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3.  Überorganisierung

Huxley-1958

 

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Die kürzeste und breiteste Straße zum Alptraum der <schönen neuen Welt> führt - wie gesagt - über Übervölkerung und die beschleunigte Vermehrung der Menschheit — 2,8 Milliarden heute, 5,5 Milliarden um die nächste Jahrhundertwende, wobei der größte Teil der Menschheit vor der Wahl zwischen Anarchie und totalitärer Kontrolle stehen wird. 

Aber der wachsende Bevölkerungsdruck auf die verfügbaren Rohstoffe und Nahrungsmittel ist nicht die einzige Kraft, die uns dem Totalitarismus zutreibt. Dieser geheime biologische Feind der Freiheit ist mit unermeßlichen Kräften verbündet, welche gerade durch diejenigen Fortschritte der Technologie entstehen, auf die wir am stolzesten sind. Mit Recht stolz sind, kann man hinzufügen; denn diese Fortschritte sind die Früchte von Schöpferkraft und beharrlicher harter Arbeit, von Logik, Phantasie und Selbstlosigkeit — mit einem Wort, moralischer und intellektueller Tugenden, für welche man nur Bewunderung hegen kann. 

Aber es ist nun einmal auf dieser Welt so, daß niemand je etwas bekommt, ohne dafür zu bezahlen.  

Jene erstaunlichen und bewunderns­werten Fortschritte mußten erkauft werden. Ja, sie müssen, wie die letztes Jahr gekaufte Waschmaschine, noch immer weiter bezahlt werden, und jede Rate ist höher als die vorher­gehende.

Viele Historiker, viele Soziologen und Psychologen haben ausführlich und mit großer Besorgnis über den Preis geschrieben, welchen die westliche Welt für den technischen Fortschritt zu zahlen hatte und weiter zahlen wird. Sie weisen zum Beispiel darauf hin, daß die Demokratie kaum in Gesellschaften blühen kann, in denen die politische und wirtschaftliche Macht immer mehr konzentriert und zentralisiert wird. Der Fortschritt der Technologie aber hat gerade zu dieser Konzentration und Zentralisierung der Macht geführt und führt auch weiterhin dazu. 

Je leistungsfähiger die Maschinerie der Massenproduktion gemacht wird, desto mehr neigt sie dazu, komplizierter und kostspieliger zu werden — und wird so dem beschränkt bemittelten Unternehmer immer weniger erreichbar. Überdies kann Massenproduktion nicht ohne Massendistribution funktionieren; aber Massendistribution wirft Probleme auf, welche nur von den größten Erzeugern befriedigend gelöst werden können. 

In einer Welt der Massenproduktion und der Massendistribution ist der »kleine Mann« mit seinem ungenügenden Umlaufvermögen sehr benachteiligt. Im Wettbewerb mit dem »großen Mann« verliert er sein Geld und schließlich seine bloße Existenz als unabhängiger Erzeuger; der »große Mann« hat ihn verschlungen. 

Während der »kleine Mann« verschwindet, wird immer mehr wirtschaftliche Macht von immer weniger und weniger Leuten ausgeübt. Unter einer Diktatur wird die Großindustrie, welche durch die weiterentwickelte Technologie und den durch sie bedingten Ruin der Kleinunternehmen ermöglicht wurde, vom Staat dirigiert — das heißt, von einer kleinen Gruppe von Parteiführern und den Soldaten, Polizisten und Beamten, welche deren Befehle ausführen. In einer kapitalistischen Demokratie wie den USA wird die Großindustrie von der Machtelite wie Prof. Wright Mills sie genannt hat — dirigiert. 

Diese Machtelite beschäftigt unmittelbar mehrere Millionen des Arbeitsheeres des Landes in ihren Fabriken, Büros und Lagerhäusern, beherrscht noch mehr Millionen, indem sie ihnen Geld leiht, damit sie ihre Erzeugnisse kaufen, und beeinflußt, indem sie über die Medien der Massen­kommunikation verfügt, die Gedanken, Gefühle und Handlungen so gut wie jedermanns. Um die Worte Winston Churchills zu parodieren: Noch nie sind so viele so stark von so wenigen manipuliert worden. 

Wir haben uns wahrhaftig weit entfernt von Jeffersons Ideal einer wirklich freien Gesellschaft, bestehend aus einer Stufenfolge sich selbst regierender Einheiten — »den elementaren Republiken der Wahlbezirke, den Grafschaftsrepubliken, den Staatenrepubliken und der Republik der Union, welche alle eine Hierarchie von Machthabern bilden«.

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Wir sahen also, daß die moderne Technik zur Konzentration wirtschaftlicher und politischer Macht und zur Entwicklung einer Gesellschaft geführt hat, welche — rücksichtslos in den totalitären Staaten, höflich und unauffällig in den Demokratien — vom Großunternehmertum und der Großregierung beherrscht wird. 

Gesellschaften bestehen aber aus Einzelmenschen und sind nur insofern gut, als sie dem einzelnen helfen, seine Anlagen zu entfalten und ein glückliches und fruchtbares Leben zu führen. 

