Ernst Hass

Des Menschen
Thron wankt

1955

Eine naturwissenschaftliche
Kritik des modernen Lebens

 

1955 im Verlag Bruckmann,
München, 250 Seiten

Ernst Hass (1955) Des Menschen Thron wankt - Eine naturwissenschaftliche Kritik des modernen Lebens

1955  250 Seiten

*1909 bis 1977 (68)

DNB  Thron 

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detopia:

Umweltbuch

H.htm    Sterbejahr

Dreyhaupt-Lesebericht

Bodo-Manstein-1961

 

1962

Ernst Hass

Die Chance

Politik als angewandte Wissenschaft vom Menschen

1962 im Verlag Olzog, München, 253 Seiten

dnb Buch  

bing Buch

 

   Lesebericht von Prof. Dreyhaupt, 2008 

Dr. med. Ernst Hass (1909-1977) war ein Arzt, Chirurg, aus Leidenschaft. Während des gesamten Zweiten Weltkriegs diente er als Stabsarzt in Feldlazaretten und hat dort Tausende Operationen an verwundeten Soldaten vorgenommen. Von 1949 bis zu seiner Pensionierung 1974 war er Chefarzt am städtischen Krankenhaus in Dorfen, wo er auch von 1972 an zwei Jahre dem Stadtrat angehörte; denn er war an gesellschaftlichen und politischen Themen stark interessiert. Er war ein engagierter Gegner atomarer Waffen. Als Autor ist er mit 2 zeitkritischen Büchern hervorgetreten.

Dem 1955 erschienenen Buch "Des Menschen Thron wankt" (12) folgte 1962 ein weiteres mit dem Titel "Die Chance" (12a), das mit dem aufklärenden Untertitel versehen ist ‘Politik als angewandte Wissenschaft vom Menschen’, in dem er auch einige der 1955 schon angerissenen Themen wieder aufgreift. Hass ist insgesamt gesehen ein etwas aggressiver Autor, der auch seine unorthodoxen Meinungen so vertritt.

Der Verleger des Buches "Die Chance", Günther Olzog, hat im März 1962 einen Brief an Dr. Hass geschrieben und diesen statt eines Vorworts in "Die Chance" aufgenommen, der für sich spricht:

"Ihr Manuskript <Die Chance> werde ich veröffentlichen. Wir haben uns eingehend über Ihre Gedanken unterhalten. Sie wissen, dass ich manche der von Ihnen angeschnittenen Fragen, ja sogar die meisten, von einem völlig anderen Standort aus beurteile. Wohl deswegen, aber teilweise auch infolge unterschiedlicher Bewertungs­momente kann ich da und dort Ihren Schlussfolgerungen nicht zustimmen. Ich verlege dieses Buch dennoch, weil ich mich davon überzeugt habe, wie ernst es Ihnen um die von Ihnen dargelegten Probleme ist und weil ich es für richtig halte, wenn sich ein politischer Verlag darum bemüht, alle ehrlich vertretenen Meinungen seinem Leserkreis zum Nachdenken, zum Überprüfen der Eigenargumente oder zur Diskussion anzubieten. ....."

Dieses ‘Vorwort’ könnte auch schon für Hass’ erstes Buch gelten, obwohl er sich dort erst ganz am Ende der Politik und den Politikern nähert. Hass war eben ein kämpferischer Mediziner, der etwa gleichzeitig mit der Mitunterzeichnung des <Gemeinsamer Aufruf von Internationalen Atomgegnern> zu Ostern 1962 - ‘Atomwaffen dienen nicht dem Frieden’ - sein zweites Buch "Die Chance" veröffentlicht hat. Und den Aufruf haben damals auch so namhafte Wissenschaftler wie Albert Schweitzer, Linus Pauling und Bertrand Russell mitunterzeichnet.

