1.3 Der 100.000 Jahre dauernde Anlauf des Denkens Gruhl-1992
Über unseren ganzen Planeten sind die Spuren und die Leistungen des Menschen verstreut, und für die meisten von uns gehört eine gewaltige geistige Anstrengung dazu, sich klarzumachen, daß diese Verteilung menschlicher Erzeugnisse auf weite Gebiete eine Angelegenheit der letzten 100.000 Jahre ist.
Der englische Schriftsteller Herbert George Wells
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Mit dem Menschen hat das nahezu vier Milliarden Jahre dauernde Abenteuer des Lebens seinen Höhepunkt erreicht. Diesem denkenden Wesen ist es gelungen, nicht nur seine eigene Geschichte, sondern auch die des Weltalls zu rekonstruieren. Wann der Mensch zu denken begann, ist eine Frage der Definition des <Denkens>.
Es gibt viele Tierarten, die auch schon in bestimmtem Umfang denken. Wir wissen das vom Delphin, von den Primaten ohnehin, von den Makaken in Japan, von Bibern, Ottern, Raubwanzen, Raben und Meisen. Allen genannten gelangen schon <Erfindungen>, die von ihren Artgenossen aufgegriffen und praktiziert wurden.79 Der griechische Philosoph Demokrit meinte sogar: »Die wichtigsten Fertigkeiten haben die Menschen von den Tieren gelernt: von der Spinne das Weben und Flicken, von der Schwalbe den Hausbau und von den Singvögeln den Gesang auf dem Wege der Nachahmung.«80
Da wir uns mit den genannten intelligenten Mitbewohnern der Erde nicht unterhalten können, sind wir auf unsere Beobachtungen angewiesen. Und da wir auch von unseren fernen Vorfahren nur die Skelette vor uns haben, müssen wir uns an die gefundenen materiellen Ergebnisse ihres Denkens halten, die hier und da Jahrzehntausende überstanden haben. Aus den gefundenen Schädeln können wir gut das Volumen des Gehirns errechnen; doch wäre es falsch, dessen Größe mit der Höhe der Intelligenz völlig gleichzusetzen, vor allem wenn wir daran denken, was die winzigen Gehirne der Insekten oder der Vögel leisten. Manche Anthropologen sind der Ansicht, daß die klassische Gehirnentwicklung bei den Vögeln ihren Endpunkt erreicht habe.81
Der Neandertaler hatte um die hundert Kubikzentimeter mehr Gehirn als der heutige Mensch im Durchschnitt; dennoch ist fraglich, ob er intelligenter gewesen ist. Die gefundenen Grabbeigaben bieten Hinweise auf Begräbnisrituale, deren Anzeichen auch schon bei Elefanten beobachtet wurden.82 Der Neandertaler, der noch vor 55.000 Jahren in Europa auftrat, benutzte einfache Werkzeuge und wird nach neuester Ansicht auch schon eine Sprache gehabt haben.83 Dennoch gelang es dem Neandertaler nicht, zu überleben.
Das Gehirn des homo sapiens — wie sich der gegenwärtige Mensch zu nennen beliebt, den manche Wissenschaftler sogar homo sapiens sapiens nennen — dürfte schon seit mindestens 200.000 Jahren das durchschnittliche Volumen von 1350 Kubikzentimetern erreicht haben. Für den darauf folgenden Stillstand in der Entwicklung gibt es keine Erklärung. Unser Gehirn enthält ca. 14 Milliarden (1410)* Nervenelemente (Neuronen). Jede Gehirnzelle ist mit mehr als einer Million anderer direkt verbunden. Das ergibt einige Dutzend Milliarden von Schaltelementen und noch mehr Verknüpfungen.84) Kein Computersystem erreicht eine solche Kompliziertheit auch nur im entferntesten.
Ob die Differenzierung in der vorgeschichtlichen Zeit nicht doch noch zugenommen hat, läßt sich nicht mehr ermitteln. Das unbegreifliche Wunder des Gehirns liegt also nicht in seiner Größe und den Milliarden von Zellen — denn das ergäbe nur ein Chaos —, sondern in der perfekten Organisation dieser Zentrale und ihres Zusammenwirkens mit dem Körper.
