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Kapitel 1 - Wir stecken den Raum ab, in dem wir uns gegenwärtig bewegen     1      2      3     4

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Die Wahrheit packt dich wie die Scheißerei.

Aus dir will alles raus, was drinnen ist,

Klemm ruhig das Loch zu, da hilft keine List,

Kein Baucheinzieh'n und keine Kneiferei.
So ist's auch mit dem Mund: so stur du bist,
Du kneifst ihn zu, da ist's auch schon vorbei,
Raus ist die Wahrheit, eins, zwei, drei,
Wenn's nicht mehr anders geht, schweigt kein Trappist.
Wozu die Lügen und die Heuchelei'n,
Wo sich die Wahrheit doch so einfach spricht?
Man muss das Maul auftun und herzhaft schrei'n.
Gott hat uns doch den Mund in das Gesicht

Getan zum Reden, anders kanns nicht sein,

Nein, laut die Wahrheit sagen, das ist Pflicht.

Giuseppe Gioachino Belli
Rom, am 11. Februar 1833.
Aus dem Romanesco übersetzt
von Otto Ernst Rock
(35; Quellenangabe)

 

detopia-2023:   wikipedia  Giuseppe_Gioachino_Belli   
  Das ist eine gute Stelle, um zu zeigen, warum ich mit dem Buch auch nach 5 jahren noch nicht warm geworden bin. Mittlerweile gibt es zwar zu Belli einen Wikipediaeintrag; aber ansonsten kann man ihn nicht kennen. Er war kein Campanella, keine Galilei, kein Giordano. Und niemand weiß, warum es wichtig ist, mitzuteilen, dass Belli genau am 11.2.1833 in Rom ein Sonett über die Wahrheit schrieb - und zwar im römischen Dialekt.  Also kurz: Ein Lektor hätte die Poesie hier abgemildert oder kommentiert., wegen Verwirrungspotenzials.
  Warum ist es wichtig zu wissen, dass ein gewisser Ernst Otto Rock das Gedicht übersetzt hat? Warum muss das hier stehen? Warum nicht in der Anmerkung?
Zumal der Dichter Belli, laut Wikipedia, nicht gerade ein Revolutionär war.
  Kapitelüberschrift? Da muss ich grübeln: "Raum abstecken"? Was ist das? - "gegenwärtig bewegen"? Was ist das?
Aber jetzt komme ich rein in den Raum, in dem H. sich bewegt; und kann man mich orientieren; es braucht eben alles seine Zeit. (Bei Ferst-2002 hat es fast 10 Jahre gedauert, obwohl er mir sein Buch gleich zugeschickt hatte.)

  1 

Wir sind eine endliche Spezies. Unsere Auslöschung ist sicher. Nicht nur, dass wir alle dem Tod dessen ins Auge schauen, was wir als »Körper« bezeichnen, und damit zumindest der erdianischen Repräsentanz dessen, was die Neuronen im Körperteil »Gehirn« auf rätselhafte Weise dazu bringt, sich als »Ich« zu denken: Auch als Art und, nach allem, was wir über das Aussterben von Lebewesen wissen, irgendwann auch als Gattung wird von dem Menschen einst nur noch das eine oder andere Fossil übrig sein - ein versteinerter Kiefer, ein versteinerter Kothaufen. Irgendeine andere Art, die womöglich mit vergleichbarem Interesse an sich selbst die nachmenschlichen Zeitalter der Erde bewohnt, ordnet ein solches Petrefakt dann in den nun vielleicht etwas längeren Stammbaum der Menschenaffen ein, so wie wir es mit den Australopitecinen und den Homines erecti, habiles und neanderthalenses getan haben.   wiktionary  Petrefakt 

Es ist eine eigenartige, im Wortsinn nur dem modernen Menschen abendländischer Prägung eigene Art der Weltbetrachtung, sich für so wichtig anzusehen, dass wir nicht untergehen dürften, angesichts des akademisch wohl unstrittigen Befunds, demnach 99,9 Prozent aller Lebewesen, die diese Erde jemals hervorgebracht hat, auch schon wieder verschwunden sind - zum geringsten Teil ganz und gar spurlos von irdischen Kataklysmen vernichtet, von sich wandelnden Lebensbedingungen in die Knie gezwungen, in Sintfluten infolge einschlagender kosmischer Körper untergegangen und zum weitaus größten Teil wegen Erschöpfung des genetischen Potenzials still ausgestorben.36

Die Wahrheit ist: Der Menschheit geht es nicht gut. Bezweifelt wird das nur von jenen, die in Politik, Wirtschaft und der veröffentlichten Meinung dem Modernismus mit seinem Machbarkeitsdogma verpflichtet sind - und das sind leider in der Regel diejenigen, denen wir unbegreiflicherweise gestatten, nach ihrem Belieben die Hebel der Macht zu bedienen. Doch auch unter jenen, die mit offenen Augen sehen, die zuhören können, bevor sie eine »Lösung« aus dem Hut zaubern, gehen die Meinungen über die Art des Problems in viele Richtungen. Die große, schweigende Mehrheit akzeptiert, was ihnen die anzeigenfinanzierten Medien, allen voran die unternehmens­gesteuerten Kommunikations­instrumente, ganz ohne Scham »Corporate Media« genannt(37), als Fakten anbieten, und streitet höchstens am Stammtisch über die Ursachen und die möglichen Lösungen für das, was alle »Krise« nennen.

Dabei ist »die Krise« zu einem wohlfeilen Container für eine je nach politischer Lage opportune Mixtur aus allen möglichen Anlässen geworden, die - so der Eindruck, den man beim aufmerksamen Beobachten der Meldungs­lage gewinnt - je nach den Bedürfnissen der sich mehr und mehr grün tünchenden Industrie vorgebliche Entrüstung hervorrufen oder mit irgendwelchen punktuellen Positivnachrichten oder Forschungsergebnissen abgewiegelt werden.

