Bevölkerungsbuch       Start    Weiter

3  Die menschliche Zeitbombe   Haber-1973

 

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Als Teenager schon habe ich gern in den Lehrbüchern der theoretischen Physik geschmökert. Ich kam mir sehr bedeutend vor, vielleicht deshalb, weil ich den Inhalt nicht verstand. So habe ich mich vor allem immer wieder darüber gewundert, wieso bei so vielen Gleichungen, welche die Naturgesetze beschrieben, mit dem lapidaren «ist gleich Null» endeten. 

Die Gleichungen, die ich damals kannte und in der Sekunda gelernt hatte, endeten immer mit «ist gleich etwas». Wenn Null, das heißt, wenn gar nichts herauskam, so hatte das Resultat für mich damals wenig Sinn. Erst einige Jahre später, als ich meine Physik lernte, ging mir auf, daß man mit Gleichungen dieser Art die wichtigsten, eindringlichsten und auch schönsten Naturgesetze beschreibt. Immer dann nämlich, wenn eine Summe von Größen zu nichts aufgeht, handelt es sich um ein Gleichgewicht der Natur.

Ein schönes Beispiel dafür ist das berühmte Prinzip, das von dem französischen Mathematiker Jean-Baptiste Le Rond d'Alembert im Jahre 1743 veröffentlicht worden ist. Es ist eines der berühmten Prinzipien der theoretischen, das heißt der idealen Mechanik, und in mathemat­ischer Form lautet es einfach Summe K i = 0. Dem Sinne nach sagt das d'Alembertsche Prinzip aus, daß alle mechanischen Kräfte, die auf einen Körper wirken, sich gegenseitig aufheben, das heißt im Gleichgewicht sind.

Wollen wir das d'Alembertsche Prinzip einmal auf unsere Erde anwenden, über die wir ja zuvor schon Gleich­gewichts­betracht­ungen angestellt haben: Unser Planet schwebt im Weltraum und wird dabei von der sehr viel massenreicheren Sonne angezogen. Da unser Planet jedoch die Sonne in einer nahezu kreisförmigen Bahn umläuft, beobachten wir eine Zentrifugalkraft, die nach außen zieht. Es läßt sich nun zeigen, daß diese beiden Kräfte, die dauernd an der Erde zerren — nämlich die Anziehungskraft der Sonne und die Zentrifugalkraft ihrer Kreisbewegung —, einander genau die Waage halten. 

Wenn wir die Anziehungskraft der Sonne mit einem positiven Vorzeichen versehen, dann wird die Zentrifugalkraft, da sie nach außen zieht, negativ. Addiert man diese beiden Kräfte nach d'Alembert, so hat man das Resultat Null. Diesem Gleichgewicht der Kräfte übrigens verdanken wir die Permanenz der Erdbahn, und auch die Bahnen aller anderen Planeten und ihrer Monde unterliegen demselben Gesetz. Genauso wie zuvor ist es wieder ein Gleichgewicht, das für die Stabilität eines für uns sehr wichtigen Zustandes verantwortlich ist. 

 

Der französische Physiker Jean-Baptiste le Rond d'Alembert (1717-1783), der das nach ihm benannte Prinzip der Mechanik formuliert hat: Bei jedem statischen oder dynamischen Zustand eines Körpers befinden sich alle Kräfte, die auf ihn wirken, im Gleichgewicht. wikipedia  Jean-Baptiste le Rond d Alembert 

 

Als ich als junger Student zum erstenmal das Wesen des Gleichgewichts begriff, gelang mir ein entscheidender Schritt zum Verständnis der Natur.

Im vorangegangenen Kapitel haben wir nachgewiesen, daß alle jene wesentlichen Elemente, welche das Leben auf unserer Erde ermöglichen, ihr Entstehen und ihre Permanenz delikaten Gleichgewichten verdanken. Wenn alle die Naturkräfte, die ihre Wirkung entfalten, nicht so schön ausgewogen wären, so hätten wir kein Weltmeer, keinen Luftsauerstoff und kein erträgliches Klima auf unserem blauen Planeten. Wenn man sich die Dinge im einzelnen überlegt, so hängen unsere Existenz und das ganze Leben auf unserer Erde an einem seidenen Faden. 

