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14  Philosophie eines Sprengkopfes

Arthur Schopenhauer ist auch nach seinem 200. Geburtstag nicht zu entschärfen 

Überarbeitete Fassung des Spiegel-Artikels im Heft 5/1988

  Schopenhauer bei detopia     wikipedia  Sprengkopf 

 

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Wie war's zur Feier des Tages? Man erinnert sich dunkel. Weihrauch und Myrrhe im Feuilleton, Biographien und Sammelbände termin­gerecht in den Buch­handlungen, flächendeckende Lesereisen ihrer Verfasser, die obligaten Diskussionsrunden im Dritten; und jeder, der wollte, konnte Arthur Schopenhauer in die Tasche stecken — als Gedenkmünze.

Damit sind die schlimmsten Befürchtungen des so Geehrten Wirklichkeit geworden, der künftigen Grals­hütern am Ende seines Lebens ins Stammbuch schrieb: »Daß in kurzem die Würmer meinen Leib zernagen werden, ist ein Gedanke, den ich ertragen kann, — aber die Philosophie-Professoren meine Philosophie — dabei schaudert's mich.«

Doch Schopenhauer, der die Denker-Zunft im Fleische zu beschimpfen und zu verhöhnen wußte wie kein zweiter deutscher Philosoph, wäre nicht er selbst, wenn er sich der Nachwelt schutzlos ausgeliefert hätte. Deshalb mag es lobhudeln, kritteln oder dozieren nach Herzenslust, seine Lehre weist bis heute keine Spuren von Zersetzung auf. Der Sarkophag glänzt wie am ersten Tag, mehr noch, es tickt immer lauter und vernehmlicher darin.

Wie das kommt, kann man erklären; und ich formuliere zu diesem Zweck folgende Ausgangsthese: Ein entscheidendes Kennzeichen der Philosophie Arthur Schopenhauers ist ihre geistesgeschichtliche Verfrühung. Sie kam gut eineinhalb Jahrhunderte vor ihrer Zeit zur Welt und erreicht ihre höchste Aktualität und Brisanz deshalb erst jetzt. Mehr noch, sie avanciert zur Schlüsseldoktrin jenes Goldenen Zeitalters des Pessimismus, in dem wir leben.

Auch mit dieser Vorzeitigkeit hat Schopenhauer es jemandem gezeigt, den er nicht ausstehen konnte, seinem Intimfeind Georg Wilhelm Friedrich Hegel nämlich. Dieser »nichtswürdige, plumpe Scharlatan« behauptete nämlich die prinzipielle Nachgängigkeit aller Reflexion und schloß entsprechend die Vorrede zu seinen <Grundlinien der Philosophie des Rechts> mit dem berühmt gewordenen Bild der Eule der Minerva:

Als der Gedanke der Welt erscheint die Philosophie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat ... Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, ... die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.

Schopenhauer verhielt sich genau gegensinnig. Er war denkerischer Avantgardist, er segnete nicht wie Hegel ab, was ohnehin die normative Kraft des Faktischen auf seiner Seite hatte, sondern nahm vorweg, antizipierte, schuf ein System, das Geschichte nicht immer schon überholt hatte, sondern erst noch einholen mußte. Seine Eule der Minerva fliegt nicht in die Nacht, sie fliegt gegen Sonnenaufgang, genauer, in die Sonnenaufgänge über Los Alamos, Hiroshima, Nagasaki, dem Bikini-Atoll, Nowaja Semlja und anderswo. [deto-2018: Atombomben]

Die Summe seiner Überlegungen ist entsprechend nicht schon längst als ein weiteres Kapitel Philosophiegeschichte zu Buche geschlagen, vielmehr dämmert uns Nachgeborenen erst langsam, wieviel Sinn sein Pessimismus macht. Und manch einer wehrt sich bis an sein Lebensende gegen die ihm zugemutete Wahrheit.

