven Gesellschaften straft dies Lügen, da alle diese den Schönheitssinn pflegen und dessen Werke begrüßen, obwohl das offenbar auf Kosten des materiellen Fortschritts geht. Mit anderen Worten, unter ganz primitiven Bedingungen zeigt sich der Mensch unzweideutig als ein geistiges Geschöpf und die Gesellschaft als eine Kultur­gemeinschaft.«367

Maurice Blin stellt daher die Frage: »Weshalb und wie kommt es, daß der Mensch zu einem Zeitpunkt, wo er gänzlich von der Besorgung des Lebensnotwendigen in Anspruch genommen zu sein scheint, sich davon löst, um sich Beschäftigungen zu widmen, die sich nicht mit dem Prinzip der Ökonomie vereinbaren lassen, das für ein Wesen ohne Mittel und Reserven allein zählen sollte?«368  

Eine ökonomische oder rein materialistische Erklärung der Kultur des Menschen ist also unhaltbar. Es ist vielmehr erwiesen, »daß die handwerklichen Tätigkeiten in den primitiven Gesellschaften von ästhetischen oder religiösen Äußerungen begleitet werden, die jeglicher praktischer Wirksamkeit bar zu sein scheinen. Diese Äußerungen erheischen Zeit und Energie, ziehen die Vernichtung von Gütern nach sich und scheinen mit der Notwendigkeit, die vordringlichsten Bedürfnisse zu befriedigen, die auf einem mangelhaft ausgestatteten und verletzlichen Wesen lasten, im Widerspruch zu stehen.«369 Der Widerspruch wird durch die Beobachtung untermauert, daß Prestigegüter früher als alle anderen gehandelt wurden.370

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Die Ökonomie geht nicht der geistigen Kultur und nicht der Religion voraus, sie folgt ihnen. »Die Ökonomie findet in der religiösen und sozialen Ordnung ihr Fundament und ihre Rechtfertigung.« Sowohl bei den Völkern, die wir primitiv nennen, wie bei den alten Hochkulturen »ist das Religiöse nicht ein Parasit der Wirtschaft, sondern ihre Seele«.371

Die Kunst hatte, wie viele andere Kulturäußerungen auch, einen religiösen Bezug. Das gilt im Besonderen für die christlichen Jahrhunderte, die wir als unser Mittelalter hinter uns haben.

Alle großen Leistungen der bildenden Kunst, der Dichtung und der Musik lagen vor dem Industriezeitalter und liefen in diesem aus. Arnold Toynbee betonte, daß die Deutschen in einem Jahrhundert die kulturelle Führung übernahmen, als wirtschaftliche Prosperität und politische Macht bei ihnen sehr tief lagen.372 Und er hat völlig recht. Die Epoche, die in jedem Geschichts­unterricht negativ als die der deutschen Kleinstaaterei abgehandelt wird, brachte die höchsten geistigen und künstlerischen Leistungen hervor. Die deutsche Musik blühte gerade unmittelbar nach dem 30jährigen Krieg auf, wogegen sie nach der Gründung des Zweiten Reiches dahinwelkte. Und Deutschland ist beileibe kein Sonderfall gewesen. Die griechische Kultur war eine der Kleinstädte, ebenso die des europäischen Mittelalters und ganz besonders die der Renaissance in Italien. Wir sind gezwungen, den Schluß zu ziehen:

Alle großen geistigen und kulturellen Leistungen der Menschheit sind auf einer unvergleichlich niedrigeren ökonomischen Stufe vollbracht worden, als wir sie heute haben.373

Das muß doch Gründe haben! Zumal andererseits inzwischen genügend Beweise vorliegen, daß das einzigartige technische Zeitalter mit vervielfachtem materiellen Lebensstandard weniger kulturelle Großtaten vollbracht hat. Es bringt kaum heraus­ragende Leistungen und selten einen großen Künstler hervor und kennt keine kultivierte Lebensgestaltung. Was es besitzt und museal pflegt, sind die gelagerten Bestände aus vergangenen Zeiten.

»Der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt scheint durch noch so extreme großstädtische Verhältnisse nicht beeinträchtigt zu werden, um so mehr aber der künstlerische.«374 Dies ist einer der Kernsätze des Ökonomen Alexander Rüstow.

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Soweit sich nun das technische Zeitalter überhaupt in der Kunst ausdrückt, ist es eine ganz andere Art von Kunst — und das ist folgerichtig. Ihr hervorstechendstes Merkmal ist, daß sie zur organischen Welt kaum noch eine Beziehung hat. Das kann auch gar nicht anders sein, wenn sie den Geist des mechanistischen Zeitalters darstellen will, was tatsächlich ihre Aufgabe wäre. Die Frage ist aller­dings, ob sich dieses Zeitalter überhaupt künstlerisch erfassen läßt.

