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Kapitel 3 - Wie kann das Neue aus dem Alten hervorgehen?  (Heimrath-2012)   1  2  3   4   5   6

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Die Jahre gehn - Und doch ist's wie im Zug:

W i r gehn vor altem und die Jahre bleiben

wie Landschaft hinter dieser Reise Scheiben,

die Sonne klärte oder Frost beschlug.

Wie sich Geschehenes im Raum verfügt;

eines ward Wiese, eins ward Baum, eins ging

den Himmel bilden helfen ... Schmetterling

und Blume sind vorhanden, keines lügt;

Verwandlung ist nicht Lüge ...

Rainer Maria Rilke.
Für Frau Johanna von Kunesch,
Muzot, 10.12.1925 (111)

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Wir akzeptieren also: Der Mensch lernt aus Fehlern. Der letzte kapitale Fehler, in den sich die Menschheit von einer Riege heroischer Unternehmer und ihren Sekundanten aus den Wirtschafts»wissen«schaften hat locken lassen,111 führt gegenwärtig dazu, dass sich das planetare Gleichgewicht in Richtung einer neuen Balance verschiebt. Das mindestens dürfen wir sagen, ohne uns auf ein bestimmtes Krisenszenario festlegen zu müssen. Und wir dürfen auch sagen, dass diese neue Balance den Fortbestand vieler Spezies gefährdet, darunter auch unserer.

Fast möchte ich aufatmen: Gott sei Dank auch unserer, denn würden nicht wir selbst in Gefahr geraten, wer weiß, ob wir uns überhaupt Gedanken über das Verschwinden der anderen Arten machen würden. Wären wir nicht von der unbeschreiblich fein austarierten und sich über enorme Zeiträume selbst steuernden Natur abhängig, würden wir keinen Finger krümmen, um irgendein Lebewesen, irgendein Biotop, irgendeine Landschaft zu retten. Das lässt sich leicht dadurch belegen, dass ein großer Teil der industriellen Machthaber genau das erkennen lässt und rücksichtslos Todesschneisen in das sensible Lebensgewebe schlägt, obwohl unsere Abhängigkeit von den Lebenssystemen unserer Planetin nicht nur wissenschaftlich erwiesen, sondern in jedem von uns wortwörtlich verkörpert ist:

Das Umwelt- und Prognose-Institut in Heidelberg hat die Reproduktionsraten in der Biosphäre ermittelt und festgestellt, dass jedes Kohlenstoffatom in unserem Körper statistisch bereits rund 600-mal in anderem Leben seinen Dienst getan hat - in einem Grashalm, einem Fadenwurm, Pilz, Adler, Gingkobaum, Grippevirus, in einem unserer Vorfahren, im Brachiosaurus und in einem kalkabscheidenden Bakterium im Urozean, in dem es einst zu Boden sank und zu Kalkstein wurde, bevor der Regen es viel später, als sich der Meeresboden zu trockenem Land aufgefaltet hatte, ins Grundwasser mitnahm, das Sie vielleicht gerade, gut gekühlt und prickelnd, in Form Ihres Lieblingsmineralwassers aus der mit Titannitrid-Nanopartikeln beschichteten PET-Flasche in sich hineingeschlürft haben. Phosphor, der seltener in der Biosphäre vorkommt als Kohlenstoff, war vor dem Einbau in unseren Körper bereits 8000-mal anderweitig inkarniert, und ein seltenes Spurenelement wie Selen hat schon in 40.000 Lebewesen vor uns freie Radikale unschädlich gemacht.(113) Gibt es, so betrachtet, überhaupt etwas Neues?

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Und ist es nun vorstellbar, dass all diese unendlichen Verwandlungen, diese fortwährenden Verkörperungen, dieses Lebendigsein in immer neuen lebenden Wesen nicht die geringste Spur von »Erinnerung« in den sie konstituierenden Teilchen hinterlassen sollten? Dass diese Träger meines Lebens und Geists in Wirklichkeit tot, unbeseelt, bloß bewusstloser, empfindungsloser Stoff sein sollen - wie der materialistisch-westliche Zweig der Menschheitswissenschaft uns weismachen möchte? Ist die Vorstellung nicht viel plausibler, dass jedem dieser Atome eine grundsätzliche Fähigkeit, Lebensbaustein zu sein, innewohnt? Dass sie gewissermaßen vorauswissen, wie sich Leben anfühlt, und dass sie vor allem voneinander wissen, damit sie dem Leben so perfekt dienen können, wie sie es ganz offensichtlich tun? Ist es nicht geradezu wunderbar, auf diese Weise in ständiger Zunahme an Erkenntnis und ihrer fortwährenden Weitergabe mit allem, was lebt, gelebt hat und leben wird, aufs Intimste verbunden zu sein? Und zwar ganz ohne esoterische Schwiemelei, ganz ohne dem Universum ein »starkes anthropisches Prinzip« zu unterstellen114 , eine angeblich von Anfang an gehegte Absicht, den Menschen hervorzubringen - was, nebenbei bemerkt und wie sich heute zeigt, nicht gerade die beste aller Ideen gewesen wäre -, sondern ganz einfach durch die bloße Physis, die körperliche Manifestation des Unvergänglichen im dauernden Werden und Vergehen, uns nahegebracht durch simple statistische Zählerei?

Für mich ist es ein beruhigender Gedanke, dass mein gesamter Körper aus wiederverwendeten Erdteilchen besteht, sozusagen ein Recycling-Körper ist, aus Altem gemacht, um mich eine Zeit lang zu beherbergen und dann ohne Rest zu Kompost zu werden, der zur Gänze, Atom für Atom in unzähligen anderen, neuen Kindern der Erde wiederaufersteht, so unvergänglich wie die Planetin selbst. Eine der wichtigsten Erkenntnisse aus den Anfangsjahren ökologischer Erfahrung war für mich die überraschende Tatsache, dass die Erde keinen Abfall produziert. Die Natur macht keinen Müll. Sie »hinterlässt« nichts, da alles ständig irgendeinem andauernden Transformationsprozess unterworfen ist. Dem organischen Material geht es rasch an den Kragen, und schon sind die Bausteine des Lindenblatts im Leib des Regenwurms wiederzufinden, ist die soeben noch auf dem Acker ihrer Blüte entgegenreifende Möhre in Details zerlegt, die mein Organismus in sich einfügt. Haben Sie sich schon einmal im Spiegel angesehen und tief drin gewusst, dass