Die Vorhut des Nachdenkens nimmt allerdings das Handicap in Kauf, nicht über ein Ensemble empirischer Daten zu verfügen, sondern nur über mehr oder weniger scharf konturierte Erlebnis- und Erwartungs­horizonte, die mit Hilfe von Sensibilität und Intuition erschlossen werden. Dieses Instrumentarium rückt Schopenhauers Philosophie in die Nähe der Kunst und erklärt damit auch die auf den ersten Blick verwunderliche Tatsache, daß die Nachwelt die Bedeutung seines divinatorischen Entwurfs verläßlicher abschätzen kann als sein Urheber.

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Schopenhauer hat das zumindest geahnt, denn er notierte 1839 in sein Manuskriptbuch: »Nicht nur das Tun anderer, sondern selbst sein eigenes versteht man bisweilen erst viele Jahre hinterher.« Von einer Inkubations­zeit, die etliche Generationen umfassen sollte, aber ist auch er sicherlich nicht ausgegangen.

Es ist folglich uns Nachgeborenen vorbehalten, darüber zu staunen, mit welcher Reichweite dieser Kopf arbeitete. Und deshalb können wir unsere Ausgangs­behauptung auch so formulieren:

Schopenhauer gelang der weltanschauliche Vorgriff auf die Realität des späten 20. Jahrhunderts. Was er damit leistete, hat er trotz seines nicht eben unterentwickelten Selbstwertgefühls niemals ganz ermessen können. Dazu sind erst wir in der Lage, weil sich erst jetzt Schopenhauers Philosophie und die Welt, die sie betrifft, synchronisieren lassen.

Allerdings ist das Herstellen der Paßgenauigkeit ein eigenaktiver Vorgang. Als solcher hat er nichts mit Schopen­hauer­vergötzung zu tun, sondern mit Schopenhauerkomplettierung. Es gibt ein entscheidendes Faktum, das heute Allgemeingut ist, aber für keinen Denker des 19. Jahrhunderts auch nur absehbar war und das doch als Schlußstein das ganze Schopenhauersche System stabilisiert: die Machbarkeit der Apokalypse. Diesen Schlußstein gilt es hinzuzufügen. Schopenhauer wird nur der gerecht, der ihn weiter-, fertig-, zu Ende denkt. Die Voraussetzung dafür ist die Unfähigkeit, vor diesem großen Geist zu erstarren, was ja denn auch schwerfällt, weil er unermüdlich auf uns einschimpft.

Nur erkennen wir jetzt die Absicht und lassen uns die Anstachelei gern gefallen. Denn abgesehen von dem Spaß, den es Schopenhauer macht, als Virtuose der Verbalinjurie und Geißel aller akademischen Wiederkäuer zu agieren, liefert er mit seinen Sottisen bis heute die beste Medizin gegen das Laster der Nachbeterei und Kopfnüsse zuhauf zur Anregung jenes »Selbstdenkens«, auf das er ebenso große Stücke hielt wie Georg Christoph Lichtenberg, dessen geringe Popularität er übrigens immer wieder beklagt.

Schopenhauers epochale Bedeutung ist Folge eines Exorzismus. Er hat dem abendländischen Bewußtsein den Teufel ausgetrieben — den Teufel des Optimismus und der immer wieder vertagten und verschobenen Heilserwartungen.

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Auch die Aufklärung war noch eine säkularisierte Theodizee, die unsere Welt schon deshalb weiterhin als beste aller möglichen begriff, weil sie uns angeblich die Chance bot, sie optimal umzugestalten und progressiv zu reparadisieren. Mit solchen Hirngespinsten und der sie befördernden, wie Schopenhauer formuliert, »wahrhaft ruchlosen Denkungsart« blauäugigen Einverstandenseins ist es seit Veröffentlichung der Welt als Wille und Vorstellung vorbei.

