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Kapitel 2 - Wir nehmen Abschied von der Welt, wie wir sie kennen    1   2   3    4

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Wo gibt's noch Holz, jetzt,
da der letzte Hain gefällt ist?
Keine Schwätzchen mehr in Kilcash,
keiner wird mehr die Glocke läuten.
Die Wohnstatt der guten Lady - sie war einmal.
Wie war sie beliebt, und immer so fröhlich!
In Scharen kamen und gingen die Grafen,
und sonntags las man die Heilige Messe.
Die Enten sind fort, keine Gans hör ich mehr,

und der Adler schreit nicht mehr über der Bucht.

Keine Biene trägt Honig und Wachs zusammen.

Kein Vogel singt seine lieblichen Lieder

im Abendlicht, wenn die Sonne versinkt.

Kein Kuckucksruf von den Wipfeln der Bäume

bettet die Welt mehr zur Ruhe. 

Ein Nebel liegt über dem Kahlschlag,
den nicht Sonne, nicht Tageslicht auflöst.
Ein schmutziger Himmel sinkt auf uns hernieder,
die Wasser sickern zurück.
Kein Haselbusch, Lorbeer, kein Beerenstrauch,
nur Felsen und Haufen von blankem Stein.
Nicht ein Ast in der mageren Nachbarschaft,
und das Wild ist zerstreut, auf und davon.

 

 

Auszug aus einem gälischen Lamento von 1745, einem Trauerlied,
das vorgeblich den Tod der adeligen Margaret Butler, Lady Iveagh, besingt,
in der verschlüsselten Tradition der Slow Airs aber die Zerstörung der irischen Wälder im 17. und 18. Jahrhundert beklagt.(79)

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Anders als zu früheren Zeiten wissen wir heute, dass die globalen Veränderungen jegliches Leben auf der Erde betreffen. Der sprichwörtliche Sack Reis, der in Beijing umfällt, löst eben heute in New York wirklich ein Finanz­beben aus, und eine kaum merkliche Verstimmung in der Ehe von »El Nino« und »La Nina«, den beiden Meeresströmungen im östlichen Pazifik,(80) verursacht in Vorpommern Rekordfröste um minus 32 Grad Celsius(81), aller Erderwärmung zum Trotz.

Soweit bekannt, sind wir die am besten und umfassendsten informierte Menschheit aller Zeiten. Mit unvorstellbarem Aufwand finanzieren wir Forschungseinrichtungen und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in aller Welt, damit sie uns sagen, was die Welt im Innersten zusammenhält - und auf welche Weise wir sie am wirkungsvollsten zerstören. Noch nie gab es so viele extrem effektive, weil von der anderen Seite der Erdkugel ohne eigenen Mannverlust abzufeuernde Menschentötungsmittel wie heute, und nach wie vor gibt es ja den berühmten roten Knopf, mit dem binnen Minuten eine nukleare Endzeitschlacht ausgelöst werden kann. Der Bund amerikanischer Wissenschaftler schätzte im Mai 2012, dass trotz aller Abrüstungsversprechen weltweit insgesamt noch immer mehr als 19.000 Atomsprengköpfe existieren, von denen mehr als 4800 in ständiger Gefechts­bereitschaft gehalten werden.(82)

Das im Januar 2011 erschienene Jahrbuch des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI nennt 20.530 Sprengköpfe, davon 5027 gefechtsbereite(83) - die Zahlen scheinen also der Wahrheit nahe zu sein. Und warum bewegt es in unserem Land auch wieder nur die üblichen Verdächtigen, wenn bekannt wird, dass Israel die von der deutschen Bundesregierung zu einem Drittel bezahlten U-Boote aus der Kieler Howaldtswerft mit Nuklearwaffen bestückt?84 Verteidigungsminister Ehud Barak lobte: »Die Deutschen können stolz darauf sein, die Existenz des Staates Israel für viele Jahre gesichert zu haben«85 - mit einer Eskalation der Abschreckung gegenüber Staaten wie Iran, die sich bekanntermaßen nicht abschrecken lassen, selbst nuklear aufzurüsten! Wieso wird solches nicht als Gipfel des Zynismus gerügt? Wo bekannt ist, dass schon allein die geringe Entfernung der beiden potenziellen Kampfhähne eine sichere Frühwarnung so gut wie unmöglich macht und die Gefahr eines irrtümlich ausgelösten Erstschlags dramatisch erhöht?86 Wie um alles in der Welt werden wir diese Dinger los?