Gewiß, die Gleichgewichte dieser riesigen Naturkräfte sind recht stabil, so daß wir uns eigentlich über den nächsten Tag den nächsten Sommer und das nächste Jahrhundert in der Naturgeschichte unseres Planeten weiter gar keine Gedanken machen. Wir nehmen das alles für selbstverständlich. In Wirklichkeit sind diese Gleichgewichte im Laufe der Erdgeschichte nicht immer so stabil gewesen, wie sie heute erscheinen. Wenn sich in dem großen Gleichgewicht der Naturkräfte Schwankungen ereignen, sprechen wir von «Katastrophen». Das Wort ist griechischen Ursprungs und bedeutet «Wende zum Schlechten». Auch steckt in dem Begriff die Plötzlichkeit eines unerwarteten Unglücks, wobei ein zuvor stabiles Element polternd und zerstörerisch zusammenbricht.

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In diesem Buch wollen wir eine Reihe von Änderungen in unserer Umwelt betrachten, welche durch den Menschen, seine stets wachsende Überzahl und durch seine Technik bereits verursacht worden sind. Sie nehmen schneller und schneller einen immer mehr bedrohlichen Charakter an, und es sieht so aus, als ob sie in nicht allzu ferner Zukunft Katastrophen verursachen würden. 

Gerade haben wir uns die Mühe gemacht zu erläutern, was eine Katastrophe ist. Diese Überlegung ist wichtig genug, um sie noch einmal zu wiederholen: Eine Katastrophe ist eine Schwankung, eine Störung oder sogar der Umsturz eines natürlichen Gleichgewichts auf unserem Planeten. Das ist der Grund, weshalb ich bisher so viel über den Begriff des Gleichgewichts gesprochen habe. Nur dann, wenn man diese wichtige Naturerscheinung begriffen hat, kann man auch abschätzen, was und wie groß eine Katastrophe ist.

Der Begriff des Gleichgewichts ist im Wesen so einfach, daß wir Naturwissenschaftler ihn in fast allen Fällen sehr gut erläutern können. Wir können mit relativ einfachen Mitteln zeigen, weshalb die Dinge so sind, wie sie sind. In dem Moment jedoch, in dem ein Gleichgewicht sich ändert, wenn es schwankt oder gar umstürzt, sind wir oft ratlos. Es fällt uns schwer, das Spiel der Kräfte zu verfolgen und zu überschauen, die dann eben zur Katastrophe, das heißt zum Umsturz des Gleichgewichtes geführt haben. Daran liegt es zum Beispiel, daß wir klassische Katastrophen in der Geschichte unseres Planeten wie etwa die Eiszeiten, nicht einwandfrei deuten können. Wir wissen, daß diese Katastrophen sich schon mehrmals in der Geschichte unseres Planeten ereignet haben; Astronomen, Geologen, Meteorologen, Ozeanografen, Klimatologen und Biologen jedoch haben sich bis heute noch nicht auf eine eindeutige Ursache für diese Klimakatastrophen in der Geschichte unserer Erde einigen können.

Daß man die Eiszeiten in der Tat als echte Katastrophen in unserem Sinn ansehen kann, zeigt sich aus einigen überraschenden Beobachtungen. So hat man in Sibirien tiefgefrorene Mammutkadaver gefunden, die noch unverdautes Grünzeug in ihrem Magen hatten. Diese gewaltigen Tiere sind offenbar von einem Schneesturm überrascht worden und erfroren. Im nächsten Jahr jedoch muß ein besonders kühler und kurzer Sommer geherrscht haben, da die Kadaver nicht mehr aufgetaut sind. Eine Folge von sehr strengen Wintern und kurzen kühlen Sommern muß dann dafür gesorgt haben, daß die letzte Eiszeit in der Tat an gewissen Stellen in einem bestimmten Jahr, ja sogar an einem bestimmten Tag begonnen hat. 

Bei einem solchen plötzlichen Klimasturz kann man in der Tat von einer Katastrophe sprechen. In den letzten zwei Millionen Jahren der Erdgeschichte haben sich etwa im Rhythmus von 500.000 Jahren vier große Eiszeiten ereignet, die durch sogenannte Zwischeneiszeiten voneinander getrennt waren. Während dieser milden Zwischenperioden war das Klima ungefähr so wie heute, ja gelegentlich sogar noch wärmer. 

