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6.  Über den Verlust des Heldischen 

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Und im todesvollen Kampfe schauet der Heroe nach Elysium.
Friedrich Hölderlin

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Wir leben in einer liberalen Gesellschaft. Zu deren Glaubenssätzen gehört, man dürfe keine Helden haben. Schließlich wissen wir zur Genüge, was für Schindluder mit Heldentum getrieben wurde. Und hat die Geschichte nicht tatsächlich - besonders die deutsche Geschichte - alles, was mit dem Wort «Heldentum» in Zusammenhang steht, nachhaltig dementiert? Sind wir da nicht geradezu verpflichtet, der Jugend jegliche Form von Heldentum zu ersparen? So weit, so gut! Alles scheint klar zu sein.

Wer hinhört, spürt, daß die zum offiziellen Habitus gesteigerte Geste der Verhöhnung des Heldentums, der Unwille, Formen des Tragischen ernst zu nehmen, in der jüngeren Moderne fragwürdig geworden ist. Zwar zählt das «Heroische» heutzutage weiterhin zu den üblichen Schimpfwörtern. Aber doch werden auch andere Untertöne hin und wieder hörbar. 

Ein Künstler wie zum Beispiel Hans Jürgen Syberberg sieht sich inzwischen vor die Frage gestellt, ob nicht auch er sich zu lange schon «jenen neuen Kategorien der Banalität ergeben und zum Beispiel dem Homoerotischen als Antihelden zu viel Raum gegeben habe, gemäß den Nachkriegsphobien vor Helden».

Früher stand die Geschichte im Zeichen «heroischer Opferbereitschaft», also unter der Herrschaft des starken Willens und eines luxuriösen Kapitals, das zwischen den Geschlechtern zirkulierte. Mit der Entwertung der Opfer­bereitschaft haben die Ereignisse ihren Glanz und ihre Unsterblichkeit verloren. Wo Jegliches restlos auf seinen Nutzen hin verrechnet werden soll, kann Geschichte nur noch vampiristisch fortgesetzt werden. Als Endspurt im durchgängigen Triumphzug des berechnenden Denkens, das seit jeher die Dekonstruktion des Heroischen betrieben hat.

Nur, friedlicher und menschlicher geworden ist die Welt dadurch kaum. Und insofern stellt uns die Abwesenheit des Heroischen sogar vor die Frage, ob nicht vielleicht die verheerenden Gewaltausbrüche der Gegenwart die Folge der gleichen seit Jahrhunderten die Erde anzehrenden Verwüstung sind, die auch das «Heroische» zur Strecke gebracht hat.

Welche Konsequenzen die Plebejisierung des Krieges in der Moderne hat, veranschaulichen die letzten Bilder aus den Bürgerkriegskämpfen auf dem Balkan: Posierende Machos, die auf Dachböden hinter ihren Zielfernrohren in Sesseln herumlümmeln, um aus der sicheren Entfernung auf Frauen, Kinder und Alte zu schießen.

Hatte man erst einmal mit der Verabsolutierung kaufmännischer und wirtschaftlicher Werte das kriegerische Tun zu einem bloßen Mittel der Durchsetzung ökonomischer Interessen umgewidmet, mußten natürlich gleichermaßen Wahrheit wie Herkunft der heroischen Lebensauffassung mit der ihr eigenen Geistigkeit, mit ihren Werten und ihrer Ethik in Verruf geraten. 

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Mit anderen Worten: Während am Anfang der Kultur Europas die Gestalt des Helden Achilleus in der homerischen <Ilias> vorbehaltlos als Möglichkeit der Weltsicht und Weltbewältigung besungen wird, hören wir am Ende nur noch «diese Botschaft: Achill das Vieh, Achill das Vieh [...]. Zwischen der Nachwelt und dem Vieh ein Abgrund der Verachtung oder des Vergessens» (CHRISTA WOLF).