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nichts von dem, was Sie im Spiegel sehen, von Ihnen selbst hervorgebracht wurde? Dass Ihr Körper ein komplett reorganisierter Haufen von Pflanzen- und Tierleibern ist, die ihre Fasern und Säfte hingegeben haben, damit Ihr Körper sich daraus bilden kann? Du bist, was du isst. Das ist wörtlich zu nehmen. Und wenn Sie dereinst desintegrieren, »sterben«, dann warten schon Billiarden von anderen, deutlich kleineren Transformatoren darauf, sich Ihre geliehenen Bausteine erneut einzuverleiben. Nichts bleibt »übrig«, alles tanzt im ständigen Reigen nanosekundenschneller115 oder äonenlanger116 Umgestaltung und Rekombination. Denn selbst nach dem von unseren Kosmologen vorausgesagten Hitzetod unserer Planetin in elf Milliarden Jahren ist alles, was meinen Geist heute behaust, noch immer da, bereit, in weiteren Äonen zu Bausteinen neuer Sterne zu werden oder am Ende in der Fülle ewiger Stille zu ruhen. Was für eine grandiose Aussicht! Der »kosmische Anthropos«, der kosmische Mensch des Philosophen Jochen Kirchhoff117 ersteht in mir, wenn ich dieses Bild fasse und es in die Wirklichkeit meiner Tage hineintrage. Post-Kollaps-Denken? Ja, es ist ein erster Vorschlag zur Findung eines neuen Menschenbilds. Es hätte vereinigende Kraft, und es würde unser aufgeklärtes Wissen nicht beleidigen, da es endlich beherzigte, was die Creme unserer Wissenschaftler seit nunmehr über 100 Jahren sagt, seit sie die gewaltige Welt hinter den kleinsten Dingen der stofflichen Erscheinungen entdeckt hat, und was die großen Geister des Dao schon vor 2500 Jahren wussten.

Mir selbst ist diese Verbundenheit als farbige Ahnung vertraut, seit ich mit meinem Großvater einträchtig den Nachkriegs-Hand-wagen in den nahen Laubwald gezogen habe, gerade mal fünf Jahre alt, und wir morsches Holz aus alten Baumstümpfen pulten, das er dann mit Maulwurfserde und fein gesiebtem Kompost in Anzuchtboden verwandelte. Ich weiß noch genau, wie seine Lehre vom Wachsen, das auf abgestorbenem Großem, aber nichtsdestoweniger lebendigem Kleinem beruht, in mir »zündete«: Bei Dunkelheit konnten wir das faule Holz ganz schwach phosphoreszieren sehen. Obwohl meine Augen das Pilzgeflecht, das solches zustande bringt, nicht entdecken konnten, wurde mir in einem plötzlichen Ewigkeitsmoment bewusst, dass das Leuchten des Holzes, das Faulen und Zerbröseln und das Bodenwerden für neue Pflanzen miteinander zusammenhingen und dass das alles nicht wäre, gäbe es diese winzigen, für meine Kinderaugen unsichtbaren Pilzfäden nicht.

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In diesem starken Lernaugenblick erschien in mir ein großer, transparentschwarz erleuchteter Raum, der sich rasch in einem weiten Bogen vor mir nach unten öffnete, und darin sah ich mich selbst wie einen Pilzfaden an Myriaden von anderen Pilzfäden hängen, die sich in die unendliche Tiefe vor mir ausgebreitet hatten. Sie leuchteten schwach von innen und verströmten ein »duftendes« Gefühl unendlicher Geborgenheit in den schwarzhellen Raum hinein. Ich vermute, dass diese und ähnliche Erfahrungen, die mein mit mir und der Natur verbundener Großvater in mir initiierte, essenziell waren, sodass ich heute ein ganz lebendiges Bild von den kosmischen Bausteinen in mir vibrieren lassen kann, in dem ich zwar als Person vorkomme, die materielle Manifestation meiner Person aber von gänzlich autonomen, mir freiwillig ihre Physis leihenden Entitäten errichtet wird, die wir Atome, Quarks, Superstrings oder vielleicht viel besser, wie Hans-Peter Dürr es so treffend vorschlägt, »Wirks« nennen.118
Von all diesem Ahnen und Wissen, all diesen Fragen gänzlich unbeleckt, schreitet »das System« munter fort, sich allmächtig über Gaia und ihre Lebensprozesse hinwegzusetzen.

 

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Die siegreiche Ausprägung des kapitalen Fehlers der letzten Jahrhunderte ist der Kapitalismus. Er hat es geschafft, in alle denkbaren Mäntelchen zu schlüpfen und sämtliche anderen Ismen zu unterjochen - das den Nächsten liebende Christentum, den aufgeklärten Islam, praktisch sämtliche Demokratien und inzwischen so gut wie alle totalitären Gesellschaften und Gewaltherrschaften feudalistischen oder sozialistischen Zuschnitts. Sie alle frönen heute einer kapitalistischen Marktwirtschaft, mag sie sich »freie« oder »sozialistische« nennen, allein den »Kräften des Markts« unterworfen oder zentralistisch geplant sein. Das Diktat der sogenannten Finanzwirtschaft - eine euphemistische Ummäntelung der nackten Gier, die sich noch nie in der Menschheitsgeschichte derart unverblümt brutal gezeigt hat - zwingt noch die letzten Bastionen des mit »Marxismus« nur notdürftig übertünchten Staatskapitalismus in die Knie. Selbst Kuba wankt"*, und das totalitäre Nordkorea zeigt erste Schwächen: Im Nordosten des Landes wurden zwei Sonderwirtschaftszonen eingerichtet, für die

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Kim Jong II noch kurz vor seinem Tod chinesische und russische Investments einwarb.120 Billige Arbeitskräfte, niedrige Steuern und vor allem ein ganzjährig eisfreier Hafen zum Japanischen Meer sind die klassischen Köder, derer sich das ansonsten abgeschottete Land bedient. Das erste Vibrieren vor dem Kollaps einer der letzten Fluchtburgen eines mittelalterlichen Feudalismus in der Welt?