Welche Wirkung auf den Einzelmenschen hatten die technologischen Fortschritte der letzten Jahre? Hier die Antwort auf diese Frage, die ein Philosoph und Psychiater, Erich Fromm, gibt:

»Unsere zeitgenössische westliche Gesellschaft ist trotz ihres materiellen, intellektuellen und politischen Fortschritts der geistigen Gesundheit immer weniger förderlich und neigt dazu, die innere Sicherheit, das Glück, die Vernunft und Liebesfähigkeit des einzelnen zu untergraben; sie neigt dazu, ihn in einen Automaten zu verwandeln, welcher für sein Versagen als Mensch mit zunehmenden geistigen Erkrankungen und mit einer unter einem hektischen Trieb zu Arbeit und sogenanntem Vergnügen verborgenen Verzweiflung bezahlt.«

Unsere »zunehmenden geistigen Erkrankungen« können in neurotischen Symptomen Ausdruck finden. Diese Symptome sind auffällig und äußerst beunruhigend. Aber, »hüten wir uns davor«, sagt Erich Fromm, 

»geistige Hygiene als Verhütung der Symptome zu definieren. Symptome als solche sind nicht unsere Feinde, sondern unsere Freunde; wo sich Symptome zeigen, ist ein Konflikt vorhanden, und ein Konflikt zeigt stets an, daß die nach Ganzwerdung und Glück strebenden Lebenskräfte noch immer kämpfen.« 

Die wirklich hoffnungslosen Fälle geistiger Erkrankung sind unter den Menschen zu finden, die am normalsten zu sein scheinen. 

»Viele von ihnen sind normal, weil sie unserer Lebensweise so gut angepaßt sind und ihre menschliche Stimme schon so früh im Leben zum Schweigen gebracht wurde, daß sie sich nicht einmal wehren oder leiden oder Symptome wie die Neurotiker entwickeln.«

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Sie sind normal nicht im absoluten Sinn des Worts; sie sind normal nur in Beziehung auf eine zutiefst anormale Gesellschaft. Ihre vollkommene Anpassung an diese anormale Gesellschaft ist ein Maßstab für ihre geistige Erkrankung. Diese Millionen anormal normaler Menschen, die ohne Schwierigkeiten in einer Gesellschaft leben, welcher sie, wären sie menschliche Wesen, nicht angepaßt sein dürften, hegen noch immer »die Illusion der Individualität«. Tatsächlich aber sind sie in hohem Grad entindividualisiert worden. Ihre Konformität entwickelt sich zu einer gewissen Uniformität. Aber »Uniformität und Freiheit sind unvereinbar. Uniformität und geistige Gesundheit sind auch unvereinbar ... Der Mensch ist nicht geschaffen, ein Automat zu sein, und wenn er zu einem wird, ist die Basis der geistigen Gesundheit zerstört.«

Im Lauf der Evolution hat sich die Natur große Mühe gegeben, jedes Einzelwesen von jedem anderen verschieden zu gestalten. Wir pflanzen unsere Art fort, indem wir die Gene des Vaters mit denen der Mutter zusammenbringen. Diese Erbfaktoren können auf unendlich vielfältige Weise kombiniert sein. Körperlich und geistig ist jeder von uns einzigartig. 

Jede Kultur, die um der Leistungsfähigkeit willen oder im Namen eines politischen oder religiösen Dogmas den Einzelmenschen zu normen sucht, begeht einen Frevel an der biologischen Natur des Menschen. Wissenschaft läßt sich als die Zurückführung der Vielfalt auf die Einheit definieren. Sie sucht die endlos verschiedenen Naturerscheinungen zu erklären, indem sie die Einzigartigkeit besonderer Ereignisse unbeachtet läßt und sich auf ihre Gemeinsamkeiten konzentriert, um schließlich irgendeine Art von »Gesetz« aus ihnen abzuleiten, das sie erklärt und ein sinnvolles Umgehen mit ihnen ermöglicht. Zum Beispiel fallen Äpfel vom Baum, und der Mond bewegt sich über den Himmel. Die Menschen haben diese Tatsachen seit unvordenklichen Zeiten beobachtet. 

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Um mit Gertrude Stein zu sprechen, waren sie überzeugt, ein Apfel sei ein Apfel sei ein Apfel, der Mond dagegen sei der Mond sei der Mond sei der Mond. Es blieb Isaac Newton überlassen, wahrzunehmen, was diese sehr unähnlichen Naturerscheinungen gemein haben, und eine Gravitations­theorie zu formulieren, nach welcher gewisse Aspekte des Verhaltens von Äpfeln, von Himmelskörpern, ja von allen anderen Körpern im physikalischen Universum sich in Begriffen eines einzigen Ideensystems erklären und behandeln ließen. Ebenso begreift der Künstler die unzähligen Verschiedenheiten und Einzigartigkeiten der Außenwelt und seiner eigenen Vorstellungswelt und gibt ihnen Sinn innerhalb eines geordneten Systems bildnerischer, literarischer oder musikalischer Komposition. 