Ist »die Krise« nur herbeigeredet? Geht es um eine groß angelegte Manipulation zugunsten eines mit Riesengewinnen verbundenen Umbaus der Weltwirtschaft - was, für sich genommen, auch schon ausreichte, um es der Menschheit schlechtgehen zu lassen? Oder ist sie tatsächlich materieller Natur? Geht es den stofflichen Ressourcen an den Kragen? Den realen Lebensgrundlagen? Oder ist sie sozialer Natur und betrifft die Art, wie wir uns als Gesellschaften auseinandergelebt und von der mehr-als-menschlichen Welt entfernt haben? Kommen wir sieben Milliarden Menschen nicht mehr vernünftig miteinander aus? Oder ist die Krise mentaler Natur? Produzieren wir lediglich Angstgebilde, bar jeder physikalisch manifesten Grundlage, aus denen die schlaue Schar der Lobbyisten politischen Profit schlägt, um den babylonischen Turm unserer Zivilisation unter den Heilsversprechen »Wachstum« und »Arbeitsplätze« immer weiter in die Höhe zu treiben?

Im Griechischen bedeutet »Kpiois, krisis« »Entscheidung«, »entscheidende Wendung von Krankheiten«, auch »Urteil« und »Gericht«. All das passt. Zumindest der westlich geprägte Teil der Welt hat sich in den letzten 250 Jahren, seit der Erfindung der Dampfmaschine, so oft für das technisch Machbare und gegen das der Vielfalt des Lebens auf der Erde Zuträgliche entschieden, dass sich die ganze Planetin heute in einem Zustand befindet, den man getrost als Krankheit bezeichnen kann. - Planetin? Ja, die Erde ist weiblich, Frau Welt, Gaia. Wenn wir von der Erde im weiblichen Genus sprechen, sage ich fairerweise auch »Planetin« zu ihr. - Gelingt es uns nicht, das Blatt zu wenden und Gaia zu einem gesunden Zustand zurückzuverhelfen, wird das Urteil unserer Enkel, so sie denn überhaupt Gelegenheit haben, über uns und unsere Mütter und Väter zu richten, vernichtend ausfallen. Das will ich nicht erleben. Ich will nicht von meinen Enkeln für all das haftbar gemacht werden, was höchstwahrscheinlich demnächst schiefgehen wird.

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Ein gesunder Zustand - damit kann nur eine Welt gemeint sein, in der niemand über die Verhältnisse lebt und alles dauerhaft ein gedeihliches Auskommen findet - der Mensch zusammen mit der mehr-als-menschlichen Welt. Bevor jedoch die entscheidende Wendung der planetaren Krankheit einsetzen kann, so fürchte ich, muss es noch ein ganzes Stück tiefer in das Fieber hineingehen. Noch glaubt die glitzernde Welt der Einkaufsmeilen von Shanghai bis Mumbai, von Bochum bis Rio, es handle sich um eine simple Erkältung, und geht mit leichtem Schweiß auf der Stirn den gewohnten Verrichtungen nach. Doch eine Vielzahl von Symptomen - nicht allzu schwer zu erkennen, sobald wir den Blick auf die staubigeren oder eisigeren Regionen der wenig bis gar nicht elektrifizierten Welt richten -, deuten auf einen gravierenden Infekt hin. Die Anzeichen mehren sich, dass bald keines der Medikamente mehr nützen wird, die bisher noch immer geholfen haben: Der Bogen ist überspannt, das System steht vor dem Zusammenbruch. Vor dem Kollaps.

Wie das Wort »Krise« stammt auch »Kollaps« aus der medizinischen Terminologie des 19. Jahrhunderts. Vom lateinischen »collabi«, »in sich zusammensinken, einsinken, ohnmächtig zusammensinken«, abgeleitet, bezeichnet es dort einen Schwächeanfall, insbesondere einen Kreislaufzusammenbruch. Ist es nicht in vielerlei Hinsicht bezeichnend, dass wir zur Beschreibung des Zustands unserer Welt zwei Begriffe aus der Heilkunst gewählt haben? Wer sich in unserer empathiearmen Zeit noch einen Rest Sensibilität bewahrt hat - oder vielleicht nach einer persönlichen Krise gerade erst dazu erwacht ist -, spürt, dass hier tatsächlich ein Körper gemeint ist: Die allgemeine Diagnose wird deshalb richtig gestellt, weil wir die Welt auf unseren Körper abbilden, wenn wir sie nicht sogar mit unserem Körper identifizieren - und deshalb in uns fühlen, wie es dem Menschheitsganzen geht. - Ein Kollaps führt nicht notwendigerweise immer zum Exitus. Man kann ihn überleben, doch wenn es ein wirklicher Kollaps war - was man daran bemerkt, dass man die Gefahr, das Leben auszuhauchen, intensiv erkennt -, dann fallen Krise und Kollaps zu jenem einen und einzigartigen Wirbel höchster Implosionskraft(38) zusammen, die einer grundlegenden Transformation den nötigen Schwung schenkt.

Wer auf einen Kollaps vorbereitet ist, wird nicht von ihm überrascht.

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Wenn man in der Prä-Kollaps-Phase das kritische System genau studiert und mit ihm eine intensive anamnestische Befragung begonnen hat, ist die Chance hoch, dass sich allein schon aus der aufkeimenden Verdachtsdiagnose - und tiefere diagnostische Erkenntnisse dürften sich angesichts der Komplexität der Patientin Weltgesellschaft kaum gewinnen lassen - bestimmte wahrscheinliche Verläufe bei eingetretenem Kollaps vorwegnehmen lassen.