Es sind immer nur die Menschen, höre ich entgegnen, das System ist unschuldig, neutral, es kommt immer darauf an, was der Mensch daraus macht!

Richtig. Einerseits. Andererseits wissen und erfahren wir, dass Strukturen Bewusstsein bilden. Der Mensch bringt etwas hervor und bezieht sich dann darauf. Ohne kritische Selbstreflexion wird daraus eine autistische Schleife, in der das Hervorgebrachte bestätigt, was der Hervorbringer behauptet. So habe ich immer wieder auf Podien zu hören bekommen, der Kapitalismus habe den Menschen die Freiheit der Wahl gebracht, den Hunger gelindert und die Gesundheit der Menschen verbessert, kurz, das ganze Leben angenehmer gemacht. Heute schaffe der globale Markt so intensive Geschäftsbeziehungen, dass kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Handelspartnern immer unwahrscheinlicher würden. Ein Kollaps des Kapitalismus sei gänzlich unwahrscheinlich - und im Übrigen auch katastrophal, denn dann würden wir in die Steinzeit zurückfallen. Es gebe keine neue Wirtschaftsform, die mehr leiste als die Macht des Kapitals. Was nicht sein darf, kann es nicht geben. Quod erat demonstrandum.
Folgenlos versinkt dann der Hinweis in den vorderen Schläfenlappen, dass die Freiheit der Wahl heute daran geknüpft ist, an welchem Platz auf dem Globus man geboren wurde, und selbst in den bis zum Bankencrash 2008 prosperierenden Volkswirtschaften hatten nur diejenigen die Freiheit der Wahl, deren lohnabhängige Beschäftigung mehr einbrachte, als sie zum Überleben brauchten. Das war bis dahin eine gute Mehrheit der Bevölkerungen in den Industrieländern. Doch ihre Zahl schrumpft gegenwärtig rapide, während die vergleichsweise viel, viel kleinere Zahl derjenigen, die unmäßig viel mehr haben, als sie zu einem wirklich üppigen Leben brauchen, im selben Tempo anwächst. Eine jüngste Meldung des Bundesverbands Deutscher Banken auf Basis von Bundesbank-Daten enthüllt, dass sich allein das Geldvermögen der Deutschen in den vergangenen 20 Jahren von 1750 Milliarden im Jahr 1991 auf 4662 Milliarden Euro fast verdreifacht hat.121

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Insgesamt verfügen die Bundesbürger über ein Nettovermögen von rund zehn Billionen Euro112 - ohne Sachvermögen wie Autos, Möbel, Schmuck und Kunstsammlungen. Das würde ausreichen, um die Schulden aller 17 Euro-Länder auf einen Schlag zu tilgen. Die betrugen im dritten Quartal zon »nur« 8,2 Billionen Euro.123

Aber es gibt inzwischen doch jede Menge »grüne« Investments! Die könnten die Sache doch noch herumreißen, oder nicht? Nun ja, nehmen wir an, das würde für den Moment so wirken, als ließe sich die ganze Wirtschaft ökologisch umkrempeln, und die Entwicklung würde sich dadurch etwas strecken lassen, bis sich die sogenannten Rohstoffe und Ressourcen doch erschöpfen. Was dann? Wenn unsere Enkel selbst zu Großeltern geworden sind, was ist dann? Sind wir dann in einer nicht mehr endenden Wohlstandswelt angekommen, in der nur noch verbraucht wird, was nachwächst, in der es keinen Hunger mehr gibt und keine Armut, keinen Krieg, in der der Begriff »Ausbeutung« zu einem alten, ungebräuchlichen Wort geworden ist, weil er sich erübrigt hat wie der mittelhochdeutsche »Malschatz«124? In der alle ein angenehmes Leben inmitten nicht mehr vorhandener, aber diesmal mit »grünem« Geld und einer »nachhaltigen« Wachtumsökonomie vernichteter Lebensgrundlagen führen?

Im Übrigen galt das »angenehme Leben« ja immer nur für denjenigen Teil der Menschheit, der ohne Skrupel den anderen Teil für sich arbeiten lassen konnte. War dieses Prinzip lange Zeit nur die mit dem Unwort »Entwicklungshilfe« verbrämte Fortsetzung des Kolonialismus, so ist es spätestens seit 2008 in die Industrieländer selbst eingesickert. Nicht nur in den USA und in Griechenland trifft es die unteren Einkommensklassen mit brutaler Härte, und auch das Mittelfeld der lohnabhängig Beschäftigten und zunehmend auch mittelständische Unternehmer können das angenehme Leben nicht mehr genießen, da die Not, dem schwindenden Geld hinterherhetzen zu müssen, immer öfter in die Depression mündet.

Inzwischen ist es ja so weit gekommen, dass jedermann unverhüllt sehen kann, wie sehr selbst die »souveränen« Staaten dem Diktat der Finanzmächte unterworfen sind. Das war zwar schon zu Zeiten des allzeit klammen Kaisers Maximilian offenbar, dem Jakob Fugger Geld aus seiner Kaufmannsschatulle zuschusterte.125 Heute laufen wir ohnmächtig dagegen an, dass ein ESM-Vertrag126

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die Idee einer Demokratie in Europa im Handstreich aushebelt: Den Ländern wird Steuergeld gegeben, um ihre Banken vor dem Bankrott zu bewahren, nur damit die Regierungen sich dasselbe Geld - nun wieder als Schulden - von denselben Banken leihen können. Wie kann unter solchen Bedingungen etwas Neues entstehen? Etwas Gesundes, nachhaltig Gutes, Enkeltaugliches?

 

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Nun ist das »angenehme« Leben nicht mit dem guten Leben in der Post-Kollaps-Gesellschaft zu verwechseln. Das gute Leben wird in Hinblick auf Komfort, körperliche Arbeit und technikgestützte Wohnbehaglichkeit sicherlich weniger angenehm sein als ein heutiges kleinbürgerliches Durchschnittsleben. Es wird aber deswegen besser sein, weil es durch die Reduktion des Überflusses auf das Nötige dazu beiträgt, das Wohlstandsgefälle zwischen den Erdregionen aufzuheben. Es wird sich dann besser anfühlen, wenn wir morgens aufwachen und uns nicht länger der Gedanke quält, dass, während wir kuschelig warm und sorglos geschlafen haben, dort, wo kein Mensch mehr richtig leben kann, schon wieder izooo Kinder gestorben sind.117 Es wird dann besser sein, wenn wir - jenseits des unrealistischen Optimismus - wissen, dass die Menschheit zu einem Ausgleich der Güter, zur Empathie und zum Schenken, der Urhandlung zwischen einander Zugeneigten, zurückgefunden hat.