In der Philosophie sind die Dämonen der Hoffnung auf bessere Zeiten und des weltfrommen Meliorismus im Jahre 1818 ausgefahren, und dem ent-täuschten und ernüchterten Betrachter fällt es wie Schuppen von den Augen:

Dieser Welt, diesem Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehen, daß eines das andere verzehrt, — wo daher jedes reißende Tier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, — wo sodann mit der Erkenntnis die Fähigkeit Schmerz zu empfinden wächst, welche daher im Menschen ihren höchsten Grad erreicht und einen um so höheren, je intelligenter er ist, — dieser Welt hat man das System des Optimismus anpassen und sie uns als die beste unter den möglichen andemonstrieren wollen. 

Die Absurdität ist schreiend. — Inzwischen heißt ein Optimist mich die Augen öffnen und hineinsehen in die Welt, wie sie so schön sei, im Sonnenschein, mit ihren Bergen, Tälern, Strömen, Pflanzen, Tieren usf. — Aber ist denn die Welt ein Guckkasten? Zu sehen sind diese Dinge freilich schön; aber sie zu sein ist ganz etwas anderes.

Hier wird dem Optimismus ein gravierender Mangel an existentieller Wahrnehmungsschärfe, an kreatür­lichem Einfühlungsvermögen und Mitleid, kurz, eine beispiellose Abgestumpftheit gegenüber dem Leidensdruck der Welt nachgewiesen, und Schopenhauer ist entsprechend nicht müde geworden, uns Einblicke in jene Abgründe des Lebendigseins zu verschaffen, die sich hinter dem schönen Schein <blühenden Lebens> auftun. Das Sonntagsgesicht von Mutter Natur ist eine Maske, dahinter aber verbirgt sich das Antlitz der Medusa, in das Schopenhauer ein Leben lang starrt, ohne zu erstarren, und dessen Physiognomie er in immer neuen Anläufen beschreibt.

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Gnostischer Realismus, so könnte man das Ergebnis nennen; und wer das vierte Buch seines Hauptwerks studiert hat, wird der trostlosen Wahrheit, daß »alles Leben Leiden ist« und ein »durchweg unseliger Zustand«, entweder gleichermaßen standzuhalten lernen oder aber, auf Dauer traumatisiert, der höhnischen Aufforderung des Autors nachkommen müssen, doch lieber in die Kirche zu gehen und die Philosophie fürderhin in Ruhe zu lassen.

Auch hier greift also das Entweder-oder-Prinzip von Schopenhauers Zeitgenossen Sören Kierkegaard. Es gibt nur ein Ja oder Nein zu Schopenhauers Weltbild, kein Vielleicht. Bei jeder Kollision mit diesem Monolithen des philosophischen Pessimismus geht es zu wie bei der Planetenbildung: Entweder man prallt auf und verschmilzt, oder man prallt ab und verliert sich. Zur Polarisierung der Verhaltensweisen trägt dabei nicht nur Schopenhauers scharfe Zunge bzw. spitze Feder bei, die sich automatisch da Feinde macht, wo sie keine Freunde werben kann, sondern mehr noch die von allem tiefsinnigen Geraune, von aller selbstverliebten Begriffsakrobatik freie und für den jargongewohnten Fachmann vielleicht gerade deshalb so erschreckende Klarheit und Griffigkeit seiner Ausführungen.

Weltanschauungen verwandeln sich dieser Bezeichnung zum Trotz in der Regel da, wo sie philosophisch auf den Begriff gebracht werden, in blutleere und abstrakte Gebilde; Schopenhauers System aber bleibt anschaulich, faßbar, mehr noch, es erteilt sinnfälligen Anschauungsunterricht. Wer ihm aufmerksam folgt, das ist wahr, dem geht darüber seine rosarote Brille in tausend Stücke; nur war eben das ja auch die Entstehungs­voraussetzung dieser Philosophie. Denn nur weil sie die Wahrnehmungsblockaden des Optimismus durchbrach und das Wegvernünfteln des Unheils stornierte, gelang ihr eine Wesensschau, deren Eindrücklichkeit der Rostfraß der Sekundärdenker und Kathederphilosophen bis auf den heutigen Tag nichts hat anhaben können.