 

Es war ein langer Weg bis dahin! Und es hat zu keiner Zeit an Versuchen gefehlt, die «Idee Achill» für die Moderne zu retten: GOETHE, HÖLDERLIN und GEORGE haben mit ihrem Genius am europäischen Heldenbild gemalt. Und ERNST JÜNGER hat unter Rückgriff auf das epische Heldentum der Ilias gegen die Verwertung des Menschen als Material in den «Stahlgewittern» der Moderne protestiert.

Freilich, so strahlend wie in der Ilias war selbst das antike Heldenbild nur kurze Zeit. Bereits zwanzig, dreißig Jahre später holte das berechnende Denken die alten Ideale ein. Die tausendjährige Dekonstruktion des achilleischen Heldenbildes beginnt! Die <Odyssee> entsteht — Odysseus ist von nun an Vorbild! 

Mit dem Aufstieg des odysseeischen Ideals wird dem Bild des Heldentums das Element der Geschicklichkeit, der Gewieftheit und auch der Verstellungskunst hinzugefügt. Als listiger Einzelgänger verkörpert Odysseus bereits den homo oeconomicus, dem einmal alle Vernünftigen gleichen wollen, wie ADORNO und Horckheimer in der «Dialektik der Aufklärung» notieren werden. «Odysseus», heißt es hier, «lebt nach dem Urprinzip, das einmal die bürgerliche Gesellschaft konstituierte. Man hatte die Wahl, zu betrügen oder unterzugehen.»

Dabei war bereits der homerische Held Achilleus nur der literarische Nachklang eines Heldentums, das in seinen frühen sakralen Ursprüngen nicht das Geringste mit dem berechnenden Denken und Nützlichkeits­erwägungen im Sinn hatte. Für das der irdische Kampf allein dann Gültigkeit erlangen konnte, wenn er das getreue Abbild des Kampfes der uranischen Kräfte des Lichtes und der Ordnung gegen die dunklen und tellurischen Kräfte des Chaos und der Materie war.

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Denn der «Heilige Krieg», den dieses ursprüngliche Heldentum bestehen wollte, war ja zuvörderst der Kampf des Menschen gegen den Feind in sich selbst. So lautet eine Weisung an den spirituellen Krieger in der Bhagavad-Gita kurz und bündig: «Verwirkliche, was jenseits des Verstandes steht, stärke Dich durch Deine eigene Kraft, töte den Feind in der Gestalt der Begierde, der so schwer zu besiegen ist.»

Noch genau dieser innere Kampf des Helden wird für Platon später zum Gleichnis für die Bestimmung des Wesens der menschlichen Seele werden. Platon vergleicht im <Phaidros> bekanntlich die menschliche Seele mit der «zusammen­gewachsenen Kraft eines befiederten Gespannes und seines Führers». Von den Rossen ist das eine «gut und edel», während das andere «entgegengesetzter Abstammung und Beschaffenheit» sein soll. Das «vom Schlechten etwas an sich habende Roß beugt sich zum Boden hinunter und drückt mit seiner ganzen Schwere, woraus viel Beschwerde und der äußerste Kampf der Seele entsteht». 

Deshalb kann der letzte Kampf, die größte Anstrengung, welche die Seele bestehen muß, nur darin gesehen werden: Sie muß die beiden gegensätzlichen Rosse lenken und bändigen, um «das Schwere emporhebend hinauf­zuführen, wo das Geschlecht der Götter wohnt». Und zwar in einem Geschehen, welches wiederum den Kampf im Inneren und Äußeren zur Deckung bringen will.

Was urbildlich für die Griechen das «Heroische» ist, können wir uns auch vergegenwärtigen, wenn wir an deren Plastiken denken. Über Jahrhunderte verkörpert sich in ihnen die Kunst der Menschendarstellung. Was die griechische Kunst bis an die Zeit der hellenistischen Plastik heran hervorbringt, ist jedoch niemals der Alltagsmensch. Es ist der «heroische» Körper der Menschen! 