Die Forschungen der letzten Jahre über unser Immunsystem wiesen nach, daß auch dieses direkt vom Gehirn gesteuert wird. Ein dichtes Netz von Nerven Verbindungen, Gehirnbotenstoffen, Hormonen, Immunsignalstoffen sorgt dafür, daß ständig »Kriegsberichte« in beiden Richtungen, dazu noch über Querverbindungen laufen, um dementsprechende ganz akute Einsatzbefehle an die Truppen des Immunsystems erteilen zu können.85)
Die Neurologie hat in den letzten Jahren bestätigt, was der Philosoph Friedrich Nietzsche schon erkannte: »Nun ist alles Wesentliche der menschlichen Entwicklung in Urzeiten vor sich gegangen, lange vor jenen viertausend Jahren, die wir ungefähr kennen; in diesen mag sich der Mensch nicht viel mehr verändert haben.«86)
Das bestätigt sein Freund Jacob Burckhardt: »Weder Seele noch Gehirn der Menschen haben in historischen Zeiten erweislich zugenommen, die Fähigkeiten jedenfalls waren längst komplett! Daher ist unsere Annahme, im Zeitalter des sittlichen Fortschritts zu leben, höchst lächerlich.«87
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detopia-2005: ....und 10 h 14 = 100 Billionen.
Ist
letztendlich ja auch egal, denn ich habe schon lange nicht mehr soviele...
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Damit ist nicht geleugnet, daß in einzelnen Individuen Spitzenleistungen des Gehirns erreicht worden sind, die vor 100.000 Jahren vielleicht unmöglich gewesen wären. Zum Beispiel urteilte zu Beginn unseres Jahrhunderts ein englischer Wissenschaftler, dessen Name mir entfallen ist, daß Goethe wohl das am feinsten organisierte Gehirn gehabt habe, das die Menschheit je hervorbrachte.
Der entscheidende Schritt zum Menschen ist das Bewußtsein seiner selbst, die mögliche Vergegenständlichung der eigenen Person. Wir werden kaum jemals ergründen, wie weit bestimmte Tiere es vielleicht doch schon besitzen.
»Die Bewußtheit ist die letzte und späteste Entwicklung des Organischen und folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran. Aus der Bewußtheit stammen unzählige Fehlgriffe, welche machen, daß ein Tier, ein Mensch zu Grunde geht, früher als es nötig wäre... Wäre nicht der erhaltende Verband der Instinkte so überaus viel mächtiger, diente er nicht im Ganzen als Regulator: an ihren verkehrten Urteilen und Phantasieren mit offenen Augen, an ihrer Ungründlichkeit und Leichtgläubigkeit, kurz eben an ihrer Bewußtheit müßte die Menschheit zu Grunde gehen.«88
Dieses Bewußtsein hat dem Menschen eine neue Welt mit all ihren existentiellen Gefahren und großartigen Möglichkeiten eröffnet, aber von uns selber haben wir bis heute nur eine Art »gauklerischen Bewußtseins«.89
Mit wachsender Fähigkeit dieses und jenes selbst herstellen zu können, zog der Mensch die naheliegende Schlußfolgerung, auch alles Übrige müsse von irgend jemand »gemacht« worden sein. Doch von wem wohl?
Sicher von einem Gott oder mehreren Göttern. Und seit der Mensch zielbewußt handelt, lag der Gedanke nicht weit, daß auch alles sonstige Geschehen ein Ziel haben müsse, wobei es dem Gesetz von Ursache und Wirkung gehorche. Die Griechen sprachen später von einem Demiurg, einem Baumeister der Welt.
Doch dieser Ursprung der religiösen Vorstellungen scheint von heute aus betrachtet und damit etwas zu rational zu sein. »Alle Philosophen haben den gemeinsamen Fehler an sich, daß sie vom gegenwärtigen Menschen ausgehen«, meinte auch Nietzsche.90
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Daß die Steinzeitmenschen nicht nur über das Notwendige nachgedacht haben, beweisen ihre Wandmalereien, die besonders in Westeuropa vielerorts entdeckt worden sind. Sie stammen aus der Zeit von 40.000 bis 10.000 v.Chr. und werden den Cromagnon-Menschen zugeordnet, welche zu Beginn dieses Zeitraums nach Europa gekommen waren, während der Neandertaler ausstarb. Die Motive der Zeichnungen kreisen um den Kampf von Mensch und Tier, wobei es für beide um Tod oder Leben ging. Aus der späteren Zeit sind auch kleine Skulpturen von Mensch und Tier gefunden worden.