Ich begnüge mich hier mit einigen wenigen Beispielen für die konkrete Evidenz, die Schopenhauers Daseins­analyse auszeichnet. Sie ist nicht auf das Anpflocken der Gültigkeitsbehauptungen an logische Schlußketten angewiesen, ihre Wahrheit läuft überall frei herum und läßt sich doch mit Händen greifen.

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Dem bei Rationalisten und Deisten des 18. Jahrhunderts so beliebten Lust-Unlust-Kalkül etwa, das nach Buchhaltermanier am Ende der Weltbilanz einen Glücksüberschuß ausweisen sollte, macht Schopenhauer in seinen Parerga und Paralipomena mit einem einzigen <Protokollsatz> den Garaus: »Wer die Behauptung, daß in der Welt der Genuß den Schmerz überwiegt, oder wenigstens sie einander die Waage halten, in der Kürze prüfen will, vergleiche die Empfindung des Tieres, welches ein anderes frißt, mit der dieses anderen.«

Was mancher dumpfere Denker achselzuckend zur Monotonie der Generationenfolge verkleistert, gewinnt — zweites Beispiel — seine skandalöse Unerträglichkeit zurück, wenn es heißt: »Jedes Mal, daß ein Mensch gezeugt und geboren worden, ist die Uhr des Menschenlebens aufs neue aufgezogen, um jetzt ihr schon zahllose Male abgespieltes Leierstück abermals zu wiederholen, Satz für Satz und Takt für Takt, mit unbedeutenden Variationen.«

Und wer im Vollbesitz seiner humanistischen Bildung ebenso weihevoll wie beschwichtigend von der <condition humaine> schwätzt, deren Schattenseiten man sehe, aber doch bitte schön nicht verabsolutieren wolle, lasse sich zum dritten wie jener »verstockteste Optimist« von Schopenhauer »durch die Kranken­hospitäler, Lazarette und chirurgischen Marterkammern, durch die Gefängnisse, Folterkammern und Sklavenställe, über Schlachtfelder und Gerichtsstätten führen«, um zuletzt sprachlos vor Entsetzen einzusehen, »welcher Art dieser meilleur des mondes possibles ist«.

Schopenhauers geistesgeschichtliche Ausnahmestellung wäre durch solche illusionslose Bestands­aufnahme, die der Devotionsphilosophie eines Hegel ebenso die Grundlage raubte, wie sie heute dem hedonistischen Komplex der Freizeit- und Unterhaltungsindustrie widerspricht, bereits gesichert. Aber er ist dabei nicht stehengeblieben, sondern hat den Schritt vom Weltentzauberer zum Weltverneiner getan.

Mit siebzehn wurde er, wie er in einer autobiographischen Notiz festhält, wie Buddha vom »Jammer des Lebens« ergriffen und gelangte zu der Einsicht,

»daß diese Welt kein Werk eines allgütigen Wesens sein könnte, wohl aber das eines Teufels, der Geschöpfe ins Dasein gerufen, um am Anblick ihrer Qual sich zu weiden«.

Später taufte er das infernalische Urprinzip, das das Christentum als Schöpfergott anbetete und Hegel zum Weltgeist zerebralisierte, um und nannte es den »blinden Weltwillen«, wobei sich aber an der exorzistischen Grundtendenz seines Philosophierens nichts änderte. Der Optimismus war Blendwerk, das die Opfer bei Laune hielt, bis die Reihe an sie kam; deshalb mußte er philosophisch zunichte gemacht werden.

