Hildesheimer-1991      Start    Nachwort

Ein Postscriptum für die Eltern

 

27-34

Nein, ich habe die Jugendlichen von Weilheim nicht angelogen. Aber ich habe ihnen auch nicht alles gesagt, was ich zu dem Thema Zukunft zu sagen habe. Ich wollte und mußte auf den Charakter der Veranstaltung und auf die Gestimmtheit aller ihrer Teilnehmer, einschließlich meiner selbst, Rücksicht nehmen.

Weilheim ist katholisch und konservativ. Mit dieser Feststellung verbinde ich keinerlei Wertung. Ich habe mich in Weilheim und unter Weilheimern sehr wohl gefühlt. Das Gymnasium erschien mir als eine Stätte, wenn nicht gar eine Insel, humanistischer Kultur, sozusagen ein funktionierender Bildungsbetrieb, und dies ohne falsche Beflissenheit oder utilitaristische Ausrichtung. 

Daß heute noch Schüler bereit sind, von ihren Lehrern zu lernen, ist ebensowenig eine Selbst­verständlich­keit wie ihr Interesse an den Künsten und das sich daraus ergebende Engagement.

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Zu einem prachtvollen Bildband über die Hamburger Auen in Niederösterreich — man erinnert sich: ein unvergleichlich reicher, ja, exemplarischer Biotop sollte zerstört werden, um einem Atomkraftwerk Platz zu machen; doch diesmal blieben die Naturschützer Sieger im Kampf um die Natur, und das Gebiet steht unzerstört und wunderbar — hat der inzwischen verstorbene Zoologe Bernhard Grzimek ein Geleitwort geschrieben.

Sein Namenszug erscheint faksimiliert und zeigt darunter einen Stempelabdruck mit dem Satz: <ceterum censeo progenies hominum esse diminuendam>: der berühmte Satz des Älteren Cato, das klassische Beispiel des accusativ cum infinitiv (kurz a.c.i. genannt) auf das zentrale Problem unserer Zeit angewandt. Ich denke, der Leser kann Lateinisch, oder es steht ihm ein Übersetzer zur Verfügung. Denn ich habe keine Lust, den Satz zu übersetzen.

Sätze, die ein potentieller Leser oder Zuhörer, zu Recht oder zu Unrecht, als Zumutung, als Peinlichkeit oder als Eindringen in seine Privatsphäre betrachten mag, spreche man besser auf einer Ebene aus, die den Widerstand der Übertragung bietet, auf der sich zum Verständnis sowohl der sich Äußernde als auch der Adressat verfremden muß und die Unbefugte und Ignoranten abweist.

detopia-2016:

Ceterum censeo (Carthaginem esse delendam) „Im Übrigen beantrage ich (die Zerstörung Karthagos).“ – Eine beharrlich wiederholte Forderung. Vor Beginn des Dritten Punischen Krieges soll Cato mit diesem Ausspruch am Ende jeder Senatssitzung die Zerstörung Karthagos gefordert haben. Als einziger Autor zitiert Plutarch Cato „wörtlich“, dies aber nur in altgriechischer Sprache. – „Ich beantrage aber, dass es auch Karthago nicht mehr geben soll.“

 Ceterum censeo progeniem hominum esse deminuendam. „Im Übrigen bin ich der Ansicht, dass die Nachkommenschaft der Menschen vermindert werden müsse.“ - Ausspruch des Biologen Bernhard Grzimek in Anlehnung an das obige Zitat.

28/29

Der Leibarzt der Kaiserin Maria Theresia, Gerard van Swieten, verordnete seiner Patientin gegen ihre anfängliche Kinder­losigkeit eine manuelle reizerregende Vorbereitung auf den ehelichen Vollzug; und dies selbstverständlich auf Lateinisch, das ja, wie wir es kennen, selten - wenn auch nicht niemals - unter die Gürtellinie zielt. 

Offensichtlich hat die Verordnung gewirkt, denn die Kaiserin gebar danach, in verhältnismäßig schneller Folge, sechzehn Kinder; <schenkte ihnen das Leben>, wie man sagte und vielleicht noch sagt, wenn auch wohl kaum in Mittelafrika oder Südamerika oder Indien.

Progenies hominum also: das furchtbare Problem, auf dem sich, direkt oder indirekt, alle - wirklich alle - Probleme der Mensch­heit gegenwärtig aufbauen; alle sind, mitunter auf Umwegen und mit verspätung­fördernden Zwischenstationen, auf dieses Problem zurückzuführen.