Die letzte Eiszeit hat der Mensch sogar noch erlebt, da sie erst vor etwa 25.000 Jahren zu Ende gegangen ist. Ja, es gibt sogar eine Reihe von Anthropologen und Psychologen, welche die Eiszeit für die schnelle Entwicklung der menschlichen Intelligenz verantwortlich machen. Die schnelle Klimaverschlechterung hätte ihn gezwungen, sich mit der Waffe seiner Intelligenz im Dasein zu behaupten.

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Wenn wir das Klima der letzten zwei Millionen Jahre überschauen, sieht es so aus, als ob auch unsere heutige geschichtliche Epoche in einer Zwischeneiszeit läge. Wir wissen nicht, wann wir damit rechnen müssen, daß das Klima wieder katastrophal umstürzt und wir in die nächste, die fünfte Periode der Eiszeiten der jüngeren Erdgeschichte eintreten.

Wenn man sich diese Überlegungen vor Augen hält, werden die Ursachen einer Eiszeit zu einer überaus spannenden Frage, und gerade mit einer Antwort liegt es im argen. 

Man hat Schwankungen in der Sonnenstrahlung dafür verantwortlich gemacht, da nur wenige Prozent in der Änderung der Energiezulieferung schon ausreichen, die mittlere Temperatur der Erde um ein paar Grad herabzusetzen und damit eine Eiszeit zu verursachen. Diese Strahlungsänderungen könnten in der Sonne selbst liegen; es könnte aber auch sein, daß periodische Schwankungen der Bahn unseren Planeten für Hunderttausende von Jahren jedes Jahr weit von der Sonne wegtreiben lassen, so daß die kürzeren Sommer das während der langen Winter aufgestaute Eis nicht mehr wegschmelzen können. Hunderttausende von Jahren später wird die Erdbahn wieder kreisförmiger, so wie sie heute ist, mit dem Resultat eines im Mittel milderen Klimas.

Auch Veränderungen in der Zusammensetzung unserer Atmosphäre können die Temperatur schwanken lassen. So läßt sich zeigen, daß nur eine geringe Änderung des Kohlendioxydgehalts in unserer Atmosphäre, der eher weniger als ein halbes Promille der Luftmasse ausmacht, die mittlere Temperatur der Erde erstaunlich stark beeinflussen kann. 

Darüber werden wir später noch sprechen, wenn wir die möglichen Folgen der industriellen Verbrennung von Kohle und Öl während der letzten hundert Jahre auf das Klima der Erde betrachten müssen. Wie dem auch sei, die Eiszeiten sind ein typisches Beispiel für Störungen des harmonischen Gleichgewichts unseres Planeten, die wir heute bündig noch nicht deuten können.

 

 

Wenn wir zuvor eine Katastrophe als den Umsturz eines Gleichgewichts der Natur gekennzeichnet haben, so gibt es dafür ein dramatisches Beispiel. 

Im ersten Kapitel haben wir davon gesprochen, daß die Strahlung der Sonne auf einem delikaten, ja man kann sogar sagen raffinierten Gleichgewicht beruht. Der Sonnenkern, in dem nukleare Energie frei wird, ist — wie die lange Geschichte der Sonne lehrt — stabil. Dennoch gibt es im Leben eines Sternes Ereignisse, bei denen dieses solare Gleichgewicht innerhalb weniger Stunden einstürzen kann. Dabei bricht auch der Stern zusammen, und mit einer gewaltigen Explosion von Licht und Strahlung, die weite Strecken des Weltalls durchrast, wird eine echt kosmische Katastrophe größten Ausmaßes kundgetan. Irgendwann in der Zukunft unserer Sonne wird das auch einmal passieren. 

Dann freilich kommt es zu einem ganz kurzzeitigen katastrophalen Ende des gesamten Lebens auf unserer Erde. So groß und für uns Menschen unvorstellbar diese kosmischen Katastrophen sind, so selten sind sie auch, ja, so selten, daß wir sie in unseren menschlichen Zeitmaßstäben eigentlich überhaupt nicht zu beachten brauchen.

Diese globalen und kosmischen Störungen des Gleichgewichts und die damit verbundenen großen Katastrophen sind für uns und unsere Kinder und Enkelkinder eigentlich nicht von Belang. Dafür sind sie zu selten oder sie kommen so langsam, daß sie sich innerhalb von wenigen Generationen kaum fühlbar machen.

 

Nun gibt es noch eine andere Art von Gleichgewichtsstörungen, das heißt von Katastrophen: biologische Katastrophen.

