1.2 Der 3.000.000 Jahre dauernde Anlauf des Menschen
Wie die Natur die Wesen überläßt
dem Wagnis ihrer dumpfen Lust und
keins besonders schützt in Scholle und Geäst:so sind auch wir dem Untergrund unseres Seins
nicht weiter lieb; er wagt uns.Der deutsche Dichter Rainer Maria Rilke
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Wie schon gesagt, muß auch das Menschenkind im Mutterleib all die Stadien der über Milliarden Jahre dauernden Evolution in 270 Tagen durchlaufen. All die Billionen Schritte, die wir nie erklären können, die wir nicht einmal zu zählen vermöchten, sind zu wiederholen.
Denn mit jeder weiteren, das heißt komplizierteren Art, sind sie an Zahl unermeßlich angewachsen, bis sie im jetzigen Menschen ihren Endpunkt erreicht haben.
Das genetische Gedächtnis mußte also immer längere Zeiten und Entwicklungsschritte behalten können. »Die Rinde des menschlichen Großhirns bewahrt und konzentriert die ganze Lebensgeschichte des Organismus und seine Vorgeschichte«, sagte schon Max Scheler.69 1884 hatte Nietzsche in einem seiner Geistesblitze festgehalten: »Ich setze Gedächtnis und eine Art Geist bei allem Organischen voraus: der Apparat ist so fein, daß er für uns nicht zu existieren scheint.«70
Hundert Jahre später ist nun der Apparat in vielen seiner Teile bis in feinste Verästelungen freigelegt. Wenngleich längst nicht alles aufgeklärt ist, so kann doch die verwirrende Komplexität der organischen Welt und die jedes einzelnen Lebewesens fotografisch dargestellt, ja ausschnittweise in millionenfacher Vergrößerung in jeder Tageszeitung verbreitet werden.
Heute wissen wir, daß ein menschlicher Körper im Durchschnitt eintausend Quadrillionen (1027) Atome hat, also eine Zahl mit 27 Nullen. Wir wissen, daß täglich Milliarden Zellen absterben und durch neue ersetzt werden. Auf das Wunderwerk des Gehirns kommen wir noch.
Grundlage allen Lebens ist das Festhalten am Bewährten. Bedingung jeder Weiterentwicklung ist die Ungleichheit, denn jede erfolgreiche Veränderung wird mit vielen Fehlern bezahlt. Wenn Fehler aber ausgeschlossen wären, dann gäbe es keine Variationsmöglichkeit.
Da es in der Natur nur einen allmählichen Wandel gibt, werden wir für das »Auftreten des Menschen« nie ein genaues Datum nennen können. Mit drei Millionen Jahren — gleich 100.000 Generationen — wollen wir uns eher an die längeren Annahmen für seine Existenz halten. Es ist bereits schwer, den Unterschied zwischen Mensch und Tier zu definieren, auch wenn man die Intelligenz des Menschen als sein Hauptmerkmal ansieht. Diese definiert Konrad Lorenz als die Fähigkeit zum kurzfristigen Erkennen von wesentlichen Zusammenhängen innerhalb eines problematischen Sachverhalts und dessen angemessener Lösung.71
Wir werden weder eine Grenze zwischen uns und unseren tierischen Vorfahren festsetzen können, noch kennen wir bis heute den Zweig der Menschenaffen, von dem wir uns abgespalten haben. Sicher ist, daß die Erde vor 130 Millionen Jahren in drei Kontinente aufgespalten war, die so unterschiedliche Evolutionen durchmachten wie drei verschiedene Planeten: die nördliche Landmasse, Australien mit der Antarktis und Südamerika, das sich von Afrika abgetrennt hatte.
Die Entwicklung zum Menschen hin vollzog sich nur auf dem eurasisch-afrikanischen Kontinent. Dort hatten sich vielleicht in gefährlicher Umwelt Tierarten auf die Bäume geflüchtet, wo sie ihre Hände ausbilden mußten. Als sie es wagen konnten, wieder hinabzusteigen, hatten sie den Vorteil geschickter Hände, aber den Nachteil langsamer Füße. Den mußten sie mit ihrem Gehirn ausgleichen.
Wenn wir den aufrechten Gang als Kennzeichen ansehen, dann soll ihn schon der Ramapithecus vor 20 bis 15 Millionen Jahren geübt haben. Er war einen Meter groß, 25 bis 30 Kilogramm schwer und hatte Ähnlichkeit mit dem Pavian. Als Raubaffen nährten sich diese Wesen von Insekten, kleineren Säugetieren, Vögeln und Reptilien. Von den Sinnesorganen entwickelten sich vor allem Auge und Ohr, der Gebrauch der Hände erweiterte sich, das Gehirn wurde leistungsfähiger.
Im mittleren Afrika lebte um die gleiche Zeit der sogenannte <Proconsul>, den man als »Menschenaffen« bezeichnet, ein schimpansenähnlicher Vorfahre auch der heute in Afrika lebenden Affenarten. Daß die Schimpansen die nahesten Verwandten des Menschen unter den Affen sind, wird neuerdings durch die Molekularbiologie untermauert, welche die Erbinformationen der Lebewesen in der DNS vergleicht.