In der Einleitung seines Buches "Des Menschen Thron wankt" macht Hass deutlich, um was es ihm geht:

"Längst gibt es eine philosophische, viel zu kurz erst eine biologische Anthropologie. Die Sozial-Anthropologie aber, deren Aufgabe es ist, die biologischen Gesetze der menschlichen Gemeinschaften zu erforschen, die Daseinsfragen nicht des einzelnen Menschen, sondern die der Menschheit zu klären, sie blüht noch ganz im Verborgenen, kennt selbst noch kaum die eigenen Grenzen, kaum die eigene Macht, wartet bisher vergeblich darauf, dass ihr Institute gebaut und Aufgaben gestellt werden. Wie wir sehen werden, könnte sie aber trotzdem auch heute schon einen sinnvollen Einfluss auf viele unserer Verhaltensweisen ausüben, sofern wir uns nur die Mühe machen wollten, auf ihre Denkungsart einzugehen und ihre Ratschläge zu befolgen.

Für beides soll mit dieser Schrift geworben werden, und zwar wollen wir in ein paar einleitenden Kapiteln zunächst einmal von allgemeinen naturwissenschaftlichen Grundlagen einer biologischen Betrachtungs­weise aktueller Menschheitsfragen sprechen. ..... Dann werden ganz zwangsläufig alle möglichen Besonderheiten unserer bisherigen Lebensführung in einem neuen Licht erscheinen, und die grundsätzliche Diskrepanz, die zwischen ihnen und den Grundgesetzen der Natur zum Vorschein kommen wird, muss mit aller Deutlichkeit aufgezeigt werden. Es mag zwar oft als revolutionäres Niederreißen imponieren, was in Wirklichkeit nur logische Schlussfolgerung aus unangefochtenen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ist.

Dem Verfasser liegt daran, hier nicht missverstanden zu werden. Denn es müsste ja tödlichen Stillstand bedeuten, würden nicht immer wieder einmal alle unsere Wertmaßstäbe in Frage gestellt. Brachten doch seit Menschengedenken alle neuen Lebensformen auch eine neue Moral mit sich! Pflichten und Rechte des Einzelnen ändern sich deshalb von Generation zu Generation. Jeder Umbruch alter Daseinsformen bewirkt aber natürlich gewisse Spannungen - und wer möchte bestreiten, dass gerade unser heutiges soziales Leben förmlich aus Unausgeglichenheiten und Unstimmigkeiten besteht?"

Man könnte meinen, hier habe ein früher 68er begonnen, seine revolutionären Gedanken zu sammeln. Aber Hass hat ja im Prinzip gar nicht so Unrecht gehabt, wie unsere heutige Zeit lehrt. Hass beschränkt sich dann:

"Im Folgenden sollen also ungelöste sozial-anthropologische Fragen behandelt werden. ... Hier in diesem Rahmen muss es genügen, eine beschränkte Anzahl einschlägiger Fragen, an denen heute auch denkende Menschen noch achtlos vorübergehen, zur Größenordnung der wirklich existenziellen Menschheits probleme emporzuheben. ... Heute schon gilt es den Boden vorzubereiten für die weltweiten soziologischen Diskussionen, die kommen werden, weil sie kommen müssen."

Auch hier muss man dem offensichtlich Weltverbesserungstendenzen bewegenden Autor im Prinzip zustimmen. Überspringen wir die avisierten <allgemeinen naturwissenschaftlichen Grundlagen einer biologischen Betrachtungsweise> und kommen wir zu den <Besonderheiten unserer bisherigen Lebensführung im neuen Licht>. Da nimmt sich Hass zunächst des Gleichheitsprinzips an und revoltiert aus seinen Erkenntnissen der französischen Revolution heraus:

"Was ist die Gleichmacherei unserer Tage anderes als ein Angriff der Masse auf die Eliten? Mit der Einführung des gleichen politischen Wahlrechts, der gleichen Kleidung, der gleichen Nahrung und der gleichen Wohnkultur hat der neuzeitliche Individualismus das Gesicht der Einzelperson in unseren Massenstaaten zu wahren versucht. Das Gegenteil aber wurde erreicht. Man hat dem unnatürlichen Idol der Gleichheit die Freiheit, und damit das Individuum geopfert. Es bleibt nur ein Weg: wir müssen das unbiologische, wahnhafte Postulat der Gleichheit aller Menschen aufgeben, und an seine Stelle eine sinnvolle, harmonische Gliederung setzen, die der Ausbildung von Persönlichkeitswerten freien Spielraum lässt, wo dies nur irgend möglich ist. .... Leider wird sich im Folgenden zeigen: der unbiologische, demokratische Individualismus und Sozialismus unserer Tage strebt nach keinem gesunden Gleichgewicht dieser Art. Er verursacht damit den Niedergang beider Pole des menschlichen Seins – den der Gemeinschaften und den der Einzelpersonen."