Diese sind für uns Menschen auch innerhalb weniger Generationen, ja sogar in einer Generation sehr aufregend, da wir selbst ein Teil der Biosphäre sind. Sie sind sehr spannend, interessant, wichtig, ja sogar lebensentscheidend für uns Menschen, da eine ganze Reihe von ihnen durch uns selbst verursacht worden sind oder noch verursacht werden. Für das Wissenschaftsgebiet, das sich mit Gleichgewichtszuständen in der Lebenssphäre befaßt, gibt es schon seit langem einen Namen: Ökologie. Auch für den Raum, in dem das Gleichgewicht der Lebenssphäre ruht, gibt es schon seit Jahrzehnten eine Bezeichnung, die von dem deutschen Biologen Jakob Johann von Uexküll stammt. Es ist ein Wort, das dieser Tage sehr modern geworden ist: Umwelt. Da wir Menschen in den letzten Jahrzehnten damit begonnen haben, unsere eigene Umwelt zum Schlechteren zu verändern, das heißt schon fast katastrophal umzugestalten, ist der Begriff Umweltschutz heute so wichtig geworden.

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Unsere Erde ist ein so lebensfreundlicher Planet, daß sich auf ihm im Laufe der letzten zwei Milliarden Jahre eine fast unüberschaubare Anzahl von Lebensformen entwickelt hat. Alle diese Arten freilich müssen sich die Erde teilen, wobei sie sich gegenseitig laufend Konkurrenz machen. Im Schnitt besteht zwischen den einzelnen Arten eben wieder ein Gleichgewicht, das sich durch die Bevölkerungszahl der einzelnen Arten ausdrückt. Die Gesetze dieses ökologischen Gleichgewichts, soweit es die Bevölkerungszahl der einzelnen Arten betrifft, sind knallhart. Deshalb spricht man ja auch vom Lebenskampf der Kreatur und von dem grausamen Gesetz des Fressens und Gefressenwerdens. Über lange Zeiten hinweg ist es der Natur immer gelungen, die Waage des Lebens wieder ins Gleichgewicht zu bringen, auch wenn sie gelegentlich ins Taumeln kam. 

Am besten ist es, wenn wir dafür ein ganz typisches Beispiel heraussuchen.

 

Das Ausmaß der Vereisung der Nordhalbkugel während der maximalen Phase der letzten Eiszeit. Außerhalb des zusammenhängenden Eisschildes sind auch die höheren Gebirge weiter südlich stark vergletschert.

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Die berühmten Inseln der Südsee sind fast ausnahmslos von gewaltigen Korallenbarrieren umringt. Korallen sind niedere Tiere, die zu den Hohl- oder Pflanzentieren gehören. Sie leben in winzigen Kalkhöhlen, die sie selbst durch Ausscheidung aus ihrem Körper aufbauen. Aus diesen Kalkskeletten bilden sich nach Hunderttausenden von Korallengenerationen ganze unterseeische Gebirge, die bis zur Wasseroberfläche reichen. Diese biologischen Gesteinsformationen sind sehr hart und dadurch imstande, dem jahrtausendelangen Angriff der Brandung zu widerstehen. Hinter dem Schutz dieser natürlichen Brandungsbarrieren gedeihen dann die paradiesischen Atolle der Südsee mit ihren zauberhaften Lagunen.

Da die Korallen Lebewesen sind, eignen sie sich als Futter, und es wäre erstaunlich, wenn sich im Laufe der Jahrmillionen nicht Tiere entwickelt hätten, die sich auf diese Diät spezialisierten. Einer der größten Feinde der Korallen ist ein vielarmiger großer Seestern, der wegen seiner vielen giftigen Stacheln den poetischen Namen «Dornenkrone» trägt. Ein ausgewachsener Seestern dieser Gattung hat einen Durchmesser von einem halben Meter, 14 bis 18 Arme und ist imstande, pro Monat fast einen Quadratmeter Korallen abzugrasen. 

Diese Todfeinde der Korallen jedoch haben keine große Chance, sich übermäßig zu vermehren. Jeder weibliche Seestern dieser Art legt zwar in seinem Leben viele Millionen Eier, die jedoch — zusammen mit den kleinen bereits ausgeschlüpften Larven — ihrerseits von den Korallen eifrigst aufgefressen werden. Nur etwa ein Exemplar unter vielen Millionen hat daher im Korallenmeer die Chance, sich zu einem ausgewachsenen Seestern zu entwickeln. Mit diesen zwar grausamen, aber sehr fein ausgewogenen Lebensverhältnissen sind Korallen und Dornenkronenseesterne seit vielen Millionen von Jahren miteinander ausgekommen.