So kann man dann im Moment des Zusammenbruchs an der richtigen Stelle die Hand aufhalten, um etwas aufzufangen, dessen Verlust wirklich traurig wäre, oder das richtige Verbandszeug bereithalten, um ein Organ, das über­lebenswichtige Fähigkeiten besitzt, vor dem Ausbluten zu bewahren. Während der vom Kollaps Überraschte vom Blitzknall der Implosion noch geblendet und geschockt ist und orientierungslos umherirrt, haben die Gewarnten von den erhaltenswerten Preziosen schon gerettet, was zu retten möglich war. Sie sind nicht nur ideale Helfer am Ort des Geschehens, sie stellen zugleich auch die Weichen für den Weg aus der Krise, da sie in der Zeit allgemeiner Planlosigkeit Wegweiser errichten, denen dann selbst diejenigen zu folgen bereit sind, die zuvor die Möglichkeit eines Kollapses weit von sich gewiesen haben.  wiktionary  Preziose

Auf den Zustand unserer Gesellschaft angewendet, ist der Kollaps überfällig, ja er erscheint nötig und rettend. Der Patient Menschheit zeigt sich verstockt, uneinsichtig und weiß alles besser. Das zeigen nicht nur die autokratischen Betonköpfe der totalitär regierten Mehrheit der Staaten, sondern auch die Mehrheiten in den sich demokratisch brüstenden Ländern, deren politische Kaste wider alles bessere Wissen hochtrabend von einer populistischen »Lösung« nach der anderen schwafelt, wobei sich die Lebensdauer solcher »Rettungsaktionen«, siehe etwa die Euro-»Krise«, meist nur in Wochen bemisst. Die Hilflosigkeit, mit der die Politik im Kleinen wie im Großen zwischen dem eigentlich als notwendig Erkannten und dem in Hinblick auf die Wähler oder auf die eigenen Pfründe Dienlichen laviert, wird von den Massenmedien nicht etwa gegeißelt, wie es zumindest in den mit Pressefreiheit gesegneten Gesellschaften Aufgabe und Pflicht wäre.

Die als Respekt vor der »öffentlichen Person« getarnte, joberhaltende Speichelleckerei gegenüber den Politikern, die als irgendwie »gleichere Bürger als die anderen«39 taxiert werden - und die deshalb bei Verletzung des Stillhalte­abkommens mit den Medienmächtigen oder bei Entwicklung von zu viel Eigenbrillanz sofort öffentlich guillotiniert werden müssen -, taucht noch die ungeheuerlichste Mitteilung über den Zustand unserer Welt in das milde Eintageslicht einer ganz normalen Meldung unter vielen weiteren belanglosen.

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Die leichte Schwäche, in der sich daher unsere westliche Zivilisation vorübergehend wähnt, ist den allermeisten Zivilisierten kein Anlass zum Innehalten, zum Kürzertreten, geschweige denn zu Neuorientierung und Umkehr. Nur der Kollaps, in dem sich Schock, Staunen und Einsicht schmerzhaft mischen, hat die Kraft, bis zur Krise im Wortsinn durchzuschlagen: Erst dann kann die »entscheidende Wendung der Krankheit« eintreten. Erst dann ist die Chance da, den aufsteigenden Weg zu Heilung und Genesung zu beschreiten - vorausgesetzt, man hat überlebt. Und erst in jener Phase nach dem Zusammenbruch, im Wendepunkt der Krise, reift für gewöhnlich die Einsicht über die begangenen Fehler, die zur Krankheit geführt haben. Erst dann gewinnt man die Kraft zur fundamentalen Veränderung der Lebensführung - umso nachhaltiger, je näher man dem Ende war.

Der Heilkunst Mächtige kennen diesen Verlauf. Sie pumpen den Patienten nicht voll mit lindernder Medizin oder zwingen ihn zu therapeutischen Übungen, die er nicht einsieht. Sie warten geduldig ab, halten aus, dass sich der Zustand des Kranken verschlechtert, so lange, bis die entscheidende Wendung eintritt. Und in der Zwischenzeit bereiten sie sorgfältig alles vor, was nötig ist, den kollabierenden Patienten aufzufangen, ihn durch den Tiefpunkt seiner Krise zu geleiten und ihm im Zustand größter Empfänglichkeit und Bereitschaft zur Einsicht die Impulse zu vermitteln, die ihm in neuem Kontext zur Heilung gereichen.

Darüber meditiere ich in diesem Buch: über die Zeit nach dem Kollaps, über die Post-Kollaps-Gesellschaft.

Bevor wir aber darangehen, den visionären Denkraum zu erkunden, in dem wir das, was den Menschen am tiefsten ausmacht, das Gute, Schöne und Wahre, als Grundlage zu einem gemeinschaftlichen Neubau unserer Gesellschaft »danach« setzen, müssen wir die Großbaustelle, in der wir uns gerade bewegen, so weit erkunden, dass wir wissen, wovon wir reden, wenn wir die sich entwickelnde Krise meinen. Wir wollen ein paar Zweige an markanten Ecken in den zukünftigen Baugrund stecken, damit wir uns später in den zu erwartenden Trümmern der Türme unserer Zivilisation nicht verlaufen. Zu oft habe ich in den vergangen 40 Jahren den Satz gelesen: XYZ fordert politische Maßnahmen, die den Einfluss von ABC in diesem existenziellen Bereich endlich einschränken, wahlweise:

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die DEF endlich zum Einlenken bewegen, wahlweise: die GHI endlich verbieten, und so fort. Desgleichen den Satz: Wir müssen endlich anfangen, ABC zu tun, wahlweise: DEF zu fordern, wahlweise: unsere Angst vor GHI abzulegen, und so fort. Wunderbar! Schön, dass es diese Appelle gibt. Und wichtig auch, dass es Mahnerinnen und Mahner gibt, die uns gesagt haben und weiter sagen, was geschehen wird, wenn wir das eine nicht tun und das andere nicht schleunigst gestoppt wird. Und es gibt ja vereinzelte Teilerfolge, für die man sogar Auszeichnungen wie den Right Livelihood Award, den Alternativen Nobelpreis, bekommt.