Genausowenig wie das mechanistische Weltbild eine Lücke zur Transzendenz für die Religion offenläßt, bleibt eine solche für die große Kunst. Auch die Kunst steht nun in der kalten Welt der geraden Linien und der Maschinen, wo das Gefühl genausowenig gilt wie vor einem Öltank. Wenn sich ein Gefühl dennoch behauptet, dann kann es nur das Gefühl der Angst sein, der Angst vor der unheimlichen Maschinenwelt, der Angst des Lebens vor dem Leblosen. Ja, es muß eine verstärkte Angst sein, weil diese Automaten ohne Leben sich dennoch bewegen, ganze Güterzüge an Material verschlingen und an fertigen Artikeln ausspeien.

Im ökonomischen Zeitalter herrscht der sachliche Geist der asphaltierten Großstädte. Es ist eine kalte Um- und Geisteswelt, der sich der Mensch ausgesetzt sieht.

»Der Mensch stellt keinerlei Interesse mehr dar... Was uns interessiert, ist die Härte einer Stahlplatte um ihrer selbst willen, das heißt die unbegreifliche und völlig unmenschliche Verbindung ihrer Moleküle und Elektronen ... die Wärme eines Stückes Eisen oder Holz begeistert uns mehr als das Lächeln oder die Tränen einer Frau...« So proklamierte der italienische Schriftsteller Filippo Marinetti die moderne Richtung der Kunst.375

Die Kunst eilt der Entwicklung voraus: »In diesem Licht gesehen, schuldet die Gesellschaft der Anti-Kunst unserer Periode Dank; denn sie enthüllte, mehr als ein Menschenalter bevor unsere wissenschaftlichen Destruktionsmittel sich vermehrt und übersteigert hatten, die irrationalen Zwänge und die sterilen Ziele, die für die westliche Zivilisation von heute kennzeichnend sind. Wäre der prophetische Charakter dieser Kunst allgemein verstanden worden, so hätte sie, in verdünnter Dosierung, als Schutzimpfung gegen jene Krankheit dienen können, die nun vom gesamten gesellschaftlichen Organismus Besitz ergreift.«376 Im Zuge der zivilisatorischen Entwicklung meinen heute viele, daß die Kunst völlig überflüssig sei. Andere erklären, die Kunst sei tot, da sie sich nur eine Kunst in organischen Kategorien denken können.377

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»Der Nutzen ist das große Idol der Zeit«, erklärte schon Friedrich Schiller. Darum ist eine große Kunst in der jetzigen Zeit nicht zu erwarten, denn Nützlichkeit ist das letzte, was sie hervorbringen kann. Auch das Genie ist keineswegs »nützlich«. Über die Bedingungen seines Schöpfertums wissen wir sehr wenig. Das echte Kunstwerk entstammt der Sphäre der Gefühle. Jedoch:

»Diese Kunst der Gefühle haben wir völlig verlernt. Zwar hat dieser Verlust die Entwicklung der Technokultur ermöglicht, wir sehen aber, daß wir ohne eine Kunst der Gefühle nicht weiterkommen, da nur diese unsere Personalität mit den Anforderungen der Zeit wird in Einklang bringen können. Unsere Technokultur hat eine fast unbeschränkte Macht über die Natur gewonnen, ... die Isolierung, die Entfremdung steigert sich immer mehr, die Kunst der Gefühle verkümmert. <Wir brauchen eine Rückkehr zur Vernunft im Sinne der Gefühlsbildung>.«378

 

Die Fabrikkultur ergibt keine Kunst. — Dies zeigt sich exemplarisch im kommunistischen Teil der Welt. Dort sähe man gern die industriellen Material­schlachten durch die Kunst gefeiert. Allerdings keinesfalls durch die »Anti-Kunst«, die statt der Verherr­lichung der Arbeitswelt Schauder und Angst verbreitet oder gar den sozialistischen Realismus ironisiert. Aber das ist in den westlichen Industrieländern nicht anders. Wie sollen in einer Welt der Sattheit, der sofortigen Triebbefriedigung noch Sublimation, romantische Liebe, Konflikte und Tragödien entstehen? Solche Voraussetzungen braucht aber der Künstler. Er benötigt die ganze Fülle der organischen Welt, nicht nur die des menschlichen Lebens, sondern der gesamten Natur.

Nur in den bewegten Zeiten der Geschichte und in den bewegten Zeiten eines Menschenlebens gedeiht die große Kunst, wie auch der Geist, wie auch der Glaube.