In den letzten zehn Jahren ist in der Südsee dieses Gleichgewicht zugunsten der Seesterne umgestürzt. Hunderttausende von Seesternen grasen die Korallen­felsen der Südseeinseln vor Guam, Tahiti, den Tonga-Inseln, ja sogar in dem riesigen australischen Korallenriff vor der Nordost-Küste des fünften Kontinents ab. Sie hinterlassen tote Korallenriffe, die alsbald von schleimigen Algen bedeckt werden und jungen Korallen keine Chance mehr geben, sich neu anzusiedeln. Diese Bevölkerungsexplosion bekommt den Seesternen selbst letzten Endes überhaupt nicht. Sie haben sich an vielen Stellen bereits aus Haus und Hof gefressen, und zwar unter Hinterlassung eines unterseeischen Trümmerhaufens. Mittlerweile wird der unablässigen Brandung nichts mehr entgegengesetzt. Die toten Korallenriffe werden langsam niedergeschlagen, und die paradiesischen Inseln der Südsee sind heute nach einer Existenz von Millionen Jahren gefährdet. Was ist da passiert?

Biologen, Ozeanographen und Ökologen rätseln schon seit langer Zeit daran herum, wieso dieses schöne Gleichgewicht zwischen Korallen und Seesternen innerhalb so kurzer Zeit zusammenbrechen konnte. Zwei Gründe hat man dafür verantwortlich gemacht. Auf der Koralleninsel Guam zum Beispiel wurden während des Krieges zur Schaffung einer Hafeneinfahrt große unterseeische Sprengungen durchgeführt, die weite Strecken von Korallenriffen niedergelegt und entvölkert haben.

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In diesen Bereichen fanden dann die Eier und Larven der Seesterne keinerlei Korallen mehr vor, die sie etwa aufgefressen hätten. Es waren dann viel zuviele Seesterne, die bis zur Reife heranwuchsen und sich auf die noch lebenden Korallenfelsen stürzten. Innerhalb weniger Jahre haben sie sich um die halbe Insel Guam herumgefressen und haben im Westen und Norden der Insel einen Korallenfriedhof hinter sich gelassen. Nur eine Großaktion, bei der Hunderttausende von Seesternen von Tauchern getötet wurden, haben es verhindert, daß der gesamte Korallenring um die Insel Guam zerstört wurde.

Für die Seesternpest am großen Korallenriff Australiens machen Meeresbiologen die Rücksichtslosigkeit von Schneckensammlern verantwortlich. Die ausgewachsenen Seesterne nämlich haben einen Erzfeind: die riesige Seeschnecke Tritonshorn. Diese hat ein herrliches Schneckenhaus, das unter Sammlern höchst begehrt ist. Unzählige dieser Großschnecken sind in den letzten Jahrzehnten gesammelt worden, und durch diesen Eingriff des Menschen in das Gleichgewicht der marinen Population hat sich der Dornenkronenseestern vor Australien über jene kritische Gleichgewichtsgrenze hinweg vermehrt. Auch dort vertilgt er jetzt schneller die Korallen, als diese ihm seine Jungen wegfressen können. Das Resultat ist auch hier wieder ein vom Menschen umgestürztes Gleichgewicht.

Obwohl die Dornenkronenseesterne im Schnitt sechzehn Arme und wir Menschen nur deren zwei besitzen, so können wir uns dennoch die Hände reichen. Uns Menschen ist nämlich dasselbe passiert. Auch in unserer Bevölkerung ist das Gleichgewicht, das seit Zehntausenden von Jahren bestanden hat, etwa in den letzten hundert Jahren eingestürzt. Auch wir leiden unter einer Bevölkerungsexplosion. Wir haben alle eine Ahnung davon und hören es auch immer wieder, daß die Zahl der Menschen in den letzten Jahrzehnten sehr steil zugenommen hat. Auch ist die technische und zivilisatorische Aktivität des Menschen in den letzten Jahren sehr stark angestiegen. Wie erschreckend jedoch die Zunahme der Menschen auf unserer Erde ist, machen wir uns selten klar, obwohl die Zahlen jedem zugänglich sind. Mit der Entwicklung der Menschheit auf der Erde sieht es so aus:

Zur Zeit Christi Geburt lebten etwa 250 Millionen Menschen auf der Welt. Es hat fast zwei Millionen Jahre gedauert, bis diese Bevölkerungsdichte erreicht war. Am Anfang ist die Menschheit der Anzahl nach nur sehr langsam vorangekommen, da die Zahl der Geburten der Zahl der Todesfälle praktisch immer fast die Waage hielt. Das Gesetz von d'Alembert war im Schnitt fast genau erfüllt. Einige Menschengattungen, wie etwa die Neandertaler und die Cro-Magnon-Rassen, sind sogar ausgestorben. Dann hat es ungefähr 1650 Jahre gedauert, das heißt bis zum Jahr 1650, bis sich die Weltbevölkerung auf 500 Millionen verdoppelt hatte. 

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Schon zu Christi Geburt gab es recht viele Menschen auf der Erde, und damals kam alle vier Sekunden ein neues Kind zur Welt. Das läßt sich leicht berechnen, wenn man bedenkt, daß die Geburtenzahl etwa drei Prozent der Bevölkerung ausmachte. Allerdings war damals die Sterblichkeit, besonders die Kindersterblichkeit, noch sehr hoch, so daß im Schnitt etwa auch alle vier Sekunden ein Mensch starb. Der Zeitunterschied zwischen Geburten und Todesfällen war so klein, daß es etwa sechs Minuten gedauert hat, bis die ganze Menschheit um eine Person zugenommen hatte. Man kann abschätzen, daß sich damals die Menschheit etwa um hunderttausend Individuen pro Jahr vermehrte. 

Diese Zahl ist dann im Lauf der Jahrhunderte etwas angestiegen, so daß es dann schließlich im Jahr 1650 etwa 500 Millionen Menschen auf der Welt gab. Im Jahr 1830 waren es jedoch schon eine Milliarde Menschen, die gleichzeitig auf der Erde lebten. Die Verdoppelungszeit hat sich also von 1650 bis 1830 auf 180 Jahre verkürzt. Bereits hundert Jahre später, das heißt im Jahr 1930, waren es zwei Milliarden. Ich erinnere mich noch gut — ich war damals in der Unterprima, als die Zwei-Milliarden-Grenze der Weltbevölkerung überschritten wurde. Bereits 45 Jahre später, das heißt im Jahr 1975, werden es wieder doppelt so viele Menschen sein, nämlich vier Milliarden. Heute, im Jahr 1973, da ich diese Zeilen schreibe, beträgt die Weltbevölkerung nämlich drei Milliarden und 850 Millionen. In den nächsten zwei Jahren, das heißt bis zum Jahr 1975, werden noch etwa 150 Millionen dazukommen. Ergebnis: Vier Milliarden. Das ist ungeheuerlich.

 

Wie war es doch zu Christi Geburt? Damals nahm die Weltbevölkerung im Jahr etwa um hunderttausend Menschen zu, und es dauerte jeweils sechs Minuten, bis ein neuer Mensch dazukam. Heute werden im groben Schnitt in jeder Sekunde drei Menschen geboren, und nur einer stirbt, das heißt, daß sich die Menschheit in jeder Sekunde um zwei Personen vermehrt. Da ein Jahr 31 ½ Millionen Sekunden lang ist, bedeutet das, daß die Menschheit zur Zeit im Jahr um über 70 Millionen wächst. Das entspricht etwa der Bevölkerung der Bundesrepublik. Außerdem heißt das, daß sich die Menschheit alle drei Jahre um die gesamte Bevölkerung der Vereinigten Staaten von Amerika vermehrt. 

Und mit diesen erschreckenden Zahlen stehen wir, was die nächsten Jahrzehnte angeht, nur am Anfang. Seit Christi Geburt hat sich die Verdoppelungszeit der Menschheit laufend verkürzt: Von 1650 über 180 und dann 100 und schließlich auf 45 Jahre. Was heißt denn das? Demnach werden im Jahr 2005 acht Milliarden Menschen auf der Erde leben: wiederum doppelt so viel wie im Jahr 1975. Gleichzeitig wird sich die Zuwachsrate fast verdoppelt haben. Um das Jahr 2000 wird die Menschheit pro Jahr nicht um 75 Millionen, sondern um erwartungsgemäß 130 Millionen zunehmen.