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Aber das Leben ließ sich nicht als eine bloße Halluzination abtun, dazu war es zu blutig. Schopenhauer sprach von »Objektivationen des Weltwillens«, also von Wirklichkeit; trotzdem weigerte er sich, seine Empörung angesichts einer diabolischen Schöpfung von ihrer Fülle, Vielfalt und Schönheit ersticken zu lassen. Er wählte die schon von Zeitgenossen als ungeheuerlich erlebte Alternative, die philosophische Anpassung an das, was nun einmal da war, zu verweigern und jede Versöhnung mit der elenden Realität auszuschlagen. Das Nein zu Illusionen über das Dasein wird ohne Abschwächung und ohne Konzessionen als Nein zum Dasein und in letzter Konsequenz als Nein zum eigenen Dasein wiederholt:

Demnach ist allerdings das Dasein anzusehn als eine Verirrung, von welcher zurückkommen Erlösung ist ...
Als Zweck unseres Daseins ist in der Tat nichts anderes anzugeben als die Erkenntnis, daß wir besser nicht da wären. Dies aber ist die wichtigste aller Wahrheiten, die daher ausgesprochen werden muß; so sehr sie auch mit der heutigen europäischen Denkweise in Kontrast steht.

Die Schöpfung, so läßt sich die »wichtigste aller Wahrheiten« in ihrer polemischen Stoßrichtung auch formulieren, muß nicht verbessert, vervollkommnet, humanisiert werden, vielmehr ist sie rückgängig zu machen. Den Zustand ihrer erfolgreichen Revokation nennt Schopenhauer in Anlehnung an buddhistisches Gedankengut Nirwana, und die Welt als Wille und Vorstellung endet entsprechend mit der Verheißung des Verlöschens und einem Hymnus an das Nichts.

Bis zu diesem Punkt, an dem die Einsicht in die Negativität des Lebens sich radikalisiert zu seiner Negation, muß man Schopenhauers Lehre nachdenken, um sie unter Rückgriff auf zeitgenössische Erfahrungen und Erkenntnisse weiterdenken zu können. Schopenhauer hat nämlich die Was-Frage — »Was ist die Welt?« — eindrücklich beantwortet, gleichzeitig aber die sich anschließenden Fragen nach dem »Woher und Wohin und Warum« jenseits der »echten philosophischen Betrachtungsweise« ansiedeln wollen. Das ist nicht hinzunehmen.

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Vielmehr muß man solche Reglementierungsversuche mit eben dem philosophischen Unternehmungsgeist unterlaufen, der Schopenhauer selbst beseelte, als er als Sechsundzwanzigjähriger mit den Vorarbeiten zu seinem Hauptwerk begann und konstatierte: »Was macht den Philosophen? Der Mut, keine Frage auf dem Herzen zu behalten.«

Stellen wir also beherzt zumindest zwei sich aufdrängende Fragen — eine, von der Schopenhauer zugab, sie nicht beantworten zu können, und eine zweite, bei der er glaubte, über eine befriedigende Problem­lösung zu verfügen. Fragen wir nach, und vertrauen wir darauf, daß das »Schaumgebilde« auch der jüngsten Menschheits­geschichte doch Erfahrungen gespeichert hat, über die Schopenhauers Jahrhundert noch nicht verfügte und mit denen es folglich auch nicht argumentieren konnte.

Die beiden Fragen gehören eng zusammen, haben mit dem Woher und Wohin zu tun und beginnen doch mit einem Wie: Wie ist das Leben und damit das Leiden in die Welt gekommen, und wie kommt es wieder heraus? Vor der Ursprungsfrage hat Schopenhauer kapituliert, kapitulieren müssen, weil seiner Lehre nach der Satz vom Grunde auf die Erscheinungswelt begrenzt blieb und auf das Ding an sich, den Weltwillen, nicht anwendbar war. Er erschien grundlos, über seine Motivation waren keine Aussagen möglich, ja, ihm Absichten auch nur zu unterstellen, führte systemimmanent unweigerlich in die Aporie. Klipp und klar heißt es im nachgelassenen sogenannten »Cholerabuch« von 1832:

Gleichwie Demokrit nicht Rechenschaft davon geben konnte, wie denn das eine Atom vom perpendikulären Wege sei abgelenkt worden und so die Welt veranlaßt habe; eben so bleibt es bei mir unerklärt, wie das, was wir als Willen zum Leben kennen, je auf den Irrweg, dieses zu werden, geraten sei und die Ruhe des unendlich vorzuziehenden seeligen Nichts verlassen habe: — oder woher zuerst dieser Mißton, die Welt, gekommen sei.