 Wohlgemerkt: ich formuliere hier nicht, wie meine Rede hätte lauten sollen.  

Über Fortpflanzung und die verheerenden Folgen ihres Exzesses hätte ich vorsätzlich mit Jugendlichen niemals gesprochen. Manch eine oder manch einer hätte auf die Idee kommen können, sich selbst für ein Beispiel dieser Potenzierung zu halten, zu Unrecht.

Es waren Sechzehn- bis Neunzehnjährige. Zur Zeit ihrer Geburt existierte das Problem zwar schon, und mancher eindringliche Warner - zumal der Club of Rome - hatte seine Vorhersage in deutlichere und drohendere Worte gefaßt als zuvor, aber die physische Katastrophe hatte sich noch nicht so abgezeichnet, daß man sich seiner Wahrnehmung nicht hätte entziehen können. Es erforderte noch keine Neudisposition der Lebens­gestaltung, noch keine Einschränkung, keinen Zusatz zu täglichen Verrichtungen, kein <Abfall-Bewußtsein>.

29-30


Es lag daher nicht näher als die wachsende Anzahl der heutigen Probleme mit noch unbestimmtem Kern, die erst nächstes Jahr oder nächste Woche oder morgen vormittag auf uns zukommen.

Wer von den Atomtechnikern dachte vor zwanzig Jahren an das, was man heute <Entsorgung> nennt! Man sprach, und zwar allen Ernstes, von <sauberer Energie>. Atommüll gab es so wenig wie die Angst davor, und offensichtlich — hier beginnt man am Verstand der verantwortlichen Wissenschaftler zu zweifeln — wurde auch keiner erwartet.

Erfinder sind eben nicht dieselben wie jene, die die Folgen und die Überreste der Erfindung zu beseitigen haben. Aber zugrunde gehen werden sie daran wie wir alle, und gerechterweise auch jene, die ihnen, verantwortungs­fremd, den Wertfreibrief ausgestellt haben.

Es versteht sich, daß ich niemals mit Eltern oder werdenden Eltern, an die ich mich allerdings hiermit wende, über die Konsequenzen der progenies gesprochen habe. Was ich ihnen zu sagen hätte, würde eine Sphäre bedingen, die wiederum nur auf lateinisch betretbar wäre.  

Aber fragen kann ich auch deutsch, nämlich:

Was uns alle am Leben hält, ist die Verdrängung. Doch selbst die unwandelbaren Egoisten unter uns, jene, die zu Mitgefühl oder Mitleiden unfähig sind —, und wir alle, ob wir es wollen oder nicht, stumpfen gegen Information der Medien über die zunehmenden Schrecken der Erde ab, so daß uns allmählich das Wort <grauenhaft> in der Kehle steckenbleibt —, alle von uns müßten doch zumindest die Angst kennen, Angst vor der Vergiftung unserer Erde, der Verdunkelung des Himmels durch den Staub der sich häufenden Vulkanausbrüche und die Abgase im Flugwesen, vor dem steigenden Meeresspiegel, den sinkenden Küsten, dem Ozonschwund oben, der Ozonhäufung unten.

Wer nicht die passive Phantasie besitzt, sich die vernichtenden Erdkatastrophen vorzustellen, ist kein Realist. Realistsein ist keine Qualität, sondern Eigenschaft, Sicht und der Zustand, den die Zeit allen euch Eltern gebietet. 

Zwar wird die Wirklichkeit alsbald auch den hartnäckigsten Verdränger eingeholt haben, selbst wenn er sie bis zu seinem physischen Untergang verleugnet, aber bis dahin bleibt er ein rüstiger wahrnehmungs­fremder Verdränger.

All dies konnte und wollte ich den Jugendlichen in Weilheim nicht sagen. Denn sie sind ja nicht schuldig. Und mein Vertrauen in das Wort war und ist nicht groß genug, um mich glauben zu machen, es könne verhindern, daß Unschuldige schuldig werden. 

Ein Grundsatz des World Wildlife Fund lautet: <Wir haben die Erde nicht von unseren Eltern geerbt, sondern von unseren Kindern geliehen.>  In welchem Zustand werdet ihr Eltern sie ihnen dereinst übergeben? Und wie viele Milliarden werden es sein, die sich in das Übriggebliebene teilen müssen?

34

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Ende

 

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