Denn wider alle Beteuerungen der Kapitalisten ist der Hunger in der Welt keineswegs gelindert - und er kann so lange nicht gelindert werden, wie die Wohlstandsländer die Ressourcen für ihren Wohlstand aus den Ländern der sogenannten Dritten Welt abziehen. Einer der schockierendsten Belege für den fortwährenden kolonialistischen Irrsinn ist das um sich greifende Landgrabbing, der Erwerb von landwirtschaftlichen Flächen durch ausländische Investoren, private wie staatliche, in der sogenannten Dritten Welt.128 Während beispielsweise in Ostafrika Millionen Menschen vom Hungertod bedroht sind, exportieren internationale Agrarkonzer-ne aus diesen Ländern Lebendvieh, Soja und Getreide nach China, Indien und in den Westen. Sogar Deutschland gehört wieder zu den Abnehmern. Denn nach 25 Jahren ausreichender Selbstversorgung genügt das in unserem Land angebaute Getreide nicht mehr, um unseren eigenen Bedarf zu decken.119 Wie das?

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Haben wir nicht eine der effektivsten Agroindustrien der Welt? Wird nicht massiv für die Chemielandwirtschaft wider besseres Wissen mit dem Argument geworben, nur so sei die Ernährung sicherzustellen, die biologische Landwirtschaft könne das niemals leisten? Der Grund ist einfach: Kapitalismus. 60 Prozent der deutschen Ackerflächen dienen dem Futteranbau für eine exportorientierte Fleischproduktion. Und der Preis für sogenannte Energiepflanzen wie Mais, die in Biogasanlagen die Fortsetzung des Turboraubbaus in Grün antreiben, ist um so vieles höher als für bloßes Brotgetreide, dass die Kohlenhydratfabrikanten - denn die Bezeichnung »Bauer« trifft auf solches Unternehmertum wohl kaum noch zu - den Getreideanbau gerne den ehemaligen Kolonien überlassen. - Na, reagieren Ihre Schläfenlappen?
Jedenfalls ist die UNO weit von ihrem ersten und wichtigsten Millenniumsziel entfernt, bis zum Jahr 2015 die Anzahl der Menschen zu halbieren, die Hunger leiden. Das Drama hat sich sogar verschärft. Als die Ziele im Jahr 2000 beschlossen wurden, hungerten 830 Millionen Menschen. Während der Nahrungsmittelkrise in den Jahren 2007 und 2008 stieg die Zahl auf über eine Milliarde. Seitdem pendelt die Zahl der Hungernden um 915 Millionen'30, das ist rund ein Siebtel der Menschheit.

Bei der Gesundheit sieht es nicht viel besser aus: Jedes Jahr sterben 9,2 Millionen Kinder vor ihrem fünften Lebensjahr- 24000 pro Tag, 12000 in jeder unserer kuscheligen Nächte, Sie erinnern sich. Neben dem Hunger sind unbehandelte Krankheiten die Ursachen. 500000 Frauen lassen jedes Jahr ihr Leben im Wochenbett. Von den 33,2 Millionen Aids-kranken Menschen erhalten nur 30 Prozent medizinische Betreuung. Weltweit ist ein Anstieg an depressiven Erkrankungen zu verzeichnen. Im Juli 2011 berichtete das Magazin »Der Spiegel« über eine groß angelegte internationale Studie der State-Universität in New York, die detaillierte Interviews mit mehr als 89000 Menschen aus insgesamt 18 Ländern auswertete: »121 Millionen Menschen auf der Welt leiden unter einer Depression. [...] Vor allem Länder mit hohem Durchschnittseinkommen sind betroffen. Anführer ist Frankreich - in China geht es den Menschen psychisch deutlich besser.«13' Im Jahr 2010 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO Daten zur weltweiten Suizidrate vorgelegt. Demnach stieg die Anzahl der Selbstmorde in den letzten 45 Jahren um 60 Prozent auf eine Million Selbsttötungen

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pro Jahr. Alle 40 Sekunden nimmt sich somit irgendwo auf der Erde ein Mensch das Leben. Und da sind nur diejenigen gezählt, die es bis zum bitteren Ende schaffen. Die Zahl der versuchten Selbstmorde wird um das Zwanzigfache höher geschätzt.132

Am 24. Oktober 1970 versprachen die Industrieländer, binnen fünf Jahren dauerhaft 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts den sogenannten Drittweltländern133 - ein unerträglich kolonialistischer Begriff: Wie um Himmels willen kommen wir dazu, uns als die erste Welt zu betrachten? Nur weil man uns Geld gibt, um gute »Verbraucher« sein zu dürfen? Und die dort keines haben, um uns im Verbrauchen nachzueifern? - zukommen zu lassen. Tatsächlich zweigen die jetzigen G8-Länder heute, über 40 Jahre später, erst 0,22 Prozent ab, darunter die USA noch weniger.'34 Und was aus den gepriesenen globalen Geschäftsbeziehungen der Herren in Nadelstreifen mit ihrem glatten Teint und dem Businessclass-Dünkel wird, steht in den Sternen - unter anderen den 50 auf der amerikanischen Flagge, den fünfen auf der chinesischen, dem einen auf der israelischen Flagge. Die zwölf Sterne der Europaflagge scheinen derzeit jedenfalls gar keinen Weg mehr zu weisen ...