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Es gibt Gründe anzunehmen, daß die Zuwachsrate nicht mehr so schnell zunehmen wird, wie vielleicht jetzt. Bevor jedoch eine 1975 zu erwartende Abnahme des Geburtenüberschusses der Erdbevölkerung eintreten wird, muß die Weltbevölkerung in der ersten Hälfte des nächsten Jahrhunderts auf 15 oder vielleicht sogar 20 Milliarden anwachsen. Es liegt auf der Hand, daß bei einer derartigen Bevölkerungsexplosion die Gattung homo sapiens sehr bald unter unvorstellbaren katastrophalen Umständen gegen eine Mauer rennen muß.

Nehmen wir einmal das Jahr 2000.  

Die Bevölkerungen Afrikas, Südamerikas und Asiens (unter Ausschluß der Sowjetunion und Japans) wachsen sehr viel schneller als die Bevölkerungen der hochindustrialisierten Länder wie Europa, Nordamerika, Sowjetrußland und Australien. Im Jahr 2000 werden die unterentwickelten Länder fast 80 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Es liegt auf der Hand, daß diese bis dahin auf fast sechs Milliarden angeschwollene arme Menschheit einen gewaltigen Druck ausüben wird auf die restlichen 1½ Milliarden, die bis dahin fast 90 Prozent der Naturschätze und der Energievorräte des Planeten für sich beanspruchen werden. 

Das sind absolute Katastrophenzahlen, und bis zur Erreichung dieser Zustände sind es nur noch knapp 30 Jahre. Etwa Dreiviertel der heute lebenden Menschen und eine etwa noch einmal so große Zahl der bis dahin geborenen Nachkommen werden im Jahr 2000 dieser Situation gegenüberstehen.

Oft hört man die naive Meinung, daß der Mensch sich durch Kriege ja laufend dezimiere und dadurch seine Überzahl in Schach hielte. Ein paar Zahlen zeigen, wie völlig abwegig solche Ansichten sind. Der Zweite Weltkrieg war mit fast 30 Millionen Opfern mit Abstand die größte Kriegskatastrophe in der Geschichte der Menschheit. Während der sechs Jahre von 1939 bis 1945 sind also 30 Millionen Menschen vorzeitig gestorben. In der gleichen Zeit jedoch betrug die Zuwachsrate der Weltbevölkerung pro Jahr etwa 40 Millionen. Am Ende des Zweiten Weltkrieges war die Weltbevölkerung daher um etwa 200 Millionen größer als zu Beginn dieses Krieges.

Eine Katastrophe, zumindest jedoch gewaltige Probleme und große Opfer der Menschheit für das Leben im Jahr 2000 sind heute schon nicht mehr zu vermeiden. Bedenken wir einmal: Mindestens drei der heute lebenden vier Milliarden Menschen werden die Jahrtausendwende erleben. Es ist überhaupt nicht damit zu rechnen, daß die etwa eine Milliarde Ehepaare, die während der nächsten fünfundzwanzig Jahre fruchtbar sein werden, auf Kinder verzichten. Wenn wir nur mit zwei Kindern pro Ehe rechnen — und das ist sehr konservativ —, so kommen wir für das Jahr 2000 eben so oder so auf eine Bevölkerung von mindestens sechseinhalb Milliarden.

Diese bis zur Jahrtausendwende unvermeidlich anwachsende Menschenlawine läßt eine ausreichende Versorgung mit Nahrung und Energie fast aussichtslos erscheinen. Schon für die Erhaltung der heute lebenden Menschen haben wir riesige Löcher in den Vorrat unserer Naturschätze gerissen. Auch werden wir heute schon mit dem Abfall unserer Industrie und Landwirtschaft nicht mehr fertig. Die wenigen Maßnahmen, die heute ergriffen worden sind, reichen vielleicht noch nicht einmal aus, die bisher bereits angerichteten Schäden wiedergutzumachen. 

Was muß denn dann alles in Zukunft geschehen? 

Mit dem Umsturz des Gleichgewichtes seiner eigenen Bevölkerung droht der Mensch nun auch das Gleichgewicht des ganzen Planeten umzureißen.

Nur größte und sofortige Anstrengungen können uns helfen, da wir auf einer menschlichen Zeitbombe sitzen, die einer baldigen Explosion unauf­haltsam entgegentickt.

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Heinz Haber  1973