Aber das reicht nicht. Die Preisträger stehen im Regen. Die kulturkreative Bewegung, die sie und viele andere seit Jahrzehnten in Gang setzen wollen, um gemeinsam mit so vielen - den vielen Graswurzel­gruppen - eine neue Kultur zu schaffen, dass die übrigen vielen sich nicht entziehen können und einstimmen, sie kommt nicht zustande.

Ist der Zeitgeist womöglich jetzt so weit? Ich weiß es nicht. Mein kleines Elaborat will jedoch ein Anstoß sein, ein allererster Anstoß, die Augen aufzureißen und mit dem Träumen erst zu beginnen, wenn wir die Realität ganz in uns aufgenommen haben.    wiktionary  Elaborat 

Lassen Sie sich also von den nächsten Passagen nicht abschrecken. Das meiste wissen Sie vermutlich im Großen und Ganzen. Und nörgeln Sie nicht, dass es schon genug entmutigende Literatur gebe. Tatsächlich geht es hier um das Gegenteil: Dieses Buch will Sie ermutigen, etwas zu tun, was über reines Wunschdenken und bloßen Aktionismus hinausgeht. Es möchte Sie ermutigen, eine Kraft zu entfalten, die erst wirksam wird, wenn Sie sich von aller Illusion befreit haben. Es geht um die Kraft Ihrer Vision. Und die kommt aus Ihrem fühlenden Herzen. Deshalb wollen wir Fühlung aufnehmen, mit dem, was ist.

Schauen wir also die Dinge nochmals an, so, wie sie wirklich sind. Es lohnt sich, für einen Moment so zu tun, als wären die Dinge neu. Das erhöht die Kraft der Empörung in uns, die nicht nur Stephane Hessel herbeisehnt.40 Denn neben der Kraft unserer Vision werden wir auch die Kraft der Empörung brauchen, wenn es darum geht, alles zu mobilisieren, damit das Gute mindestens bleibt, besser aber viel stärker wird, um eine dem Leben nachhaltig zugewandte Welt durch das Nadelöhr vor uns in die Hände unserer Enkelinnen und Enkel durchzufädeln. Und wenn wir dabei nicht untergehen, gilt die Wahrheit weiter, dass es die Liebe auch in Zeiten der Cholera gibt und Menschen auch mitten im Krieg Frieden finden, dass wir mit viel weniger viel besser leben können - und werden.

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Für die meisten ist derzeit der sogenannte Klimawandel das Hauptproblem. Die einen, weitaus in der Mehrzahl, haben die Zunahme der Treibhausgase in der Atmosphäre als Ursache ausgemacht, und einige haben daraus inzwischen ein einträgliches Marktsegment gebastelt. Andere meinen, der Anstieg der globalen Temperaturen sei weniger menschengemacht als eher ein Ergebnis natürlicher Schwankungen. Dritte versuchen, unabhängig von den Ursachen Finanzmittel lockerzumachen, um den Temperaturanstieg technisch einzudämmen: Schwefeltröpfchen in der Stratosphäre sollen die UV-Strahlung reflektieren, bevor sie die unteren Schichten der Atmosphäre aufheizt.41 Eine Eisendüngung der Ozeane soll das Wachstum der Algen anregen, die das schädliche CO2 binden(42) und zusätzlich schützende Wolken über dem Meer erzeugen.43 Ein gewaltiger Sonnenschirm irgendwo weit draußen im All, dort, wo sich die Gravitationswirkung von Sonne und Erde die Waage hält, soll unserer schwitzenden Planetin Schatten spenden.(44)

In meinem Ohr klingt das Wort »Klimaschutz« unsinnig: Jede schnelle Recherche außerhalb der Tagespresse zum angeblich gesicherten Wissen über die Ursachen des nun mal tatsächlich zu beobachtenden Temperatur­anstiegs führt zu derart widersprüchlichen Interpretationen der herangezogenen Daten, dass Otto Normalbürger nicht weiß, was von wem vor wem oder was warum geschützt werden soll. An vielen Orten schmelzen die Gletscher, an anderen wachsen sie. Erst wenn man sich an die Arbeit macht, sich durch viele Detailstudien durchzuarbeiten, ergibt sich das eindeutige Bild eines an allen Ecken bis hoch hinauf ins Dach brennenden Hauses.

So wandelt sich beispielsweise die Behauptung, der gestiegene CO2-Gehalt der Luft sei ein idealer Dünger für die Pflanzen, plötzlich in die skelettierte Hand des Hungertods, wenn man erfährt, was die Klimaforscher Maosheng Zhao und Steven Running von der University of Montana in Missoula herausgefunden haben: Sie verglichen Biomasse-Daten des Terra-Satelliten mit den Klimadaten der vergangenen drei Jahrzehnte. 

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Und siehe da - von 1982 bis 1999 war der Trend zu üppigerem Wachstum tatsächlich zu erkennen. Die sogenannte Nettoprimärproduktion (NPP) - die Gesamtmenge der Biomasse, die Jahr für Jahr von den Lebewesen der Erde durch Umwandlung von Sonnenlicht hervorgebracht wird - wuchs kontinuierlich parallel zum Anstieg der globalen Erwärmung. Zhao und Running wollten diese Entwicklung fortschreiben. Doch das heißeste Jahrzehnt seit Beginn der fortlaufenden Temperaturmessung, die Spanne von 2000 bis 2009, erbrachte eine globale Abnahme der NPP um gut ein Prozent.(45) Das mag als wenig erscheinen, ist aber im Weltmaßstab alarmierend.