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Die Unterschiede zum Gorilla und zum Orang-Utan erwiesen sich als größer als die zum Schimpansen.72 Hatten die Baumbewohner fast ausschließlich von pflanzlicher Nahrung gelebt, so nahm während der Übergangszeit vom Tier zum Menschen, die etwa von acht bis drei Millionen Jahren vor unserer Zeit anzusetzen ist, der Verzehr von Tieren zu. Die täglichen 3000 Kilokalorien bestanden dann in der Altsteinzeit zu 2/3 aus pflanzlicher und zu 1/3 aus tierischer Herkunft.
In der Zeit von vier Millionen bis noch vor 1½ Millionen Jahren lebten drei verschiedene Arten des Australopithecus, deren Größe zwischen 1,20 und 1,55 Meter schwankte, bei einem Gewicht von 35 bis 70 Kilogramm. Es ist nicht geklärt, ob sie Nachkommen des Ramapithecus waren, und auch, ob sie zu den Vorfahren des Menschen gehören. Denn vor zwei bis einer Million Jahren lebte auch schon in Afrika der homo habilis, dessen Zugehörigkeit zu den Menschen ebenfalls noch umstritten blieb; er war nur 1,20 Meter groß, hatte aber schon 650 bis 800 Kubikzentimeter Gehirn. Beim homo erectus mit 1,70 Meter und dem Gehirnvolumen von 900 bis 1100 Kubikzentimeter ist das nicht mehr umstritten, dagegen seine Abstammung.
Die bedeutendsten Fundstätten liegen in Afrika, er war aber zwischen 1,9 und 0,7 Millionen Jahren v.Chr. über die gesamte alte Welt in ähnlichen Formen verbreitet. Mehrere Funde jüngeren Datums aus den Jahren 500.000 und 400.000 v. Chr. sind aus Java und China bekannt. Dieser »Peking-Mensch« kannte das Feuer und fertigte einfache Waffen und Werkzeuge an. Nahe Budapest fand sich ein 350.000 Jahre alter Schädel heutiger Gehirngröße. Bis nach Frankreich, Großbritannien und Nordeuropa lebte dieser »Steinheim-Mensch«, der bei seinem Hirnvolumen von 1150 Kubikzentimetern Steinmesser, Steinschaber, Holzkeulen und hölzerne, im Feuer gehärtete Lanzen benutzte.
In den letzten drei Millionen Jahren erfolgte eine Verdreifachung des Gehirnvolumens, die beim Neandertaler vor 60.000 Jahren abgebrochen wurde. Seine Größe lag bei 160 Zentimeter, das Gehirn war mit 1350 bis 1725 Kubikzentimetern eher größer als das des heutigen Menschen. Er besaß schon ausgeklügelte Werkzeuge. Von ihm gibt es Funde von der Nordsee über Palästina bis Zentralasien über den Zeitraum von 130.000 bis 30.000 Jahre vor Chr.
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Der homo sapiens hat heute ein Gehirnvolumen von 1300 bis 1800 Kubikzentimeter. Er lebte in ganz Afrika. Der mit 92.000 Jahren älteste Fund außerhalb Afrikas ist der am Karmel-Berg in Palästina. Ob die »Menschwerdung« in einer Linie erfolgte, wobei Afrika als Ursprungsland bevorzugt wird, oder ob sie in mehreren Linien und getrennten Regionen vor sich ging, ließ sich bisher nicht ermitteln. Es ist auch nicht geklärt, inwieweit und zu welchen Zeiten verschiedene der genannten Arten nebeneinander gelebt haben. Auf jeden Fall sind sie alle bis auf den homo sapiens verschwunden.
John Eccles meinte 1984 in einem Vortrag, daß diese Arten nicht »einfach so ausgestorben« seien, sondern in einem über Hunderttausende von Jahren geführten unerbittlichen Kampf auf Leben oder Tod vom homo sapiens ausgerottet wurden. Gegen solch »raffiniertere, aggressivere, effizienter kämpfende und tötende Verwandte, die unsere fernen Vorfahren waren«, hatten die anderen keine Chance.73
Eccles wird mit seiner Beschreibung recht haben, und es könnte durchaus sein, daß die Evolution zunehmend aggressivere Gattungen hervorbringt. Robert Ardrey faßte seine Erfahrungen zusammen:
»Niemand, der je mit Affen oder Menschenaffen zu tun hatte, kann ihren angeborenen Forscherdrang, ihre Unternehmungslust, ihre Neugierde leugnen. Drohungen und Bestrafungen zum Trotz wird untersucht, was immer ihnen unterkommt. Als der abenteuerlustige Primat des Miozäns — vielleicht ganz einfach aus Neugierde — zum Jäger wurde, vereinigte er in sich das erfahrungshungrige Erbe des Primaten mit den gewalttätigen Befriedigungen des Raubtiers ...