Denn wenn wir sie nicht loswerden - und

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zwar friedlich, durch endgültige Entsorgung des spaltbaren Materials, ohne damit Kernkraftwerke zu betreiben87 und am Ende noch Uranmunition daraus zu machen88 -, bleibt die Welt so, wie wir sie kennen: ständig bedroht von nuklearer Auslöschung, so wie es seit dem 6. August 1945 ununterbrochen und nach einer kurzen Abrüstungsphase inzwischen wieder zunehmend der Fall ist.

Täglich werden im Namen der freien Forschung und Lehre Substanzen hergestellt, die schon in Spuren auf Pflanzen, Tiere und Menschen tödlich wirken. Die Anzahl der seit den Anfängen der chemischen Industrie in unsere Umwelt entlassenen künstlich erzeugten und registrierten einzelnen Stoffe betrug im Mai 2011 kaum vorstellbare 60 Millionen.(89) Erst rund 5000 davon sollen bis zum heutigen Tag toxikologisch untersucht worden sein.(90) Die Wirkungen von fast allen der rund 100.000 Industriechemikalien, die derzeit im täglichen Gebrauch sind, sind somit völlig unbekannt und daher für die Rechtsprechung »unsichtbar«, was es beispielsweise an multipler Chemikalien­sensibilität leidenden Personen so gut wie unmöglich macht, ihr Recht auf Unversehrtheit durchzusetzen.(91)

Allein wenn ich diese wenigen Tatsachen zu Ende zu denken versuche, könnte (und müsste?) ich aufhören, an diesem Buch weiterzuschreiben: Es gibt tatsächlich nichts Gutes in all meinen Handlungen, was immer ich auch versuche, das nicht unauflösbar mit dem Schlechten verbunden ist, das meine Vorfahren in die Welt gebracht haben - selbstverständlich immer mit besten Absichten! Denn jeder wollte doch dazu beitragen, das Leben angenehmer, bequemer, gesünder, sauberer, fortschrittlicher zu machen! - Wie weit die Welt, die jährlich 80.000 neue Substanzen zu dem irrsinnigen bereits vorhandenen Gebräu hinzuerfindet, von meiner eingangs geschilderten einfachen Welt entfernt ist, zeigt kaum etwas eindringlicher als die Berechnung der Anzahl von Wirbeltieren, die für die Tierversuche bei der Klassifizierung der Stoffe im Rahmen der EU-Verordnung »REACh« (»Registrierung, Evaluierung und Autorisierung von chemischen Stoffen«) benötigt, sagen wir ruhig »verbraucht« werden: Es sind 54 Millionen!91

Die einen werden »verbraucht«, die anderen zieht man aus der Retorte: Seit wenigen Jahren werden immer mehr genetisch veränderte Lebewesen in die Welt gesetzt, deren langfristige Auswirkungen auf die existierenden natürlichen Varietäten ganz und gar unbekannt sind.

Nach 250 Jahren Industrialisierung grenzt es an

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ein Wunder, dass die Menschheit noch über »gesunde« Exemplare ihrer Spezies verfügt. - Doch wissen wir's? Was ist heute »gesund«? Wir Heutigen kennen die Welt nur so, wie sie gegenwärtig ist: verseucht mit Chemikalien und Terminator-Genen.93 Wenn wir wollen, dass unsere Enkel es einst besser haben als wir, dann muss das Zeug aus der Welt verschwinden. Sonst wird keine Generation nach uns mehr die Luft so atmen wie weiland Goethe, Heine, Henry David Thoreau oder Zhuangzi - wo wir selbst ja die »reine Luft« nur noch aus deren Werken kennen.

Nun ist jüngst ein weiterer Fortschritt in der rasanten Verseuchung unserer Atemluft, unserer Lebensmittel, Textilien und sonstigen Oberflächen gelungen, und zwar durch die Erfindung - und selbstverständlich bedenkenlose Anwendung - der überaus lukrativen Nanopartikel. Sie messen nur ein paar Millionstel Millimeter, bestehen wie kleine Moleküle aus nur wenigen Atomen und können leicht von unseren Zellen aufgenommen werden. Eine aktuelle Studie der Cornell-Universität im US-Bundesstaat New York stellte soeben fest, dass die Winzlinge unerwünschte Auswirkungen auf unsere Gesundheit haben dürften. Die Forscher fanden heraus, dass als ungiftig eingeschätzte Nanoteilchen aus Polystyrol zu ernsthaften chronischen Veränderungen der Darmzellen führen, sodass die Aufnahme von Eisen, Kalzium, Kupfer und Zink sowie der Vitamine A, D, E und K aus der Balance gerät. Studienleiter und Universitätsdirektor Michael Shuler gibt die Zahl der Nanoteilchen, die jeder Mensch in den Industrieländern heute täglich in den Körper aufnimmt, mit einer Billion an - 1.000.000.000.000. Igitt! Dabei bezieht er sich auf Daten aus dem Jahr 2002. Neuere Zahlen gibt es nicht, und die Studie beklagt, dass es bisher überhaupt keine Untersuchungen über mögliche chronische Belastungen der Schleimhäute durch Nanopartikel gebe.(94)