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Das heldisch «Kriegerische» im Sinne des Polemos, welches im «Athletischen» seine Verkörperung findet. Hierbei geht es, wie HEIDEGGER hervorgehoben hat, stets um die Darstellung jenes Kampfes, den HERAKLIT als die Bewegung denkt, in der die Menschen das Freie und das Knechtische ins Scheinen ihres Wesens bringen.

 

Wenn die Griechen in ihrem ersten Werk, das sie der abendländischen Literatur als Vermächtnis hinterlassen, einen Mann wie Achilleus in den Mittelpunkt der Erzählung stellen, formen und beschreiben sie hier im dichtenden Gesang wiederum einen «Athleten des Krieges». Im tödlichen Ringen vor Troja kämpft Homers Achilleus nämlich einen Kampf, der dasselbe zum Vorschein und Behalt bringen soll wie die Kunst der griechischen Skulptur. Das Thema der griechischen Historie und das Zentrum des griechischen Lebens — der Krieg — stellt den Helden hier in eine Lebensform hinein, die ihn im Ergebnis seines Tuns seine Ich-Bezogenheit, sein Streben, am Erdensein festzuhalten, überwinden lassen will. «Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus» mit diesen Worten beginnt die Ilias. 

Der Zorn, der hier besungen wird, der wie ein Feuer lodert, ist jene Kraft, «die das Gemeinschafts- und Clangefühl sprengt, insofern sie sich im einzelnen, dem Helden, manifestiert und ihn immer weiter in die Einzelung, in die Selbstbehauptung und damit in die Ichwerdung treibt» (Jean Gebser). Entscheidend dafür, ob Achilleus ein Heldenleben führen wird, ist aber nicht diese Kraft als solche. Ob die Ichwerdung dem Geist der Schwere verhaftet bleibt oder sich zu den Göttern erheben kann, ob das Knechtische oder Freie sich in seine Gestalt herausringen — allein in der Beantwortung dieser Frage offenbart sich das Schicksal des Helden!

Die geistige Kraft, die das Heldentum des Achilleus charakterisiert, muß darum in einem Sachverhalt gesehen werden, der den «Peleiaden» von allen anderen Helden der Ilias unterscheidet: Achilleus weiß nicht nur über die Sterblichkeit der Menschen im allgemeinen und die tödlichen Gefahren des Krieges im besonderen Bescheid. Er weiß vor allem, daß die Götter für ihn einen frühen Tod vorgesehen haben. 

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Und Achilleus nimmt diese Bestimmung in seinen Willen auf. Damit wird Homers Held zum Urbild dessen, für den das Leben nicht unter allen Umständen das höchste aller Güter ist. Als Thetis, seine Mutter, ihm vorhersagt:

Bald, mein Sohn, verblühet das Leben dir, so wie du redest; 
Denn alsbald nach Hektor ist dir dein Ende geordnet:

antwortet Achilleus:

Hin nun geh ich, den Mörder des wertesten Haupts zu erreichen, 
Hektor! Doch mein Los, das empfang ich, wann es auch immer 
Zeus zu vollenden beschließt und die andern unsterblichen Götter !

Achilleus geht also in die Schlacht, um Hektor zu töten. Er begibt sich dorthin, wo die immer vorhandene Nähe des Todes für ihn am nächsten ist. Und wo zugleich der Unterschied zu den Göttern am deutlichsten zu Tage tritt. Denn die Götter sind die Unsterblichen, heißt es ja in der Ilias, während die Geschlechter der Menschen vergänglich sind «gleich wie Blätter im Walde [...]: dies wächst und jenes verschwindet.»