Diane Wickland, die das Ökologieprogramm der NASA leitet, meint: »Diese Ergebnisse sind außerordentlich bedeutsam. [...] Selbst wenn der schwindende Effekt der letzten Dekade sich nicht fortsetzen würde, dürften die Forst- und die Landwirtschaft im Licht der möglichen Folgen eines derartigen Wandels in nur zehn Jahren bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Biotreibstoffen sowie bei der Kohlenstoffspeicherung vor außer­ordent­lichen Herausforderungen stehen.«(46)    qwant  Diane+E.+Wickland    wikipedia  Terra-Satellit-1999

Freilich wächst bei uns im Moment alles besser. Die höheren Breiten haben in den letzten 30 Jahren rund 16 Prozent mehr Biomasse produziert als zu kühleren Zeiten. Doch konnte dies die Verluste durch gewaltige regionale Dürre­perioden und eine generelle Abnahme der Niederschläge auf der südlichen Hemisphäre in den letzten zehn Jahren nicht mehr ausgleichen. Die globale Bilanz ist inzwischen gekippt. Das lässt einen Kollaps der Nahrungs­mittel­versorgung zumindest in den ärmeren Teilen der Welt immer wahrscheinlicher werden.

»Klimaschutz« sollte in Wahrheit »Aufheizungsbremse« heißen. Geht es doch offiziell darum, den mittleren Temperaturanstieg der Erde auf zwei Grad Celsius zu begrenzen. Der Wert erscheint buchstäblich aus der Luft gegriffen. Er war jahrelang umstritten, bevor sich im Dezember 2010 die 194 Mitgliedstaaten der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen darauf einigten.(47) Schon 2005 warnte die internationale Natur­schutz­organisation WWF in einer faktenreichen Studie, dass bereits der kleinste Anstieg der mittleren Globaltemperaturen zu irreversiblen Verlusten an Flora und Fauna in der Arktis führen würde - was heute tatsächlich zu beobachten ist.48

Auf dem Klimagipfel in Durban im Dezember 2011 teilte die Weltorganisation für Meteorologie (WMO) mit, dass die

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13 heißesten Jahre seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1850 sämtlich in den vergangen 15 Jahren zu registrieren waren. Das Jahrzehnt von 2001 bis 2011 sei das wärmste insgesamt gewesen. »Unsere Forschungen sind absolut gründlich, und sie zeigen zweifelsfrei, dass sich die Welt erwärmt und dass diese Erwärmung auf menschliche Aktivitäten zurückgeht«, sagte WMO-Generalsekretär Michel Jarraud. »Die Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre hat neue Höchstwerte erreicht und nähert sich rapide der Marke, die zur Einhaltung eines globalen Temperaturanstiegs von 2 bis maximal 2,4 Grad Celsius keinesfalls überschritten werden darf.«49

Demgegenüber meint Fritz Vahrenholt, Exchef des Ökostromkonzerns REW Innogy, zu seinem Buch »Die kalte Sonne« befragt50: »Seit fast 14 Jahren ist es auf diesem Planeten nicht mehr wärmer geworden - trotz weiter steigenden CO2-Emissionen.«51

Seiner Meinung nach ist die maßgebliche Treiberin des Klimawandels die Sonne, und die ziehe sich in eine Ruhephase zurück, was eine Abkühlungsphase erwarten ließe. - Nun?

Die Arbeiten zum Klimawandel jedenfalls, die ich beinahe wöchentlich in der Inbox auf meinem Rechner vorfinde, zeigen inzwischen mehrheitlich und zunehmend, dass das Zwei-Grad-Ziel längst passe ist. Da ist nichts mehr, was geschützt werden könnte. Sogar Fatih Birol, der Chefökonom der Internationalen Energieagentur IEA hält die angestrebte Maximalerwärmung der Erde um zwei Grad nur noch für »eine nette Utopie«.(52) Eine der jüngsten Studien zum Abschmelztempo des Grönlandeises kommt zu dem Schluss, dass die bisherige Schwelle von 3,1 Grad Celsius gegenüber der Zeit vor der Industrialisierung, jenseits derer der irreversible Verlust des 3000 Meter dicken Eispanzers einsetze, viel zu hoch angesetzt sei: »Wir schätzen, dass die Temperaturschranke, deren Überschreitung zu einem stabilen eisfreien Zustand [Grönlands] führt, im Bereich von 0,8° bis 3,2°C liegt, wobei der genaueste Schätzwert 1,6°C beträgt.«(53)

Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Buchs liegt die mittlere globale Temperatur um 0,8 Grad Celsius höher als vor der Industrialisierung. Das alles entlarvt »Klimaschutz« als bloß eine weitere jener schönfärberischen Erzmetaphern(54), mit denen uns Politik, Wirtschaft und Medien den Blick für die Wirklichkeit vernebeln. Die einzige ehrliche Antwort auf die Frage, was mit dem globalen Klima derzeit geschieht und wohin die Entwicklung gehen wird, heißt: Wir wissen es nicht. Unsere Forscher - und die allermeisten werden nicht müde, das zu betonen - können nur Wahrscheinlichkeiten von Trends angeben, und die weisen bisher fast ausnahmslos bedrohlich in den roten Bereich.

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Doch wenn man etwas nicht weiß, ganz besonders über eine drohende Gefahr unbekannten Ausmaßes, sollte man dann nicht alles Denkbare in Betracht ziehen, um sich zu wappnen? Vor allem aber auch das Nichtdenkbare, das, was zu einem Ersterlebnis führt, weil es in der bisherigen Geschichte nicht vorgekommen ist?