Das Studium sogenannter »primitiver Kulturen« beweist, daß gerade sie keineswegs der bloßen Nützlichkeit huldigten, sondern mit ihrer Kunst auch den alltäglichen Gebrauchsgegenständen eine »Bedeutung verliehen und auf deren Schönheit achteten. Jene Gesellschaften, deren Gewohnheiten noch in der Neuzeit bei vielen Stämmen in aller Welt studiert werden konnten, waren Kulturgemeinschaften.« Das Immaterielle beherrschte, trotz des Daseinskampfes, ihr Leben, worauf ich in meinem Buch <Das irdische Gleichgewicht>91 einging. Mit ihrer jeweiligen Sprache werden sich die Menschen eines Stammes wohl schon seit rund 100.000 Jahren verständigt haben. Doch ehe die Worte nicht auch in Schriftzeichen umgesetzt wurden, konnte uns nichts überliefert werden.
Wie die Totenkulte beweisen, bildeten sich jene Menschen Vorstellungen über das Jenseits des Todes. »Im Traume glaubte der Mensch in den Zeitaltern roher uranfänglicher Kultur eine zweite reale Welt kennen zu lernen; hier ist der Ursprung aller Metaphysik.«92 In den Träumen der Lebenden tauchen die Toten immer wieder auf, wie es der Indianerhäuptling Seattle noch 1854 in seiner berühmten Rede beschwor.93
In jenen Urzeiten waren die lebenden Generationen überzeugt, daß sie nur aufgrund der Opfer und Leistungen der Vorfahren existierten, was sie denen durch Opfer und Leistungen zurückzuzahlen hatten:
»Man erkennt somit eine Schuld an, die dadurch noch beständig anwächst, daß diese Ahnen in ihrer Fortexistenz als mächtige Geister nicht aufhören, dem Geschlecht neue Vorteile und Vorschüsse seitens ihrer Kraft zu gewähren. Umsonst etwa? Aber es gibt kein ›Umsonst‹ für jene rohen und ›seelenarmen‹ Zeitalter. Was kann man ihnen zurückgeben? Opfer (anfänglich zur Nahrung im gröblichsten Verstande), Feste, Kapellen, Ehrenbezeigungen, vor allem Gehorsam — denn alle Bräuche sind, als Werke der Vorfahren, auch deren Satzungen und Befehle —: gibt man denn je genug? Dieser Verdacht bleibt übrig und wächst: von Zeit und Zeit erzwingt er eine große Ablösung in Bausch und Bogen, irgend etwas Ungeheures von Gegenzahlung an den ›Gläubiger‹ (das berüchtigte Erstlingsopfer zum Beispiel, Blut, Menschenblut in jedem Falle).«
Und denkt man weiter,
»so müssen schließlich die Ahnherrn der mächtigsten durch die Phantasie der wachsenden Furcht selbst in's Ungeheure gewachsen und in das Dunkel einer göttlichen Unheimlichkeit und Unvorstellbarkeit zurückgeschoben worden sein: — der Ahnherr wird zuletzt notwendig in einen Gott transfiguriert. Vielleicht ist hier selbst der Ursprung der Götter, ein Ursprung also aus der Furcht!«94) (Nietzsche)
Die nur mündlich von Generation zu Generation weitergegebenen Mythen — wie bei den Indianern noch bis in die Gegenwart — berichteten von großen Heldentaten einzelner, die das Überleben der Horde oder des Stammes erkämpft hatten, worauf sie in Legenden mit der Vorstellung Gottes identisch wurden.
Je mehr der frühe Mensch zu phantasieren und nachzudenken begann, um so unheimlicher mußte es ihm werden, überall sah er böse Geister, die ihm nachstellten. Jacob Burckhardt sprach von »Religionen der Bangigkeit«, die »unheimlichen Kinderträumen« entsprechen.95 Darum brauchte der Mensch auch freundliche Phantasien über solche Geister oder Götter, die ihn hilfreich unter ihre schützenden Fittiche zu nehmen versprachen.
So entstanden die Religionen aus Träumen, die dann in zunehmend konkretere Formen gegossen wurden.
Eine sich verfestigende religiöse Lehre kommt über kurz oder lang in das Stadium, in dem sie behauptet, alles zu wissen. Aber dahin wird sie auch von ihren Anhängern getrieben, die es handgreiflich haben wollen, »weil alles Bestimmte ein Königsrecht hat gegenüber dem Dumpfen, Unsicheren und Anarchischen«, wie Jacob Burckhardt in seinen <Weltgeschichtlichen Betrachtungen> darlegte.96
In den perfekt durchorganisierten und zu guter Letzt auch alternden Religionen kommt die Furcht vor Verunsicherung auf. Darum dulden Religionen und auch Kulturen keine anderen Auffassungen neben den ihrigen, weil sie stets fürchten müssen, ihres Glaubens verunsichert zu werden.
Sobald der eigene Glaube nicht mehr alle überzeugt, ist sein Verfall nicht mehr aufzuhalten. Also darf man auch Irrtümer nicht aufgeben, sondern muß sie als Bestandteil der Lehre verteidigen.