Verfolgt man die weltweiten Rüstungsbemühungen, bietet sich auch im neuen Jahrtausend das aus dem 20. Jahrhundert bekannte, immergleiche Bild: Die globalen Militäretats steigen, im Durchschnitt um fünf Prozent jährlich. Lediglich im Jahr 2010 lag der Zuwachs in der Nachfolge des Bankencrashs »nur« bei 1,3 Prozent. Das ist in erster Linie den schwächelnden USA und den rückläufigen Ausgaben der Europäer zu verdanken; Letztere zahlten 2010 ausnahmsweise 2,8 Prozent weniger für ihre Armeen als im Vorjahr. Das Internationale Friedensforschungsinstitut in Stockholm verzeichnet für Südamerika und Afrika einen raschen Anstieg um mehr als fünf Prozent. Die Etats im Mittleren Osten wuchsen um 2,5 Prozent, in Ozeanien um 1,4 Prozent. China lag mit einem Zuwachs von 3,8 Prozent weit unter seiner üblichen Marke, hat doch das Reich des Drachen seine Rüstungsausgaben seit 2001 um 189 Prozent beinahe verdreifacht, und für das Jahr 2012 wurde eine Steigerung von 11,2 Prozent beschlossen. Dabei sind die Ausgaben für die Atomraketen noch gar nicht berücksichtigt; die wahren Zahlen sollen das Doppelte bis Dreifache betragen. Im selben Zeitraum brachten es die USA mit 81 Prozent und Russland mit 82 Prozent immerhin in die Nähe einer Verdoppelung.135

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Anlässe für Berufsmilitärs, sich in kriegerischen Auseinandersetzungen zu verbeißen, gibt es nach wie vor mehr als genug. Und volle Arsenale machen auch eine vom Geschäft dominierte Welt nicht friedlicher. Dazu müssten wir uns schnellstens epigenetisch vom »Aggressionstrieb« befreien, den der Neurobiologe Joachim Bauer in seinem essenziellen Buch »Schmerzgrenze« als modernen Mythos, als lediglich eingeübten Kulturirrtum entlarvt.136 Das sollte zwar möglich sein, seit die Forschungsrichtung der Epigene-tik bestätigt hat, dass wir durch Kultureinflüsse, gesellschaftliche Strukturen, wie beispielsweise das Bildungssystem, und - ja, auch das! - sogar durch unser Denken Einfluss auf die zelluläre Ausprägung unseres Körpers nehmen können, und dazu gehören auch die Gehirnzellen, die sich ja in einem ständigen plastischen Strukturie-rungsprozess befinden. Die epigenetischen Einflüsse prägen sich als Veränderungen den Chromosomen auf und werden vererbt. Es ist erstaunlich, dass dieses wichtige Wissen in der Allgemeinheit so gut wie unbekannt ist. Dabei deckt die epigenetische Forschung erstmals zweifelsfrei auf, dass a) die Umgebung nicht nur die Psyche, sondern auch den Körper und seine Gesundheit prägt und b) ein selbstbestimmter Wandel von Körper und Persönlichkeit keineswegs Wunschdenken, sondern eine reale, auch physische Möglichkeit ist - vorausgesetzt, man meint es wirklich ernst und folgt nicht nur einer Mode, beispielsweise einer »spirituellen«.137

Ob wir auf diese Weise auch den Optimismus-Gehirndefekt beheben können, um Joachim Bauers Vision einer kooperierenden, waffenlosen Menschheit, die ich ebenfalls im Herzen trage, zu verwirklichen, ist eine Frage, die gerade wegen jenes Defekts nur schwer zu beantworten ist. Es könnte sein, dass dieser Defekt nicht in unserer DNA codiert, sondern ein kulturell erworbener Missstand ist, und dann könnte er womöglich epigenetisch umgeprägt werden. Das ist freilich Spekulation, aber hier ist dennoch mal eine Botschaft aus den Laboren der Wissenschaft, die Mut macht: Wenn die Chromosomen der Gattung Homo auf seine Gedanken reagieren und sich entsprechend ändern können, dann hat Helmut Schmidt 1980 weit danebengegriffen, als er meinte, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen.1'8 Das Gegenteil ist nötig: Unsere visionäre Kraft könnte sich als stärkstes Agens erweisen, mit dem wir das Neue aus dem Alten erschaffen. Umgekehrt müssen wir nämlich konstatieren, dass die Welt und unsere Anpassung an das,

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was wir geschaffen haben, ebenfalls das Ergebnis einer Vision sind, in diesem Fall einer Melange aus humanistischem Wohlmeinen und philanthropischem Fortschrittsgeist einerseits und andererseits der Illusion, die Krone der Schöpfung zu sein und die gesamte mehr-als-menschliche Welt unterjochen zu dürfen. Der Fehlschluss, die Natur sei unsere Feindin, nur weil sie dauernd nimmt, was sie dauernd gibt, hat uns offenbar durch epigenetische Fixierung zu Kriegern gemacht, über deren Chromosomen sich die Erzmetapher vom Kampf als der Weisheit letztem Schluss von Generation zu Generation weitervererbt und verstärkt hat.

Experimente zeigen, dass eindrucksvolle Veränderungen des Erbguts überraschend schnell möglich sind, beispielsweise bei der Übertragung epigenetischer Veränderungen von der Mutter auf ihr Kind. Erst jüngst wurde eine Studie publiziert, die durch Untersuchung an eineiigen und zweieiigen Zwillingen belegt, dass externe Einflüsse auf die genetische Entwicklung der noch Ungeborenen im Mutterleib weit größer sind, als bisher angenommen.139 Die Anthropologin Helen Fisher sagt: »Die Auswirkungen epigenetischer Mechanismen sind auf dem besten Weg zum neuen wissenschaftlichen Denkansatz. Forscher mutmaßen, dass epigenetische Faktoren eine Rolle bei der Entstehung vieler menschlicher Krankheiten, Veranlagungen und Eigenschaften spielen - von Krebs über klinische Depression und neurologische Erkrankungen bis hin zu Unterschieden in Verhalten und Kultur. [...] Im Lauf unseres Lebens verändern uns diese Prozesse im Wechselspiel mit der Umwelt und machen uns zu dem, was wir sind. [...] Wenn epigenetische Mechanismen nicht nur unsere intellektuelle und körperliche Fähigkeit modulieren können, sondern diese Veränderungen auch noch an unsere Nachfahren weitergeben, dann liefert die Epigenetik bedeutende und grundsätzliche Aussagen über die Entstehung, Evolution und Zukunft allen Lebens auf der Erde.«'40 Forschungen am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen legen zwar die Vermutung nahe, dass epigenetische Fixierungen bis auf wenige Ausnahmen womöglich meist nur von kurzer Dauer sind und zumindest im Pflanzenreich nach wenigen Generationen wieder verblassen.141 Wenn ich mich aber in die Frage versenke, welche tiefere Funktion - neben mehr oder weniger erhabener Unterhaltung - die unzähligen Rituale in unseren unzähligen Kulturen haben, dann klingt da eine verheißungsvolle Antwort auf: Womöglich helfen

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sie - und sind aus keinem anderen Grund zum »Kulturgut« der Menschheit geworden -, das Verblassen der epigenetischen Fixierung der jeweiligen kulturellen Vision zu verhindern. - Ein völlig neuer Blick auf die Begründung von Religion, Tradition, Sitten und Bräuchen.