Die Nanopartikel sind so jung, dass die allermeisten »Verbraucher« sie noch gar nicht in die ihnen bekannte Welt eingebaut haben. Kaum jemand würde es merken, wenn die Partikel schnell wieder verschwänden. Denn noch ist die rutschige Ketchup-Flasche mit der Nanobeschichtung, die endlich das Problem löst, dass das Tomatenpüree ohne Verrenkung gleichmäßig und bis zum letzten Rest auf die Bulette gleitet, nicht im Handel.95 Aber glaubt jemand ernsthaft, dass wir deshalb diese Seuche schneller loswerden als die anderen? Es wird ein schwerer Abschied werden.

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Zur Welt, wie wir sie kennen, gehört auch unsere Eigenart, Warnungen in den Wind zu schlagen. Überall auf dem Erdball gibt es steinerne Zeugnisse des Untergangs, die unsere westlich geprägte Zivilisation zu bloß einer weiteren menschlichen Willenserscheinung degradieren, die es wieder nicht schaffen wird, sich auf nachhaltig gute Weise in die Lebenswirklichkeit Gaias einzuschmiegen. Ist es nur schiere Vergesslichkeit, dass Mahnungen -offenbar schon immer - verpuffen?

Nun wissen wir seit Kurzem, dass vier Fünftel der Menschen, zumindest der westlich geprägten, überhaupt nicht in der manifesten Wirklichkeit leben. Die Zeitschrift »Nature Neuroscience« des amerikanischen Kollegiums für medizinische Genetik veröffentlichte jüngst eine Studie, nach der bei 80 Prozent der Menschen die vorderen Stirnlappen im Neokortex, dem Teil des Gehirns, der unsere kognitiven Prozesse steuert, kurz: mit dem wir logisch denken und urteilen, ihre Arbeit einstellen, sobald sie problematische oder unangenehme Eindrücke empfangen. Die schlechte Nachricht wird schlichtweg nicht verarbeitet. Die Fakten werden nicht so wahrgenommen, wie sie sind. Stattdessen erhält das Gehirn die Illusion einer warmen, wohligen, wattigen Welt aufrecht, in der am Ende alles gutgeht, das Unmögliche möglich wird und sich Probleme in Luft auflösen. Diese fatale Eigenschaft des dominanten Teils unserer Spezies wird »unrealistischer Optimismus« genannt. Er führt beispielsweise dazu, dass die meisten Befragten der Untersuchung es eher für möglich halten, den Jackpot im Lotto zu gewinnen, als an Krebs zu erkranken. Sowohl die Statistik wie der gesunde Verstand der restlichen 20 Prozent Nicht-Optimisten sprechen massiv dagegen.(96)

Es wird spekuliert, welchen evolutionären Nutzen diese Fehlfunktion des Gehirns haben könnte, da sie offenbar seit jeher das kognitive Verhalten des Menschen bestimmt. Die Fähigkeit, unerwünschte Informationen bezüglich der Zukunft auszublenden und stattdessen auf die berühmte Fee mit den drei Wünschen - oder die eigene Superhelden-Power - zu hoffen, kann vor dem Zeitalter des Wohlstandsproletariats den Sinn gehabt haben, in einer psychisch überwältigend stressigen Welt proaktiv nach Nahrung zu suchen und die Kraft zu mobilisieren, sich immer wieder aus den mannigfaltigen Fährnissen des simplen Überlebens herauszuwühlen. Aber heute?