Verringern kann Achilleus den Abstand und die Abhängigkeit gegenüber den Göttern nur, wenn er sich zu einem Kampf auf Leben und Tod mit Hektor entscheidet unter bewußter Inkaufnahme des eigenen Untergangs. Indem Achilleus Hektor tötet, fällt er selber die Entscheidung über seinen frühen Tod! Heißt das nicht auch: Homers Held ist ein erstes Beispiel menschlicher Freiheit? Durch sein kriegerisches Tun beglaubigt, verkörpert Achilleus eine souveräne Existenz, losgelöst von jedem beschränkten Streben. Denn die souveräne Existenz ist schließlich nichts anderes als ein Dasein auf Augenhöhe mit dem Tod. Weil der Tod eben nicht das Stigma der Endlichkeit des Menschen ist, sondern der Garant höchster Souveränität und Freiheit, sofern erst der Tod die letzten Möglichkeiten des Menschen mobilisiert.

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Wo immer das Leben sich über sich selbst erhebt, ist die Souveränität stiftende Untergangskraft des «Stirb und Werde» am Werk, die den Menschen vor der schieren Verendung bewahrt, wie sie auf der Ebene blinder Faktizität des Sterbenmüssens vorherrscht.

Insofern der Held das Negative seines Seins negiert, konstituiert er im Anblick des Todes um den Dreh- und Angelpunkt des Todes herum eine fließende Sphäre zwischen dem Menschlichen und Göttlichen. In diesem Augenblick seines Lebens ist der Mensch als Sterblicher den Göttern nah: Als Sterblicher stirbt der Held im Leben. Im Tod wird der Held unsterblich!

Das läßt uns auch die tiefere Bedeutung der überlieferten Geschichten von Helden und Heerführern besser verstehen, die sich während einer Schlacht in Götter verwandelten. RAMSES MERIANUN zum Beispiel verwandelte sich nach der Überlieferung auf dem Schlachtfeld in den Gott Amon, wobei er ausrief: «Ich bin wie Baal in seiner Stunde», und seine Feinde, die ihn im Getümmel erkannten, schrien: «Das ist kein Mensch, das ist Satkhu, der große Krieger, das ist Baal zu Fleisch geworden!»

Das moderne Verständnis vom Tod als reines «Aus» kann mit einer solchen Rede vom Tod kaum mehr etwas anfangen. Wer den Tod nur als leeres und unüberholbares Faktum versteht, rollt nun einmal mit allem Tun und Haben ins Nichts. Die damit einhergehende Verödung kann natürlich auch ein bewußtes Untergehen nicht mehr zulassen. Wo alles ins Nützliche verrechnet werden soll und das Überleben zum Maßstab aller Dinge wird, muß besonders der «Heldentod» als unnötiges Opfer schlechthin gebrandmarkt werden.

Der Held ist aber nur der Beispielhafteste unter den Toten. Mit der Abschaffung des Helden werden zwangsläufig der Tod selber und die anderen Toten aus dem Leben herausgekehrt, wodurch das Leben im Ergebnis auf ein bloßes Überleben reduziert wird. Was daraus folgt, kann nurmehr ein langsames Absterben und Verenden sein. Denn der ausgeschiedene Tod macht sich im Leben selbst breit, weil er dieses mit dem Fluch belegt, ständig neue Formen der Zerstreuung zu erfinden, um nicht dauernd auf sein Ende starren zu müssen. Obwohl doch nicht das Sterbenmüssen den Menschen auszeichnet, sondern das Sterbenkönnen: das bereitwillige Jasagen zum Tod!

Über dieser Todesbejahung ist jedoch nicht zu vergessen, daß sie ihr Gegenstück in einer gleichermaßen mächtigen Lebensfreude hat, ja daß sie gar nichts anderes sein kann als der geistige Humus für ein intensives Leben. Wie Martin Heidegger den Mißdeutern seines <Seins zum Tode> vorgehalten hat, gilt es nicht, 

«das Menschsein in den Tod aufzulösen und zur bloßen Nichtigkeit zu erklären, sondern umgekehrt: den Tod in das Dasein hereinzuziehen, um das Dasein in seiner abgründigen Weise zu bewältigen und so den Grund der Möglichkeit der Wahrheit des Seins voll auszumessen».

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Rolf Henrich  1991-1996