Wird es also möglich sein, allein durch die Kraft unserer Vision von einem guten Leben für alles, was existiert, unser Erbgut in unserer und den folgenden Generationen so umzuprägen, dass unsere Enkel die schiere Fähigkeit, sich gegen das große, ganze Leben zu wenden, nicht mehr oder zumindest nicht mehr in heutiger Dominanz besitzen? Was wäre nötig, dass diese Veränderung nicht gleich wieder verblasst? Welche Rituale, welche Form der bildenden Wiederholung und welche Befriedigungen für unser hirneigenes Belohnungssystem müssten wir finden, damit das heute Erkannte zum guten Neuen wird, das das Schlechte des Alten für immer hinter sich lässt?

 

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Die kleine Schar von Denkerinnen und Denkern, die sich inzwischen in ihren Büchern mit dem drohenden Kollaps beschäftigen, schildern unterschiedliche Aspekte des Niedergangs. Sie kommen meinen Beispielen kaum in die Quere, denn zum Unglück gibt es derart viele Parameter, die auf Kollisionskurs mit dem Abgrund oder der Wand vor uns liegen, dass niemand beim anderen plagiieren muss. Die meisten Autorinnen und Autoren fühlen sich aufgefordert zu raten, dies sei sofort zu tun und jenes sofort zu unterlassen. Mir fällt jedoch auf, dass nur wenige Ratschläge dabei sind, die verraten, dass die Urheberin, der Urheber biografische Langstrecken in Lebensumständen verbracht hat, in denen sie oder er selbst die Umsetzbarkeit der gegebenen Ratschläge erproben konnte. So stehen neben eindringlichen Warnungen vor dem Weiterwursteln seltsam blutleere Appelle an die Leserschaft, Modelle mitzudenken, die kaum zeigen, wie der Weg von heute nach morgen in der Praxis gegangen werden kann, wie das Neue im realen Alltag aus dem Alten herausfindet.

Auch ich bewege mich selbstverständlich auf theoretischem Grund - wie alle, die sich vom Heute ins Morgen aufmachen. Doch kann ich für mich in Anspruch nehmen, die vergangenen 40 Jahre meines Lebens in kommunitären Zusammenhängen verbracht und

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in dieser Zeit vieles erprobt und am eigenen Leib erfahren zu haben, was zu den brauchbaren Bausteinen einer Post-Kollaps-Welt zählen könnte.

Seit meinem 18. Lebensjahr, in dem ich der deutschen Bundeswehr entfliehen und in Österreich mein Musikstudium aufnehmen konnte, noch während ich in Bayern das Abitur machte, übe ich mich auf einem Weg, der mich Elemente einer lebensfördernden Kultur zu leben lehrt - in Gemeinschaft, als Künstler, Unternehmer und kulturkreativer Akteur, als Lernender und als Berater. Die wichtigsten Erkenntnisse in Hinblick auf eine Weltverbesserung, die sich in diesen 40 Jahren herausdestilliert haben, sind schnell aufgezählt:

Erstens - und das scheint schrecklich trivial zu sein, ist es aber ganz und gar nicht -, was immer mir selbst als richtig erscheinen mag, gilt nicht für alle Menschen.
Zweitens - und das ist die Sache mit dem Kind und dem Brunnen -, wesentliche Erfahrungen des Lebens lassen sich nicht übertragen, Epigenetik hin oder her: Sie müssen selbst gemacht werden, und erscheine das noch so ineffektiv.
Drittens - und da fühle ich mich durch die Studie über die unrealistischen Optimisten bestätigt -, die Fähigkeit und Bereitschaft, ein Übel zu erkennen, es zu artikulieren und an seiner Beseitigung mit vollem Einsatz zu arbeiten, ist in den Industriegesellschaften nur minimal ausgeprägt.
Viertens - und hier gilt es, das 40-jährige Jubiläum des bahnbrechenden Buchs »Die Grenzen des Wachstums« von Donella und Dennis Meadows und ihren Kollegen zu würdigen141 -, bloße Prophezeiungen bewirken nichts, und mögen sie noch so zutreffend und mit soliden Daten untermauert sein.
Fünftens - und das desillusioniert alle, die glauben, das Gute würde sich schon allein deswegen durchsetzen, weil es gut ist -, die Mächte, die den Globus beherrschen, sind nicht mit Gutmensch-Rezepten zu bändigen. Genau wie wir es für die enkeltaugliche Post-Kollaps-Welt versuchen, folgen sie schon lange ihren spezifischen epigenetischen Prägungen - und haben enorm starke Rituale mit großkalibrigen Fetischen entwickelt, die fantastisch leckere Häppchen für das zerebrale Belohnungssystem bereithalten und die sie deshalb gegen alle Fremdeinflüsse revolutionsfest absichern.

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Sechstens - und das folgt aus dem Gesagten -, ein konsequenter Ausstieg aus dem Kapitalfehler, der ja nichts anderes bedeuten kann, als das weltbeherrschende System zu verwerfen und die Entfaltung einer völlig anders gearteten Selbstorganisation zu ermöglichen, ist nicht auf dem Weg von Überzeugung und gemeinsamer Anstrengung erreichbar- und genauso wenig durch den Versuch der reformbereiten Unterwanderung des »Systems«. Wie aber dann?