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Die Weltgeschichte beweist uns: Als der Mensch zu denken anfing, begann er auch zu irren. Er wollte alsbald die Natur korrigieren und sogar seinen eigenen Körper. Bemalungen und Tätowierungen sind noch das Harmloseste. Schlimmer war es schon, wenn die Mütter in der Umgebung von Toulouse durch Einschnüren der Schädel Neugeborener erreichen wollten, daß sich der Kopf zu einer Art Zuckerhut formte. In China gab es die Mode, Mädchenfüße durch enges Schuhwerk zu »verschönern«, richtiger: zu verkrüppeln. Stämme in Afrika durchbohrten die Unterlippe mit einem Stück Holz. Man sieht schon an diesen wenigen Beispielen, daß derlei Abwegiges sich nicht nur auf einige Völker beschränkte.
Schwerer wiegende Eingriffe sind Beschneidung und Kastration und die geradezu wahnhafte Verstümmelung der Mädchen, die heute noch in Ägypten, Somalia und weiteren moslemischen Ländern üblich ist, worunter die armen Geschöpfe ihr ganzes Leben zu leiden haben.
Einige dieser Bräuche inspirierten den französischen Schriftsteller Charles Richet 1922 zu dem Buchtitel <Der Mensch ist dumm>. Als Höhepunkt menschlicher Verirrungen beschreibt er die göttliche Verehrung des Apis-Stiers bei den Einwohnern Kretas. Über ein Jahrtausend hätten diese Menschen geglaubt, daß der vorgeführte Stier ein leibhaftiger Gott sei, so daß sie sich vor ihm niederwarfen.
Wir brauchen jedoch nicht in die Ferne zu schweifen und auch nicht weit in der Vergangenheit zu graben, um auf die sogenannten »Hexenverbrennungen« zu stoßen. Diese haben jahrhundertelang Europa mit Brandgeruch erfüllt und bewiesen, daß der religiöse Wahn auch im »christlichen Abendland« zu schlimmsten Auswüchsen geführt hat.
Die Angst vor dem Tod und die bange Frage nach dem »Danach« trieb den Menschen von Anbeginn immer wieder auch in Verirrungen. Es konnte soweit kommen, daß die Beschäftigung mit dem Jenseits das Diesseits völlig überschattete wie schon in der ägyptischen Gräberreligion und in der späteren Verleidung des Erdenlebens im Christentum. Dennoch sah schon Jacob Burckhardt in der Religion eine Vorbedingung für alle Kultur.97
Nietzsche erklärt »alle metaphysischen und religiösen Denkweisen als Folge einer Unzufriedenheit am Menschen, eines Triebes nach einer höheren, übermenschlichen Zukunft ...«;98) es geht um »wissen wollen, wozu der Mensch da ist, sein Ziel, seine Bestimmung zu kennen«.99
Das ist die Konsequenz dessen, »daß man keinen Sinn, kein Wozu? aus der vorhandenen Welt zu entnehmen wußte«.100
Jacob Burckhardt sprach vom »ewigen und unzerstörbaren metaphysischen Bedürfnis der Menschennatur«. Die Größe der Religionen liege darin,
»daß sie die ganze übersinnliche Ergänzung des Menschen, alles das, was er sich nicht selber geben kann, repräsentieren. Zugleich sind sie die Reflexe ganzer Völker und Kulturepochen in ein großes Anderes hinein... Unmöglich ist es zu vergleichen, welcher Prozeß der größere gewesen: die Entstehung des Staates oder die einer Religion«.101
Dieses metaphysische Bedürfnis haben alle Völker und Zeiten, obgleich Anlagen und Schicksale der Völker sehr verschieden sind, und sie halten entschieden an der einmal ergriffenen Religion fest. Aufgrund solchen Beharrungsvermögens haben Kulturen, die wir heute »primitiv« zu nennen belieben, Jahrtausende, ja Jahrzehntausende überdauert. Einige würden regional weiterhin bestehen, wenn sie nicht von der gegenwärtigen Weltzivilisation ausgerottet worden wären.
Die Geschichte hat in vergangenen Zeiten einen unendlich langen Atem besessen, wogegen sie jetzt immer kurzatmiger wurde. Aber: »Wie die Geschichte hat das Leben nur deshalb Fortschritte gemacht ... weil es immer wieder verstanden hat innezuhalten.«102 Doch nach und nach begann sich das Tempo der Veränderungen zu steigern.
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Literatur
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Himmelfahrt
ins Nichts von Herbert Gruhl 1992