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Ich gestehe, dass mich diese Erkenntnisse angesichts der gegenüber der Situation in unserer afrikanischen Urheimat unendlich komplexer gewordenen Welt nicht sehr froh gemacht haben: Ist dann nicht auch die Hoffnung, es möge uns, der Menschheit, gelingen, den Kollaps, auf den wir zusteuern, zu erkennen und der Wirklichkeit angepasst zu entscheiden und zu handeln, geradezu ein Musterbeispiel für den »unrealistischen Optimismus«? Ist der Glaube, dieses Buch möge irgendeinen, wenn auch nur klitzekleinen Beitrag zu einer enkeltauglichen Welt »danach« leisten, bloß Ergebnis einer kortikalen Fehlfunktion?

Die Frage ist offen, ob dieser Defekt auch bei Mitgliedern von Stammeskulturen vorhanden ist. Ziehen wir die Weisheitslehren solcher Kulturen heran, mag es nicht so scheinen. Sie sind trotz ihrer bildreichen, mythischen Sprache meist lapidar, direkt und zeigen schonungslos die Welt, wie sie ist. Andererseits mag die gelassene und humorvolle Art, in der sogenannte einfache Menschen auf dem ganzen Erdenrund ihr oft mühseliges Leben meistern, ohne durch die Welt gejettet zu sein oder bei den »Kaospiloten« studiert zu haben97, genau in jener Dysfunktion wurzeln. Ein beunruhigender Gedanke.

Nach alledem dürfte der »unrealistische Optimismus« die Ursache für das blinde Weiterwursteln der Menschheit im Allgemeinen und ihrer Entscheider im Besonderen sein. Vor allem der Stand der Berufspolitiker aller Schattierungen scheint in hervorragendem Maß von dieser Wahrnehmungsblockade betroffen zu sein. Wie sonst wäre zu erklären, dass wider alle wissenschaftliche Erkenntnis, nach der das Weiterwursteln die Grundlagen unseres Überlebens zerstört, mit roten Backen eifrig weitergewurstelt wird? Zu einem Innehalten scheinen eben 80 Prozent der Menschen nicht imstande zu sein, und womöglich sind gerade mit Entscheidungsmacht ausgestattete Berufe, wie Konzernführer und Bürokrat, Politiker, Investmentbanker und Despot, so attraktiv für »unrealistische Optimisten«, dass sie die verfügbaren Plätze zu 100 Prozent einnehmen.

Angesichts dessen verwundert es nicht mehr gar so sehr, dass wir, nachdem wir Eintritt bezahlt haben, nur staunend - und nicht lernend - vor den faszinierenden steinernen Bauwerken der Vor- und Frühgeschichte stehen, etwa von Tiwanaku und Puma Punku, in Carnac und in Gizeh, im Boyne Valley und in Avebury, vor Qin Shihuangdis Mausoleum und vor Angkor Wat.

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Letzteres stellt sich neuesten Erkenntnissen nach mit einer Fläche von 1000 Quadratkilometern - das entspricht den Stadtflächen von Moskau oder Hongkong - als größte vorindustrielle Siedlung der Welt dar.98 Buchstäblich untergegangene, weil heute tief unter dem Meer liegende Städte, Siedlungen und Jagdgebiete finden sich an vielen Küsten der Ozeane, etwa vor Tamil Nadu und anderen Regionen am Golf von Bengalen(99), in der westlichen und südlichen Ostsee(100), auf dem Doggerland zwischen Jütland und Schottland101 und womöglich in 700 Metern Tiefe vor der kubanischen Halbinsel Guanahacabibes102. Wir rätseln über Fertigkeiten und Techniken unserer Vorfahren, messen ihnen astronomisches Wissen zu, hängen ihre Göttinnen zu Hause als Poster an die Wand und wundern uns darüber, wie sich die archäologischen Befunde trotz der unendlichen Wasserweiten zwischen den Kontinenten überall auf der Welt gleichen. Nichts Heutiges ist von jenen Kulturen geblieben. Kein lebender Abkömmling erzählt uns von ihren inneren Anlässen, ihren hehren Zielen, ihren Gefühlen beim Kollaps all dessen, was sie für in Ewigkeit unverrückbar gehalten hatten. Keine Tradition des Scheiterns, über Jahrtausende getreu weitergegeben, öffnet uns Heutigen die Augen für unser eigenes Tun ...