 

Solange sich die Erzmetaphern143 der dominanten Kulturen -»untertane Erde«, »Sieg des Kapitals«, »rechter Glaube«, »alles ist machbar« ... - nicht komplett ändern und die auf diesen Metaphern aufbauenden Machtstrukturen nicht brechen, gibt es allerhöchstens lokale Scheinausstiege. Sie werden in unseren »Multioptionsgesell-schaften« als nur eine Facette unter vielen möglichen Weltauffassungen problemlos assimiliert und gehen im Gesamtrauschen des kakophonischen Ich-Strebens aller Einzelnen unter. Selbst in den sogenannten alternativen Kreisen der kulturkreativen Akteurinnen und Akteure, die sich häufig unter persönlichen Opfern für eine nachhaltig lebensfördernde Gesellschaft engagieren und die in allen relevanten Themenbereichen über überdurchschnittliches Wissen verfügen, reicht die Illusion eines von allen Menschen gemeinsam getragenen Ausstiegs nur so weit, wie man den Kopf in den Sand stecken kann: Wenn ich eine handgemachte, langlebige Handsense haben möchte, mit der ich lautlos und nur mit der Energie meines Körpers, die ich aus »nachwachsenden Rohstoffen«, vulgo: Pflanzenwesen, beziehe, das Gras auf meiner Wiese schneiden kann, und an diese nur dadurch gelange, dass sie von einem Fast-food-ernähr-ten, lohnabhängig Beschäftigten mit einem 40 Tonnen schweren Sattelschlepper von weit her über Autobahnen, Stahlbetonbrücken, unter elektronischen Mautmessstellen und stromsparenden LED-Straßenlampen hindurch mithilfe satellitengestützter Navigation in mein bescheidenes Ökorefugium herandieselt, brauchen wir von Ausstieg und neuer Kultur etwa unter Beibehaltung von Versorgungsstrukturen, die mir eine Sense von weit her ins Haus bringen, nicht zu reden.

Daher enthalte ich mich so weit wie möglich auch aller Rezepte. Ich schildere Möglichkeiten, visionäre Ideen, Denkmodelle, die ich persönlich in meiner eigenen Biografie und Erfahrung verankern kann. Es sind Fortspinnungen von gelebter Praxis, für die ich

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einstehe und die mir den Vorwurf kompletter Fantasterei ersparen helfen. Sie werden keine Empfehlung von mir bekommen, irgendetwas Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen, wofür ich nicht in meinem eigenen Leben ein als sinnvoll erlebtes Beispiel finde. Und Fragen werde ich wie bisher stellen, die in Ihnen eine gewisse Logik entfalten mögen - oder auch nicht. Es ist ja auch schwer: Wer etwa bei der Nachricht, sein ökologischer Fußabdruck sei fürs Überleben der Menschheit fünfmal zu groß, nicht schlagartig den Löffel fallen lässt, mit dem er soeben den letzten Rest Brei aus dem bis dato für unerschöpflich gehaltenen Märchentöpfchen zu löffeln sich anschickt, dem ist nicht zu raten und zu helfen. - Zu dumm, dass ebendies genau auf uns alle zutrifft: Tatsächlich kriegt keiner von uns den Löffel aus der Hand. Noch einmal: Wie ist dieser Gedanke des Innehaltens zu Ihnen gelangt? Selbstverständlich indem ich eben gerade nicht innehielt, sondern meinen Computer benutzt und auf elektronischem Weg kommuniziert habe, es zugelassen habe, dass ehemalige Bäume mithilfe einer erklecklichen Anzahl jener 60 Millionen schrecklicher Chemikalien, die ich bereits angeführt habe, zu Papier verarbeitet wurden, damit weitere lohnabhängig Beschäftigte unter Verwendung weiterer schrecklicher Chemikalien dieses Buch drucken, zusammenkleben, verpacken und auf den Weg zu Ihnen bringen konnten. Und an dem ganzen Prozess hatten nur ganze zwei Menschen, mein Verleger und ich als Autor, ein elementares Interesse: nämlich daran, dass dieser Gedanke die Chance hat, mit Ihren Gedanken in Resonanz zu geraten. Alle übrigen Beteiligten hatten ausschließlich das - ja durchaus höchst legitime! -Interesse, mit einigermaßen als anständig akzeptierter Arbeit ihr Geld für den immer teurer werdenden Lebensunterhalt zu verdienen. Die Frau, die in China unter höchstwahrscheinlich grässlichen Umständen meine Rechenmaschine zusammensetzte, dachte nicht an mein Buch, sie dachte an ihre spärliche »Freizeit«, die vermutlich eher »Sorgezeit« für ihre Familie genannt werden müsste. Der Lenker des Holzvollernters im finnischen Wald zerschnitt nicht den Baum für dieses Buch, er wurde dafür bezahlt, dass er eine den Boden zerstörende Maschine bediente. Der Drucker druckte nicht mein Buch, er bediente eine mit Umweltgiften vollgestopfte Maschine. Der Lagerist bei Amazon packte dieses Buch nicht als Gabe an Sie ein, er bediente einen seinen eigenen »Arbeitsplatz« bedrohenden Verpackungsroboter. Und keiner jener Beteiligten

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dürfte sich gefragt haben, ob es anständig ist, in einem System mitzuwirken, das einen erheblichen Teil der Menschheit - zum Teil sogar sie selbst - zu Armut und Hunger verdammt und das sich der ständigen Übernutzung der lebenserhaltenden Ressourcen schuldig macht. Denn diese Frage mündet in den sechsten Punkt zu Beginn dieses Abschnitts ... Lesen Sie ihn ruhig noch einmal. Und wenn Sie dann zum zweiten Mal an dieser Stelle anlangen, dann tun Sie das, was einzig und allein aus der Schleife hinausführt und was auch für mich im Augenblick die Rettung darstellt: Sie erklären die Frage für unbeantwortbar, verlassen die Wiederholung und springen. In diesem Fall zum nächsten Absatz. In Ihrer Lebenswirklichkeit nach dem Zuklappen des Buchs - wohin?

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Das Neue lässt sich nun mal nicht mit den Mitteln des Alten in die Welt bringen. Diese simple Erkenntnis ist die harte Scheidelinie zwischen Reform und Revolution - könnte man meinen. Reform ist die ständige Verbesserung des Bestehenden, in der Biologie »inkrementelle Evolution« genannt. Sie geschieht in permanenten, kleinen Schritten, vergleichbar mit den »innovativen« Entwicklungsschritten im Automobilbau, die von der Motorkutsche zum heutigen Elektromobil geführt, aber das Paradigma »Auto« nicht verlassen haben.