 

Hier sind wir gegenüber Schopenhauer, obgleich tastend, fortgeschritten. Die Evolutionstheorie Darwins, dessen Werk über Die Entstehung der Arten ein Jahr vor Schopenhauers Tod erschien, hat er nicht mehr rezipieren können. Dabei bestätigt sie mit ihren vernunftlosen Prinzipien der Mutation und Selektion Schopenhauers visionäres metaphysisches Konzept auf das nachdrücklichste und legitimiert seine Empörung angesichts des unerträglichen Lebensverschleißes, den das evolutionäre Trial-and-error-Verfahren im Gefolge hat.

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Auch Freuds Todestrieb fügt sich so paßgenau ein, als hätte Schopenhauer selbst das psychoanalytische Forschungsprogramm auf den Weg gebracht, das das Nein zur Existenz im Innersten jedes noch so primitiven Organismus aufspürte. Ich erwähne in diesem Zusammenhang des weiteren Konzepte wie das der Selbstorganisation der Materie, die im Anschluß an Monod geführte lebhafte Diskussion um Zufall oder Notwendigkeit und die Hypothesen der Biochemie über den Ursprung des Lebens — alles mögliche Bausteine zu einer empirischen Antwort auf die von Schopenhauer offengelassene Frage nach dem uranfänglichen Wie und Wieso.

Daß solche Auskünfte zwar jedem optimistisch-teleologischen Sinnverlangen das Wasser abgraben, trotzdem aber tröstlich sein. können, demonstriert jenes Weltmodell der Astrophysik und Astronomie, das als <Urknalltheorie> inzwischen nahezu selbstverständlich geworden ist. Nach dieser kosmologischen Vorstellung ist das All, wie es unsere großen Teleskope abbilden, nur die Momentaufnahme des <big bang>, einer auch Raum und Zeit erst aus sich herausschleudernden Megadetonation. Nun sind wir als Gattung gerade an dem Punkt unserer Entwicklung angekommen, wo wir uns anschicken, mittels mannigfaltiger Sprengsätze von der planetarischen Stätte unseres Wirkens abzutreten. Da scheint es doch eine glückliche Fügung, daß naturwissenschaftlicher Forschungsdrang uns Anfang und Ende zusammenschließt und wir einsehen dürfen, wie sehr wir bis zum Schluß in Übereinstimmung mit der Natur handeln, weil unsere Weltvernichtung den weltschöpferischen Akt, der Endknall den Urknall also, gleichsam nur en miniature nachstellt.

Mit dieser terminalen imitatio naturae wären wir auch bei der Beantwortung der zweiten Frage — Wie kommt das Leben wieder aus der Welt heraus? — angelangt. Hier hatte Schopenhauer zwar eine Lösung skizziert, sie erweist sich aber nicht als vor-läufig im Sinne seines weltanschaulichen Avantgardismus, sondern als vorläufig in der Bedeutung des Provisorischen, der bloßen Hilfskonstruktion.

Aufgrund des begrenzten naturwissenschaftlichen Kenntnisstandes seiner Epoche und eines entsprechend geringen, deutlich subholozidalen Vernichtungs­potentials mußte der Weltverneiner Schopenhauer auf die Propagierung symbolischer und mystischer Weltauslöschungs­strategien ausweichen.

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Zu diesem Zweck machte er zahlreiche Anleihen bei der buddhistischen Erlösungslehre und empfahl ästhetische Kontemplation, Askese und Resignation als Mittel zur Lähmung des Weltwillens und damit zum Leidensabort.