Lediglich in den ganz seltenen Fällen, wo die Not alle Kräfte des Menschen absorbiert, fehlen vielleicht der Kunst die materiellen Minimal­voraussetzungen. Für unsere Zeit ist die Feststellung Albert Schweitzers erwiesen, daß »die Kulturfähigkeit des modernen Menschen herabgesetzt ist, weil die Verhältnisse, in die er hineingestellt ist, ihn verkleinern und psychisch schädigen.«379

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Ein mathematisch organisiertes und ökonomisch denkendes Zeitalter wird nie und nimmer eine Blüte der Kunst und der Kultur hervorbringen. Die Ursachen werden sich im nächsten Kapitel noch deutlicher abzeichnen.

Für die Kultur gilt, wie für alle Lebensbereiche, daß unsere Bestimmung eine biologische ist und bleibt. Es ist eine höchst tröstliche Erkenntnis, daß die Kräfte des Lebens alles enthalten, was dem Menschen auf dieser Erde je an Erfahrungen zuströmen kann — auch alles, was er für seine Kunstwerke und für seine Dichtungen benötigt.

Im Zuge dieser Darlegungen stehen wir vor der Notwendigkeit einer weiteren Zurückstufung der Ökonomie. Wir sahen uns am Anfang genötigt, die Ökonomie unterhalb der Ökologie einzuordnen, da sie ohne die ökologischen Voraussetzungen weder entstanden wäre noch weiter existieren könnte. Nun müssen wir die Ökonomie auch noch unterhalb der Kultur ansiedeln, wobei wir unter Kultur vor allem die sakralen und künstlerischen Ausdrucksformen des menschlichen Geistes verstehen. Diese haben einen Bezug zum biologischen Geschehen, zu Geburt und Tod, zum Rhythmus der Jahreszeiten, zum Kosmos.

Der amerikanische Ökonom Herman Daly ist einer der wenigen seines Faches, der nach dem letztendlichen Ziel unseres Tuns und Wirtschaftens fragt. Unsere derzeitige Wirtschaft besteht in einer Anhäufung von Mitteln, die nicht mehr im Dienst eines letztendlichen Ziels stehen, sondern dieses gerade verfehlen, ja ihm einen schlechten Dienst erweisen.380

Von der religiösen Seite her hat Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika <Redemptor Hominis> im Jahre 1979 die Frage aufgeworfen:

»Macht dieser Fortschritt, dessen Urheber und Förderer der Mensch ist, das menschliche Leben auf dieser Erde wirklich in jeder Hinsicht <menschlicher>? Macht er das Leben menschenwürdiger? ... Stimmen alle diese Errungen­schaften, die bisher erreicht wurden oder von der Technik für die Zukunft geplant werden, mit dem moralischen und geistigen Fortschritt des Menschen überein? Entwickelt sich der Mensch als solcher in diesem Zusammenhang, macht er wirklich Fortschritte, oder fällt er zurück und sinkt in seiner Menschlichkeit nach unten? Überwiegt unter den Menschen, <in der Welt des Menschen>, die von sich aus das Gute und das Böse enthält, das Gute vor dem Bösen? Wachsen tatsächlich in den Menschen und untereinander die Nächstenliebe, die Achtung vor den Rechten des anderen — sei es der Einzelne, eine Nation oder ein Volk — oder nehmen vielmehr die Egoismen verschiedener Art und die übertriebenen Nationalismen anstelle einer echten Vaterlandsliebe zu sowie das Streben, andere über die eigenen legitimen Rechte und Verdienste hinaus zu beherrschen, wie auch die Tendenz, allen materiellen und wirtschaftlichen Fortschritt allein zu dem Zweck auszunützen, um die Vorherrschaft über andere zu besitzen oder diesen oder jenen Imperialismus zu fördern?«(381)

Wir befinden uns in Übereinstimmung mit bedeutendsten Geistern der Weltgeschichte und gegenwärtigen Beobachtern, wenn wir feststellen, daß der Mensch als geistiges und kulturelles Lebewesen in der uns bekannten Geschichte — zumindest seit den Griechen — kaum Fortschritte zu verzeichnen hat.

Und das ist vielleicht gerade einer der Gründe, warum er sich so fanatisch auf die Technik stürzte. Denn nur in der materiellen Welt gelang es dem Fortschritt, ein rasendes Tempo zu erreichen. Aber, so schrieb Winston Churchill im Jahre 1932: »Schließlich befriedigt dieser materielle Fortschritt, so glänzend er auch an sich ist, nichts von dem, was das Menschengeschlecht wirklich braucht.«359

Obwohl gewaltige Anstrengungen liefen und spektakuläre Erfolge verzeichnet wurden, ist das Ergebnis gleich Null, wenn wir an die wahren, die immateriellen Bedürfnisse unseres Daseins denken — wenn das Ergebnis nicht sogar negativ ist.

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Herbert Gruhl   Das irdische Gleichgewicht  Ökologie unseres Daseins