Mit dieser Grundansicht geht Hass nun in die Beziehung zwischen Mensch und Natur, zwischen Mensch und Umwelt. Er beginnt mit Überlegungen zu den "natürlichen Regulatoren, die die Fortpflanzungszahlen aller Lebewesen in ein vernünftiges Verhältnis zueinander bringen".

Zunächst ganz allgemein, ohne den Menschen hervorzuheben, aber auch nicht auszunehmen, behandelt er den Hunger und natürliche Feinde.

"Das ganze System der belebten Natur ist aufgebaut auf dem bekannten ‘Fressen und Gefressenwerden’. ... Im Falle übertriebener Vermehrung bremst die Begrenztheit der Nahrung diese Entwicklung sofort wieder ab. Andererseits pflegt eine Minderzahl von Individuen irgendeiner Art in der angestammten Umwelt so überdurch schnitt lich gute Ernährungsbedingungen vorzufinden, dass dadurch die Wiederauffüllung eines dezimierten Bestandes erleichtert wird. Der Hunger ist der wichtigste Regulator. Eine ganz ähnliche Rolle spielen für jedes Lebewesen seine natürlichen Feinde. Das sind das eine Mal andere Geschöpfe, das andere Mal klimatische Faktoren wie Dürre und Überschwemmungen, Hitze oder Kälte, Dunkelheit oder zu starke Bestrahlung. Sie alle können Ernährung, Wachstum und Fortpflanzung behindern."

Sein Resümee überträgt er dann gezielt auf den Menschen:

"Die natürlichen Regulatoren haben also bisher im Pflanzen- und Tierreich jede Überwucherung verhindert und damit die Vielgestaltigkeit und die Fülle des irdischen Lebens erhalten, aus der allein immer wieder einmal der biologische Fortschritt kommen kann. Diesem aber gilt offensichtlich das ganze Streben der Natur. Einzig und allein der Mensch scheint in einem beispiellosen Siegeszug über alle natürlichen Regulatoren zu triumphieren. Aber warten wir ab! Das Erdendasein der Menschheit hat ja eben erst begonnen, und schon jetzt zeichnen sich da und dort die Grenzen ab, die auch unsere hemmungslose Vermehrung dereinst zum Stillstand bringen werden."

Als Grenze geht er an erster Stelle auf die Ernährungsfrage ein und erhebt schwere Vorwürfe gegen das kapitalistische Verteilungssystem:

"Wenn heute schon zwei Drittel der Menschheit nicht ausreichend ernährt sind, so liegt das jedenfalls nicht an einem generellen, grundsätzlichen Nahrungsmangel, sondern an unserem System der Erzeugung und Verteilung, das die Erzielung möglichst großer Gewinne für Hersteller und Händler erstrebt, nicht aber eine gleichmäßig gute Ernährung der Menschen aller Länder und aller sozialen Schichten. Gleiche Rationen für alle vorausgesetzt, würde die heutige Weltproduktion an Lebensmitteln sicher noch genügen, um die ganze Menschheit, wenn schon nicht sehr üppig, so doch ausreichend zu ernähren. Malthus wäre damit vorerst einmal widerlegt!"

Die zweite Grenzlinie zieht Hass dann mit der Bevölkerungszahl und stellt fest:

"Wir müssen also Jahr für Jahr mit rund 35 Millionen neuer Esser rechnen, und es deutet nichts darauf hin, dass sich diese Zuwachsquote in absehbarer Zeit verringern wird. Soll unser Lebensstandard nicht ganz drastisch sinken, so muss in jedem Jahr für 35 Millionen Menschen zusätzliche Anbaufläche geschaffen, oder es muss die bisherige Nahrungsmittelproduktion pro Flächen einheit fortlaufend erhöht werden. Diesen beiden theoretischen Möglich keiten stehen ganz außerordentliche Schwierigkeiten gegenüber."