Revolution hingegen ist der Umsturz und die schlagartige Einführung von etwas Neuem, zu dem scheinbar kein Weg vom Alten hinführt - statt einer weiteren Version eines beräderten Fahrzeugs kommt nun die gravitations­modulierende Schwebescheibe ohne bewegliche Teile. Die Evolution macht hier einen Sprung. Bei solcher Betrachtung unserer Geschichte aber entpuppen sich die bisherigen Revolutionen nun ganz und gar nicht als Mittel des Neuen. Im Gegenteil: Da sie mit denselben Mitteln voranschritten, die das Alte zu seiner Verteidigung aufbrachte: Gewalt, Macht, Partikularinteresse, Verkürzung komplexer Zusammenhänge, Entwürdigung ehrlicher Anliegen Andersmeinender und so fort, brach das Alte im neuen Gewand in kürzester Zeit über die Revolutionäre wieder herein. Die deutsche Wende oder der Arabische Frühling sind keine Ausnahmen. Um das erkennen zu können, muss man das Bestehende unvoreingenommen studieren.

Das gelingt nur, wenn man sich einerseits ganz in Kontakt mit ihm bringt, um zu fühlen, wie das

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Bestehende fühlt, und zu denken, wie das Bestehende denkt. Zugleich muss man andererseits größtmöglichen Abstand finden, um auch dort noch nach Sinn und Begründung fragen zu können, wo sich die Dinge zunächst als gut, richtig und erhaltenswert zeigen. Am Ende stellt sich das Neue gar nicht als so fremdartig und undenkbar heraus. Es explodiert nicht plötzlich mitten im Raum wie ein Dschinn, der sich unvermittelt den Menschen offenbart. Es erscheint, »emergiert« aus dem Alten, das erst durch das Erscheinen des Neuen seinen letzten Sinn erfährt und auf die ihm gebührende Bedeutungsstufe gehoben wird - denn ohne das Alte gäbe es das Neue nicht. Zugleich lösen sich erst durch die Emergenz des Neuen die vielen Rastel des Alten auf.

Das einleuchtendste Bild für diesen Vorgang ist die Metamorphose, der Gestaltwechsel eines Lebewesens, das in seinem Lebenszyklus mehrere Phänotypen durchläuft. Ein verbreiteter Denkfehler liegt darin, dass wir beim Verbundensein mit dem Gegebenen nicht genug Abstand gewinnen, um den ganzen Verlauf seiner metamor-phischen Biografie erkennen zu können. So kommt es, dass wir den Schmetterling als das Ziel einer Entwicklung sehen, die doch in Wahrheit ein Zyklus ist, in dem der Phänotyp des fliegenden Falters nur einen vorübergehenden Zustand darstellt, gleichbedeutend mit dem des Eis, der Raupe und der Puppe. Doch für dieses ganze Wesen haben wir keinen Namen. Und was wir nicht benennen können, existiert nicht. Es existiert das Ei, die Raupe, die Puppe, der Falter, der schließlich auf der frischen Butter sitzt und von ihr nascht.144

Eine der Aufgaben einer neuen Kultur ist die Findung einer Post-Kollaps-fähigen Sprache, denn Wörter gehören zu den wichtigsten Geburtshelfern des Neuen (siehe dazu auch ab Seite 159). Im eben genannten Beispiel fehlt unserer Sprache ein Wort, das den Prozess der Metamorphose zum verständlichen und verinnerlich-ten Lebensprinzip macht, indem es die einzelnen Phasen zu einem Ganzen fasst und die Formen, die zur Imago, dem als »eigentlich« erklärten Bild des »fertigen« Falters, Käfers, Molchs, Leberegels führen, aus ihrer Minderbewertung hinausgeleitet. Der Falter ist nicht fertiger oder vollkommener als die Raupe. Ein unfertiges Lebewesen kann nicht leben. Die Raupe muss ebenso vollkommen sein wie das Ei, die Puppe. Das schenkt uns einen anderen Blick auf das, was wir Entwicklung nennen. Die Post-Kollaps-Sicht auf die Prozesse in dieser Welt muss sich auch sprachlich einrollen, rund werden, doppelspiralförmig immer wieder zu sich zurücklenken. Sie darf nicht das Pfeilfömige, Lineare, sich ohne Wiederkehr Entfernende der Fortschrittsidee fortsetzen, wenn sie das Neue gebären, umhüllen und nähren soll.

Die neuen Wörter können sehr alt sein und wiedergefunden werden. In allen Sprachen gibt's im Archiv verwahrte Schätze, die ein einfaches Licht in sich tragen, Wärme und Nähe vermitteln und die mit ein bisschen Abstauben plötzlich aus der Vergangenheit hüpfen und für die nächste Epoche bereit sind. »Einfalt« ist so ein Wort für mich. Es bedeutete bis zu seinem Missbrauch als Abschätzigkeit gegenüber einfachem Denken das Komplement zur Vielfalt, das Eingestaltige als Komplement zum Vielgestaltigen, das Ungeteilte als Komplement zum Geteilten. Was spricht dagegen, es zu probieren, dem innewohnenden Sinn der Wörter zu lauschen und ihre Spuren in der Sprachgeschichte zu lesen, um zu fühlen, wie weit sie wieder in Dienst gestellt werden können? Und was hält uns ab, Neuprägungen für das zu versuchen, was eben erst zur Welt kommt, noch keinen Namen hat und was im neuen Kontext ausgedrückt sein will?

Die neuen Wörter sollten sich anbieten, sie können nicht »gemacht« werden. Man muss sie finden und eine Zeit lang gemeinsam mit anderen darauf herumkauen. Sie sollen beschreiben, worum es geht, und sie sollten ihre Lauterkeit über lange Strecken bewahren können. So wurde das recht technische Wort »nachhaltig« spätestens dann entwertet, als man Josef Ackermann von der nachhaltigen Sicherung einer Dividende von 25 Prozent für die Aktionäre der Deutschen Bank sprechen hörte.145

Was haben wir Neues an seiner statt anzubieten? Zum Beispiel »visionautisch«146, »lebensfördernd«, »lebensdienlich«, »enkeltauglich«.

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