Ich kann derzeit nicht erkennen, wie sich die Menschheit auf das Nichtdenkbare vorbereitet. Selbst so ambitionierte Denkgruppen wie die Autorinnen und Autoren des sogenannten Hartwell-Papiers, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, der gescheiterten Klimapolitik ein an der Menschenwürde orientiertes, neues Modell gegenüberzustellen, bleiben ganz im konventionellen Rahmen der bekannten Welt. Man sucht dort vergeblich eine kritische Abkehr vom heutigen Konsummodell oder Vorschläge für eine neue soziale Ordnung der Gesellschaften.(55)

Der größere Teil der Erdbevölkerung ist sowieso nicht zur Partizipation, geschweige denn zur echten Teilhabe eingeladen und zum bloßen Zuschauen verdammt. Was wir sehen, ist ein hilfloses Gewurstel von gewählten oder designierten oder delegierten Anzugträgerinnen und -trägern auf einander jagenden Weltgipfeln, das sich nicht vom sonstigen Jahrmarkt der Eitelkeiten unterscheidet.

 

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Den zweiten Rang unter den Krisenthemen dürfte »Peak Oil« einnehmen, das Versiegen der Ölquellen nach dem Überschreiten des Fördermaximums. Die Internationale Energieagentur hat bereits das Ende des Ölzeitalters eingeläutet und warnt vor einem stetigen Anstieg des Ölpreises. Verstehe ich den BP-Chefökonomen Christof Rühl richtig, dann haben die Ölkonzerne inzwischen einen Preis von wenigstens 100 Dollar fürs Fass als neue Basis angenommen.56 Das würde den Ölkonzernen die Möglichkeit sichern, die enorm kostspieligen neuen Techniken zur Erschließung »unkonventioneller« Vorkommen, wie Teersande, Schiefergas oder extrem tiefe oder verzweigte Bohrungen zur Anzapfung kleiner Lagerstätten, zu finanzieren. Doch wird damit das Ende des Ölzeitalters nur hinausgeschoben.

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Fakt ist, dass die Vorräte begrenzt sind und insgesamt zur Neige gehen. Sogar die deutsche Bundeswehr empfiehlt in ihrer Studie »Peak Oil - Sicherheitspolitische Implikationen knapper Ressourcen« die Vorbereitung auf das Ende des Ölzeitalters als notwendig und sinnvoll.57 Doch das Abwiegeln hat derzeit unter dem Eindruck etwa des Gasbooms in den USA(58) Konjunktur, und sogar abseitige Theorien wie die, dass das Öl aus dem Erdinneren ständig nachfließe und überhaupt kein Mangel zu erwarten sei, erregen eine gewisse Aufmerksamkeit.59 Nicht nur die arme sogenannte Verbraucherin, die die Problematik meist nur an ihrer Heizkostenrechnung und an der Tankstelle hautnah erfährt, fischt im Trüben nach verlässlichen Zahlen. Selbst die Institutionen, die sich um aufklärende Statistik bemühen, sind auf Schätzungen angewiesen, da die Erdöl produzierenden Länder die realen Daten über ihre Reserven aus Marktkalkül nicht preisgeben.

Unbestritten ist nur, dass die Versorgung unserer Zivilisation mit Gütern und der moderne westliche Lebensstil fast vollständig auf dem Vorhandensein von Erdöl und Erdgas basieren. Schon eine geringe Reduzierung der verfügbaren Rohstoffmenge wirkt sich daher gravierend auf all das aus, was wir um uns herum angehäuft haben, dessen wir uns im Alltag bedienen und woran wir uns als unverzichtbares Werkzeug für die schwierige Lebens­bewältigung in der komplexen Konsumwelt gewöhnt haben.60 Ein weiterer Anlass, aus dem sich der Kollaps entfalten könnte.

Gestritten wird darüber, wie man dem absehbaren Trinkwassermangel in der sogenannten Dritten Welt begegnen solle und wie das zu erwartende Anschwellen der Trecks von Hungerflüchtlingen aus den sich ausbreitenden Dürregebieten der Erde zu bändigen sei. Gleichzeitig bereiten sich Küstenländer auf den Anstieg des Meeresspiegels vor. So hat die Landesregierung in Kiel inzwischen einen »Klimazuschlag« für die Erhöhung der Deiche um 50 Zentimeter beschlossen. Die Kronenbreite der Deiche soll außerdem auf fünf Meter ausgebaut werden, um in Zukunft rasch eine zusätzliche »Kappe« aufsetzen zu können.61 Bis heute waren 2,50 Meter Breite das Maß der Dinge. Kiel geht offenbar von einem Anstieg der Meereshöhe um 1,40 Meter bis zum Ende des 21. Jahrhunderts aus und folgt hier Voraussagen des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung.62 Allerdings erweisen neuere Arbeiten diese Annahmen als zu gering:

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Eine australische Studie an Korallenriffen in allen Teilen der Welt ergab, dass der Meeresspiegel in der letzten Zwischeneiszeit vor rund 125.000 Jahren bis zu zehn Metern höher lag als heute - bei einer nur um ein bis zwei Grad wärmeren globalen Durchschnittstemperatur als derzeit, somit genau im Bereich dessen, was die Regierungen der Welt für gerade noch verkraftbar halten.63 Auch das Wasser ist also für einen Kollaps gut.