Hass erläutert dazu eingehend das gesamte Arsenal der vom Menschen begangenen Sünden gegen die Natur - vom Raubbau an Wald und Ackerland bis zum Ausweichen auf Neuland in Kolonien, wo mit inadäquatem Verhalten der Eindringlinge gleiche Zerstörungen die Folgen waren, bis zur Überfischung der Meere und dem Wal-Sterben - in gleicher Weise wie unsere Vor-Autoren. Aber einen Gedanken, der bisher nur am Rande anklang, vertieft er: die Rohstoff- und Energiefrage, wobei der Atomkraftwerkgegner schon damals alle Ersatzpotenziale ins Kalkül einbezieht, die auch unsere heutige Energiediskussion bestimmen:

"Unser ganzer technischer Apparat fußt auf Werten, die wir laufend dem Boden entnehmen, die aber in absehbarer Zeit nicht nacherschaffen werden können. Es ist also, als hätten wir bisher stets herrlich und in Freuden von einem vorhandenen Kapital gelebt, und als müssten wir demnächst, wenn dieses verbraucht sein wird, allein mit dem auskommen, was uns Tag für Tag an Einkünften neu zufließt. . ..... Sind Kohle und Erdöl verbraucht, so stehen als Energiequellen nur noch Wasserkräfte zur Verfügung, sowie das, was der Pflanzenwuchs täglich neu erzeugt. Auch große Windkraftwerke wären möglich und Anlagen zur direkten Auswertung der Sonnenstrahlung. Selbst die Erdwärme und die Temperaturdifferenz zwischen kalten und warmen Meeresströmungen wurden schon zur Energiegewinnung herangezogen. Schließlich ließen sich Ebbe und Flut in großem Umfang ausnutzen."

Aber dann kommt er doch noch auf die Atomenergie zu sprechen:

"Interessant ist, dass nach Putnam (amerikanischer Energiewissenschaftler) in etwa 300 Jahren auch die zur Gewinnung der Atomenergie benötigten Grundstoffe erschöpft sein werden. (Zunächst allerdings dürfte für den Fortbestand des menschlichen Lebens auf der Erde die Spielerei mit der Atomenergie gefährlicher sein als das Versiegen dieser Energiequelle, deren wahren Umfang heute wohl noch niemand abzuschätzen vermag.)"

Auch der Wasserknappheit widmet er seine Aufmerksamkeit und bezieht sich in seinen Warnungen zusammenfassend auf ein Zitat von Demoll: "Die Wasser wirtschaft wird zum Prüfstein werden für die Steigerung des Verantwortungsgefühls des Menschen gegenüber der Natur."

Sein Hauptaugenmerk richtet Hass aber auf die Frage der drohenden Überbevölkerung, wenn nicht drastische Maßnahmen zur Geburtenbeschränkung ergriffen werden. In den Ansätzen sind seine Ausführungen vergleichbar mit denen Demolls, aber in den Schlussfolgerungen ist er meist noch konsequenter. In einer Art Zusammenfassung der extensiv aufgezeichneten Problemlage – ähnlich wie Demoll – erkennt Hass:

"Auf jeden Fall ist die Erde mit menschlichen Kreaturen längst übersättigt, ja die Überflutung ganzer Kontinente mit Menschen führt in zunehmendem Maß zu immer schwierigeren Problemen wirtschaftlicher und sozialer Natur, führt zur Entwertung des Individuums, zu rückschrittlicher Vermassung und zu seelischer Nivellierung. Trotzdem vermehrt sich die Menschheit auch heute noch lustig darauf los - und zwar um 35 Millionen in jedem Jahr! Gelingt es nicht, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, so werden das, was wir aus freiem Entschluss und innerer Kraft nicht zu vollbringen vermochten, schließlich globale Hungersnöte und Vernichtungskriege nachholen müssen. Die Weltbevölkerung wird sich wieder abflachen. Das steht fest. Auf welche Weise dies aber geschehen wird - gerade darauf kommt es an!"

Und nun versucht er, der Menschheit den rechten Weg zu weisen - zur Abflachung der Weltbevölkerungskurve. Er beginnt mit den Einflüssen der modernen Heilkunst, also mit seinem eigenen Metier.

"Die neuzeitlichen Sicherungen und Erleichterungen der Lebensführung haben also zu einem immer schmerzhafter fühlbar werdenden Missverhältnis zwischen der Zahl der Menschen und der Größe der Erde geführt. Fast alle naturwissenschaftlichen Disziplinen sind an diesem Ergebnis ursächlich beteiligt. Die Hauptschuldige ist aber natürlich unsere heutige Medizin."