Jedenfalls haben wir durch viele Millionen Jahre unsere tägliche Befriedigung in der Gewalt gefunden. Wir haben angegriffen, sonst wären wir verhungert. Wir haben uns anatomisch und physisch an die Jagd angepaßt. Unser muskulöses Gesäß — im Gegensatz zu dem aller übrigen Primaten — gab uns die Kraft zu werfen, zuzustoßen, zu zerschmettern. Unsere abgeflachten Füße gaben uns Schnelligkeit und Ausdauer. Drüsen, deren Sekrete einst den scheuen Primaten zur Flucht bewogen, änderten sich und gaben uns die Fähigkeit anzugreifen.
Wir wurden Geschöpfe, die sich in jeder Beziehung für das erregende Leben der Gewalt eigneten. Bis vor 5000 Jahren gab es keine andere Möglichkeit zu überleben.«74
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»Der Mensch hat sich in der Eiszeit entwickelt«, schlußfolgert Carl Friedrich von Weizsäcker, »oder gerade in den klimatisch ungünstigen Gebieten der Erde, denn wir finden die prähistorischen Reste oft nahe der Grenze der noch bewohnbaren Gebiete. In diesen Jahrzehntausenden haben sich auch die drei verschiedenfarbigen Menschenrassen entwickelt, die noch heute sichtbar durch ihre Hautfarbe unterschieden sind.«75
Es wäre auch nicht falsch, den Menschen als »größten Parasiten der Natur« zu bezeichnen; doch was hilft diese moralisierend klingende Bewertung? Die Natur ist voller Parasiten, der wohlwollende Betrachter kann auch sagen voller Symbiosen. Man denke an die 100 Billionen Einzeller, die im menschlichen Körper leben. Diese verbrauchen für ihren eigenen sehr schnellen Stoffwechsel 30 Prozent der Energie, die wir unserem Körper durch Nahrung zuführen. Aber wir müssen sie »bewirten«, da wir ohne sie nicht leben könnten. Das sind die Prokaryonten, auf die wir bei der Entstehung des Lebens stießen; im Darm können sie sich innerhalb von 48 Stunden verhundertfachen.76
Wahr ist auf unserem Planeten nur das, was sich auf Dauer bewährt. Und unbestreitbar ist, »sämtliche tierisch-menschlichen Triebe haben sich bewährt, seit unendlicher Zeit, sie würden, wenn sie der Erhaltung der Gattung schädlich wären, untergegangen sein: deshalb können sie immer noch dem Individuum schädlich und peinlich sein — aber die Gattungs-Zweckmäßigkeit ist das Prinzip der erhaltenden Kraft.«76
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Jedenfalls hat die neue Gattung »Mensch« die vielfältigen Überlebensprüfungen bestanden, die ihr in der bisherigen Existenz auferlegt waren, wie die Millionen von anderen Gattungen, die ihre Vorläufer waren. Heute dürfen wir feststellen: wenn nicht 100.000 Generationen der Menschen vor uns »menschenunwürdig« gelebt hätten, dann wäre die heutige Generation gar nicht in die Lage geraten, immerzu nach einem »menschenwürdigen Leben« zu schreien. Von den unerbittlichen Gesetzen der Geschichte und der Natur ist der Mensch ebensowenig ausgenommen wie jedes andere Lebewesen.
Viele Wissenschaften sind seit Darwin zu gesicherten Kenntnissen über unsere eigene Naturgeschichte gelangt, und Bibliotheken sind darüber vollgeschrieben worden. Das heißt aber noch nicht, daß die Menschen diese längst nicht mehr zu bezweifelnden Ergebnisse in ihr Weltbild aufgenommen hätten.
Eine Befragung in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1989 ergab, daß 28 Prozent dem Schöpfungsbericht der Bibel vertrauen und 20 Prozent unschlüssig sind, obwohl die großen christlichen Gemeinschaften an diesem Dogma längst nicht mehr festhalten.
Nur 52 Prozent scheinen also überzeugt zu sein, daß der Mensch ein Ergebnis der Evolution ist.77 Die deutschen Fundamentalchristen halten ebenfalls an der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments fest.
Da die Deutschen nun nicht gerade zu den weniger gebildeten Völkern gehören, darf man davon ausgehen, daß eine erdrückende Mehrheit der Menschen der Welt nichts über ihre Herkunft weiß und wohl auch nicht wissen will.
In den USA beharren einige Bundesstaaten darauf, die Lehren Darwins aus dem Schulunterricht zu verbannen. In Athen demonstrierten 1989 mehr als 10.000 griechisch-orthodoxe Geistliche gegen ein Schulbuch, das Oberschülern die Evolution erklärt.78 Da waren die Hellenen vor 2500 Jahren schon bedeutend klüger.
Es ist für den Fortgang der Geschichte von entscheidender Bedeutung, ob der Mensch über seine Herkunft und die Bedingungen seines Daseins etwas wissen will oder nicht.
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Himmelfahrt ins Nichts von Herbert Gruhl 1992