 

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Nein, ganz so ist es nicht. So haben beispielsweise die Ahnen der heutigen Japaner vor 600 und mehr Jahren Megalithen an den Küsten errichtet, um die Anhöhen zu markieren, bis zu denen historische Tsunamis ins Land vorgedrungen waren. Nach der Fukushima-Katastrophe schickte Associated Press Bilder von solchen Steinen um die Welt, auf denen sogar Inschriften eingemeißelt sind: »Hochgelegene Wohnstätten bedeuten Frieden und Harmonie für unsere Nachgeborenen. Gedenkt des Desasters der großen Tsunamis. Baut keine Häuser unterhalb dieser Stelle!«103 Wir haben Piatons Überlieferung von Atlantis, die Sintflut in der Bibel, den Vier-Welten-Mythos der Hopi, das Mahabharata und jede Menge weiterer Epen, die in allen Sprachen von Untergängen menschlicher Welten berichten. Und sollten wir es vorziehen, diese Erzählungen als Märchen abzutun, denen jeder Realitätsgehalt fehle, dann haben wir immerhin noch historische Zeugnisse, die beispielsweise Jared Diamond in seinem monumentalen Werk »Kollaps« ausgewertet hat.104

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Die letzten Sätze seines Buchs lauten: »Wir haben also die Möglichkeit, aus den Fehlern der Menschen in weit entfernten Orten und in weit entfernter Vergangenheit zu lernen. Diese Möglichkeit hatte keine frühere Gesellschaft auch nur annähernd in dem gleichen Ausmaß. Dieses Buch habe ich in der Hoffnung geschrieben, dass eine ausreichende Zahl von Menschen sich dafür entscheiden wird, die Gelegenheit zu nutzen und es anders zu machen.« Unrealistischer Optimismus, schon wieder?

Die von Jared Diamond beschriebenen Ursachen für das Kollabieren der Gesellschaften der Osterinsel, der Anasazi, Maya und Wikinger werden nicht von allen Zivilisationsforschern bestätigt. Statt des von ihm ange­nommenen Selbstmords durch Übernutzung ihrer Ressourcen vermuten andere Autoren externe Zerstörungsfaktoren, wie feindliche Invasionen oder Naturkatastrophen - zu denen zuvorderst freilich Klima­veränder­ungen durch Abholzung oder infolge großer solarer Rhythmen gehören.

Auch soziale Dissoziation, die das gedeihliche Zusammenwirken der Gesellschaften auflöst, wird ins Feld geführt. Unterstützung erfährt Diamonds These jedoch durch David R. Montgomery, der in seinem unbedingt empfehlens­werten Buch »Dreck« in beängstigender Stringenz nachweist, dass der permanente Raubbau am Boden die letztliche Ursache für alle Kollapse in der Geschichte war und ist.(105)

In einem Interview für die »Süddeutsche Zeitung« wurde der Autor gefragt:

»Sie rechnen in Ihrem Buch doch selbst vor, dass wir unfassbare 24 Milliarden Tonnen Erde pro Jahr vernichten, der Mississippi schwemmt jede Sekunde eine Lkw-Ladung Muttererde in die Karibik, was macht es da für einen Unterschied, ob ich auf dem Balkon Tomaten ziehe?« Montgomerys Antwort: »Es wird Ihnen gar nichts anderes übrigbleiben, als Tomaten zu ziehen. Gerade weil allein in den letzten 20 Jahren fast ein Viertel der globalen Landmasse degradiert ist. Und weil die konventionelle Landwirtschaft mit Kunstdüngern und langen Transportwegen auf Öl beruht. Noch nichts davon gehört? Das geht zur Neige.«106

Nochmal eine schlechte Nachricht - und wie haben Ihre frontalen Stirnlappen reagiert? Fühlen Sie etwas bei diesen Sätzen? Und werden Sie noch etwas fühlen, wenn Sie dieses Buch zugeklappt haben und wieder das Gewohnte tun? Könnte dieses Fühlen nicht anstachelnde Wirkung hervorrufen, positiv anstachelnde? Fühlen Sie sich nicht herausgefordert, etwas zu unternehmen?

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Etwas (R)Evolutionäres? - Achtung zum Ersten: Gerade (r)evolutionäre Gedanken sind besonders anfällig für den unrealistischen Optimismus! Achtung zum Zweiten: Wenn wir es nicht schaffen, die Agrarwelt, wie wir sie seit Einführung des Kunstdüngers kennen, hinter uns zu lassen, werden unsere mit Sicherheit mehr als sieben Milliarden Enkel größte Mühe haben, auf dem übrig gebliebenen, ausgezehrten Boden ihr dürres Getreide anzubauen. Wie aber verabschieden wir uns von dieser und anderen Arten grässlicher Misswirtschaft?