Nach ausführlicher Begründung dieser These, kommt er, wie schon verklausuliert bei Vogt behandelt, auf den Hippokratischen Eid zu sprechen, und beklagt:

"Er darf dem Tod verfallenes Leben erhalten! Ja, er kann nicht nur so handeln, er muss es geradezu, notfalls sogar unter völliger Hintansetzung seiner eigenen Interessen. Wer gibt ihm eigentlich das Recht zu einem solchem Verhalten? Wer macht es ihm überdies zur unabweisbaren Pflicht? Die moderne Naturwissenschaft hat dem Arzt lediglich die erforderlichen Mittel und Methoden in die Hand gegeben, um den grandiosen Plan einer hochwirksamen Krankenbehandlung auch wirklich in die Tat umsetzen zu können. Diese (zunächst doch nur potentielle!) Fähigkeit hat die Ärzteschaft dazu benutzt, um in kürzester Zeit die grausame Harmonie zu zerschlagen, die so lange zwischen dem Menschen und seiner Umwelt bestanden hat. Woher hat man die innere Freiheit zu einer solchen Vergewaltigung des Lebens genommen?"

Und später konkretisiert er:

"Die Heilkunst hat einen großen Regulator ausgelöscht, aber die Menschheit hat immer noch nicht verstanden, dass eine solche Streichung nicht möglich ist, ohne dass die ganze Rechnung der Natur ins Wanken gerät. Auch unser Leben ist schließlich ein Stück Schöpfung, und es unterliegt damit Gesetzen, die niemand ungestraft verletzen kann. Aus dieser Erkenntnis heraus wurden auch schon die ersten Stimmen laut, die angesichts der ungeheuren sozialen Lasten, die die Erhaltung der Defekten heute jedem Kulturvolk aufbürdet, und angesichts der iatrogenen (ärztlich verursachten) Verschlechterung des durchschnittlichen Erbgutes der Menschheit - ein Abtreten der Ärzte fordern. Es wird schon ganz offen vom ‘gefährlichen Arzt’ gesprochen. Die Zeit lässt sich aber nicht zurückdrehen, und es wäre wirklich der Gipfel der Sinnlosigkeit, wollten wir versuchen, den Weg zurück ins Mittelalter zu beschreiten. Die Heilkunst kann und darf natürlich nicht zu ihren wirkungslosen Anfängen zurückkehren. Die Ärzte müssen sich nur endlich auf ihre wahre Aufgabe besinnen, sie müssen endlich die großartige Mission erkennen, die darin besteht, nun selbst Regulator zu sein und den Riesenstrom des Lebens besser und vernünftiger, das soll heißen menschlicher zu lenken als dies bisher Seuchen und Katastrophen, Kriege und Hungersnöte vermochten. ........ Wem aber geholfen, wessen Leben erhalten werden soll, das ist zum brennenden Problem geworden, seit nur allzu sicher feststeht, dass sich heute jede einzelne menschliche Existenz immer nur auf Kosten aller übrigen entfalten kann. Indessen hat bis heute keine Gesundheitsbehörde darüber zu entscheiden, wem nun eine Lebens-Chance geboten werden soll und wem nicht. Andere Behörden haben auf diese Frage nicht zu a len Zeiten und nicht überall die gleichen, zumeist jedoch recht unkluge Antworten gefunden. So war es noch fast am besten, wenn die Politiker diesem schwierigen Problem überhaupt aus dem Wege gegangen sind und dem Leben seinen freien Lauf gelassen haben. Ein solches Ausweichen ist aber weiterhin nicht möglich."

Gewaltige Worte eines Arztes aus Leidenschaft, der sich generell dann 7 Jahre später in seinem Buch <Die Chance: Politik als angewandte Wissenschaft vom Menschen> (12a) direkt an die Politiker wendet und sich – um beim <wankenden Thron des Menschen> zu bleiben – nun in einem langen Kapitel deutlich zur Abtreibung, damals unter dem Schlagwort <Gegen den § 218>, bekennt.