Schweigen wir zunächst von weiteren kritischen Entwicklungen, von dem globalen Finanz- und Wirtschaftsdiktat, das in der längst angebrochenen Steilphase der exponentiellen Zinseszinswucherung einen zunehmenden Verlust an demokratischen Errungenschaften erzwingt; von der zunehmenden Vergreisung der Gesellschaften in den Ländern der sogenannten Ersten Welt, die unseren Enkeln eine kaum zu tragende Versorgungslast aufbürdet64; vom weltweiten Verlust an fruchtbarem Boden durch eine rücksichtslose Agroindustrie65, deren internationale Lobby sich mit der hanebüchenen Drohung, ohne das Natur und Menschen vergiftende Arsenal von Insekten-, Pflanzen- und Pilztötungsmitteln und ohne Gentechnik sei die Versorgung der Menschheit mit Proteinen, Kohlenhydraten und Fetten nicht zu gewährleisten, einen unbegrenzten Freibrief für die gnadenlose Zerstörung unserer Lebensgrundlagen erschlichen hat66; vom Verlust der Regenwälder und, nicht nur dort, vom Verlust der Vielfalt der Arten; von den im Gegenzug künstlich hergestellten neuen Lebewesen, allen voran Bakterien und Viren - von denen einige so tödlich sind, dass sie nie, nie, nie den dreifach gesicherten Brutkasten der Labore verlassen dürfen -; vom Verlust des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaften, der Empathie in den Städten, der zunehmenden Chancenlosigkeit der jüngeren Generationen67 trotz immer hysterischer betriebenen Wachstums-Voodoos; der Zunahme von regionalen und zwischenstaatlichen Konflikten aufgrund fundamentalistischer religiöser und politisch extremer Positionen - Syrien, Mali, Ägypten, Bonn68 - und so fort. Es genügt ja ein Blick in ein beliebiges Tagesmedium an jedem beliebigen Tag, um zu erkennen, wohin die Reise geht.

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Nun ist freilich auch wahr, dass die Presse von Negativmeldungen lebt - die die zahlenden Anzeigenkunden möglichst verschonen - und selbst das positivste Ereignis eine Schattenseite hat, wenn man nur gründlich danach sucht. Wahr ist auch, dass die Welt für die kalenderkundigen Menschen im Jahr 999 zum Wechsel ins neue Jahrtausend unterzugehen drohte - allerdings hatte die Mehrheit der Menschheit(69) damals noch keine Ahnung von der modernen Zeitrechnung und blieb von dem Hype unberührt.

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Auch in den Jahren vor Silvester 1499 seinerzeit noch julianischer Zeitrechnung riefen im christlichen Europa scharenweise Weltuntergangspropheten zur Umkehr auf, denn ganz sicher käme am 1. Januar 1500 das Jüngste Gericht über die Menschen. Berühmte Stimmen waren der 1498 hingerichtete Bußprediger-Star Girolamo Savonarola und der Maler Sandro Botticelli, Schöpfer der unsterblichen »Geburt der Venus«. Auch Albrecht Dürer war mit seinem Apokalypse-Zyklus so gut im Geschäft, dass er 1511, als die Welt noch immer stand, eine zweite Auflage der mit 15 Holzschnitten versehenen Druckausgabe verkaufen konnte. Man kann jenen Zeitgenossen, die vermutlich noch kaum von Amerika gehört haben dürften, nun hochmütig vorwerfen, die Tumben hätten nichts vom islamischen, vom hinduistischen und vom chinesischen Kalender gewusst, die Neujahr jeweils zu einem anderen Datum verorten und überhaupt ganz anders zählen, geschweige denn von damals vom Abendland noch unentdeckten Kulturen, die ein völlig anderes Zeitverständnis haben. Ein Untergang der Welt allerhöchstens für den christlichen Teil der Menschheit wäre doch äußerst unwahrscheinlich gewesen. Doch auch heute kursieren Weltuntergangsfantasien, wie der Mythos vom Maya-Kalender, demnach am 21. Dezember 2012 ein neues Zeitalter beginne.

Der Urheber des Mythos, der 2011 verstorbene Visionär Jose Argüelles, wehrte sich vergeblich gegen die apokalyptische Missdeutung seines 1987 erschienenen Buchs »Der Maya-Faktor«70, wo er lediglich von einem Phasenübergang zu einer neuen Kultur sprach. Doch sind wie zu Dürers Zeiten auch heute Buchtitel mit Weltuntergangsanklängen gut im Rennen: »2012: Die Welt nimmt Kurs auf das neue Goldene Zeitalter«71, »Der große Übergang 2012-2032: Prognosen für die Menschheit und ihre Bewusstseinsentwicklung«72, »2012- Es ändert sich nichts und doch wird alles ganz anders«73, »2012: Das Ende aller Zeiten«74.

Und ich? Gehöre ich auch zu den Untergangspropheten? Oder geht es um etwas anderes? Der Kollaps, von dem ich spreche, ist tatsächlich weder Jüngstes Gericht noch Weltuntergang. Er ist bloß »das Ende der Welt, wie wir sie kannten« - so ein weiterer Buchtitel, von Claus Leggewie und Harald Welzer.(75) Dieses Buch sei hier empfohlen, vielleicht gerade deswegen, weil darin die Ratlosigkeit überwiegt ...

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Ratlosigkeit hat viele Menschen befallen, die verzweifelt nach Ordnung in unserer immer mehr Optionen anbietenden Gegenwart suchen. Und tatsächlich gibt es zumindest in den wohlhabenden Multioptionsgesellschaften(76) kein homogenes Zeitalter mehr. Wie wäre denn das gegenwärtige zu kennzeichnen? Ist nicht der gemeinsame Nenner die Kluft? Die Kluft zwischen Arm und Reich, Nordhemisphäre und Südhemisphäre, Freizügigkeit und Fundamentalismus, West und Ost etc.?

Insgesamt erweist sich die Menschheit als dumm, lateinisch »stultus«. Ich nenne unser Zeitalter daher auch das »stultistische Zeitalter«, denn wie anders als Dummheit kann man benennen, was die dominante Klasse der Menschheit tut?

Schulden werden mit noch mehr Schulden »bekämpft«, die Zerstörung unserer Böden durch die Agroindustrie wird mit noch mehr Ackergiften »bekämpft«, der Schwund der Ressourcen aufgrund von Wirtschaftswachstum wird mit noch mehr Wachstum »bekämpft«. Und die übrigen, die die Dummheit erkennen und nicht aufstehen, um die Dummen hinwegzufegen, sind nur graduell intelligenter. Wer sehenden Auges Dummheit zulässt, ist nicht nur selber dumm, sondern auch verantwortungslos. Das werfe ich auch mir selbst beinahe täglich vor: Ich lasse das Dumme geschehen, weil ich meine, im Großen machtlos zu sein. Bei aller Dummheit meinerseits tue ich allerdings mein Bestes, wenigstens in meinem Umfeld immer wieder aufzuschreien.