Angesichts unserer durch rastlose Aufrüstung erworbenen und immer noch atemlos perfektionierten Befähig­ung zum planetarischen Overkill ist das Weltaufhebungsszenario, das Schopenhauer in seinem Haupt­werk entwirft, von geradezu rührender Naivität. Wenn wir es gleichwohl zitieren, dann aus zweierlei Gründen: erstens, um seine systemgefährdende Unzulänglichkeit augenfällig werden zu lassen, und zweitens, um zu verdeutlichen, welche Energien der menschliche Geist — übrigens ganz bewußtlos — innerhalb von einhund­ert­undfünfzig Jahren zu mobilisieren vermag, um den Schlußstein eines philosophischen Gedanken­gebäudes zu entdecken und die Vorbereitungen zur pragmatischen Umsetzung der hier verkündeten »wichtigsten aller Wahrheiten« abzuschließen.

Schopenhauer also schreibt zum Thema Revokation der Schöpfung:

Freiwillige, vollkommene Keuschheit ist der erste Schritt in der Askese oder der Verneinung des Willens zum Leben.... Die Natur sagt aus, daß, wenn diese Maxime allgemein würde, das Menschengeschlecht ausstürbe: und nach dem, was im zweiten Buch über den Zusammenhang aller Willenserscheinungen gesagt ist, glaube ich annehmen zu können, daß mit der höchsten Willenserscheinung auch der schwächere Wiederschein derselben, die Tierheit, wegfallen würde; wie mit dem vollen Licht auch die Halbschatten verschwinden.

Mit gänzlicher Aufhebung der Erkenntnis schwände dann auch von selbst die übrige Welt in Nichts; da ohne Subjekt kein Objekt. Ich möchte sogar hierauf eine Stelle im Veda beziehen, wo es heißt: »Wie in dieser Welt hungrige Kinder sich um ihre Mutter drängen, so harren alle Wesen des heiligen Opfers.« Opfer bedeutet Resignation überhaupt, und die übrige Natur hat ihre Erlösung vom Menschen zu erwarten, welcher Priester und Opfer zugleich ist.

Daß in den Rüstungszentren — wie in den Kommandozentralen unseres Waffengangs gegen den Erbfeind Natur — Priester am Werk sind, die zielstrebig auf die »Erlösung der Natur« hinarbeiten, werden die dort Beschäftigten, die sonst von Philosophenseite nur Verunglimpfungen gewöhnt sind, mit überraschter Genug­tuung registrieren. 

* Revokation   wiktionary  Revokation  Rücknahme, Widerruf  

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Alles übrige aber, also das von Schopenhauer unterstellte quasi-automatische Sich-Aufschaukeln vom Zeugungs­verzicht zur Weltaufhebung, können selbst Eskalationsspezialisten nur mit Kopfschütteln und Schulterzucken quittieren. Und natürlich haben sie recht. Kein überzeugter Schopenhauerianer kann heute noch an diesem Teil der Doktrin festhalten, vielmehr müssen wir um der inneren Stimmigkeit der Lehre willen Buddha durch die Ballistik und das numinose Verwehen durch das öko-nukleare Nirwana ersetzen.

Man sage nicht, Schopenhauer habe es nicht so gemeint, und das Postulat, daß wir besser nicht wären, komme ihm nur deshalb so leicht von den Lippen, weil er genau wisse, daß am »fortwährenden Dasein des Menschengeschlechts ... als Beweis der Geilheit desselben« eben doch nicht zu rütteln sei.

Schopenhauer war kein nihilistischer, er war ein an-nihilistischer Denker, d.h. ein Vernichtungsphilosoph, der jederzeit für die effektivste Methode der Rückkehr zum Nichts votiert hätte. Es war ihm bitterernst mit dem Weltuntergang, und nur deshalb konnte er das Sterben zum »moralischen Hauptzweck des Lebens« erheben.

Wir stehen an jenem Umschlagspunkt unserer Historie, an dem die Optimisten den Blick verstört zurück­wenden und nur noch der Pessimismus frohgemut nach vorn schauen kann, befinden uns also nicht in der Postmoderne, wie eine progressive Gestrigkeit uns weismachen will, sondern im Präapokalyptikum.