Unter der Überschrift "Über die qualitative Auszehrung" tritt er in Demolls Fußstapfen:

"Unter diesem wichtigen sozial-anthropologischen Geschehen versteht man das Aussterben hochwertiger Erbanlagen, beziehungsweise deren Überflutung durch zunehmend mindere Begabungen. .... Nur beim Menschen finden wir den paradoxen, unnatürlichen Zustand, dass sich die Lebenstüchtigeren, vollwertigen Individuen für die Minderwertigen aller Schattierungen einsetzen, sich für sie aufopfern, und deshalb von ihnen schließlich zahlen- und machtmäßig überflügelt werden."

Und in diesem Zusammenhang zitiert er dann auch den Demoll’schen Satz vom <Lumpenproletariat>. Sein Engagement für die Eugenik im wahrsten Sinne des Wortes, die er in einem eigenen Kapitel umfassend abhandelt, lässt er gipfeln in der Prophezeiung:

"Sollte es dagegen irgendeinem zivilisierten Volk gelingen, sich von der tödlichen Bedrohung durch die qualitative Auszehrung zu befreien – so würde aus ihm zweifellos die Führernation der Welt!"

Dafür wäre dann die Eugenik verantwortlich, die wir ja bei Demoll schon näher kennen gelernt haben. Hass unterstreicht ihre Bedeutung und exkulpiert deren Anhänger mit dem Satz: "Den Gegnern der Eugenik kann nicht nachdrücklich genug gesagt werden, dass ja nicht die Natur vergewaltigt werden solle, dass vielmehr einer durch menschlichen Unfug vergewaltigten Natur endlich wieder zu ihrem Recht verholfen werden müsse."

Sogar den Krieg, der in gewissem Sinne auch zu den ‘Regulatoren’ zählt, bringt Hass in ein Verhältnis zur Eugenik: "Die Geschichte lehrt, dass unsere Staatsmänner immer wieder wagen, Kriege zu beginnen, obwohl sie genau wissen, dass dabei ein hoher Prozentsatz ihrer Soldaten den Tod finden wird. Sie nehmen das als selbstverständlich hin. Warum scheuen sie sich dann eigentlich ausgerechnet vor eugenischen und anderen biotechnischen Maßnahmen?" In seinem Buch ‘Die Chance’ (12a) geht Hass auf den Krieg und auf die Auslese dann noch viel detaillierter ein, an die Adresse der Politik gerichtet.

Schließlich richtet sich Hass’ Kritik noch gegen "Die Diktatur der Technik", wobei er die geistigen und seelischen vermassenden Nachteile - ähnlich wie Demoll - herausstellt und sich im Ergebnis auf Albert Schweitzer bezieht:

"Das Verhängnis unserer Kultur ist, dass sie sich materiell viel stärker entwickelt hat als geistig. Erst wenn die Sehnsucht, wieder wahrhaft Mensch zu werden, in dem modernen Menschen entzündet wird, kann er aus der Verirrung heimfinden, in der er jetzt, von Wissensdünkel und Könnenstolz geblendet, herumwandelt."

Hass selbst fügt noch hinzu:

"Wir wollen über alles herrschen, und wir merken nicht, wie wir selbst mehr und mehr der Kaufpreis für unseren ganzen zivilisatorisch-technischen Kram werden, wie wir uns selbst mit drangeben müssen, um alle die künstlichen Wunderdinge zu erzeugen und zu erhalten, ohne die wir nicht mehr leben zu können glauben. Gewiss, unsere Lebenserwartung hat sich gegenüber früher vergrößert. Die Überforderung, die die neuzeitliche Lebensweise für den Einzelnen mit sich bringt, führt aber andererseits immer früher zu jenem berüchtigten Leistungsknick, so dass in vielen Berufen heute schon ein Vierzigjähriger kaum mehr eine neue Anstellung finden kann, weil er in diesem Alter erfahrungsgemäß dem ersten Schlaganfall schon zu nahe, schon so abgenützt und nicht mehr elastisch genug ist, um sich in der schonungslosen Hetze des heutigen Wirtschaftslebens noch durchzusetzen. Die heute erreichten, wirklich erstaunlich hohen Lebensalter täuschen darüber hinweg, dass die objektiv und subjektiv so unerfreuliche Zeit zwischen voller Leistungsfähigkeit und Tod unphysiologisch lang geworden ist. Das Überhandnehmen jugendlicher Rentner bringt dies deutlich zum Ausdruck."