Aber sehe ich beispielsweise eine reale Möglichkeit, den Missbrauch des Bodens durch das regionale Agrarunternehmen zu stoppen? Ich müsste ein Gesetz anregen, eine Mehrheit dafür finden, um den räuberischen Umgang mit unserer wichtigsten Lebensressource zu verbieten. Wie viele Jahre würde das dauern? Müsste ich das nicht als Fulltime-Job machen? Müsste ich nicht dafür agitieren, meine ganze Zeit einem politischen Ziel opfern, das sich am Ende als Singular herausstellt? Denn in derselben Zeit müsste ich für ein Verbot von quantitativem Wirtschaftswachstum eine Mehrheit finden, für ein Gesetz zum Umbau des Finanzsystems in eine auf zinslosem Geld basierende Realwirtschaft, ein Gesetz zum Verbot der Emittierung von Schadstoffen, zur freien, selbstbestimmten Bildung, zur gesundheitlichen Versorgung nach dem Salutogenese-Paradigma(77), zur Abschaffung von Waffen, zur Einschränkung der Mobilität, schlicht Gesetze für alles und jedes, was die Welt unserer Enkel zerstört oder jedenfalls noch bedrohter macht, als es die unsere ist.   wikipedia  Salutogenese 

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Ich müsste alles liegen und stehen lassen und nur noch das tun, wofür ich unsere Großeltern, es nicht getan zu haben, kritisiere: Sie haben ihre Kinder - unsere Eltern - nicht gelehrt, ein Leben im Einklang mit den Fähigkeiten und Bedingungen unserer Erde zu führen. Sie haben zugesehen, wie ihre Söhne in Kriege zogen und wie ihre Töchter solches zuließen, statt ihre Männer aus dem Verhängnis, Helden für irgendein nationales Ziel auf der einen, ganzen Erde sein zu wollen, zurückzuführen in die mütterliche Qualität des Mannseins, die vor der Dummheit des Patriarchats auch schon »Väterlichkeit« genannt wurde.

Ich müsste ab sofort alles unterlassen, was ich längst als unbegreifliche Dummheit erkannt habe: Mich nicht mehr elektrisch rasieren, nicht mehr in ein Auto steigen, den E- oder Gasherd nicht mehr anschalten, meine Hightech-Membran-Wetterkleidung weggeben, den Computer, an dem ich diesen Text schreibe, zur Entsorgung bringen, natürlich zu Fuß, in Schuhen, die ich aus Material aus meiner Region selbst hergestellt habe, in Gewändern aus Fasern und Fellen, die in meiner Umgebung gewachsen sind. Den Rechen, den ich morgens benutze, um das mit der Hand gesenste Gras zusammenzuhäufeln, den könnte ich mir noch selber schnitzen. Aber schon das Messer, mit dem ich schnitzen will, und der Bohrer, den ich brauche, um die geschnitzten Zähne in das Querholz des Rechens einzusetzen, gar das Sensenblatt, das ich vor dem Rechen brauche, sind aus Metall, aus Stahl sogar. Den kann ich schon nicht mehr ganz selber machen. Jemand muss mir das Erz aus dem Boden holen und es zu mir hertransportieren.

Sie werden solche Bilder einstweilen noch von sich weisen: So schlimm wird es schon nicht kommen, und »et hat noch emmer joot jejange«, wie die Kölner sagen. Das Dumme ist, dass das Leben unserer Enkel unausweichlich in ziemliche Nähe solcher Bilder rücken wird, wenn wir in unserer »entwickelten Welt« so weitermachen wie bisher. Die intelligent kolonnenmäßig hintereinander her fahrenden Autos, die sich ohne unser Zutun selbst steuern78, wird ein großer Teil der gegenwärtigen Menschheit nie erleben. Denn entweder bricht die Welt, in der wir jetzt Großeltern werden, daran zusammen, dass wir versuchen, jenem Teil der Menschheit diese Segnung unserer Industrie zu ermöglichen - was die Leistungsfähigkeit der Planetin überfordert -, oder sie bricht daran zusammen, dass wir jenen Teil der Menschheit für immer vom Segen unseres »Fortschritts« fernhalten - was die betroffenen Menschen nicht mit sich machen lassen werden, wie China, Indien, Südafrika, Brasilien und andere »aufstrebende« Länder beweisen.

Wie auch immer - tatsächlich interessiert mich selbst der Kollaps in seinem möglichen Ablauf nur insoweit, als ich gerne sehen möchte, was auf mich zukommt. Ich habe keine Präferenz für irgendein detailliertes Kollaps-Szenario. Das Wörtchen »Post-« vor dem Kollaps ist mir viel wichtiger als der Kollaps selbst. Es besagt, dass es danach weitergeht. Und wie es nach dem Kollaps, der für viele Regionen der Welt bereits begonnen hat - allein klimatisch schon in den Sahelzonen oder in Grönland -, weitergehen kann, ist Gegenstand des zweiten und dritten Teils dieses Buchs. Es könnte sein, dass Menschen - ganz bestimmt nicht alle, aber vielleicht mehr, als gegenwärtig zu hoffen ist - einen Weg zu einer nachhaltig guten Lebensführung finden, die mit viel weniger Gütern zu viel mehr Lebensfreude, viel mehr Gemeinschaftlichkeit, viel mehr Sinn führt. Es könnte sein, dass die »entscheidende Wendung der Krankheit« nach dem Kollaps das Tor zu einem guten Leben aufstößt, zu einer neuen Welt, wie wir sie bis jetzt noch nicht kennen.

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