Und weil das so ist, müssen wir unseren Zeitgenossen Schopenhauer gegen seine Verniedlicher, Umarmer und Historisierer in Schutz nehmen und ihn ausreden lassen in dieser <Strafkolonie>, als die er die Erde identifizierte. Das fällt nicht leicht, zumal er uns Deportierten und Verschleppten nicht larmoyant übers Haar streicht oder menschenfromm um den Bart geht.

Vielmehr wird uns auch die Wahrheit über uns selbst zugemutet: Homo sapiens ist »im Grunde ein wildes, entsetzliches Tier«, das selbst als höchste Stufe des sich objektivierenden Weltwillens einen »widerwärtigen Anblick« bietet — ein Eindruck, der sich noch vertieft, wenn man seine Vergangenheit Revue passieren läßt:

Die Geschichte zeigt uns das Leben der Völker, und findet nichts, als Krieg und Empörungen zu erzählen: die friedlichen Jahre erscheinen nur als kurze Pausen, Zwischenakte, dann und wann einmal. Und eben so ist das Leben des einzelnen ein fortwährender Kampf, nicht etwa bloß metaphorisch mit der Not oder mit der Langewelle, sondern auch wirklich mit anderen. Er findet überall den Widersacher, lebt in beständigem Kampfe und stirbt, die Waffen in der Hand.

Der letzte Satz ist wahrhaft prophetisch und taugt unserer Gattung wie kein zweiter zum Nachruf und Epitaph:

<Sie fand überall den Widersacher, lebte in beständigem Kampfe und starb, die Waffen in der Hand.>

Wir wollen ihn uns eingemeißelt denken in die Ruinen einer verwüsteten Welt. Wir lesen ihn in der erkalteten Schmelze der Stadtkerne. Ihn buchstabiert die Kraterschrift auf der Oberfläche eines ehemals von Leben überbordenden Planeten, auf dem ein Philosophen­traum Wirklichkeit geworden ist und man sich den Einwand Arthur Schopenhauers so tatendurstig zu Herzen nahm,

»daß es viel besser wäre, wenn die Sonne auf der Erde so wenig wie auf dem Monde, hätte das Phänomen des Lebens hervorrufen können, sondern, wie auf diesem, so auch auf jener die Oberfläche sich noch im kristallinischen Zustande befände«.

Wird Widerspruch laut? 

Ja, ich höre es schon zischeln, ein derart beim Wort genommener Schopenhauer, der übrigens von der Philosophie als »Ungeheuer mit vielen Köpfen« redete, gehöre in den Giftschrank und sein Interpret ins Umerziehungslager des abendländischen Humanismus. Streiten wir uns also zu Ehren jenes Denkers, von dem Ludwig Marcuse einmal schrieb

»Er war der radikalste aller Unruhestifter, ein Aufsässiger — im Vergleich zu ihm war Marx nur auf kleine Reformen aus.«

Aber vergessen wir nicht, daß wir alle der Apokalypse zuarbeiten, alle Kollaborateure und Nirwana-Fabrikanten bleiben; auch die Abrüstungs­enthusiasten und Ökopazifisten, die so gewissenhaft die Funktion des Widerstandes übernommen haben, der den Gegendruck ansteigen läßt und die martialische Erfindungs­gabe mobilisiert.

Mag sein, daß Zeitgenossen, die Schopenhauer auf die hier skizzierte Art zu Ende denken, die Festtagsfreude verderben und deshalb vom akademischen Ordnungs­dienst vor die Tür gesetzt wurden. Das erklärte zumindest die Seltenheit entsprechender Versuche.

Aber wer wird da wehleidig tun. Philosophie war immer ein Minoritätenvergnügen und die pessimistische Spielart allemal. Und wieviel reflektierende Jünger braucht ein Philosoph denn schon auf einer Welt mit fünf Milliarden praktizierenden Schopenhauerianern.

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 Ansichten vom Großen Umsonst -- Essays 1984-1990 von Ulrich Horstmann