 

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Der evolutionäre Hirndefekt ist also schuld daran, dass wir erst über einen Brunnendeckel nachdenken, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Und auch dann wird in der Regel erst abgewogen, ob es wirklich einen Deckel braucht. So werden beispielsweise im Lebendversuch die Einwohner kleiner Dörfer im Riesenreich der Welt-Agroindustrie mit Ackergiften eingenebelt, und bevor dies behördlich untersagt wird, muss erst ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Ausbringen der Gifte und etwelchen Gesundheitsbeschwerden der Menschen erwiesen sein, wobei die Zulassungsbestimmungen so konstruiert sind, dass die Geschädigten den Beweis führen müssen. Die bloß zeitliche Korrelation zwischen der Giftschleuderei und Hautausschlägen, Herz- und Atembeschwerden und allgemeinem Unwohlsein reicht dafür nicht aus.107

Gewaltdarstellungen in Videospielen und Filmen gelten seit Beginn der Brutalisierung des Fernsehens in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts noch immer als unverdächtig, obwohl seitdem nicht nur fürchterliche Massaker von Kindern an Kindern verübt werden und Soziologen einen erschreckenden Empathieverlust in den westlichen Gesellschaften ausmachen, sondern nicht zuletzt auch die Entdeckung eines neuronalen Spiegelsystems in unseren Gehirnen, das offenbar auf die Fähigkeit der Nachahmung spezialisiert ist(108), dringende Hinweise darauf geben, dass ein Brunnendeckel angebracht sein dürfte.

Allerorten finden wir also Belege für den unrealistischen Optimismus. Und dieser wird uns beim Nachdenken über einen realistischen Weg zu einem guten Leben in der Post-Kollaps-Gesellschaft immer wieder begegnen. Er ist die plausible Erklärung dafür, warum der Sozialpsychologe Harald Welzer feststellen muss, dass »Wissen und Einsicht allein nicht reichen, um unsere Lebenspraktiken und die Infrastrukturen des Alltags zu verändern«(109). Ich bin ganz seiner Meinung: Die Veränderung unserer Praxis, Tag für Tag, kann nicht theoretisch in Gang gebracht werden. Dazu braucht es statt unrealistischem Optimismus, dem ich an dieser Stelle den misanthropischen Pessimismus gleichwertig hinzugeselle, praktische Erfahrung mit dem Wandel im Innen und im Außen. Um das anzugehen, muss man ziemlich viel Mut aufbringen, in erster Linie den Mut, der Wirklichkeit unverstellt ins Gesicht zu sehen.

Das führt in jedem Fall zu einer gesunden Desillusionierung - und lässt die Suche nach Durchstiegen zu einem gut geerdeten, die erdliche Bedingtheit widerstandslos bejahenden Verhältnis zur Wirklichkeit zu einer zwar leidenschaftlichen, aber verstandesmäßig kühlen und nüchternen Angelegenheit werden. In zweiter Linie braucht es den Mut, das Unbekannte zu wagen, den ersten und den zweiten und die folgerichtigen weiteren Schritte in das pfadlose Land zu setzen(110), in dem das Neue wartet. Dazu will ich einen mir sinnvoll erscheinenden Beitrag leisten. Und am Ende will ich trotzdem unbedingt Gutes verheißen. Zuversicht schüren. Hoffnung wecken. Diese Qualitäten unseres Empfindens müssen doch auch zu etwas nütze sein! Und solange wir nicht belehrt werden, dass auch sie nur Evolutionsvorteile aus früheren Epochen sind, die für das Heute und Morgen nicht mehr taugen, wollen wir sie in Ehren halten und nähren.

Wir werden also versuchen, aus einem unverstellten Blick auf die Wirklichkeit - soweit wir überhaupt etwas über sie aussagen können - unter weitestmöglicher Vermeidung von unrealistischem Optimismus Aspekte einer gelingenden Zukunft zu fassen, die all die bekannten Defekte und Handicaps unseres Menschseins integriert. - Damit haben wir den ersten Schritt zu einem wichtigen Weniger und verheißungsvollen Besser eingeleitet: Wir nehmen Abschied von einem evolutionären Hirndefekt unserer Spezies. Wie fangen wir das an? Darüber wird uns die Epigenetik (siehe Seite 69 f.) noch etwas sagen. Zugleich liegt in dieser Frage bereits eine der wichtigsten Bildungsaufgaben der Post-Kollaps-Ära.

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