Mit dieser Klage ist Hass eigentlich von den heutigen Kalamitäten auf dem Arbeitsmarkt gar nicht so weit entfernt. Seine Klage gegen die Technik relativiert er allerdings und macht das kapitalistisches System, das sich ihrer bedient, für die Auswüchse verantwortlich:

"Denn die Technik ist ja weder gut noch böse! Es kommt allein darauf an, wie sie eingesetzt wird. Erst als williges Instrument der allmächtigen Wirtschaft nimmt sie jenen üblen Beigeschmack an, den sie heute schon für weite Kreise hat. Alle großen technischen Erfindungen beweisen die geradezu bewunderns werte menschliche Leistungsfähigkeit auf diesem Gebiet. Ihre wirtschaftliche Auswertung aber zeigt ebenso deutlich unser Unvermögen, technisches Können anders einzusetzen als zu skrupe losem persönlichen Gewinn. Aber gerade dieser Umstand zwingt dazu, auch unsere technischen Fähigkeiten endlich einmal einem wohlüberlegten, sozial-anthropologischen Programm zu unterstellen."

Auch hier ist Hass, wenn man das Ohr an den Mund des Volkes hält, der weitverbreiteten Skepsis gegenüber der herrschenden Wirtschaftsmoral nicht weit von der Gegenwart entfernt. Was das sozial-anthropologische Programm angeht, sei wieder auf sein Buch ‘Die Chance’ verwiesen. Überhaupt sieht Hass das Problem der Politik im naturwissenschaftlichen Unvermögen der Politiker:

"Wer für die wahren Belange der Menschheit kämpfen will, der bedarf heute des scharfen, doch zweischneidigen Schwertes der modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse. Nur diejenigen aber, die lange genug in der Schmiede gelernt haben, aus der diese unvergleichliche Waffe stammt, kennen sie wirklich von Grund auf. Nur ihnen wird es deshalb auch gelingen, sie mit vollkommener Geschicklichkeit zu handhaben: mit Kraft und Vorsicht zugleich! Unsere Schuld ist es, wenn des Menschen Thron noch ganz umstürzt. Könnten wir ihm doch - wenn wir nur wollten! - das allersicherste Fundament errichten."

Hass ist - noch ausgeprägter als Demoll - der neue Typ von Umwelt-Warner der 50er Jahre, der vom Menschen Zustimmung zu Entscheidungen zur Erhaltung des Planeten Erde fordert, die seine eigene Person, seine Familie und sein Hab und Gut bis ins Mark treffen könnten. Er ist ein Visionär, der den Horizont aus den Augen verloren hat.

Auch der Verleger Olzog hat dies, wie vorher schon gesagt, erkannt und konnte "da und dort Ihren Schlussfolgerungen nicht zustimmen"; wenn es sich dabei auch um Hass’ zweites Buch von 1962 handelte, so gelten die Vorbehalte auch für "Des Menschen Thron wankt".

Ich glaube nicht, dass dieses Buch die Ärzteschaft und auch nicht die Politiker zu einem generellen Umdenken geführt hat. Vielleicht ist sein Schicksal aber das des typischen Kassandrarufers: Er sagt Wahres voraus, aber niemand glaubt ihm! Wer weiß?

Ein ausgewogener Vergleich seines Werkes <Des Menschen Thron wankt> mit Metternichs <Die Wüste droht> ist, wie schon bei Demoll, nicht zulässig, weil sich gegenüber der Metternich’schen unmittelbaren Nachkriegszeit 10 Jahre später bei den Umwelt-Warnern ein Paradigmenwechsel vollzogen hat, nämlich von den gefährdeten direkten Lebensgrundlagen des Menschen zur Überbevölkerungsproblematik mit Lösungsansätzen, die – wie gesagt – den Einzelnen bis ins Mark treffen können.

Man muss Metternichs Vorsprung, sowohl zeitlich als auch gesamtinhaltlich, einfach anerkennen.

 

 

 

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Ernst Hass (1955) Des Menschen Thron wankt - Eine naturwissenschaftliche Kritik des modernen Lebens