Der Wunsch, einer Unordnung Ordnung aufzuerlegen, aus Disharmonie Harmonie und aus Vielheit Einheit zu gewinnen, ist eine Art intellektuellen Instinkts, ein primärer und grundlegender geistiger Drang. In der Wissenschaft, der Kunst und der Philosophie sind die Auswirkungen dieses »Willens zur Ordnung«, wie ich ihn nennen möchte, größtenteils von Vorteil. Allerdings hat der Wille zur Ordnung viele voreilige Synthesen hervorgebracht, welche auf unzulänglichen Ergebnissen fußten, viele absurde metaphysische und theologische Systeme, viel pedantisches Verkennen von Vorstellungen für Wirklichkeit, von Symbolen und Abstraktionen für unmittelbare Erfahrung. 

Aber diese Irrtümer, so bedauerlich sie sind, stiften nicht viel Schaden, jedenfalls nicht unmittelbar — wenngleich manchmal ein schlechtes philosophisches System mittelbar Schaden stiften kann, wenn es als Rechtfertigung für sinnlose und unmenschliche Handlungen gebraucht wird. Erst in der sozialen Sphäre und auf den Gebieten der Politik und Wirtschaft wird der Wille zur Ordnung wirklich gefährlich. Da wird aus der theoretischen Zurück­führung unhandlicher Vielfalt auf verständliche Einheit in der Praxis die Zurückführung der menschlichen Verschiedenheit auf untermenschliche Gleichheit, von Freiheit auf Sklaverei. 

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In der Politik ist das Äquivalent einer gänzlich entwickelten wissenschaftlichen Theorie, eines gänzlich entwickelten philosophischen Systems die totalitäre Diktatur. In der Wirtschaft ist das Äquivalent eines schön komponierten Kunstwerks die reibungslos laufende Fabrik, in welcher die Arbeiter den Maschinen vollkommen angepaßt sind. Der Wille zur Ordnung kann Tyrannen aus denjenigen machen, die bloß danach streben, ein Durcheinander zu entwirren. Die Schönheit säuberlicher Ordnung wird zur Rechtfertigung für Despotismus.

Ordnung ist unentbehrlich; denn Freiheit entsteht nur und ist sinnvoll nur innerhalb einer sich selbst regelnden Gemeinschaft frei zusammenarbeitender Einzelmenschen. Doch kann Organisation, wenngleich unentbehrlich, auch verhängnisvoll sein. Zuviel Organisation verwandelt die Menschen in Automaten, erstickt den schöpferischen Geist und beseitigt sogar die Möglichkeit von Freiheit. Wie gewöhnlich liegt der einzig sichere Kurs in der Mitte, zwischen den Extremen des Laissez-faire einerseits und totaler Reglementierung andererseits.

Während der letzten hundert Jahre war die lange Folge technologischer Fortschritte von entsprechenden Fortschritten im Verwaltungswesen begleitet.

Komplizierten Maschinen mußten komplizierte soziale Einrichtungen an die Seite gestellt werden, dazu bestimmt, so glatt und effizient zu funktionieren wie die neuen Produktionsmittel. Um in diese Gefüge zu passen, mußten die Individuen sich entindividualisieren, mußten sie ihre angeborene Verschiedenheit verleugnen und sich einer Norm angleichen, mußten sie sich aufs äußerste bemühen, Automaten zu werden. Die entmenschlichenden Wirkungen der Überorganisierung werden noch verstärkt durch die entmenschlichenden Wirkungen der Übervölkerung. Je mehr die Industrie sich ausdehnt, einen um so größeren Teil der stetig zunehmenden Bevölkerung zieht sie in die großen Städte. 

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Das Leben in großen Städten aber ist geistiger Gesundheit nicht zuträglich (der höchste Anteil von Schizophrenie, so wurde festgestellt, ergibt sich unter den enggedrängten Einwohnern industrieller Elendsviertel); auch verhilft es nicht zu jener verantwortungsbewußten Freiheit innerhalb kleiner, sich selbst regierender Gruppen, die die erste Bedingung einer echten Demokratie ist. Das Stadtleben ist anonym und sozusagen abstrakt. Die Menschen stehen miteinander nicht als ganze Persönlichkeiten in Beziehung, sondern als Verkörperungen wirtschaftlicher Funktionen oder, außerhalb ihrer Arbeit, als verantwortungslose Vergnügungssuchende. 

Einem solchen Leben unterworfen, neigt der einzelne dazu, sich einsam und unbedeutend zu fühlen. Sein Dasein hört auf, irgendwelchen Sinn und Zweck zu haben. Biologisch gesprochen, ist der Mensch ein mäßig geselliges, nicht ein völlig soziales Lebewesen — ein Geschöpf, das mehr einem Wolf, sagen wir, oder einem Elefanten ähnelt als einer Biene oder einer Ameise. In ihrer ursprünglichen Form hatten menschliche Gesellschaften keine Ähnlichkeit mit einem Bienenkorb oder einem Ameisenhaufen; sie waren bloß Rudel. Zivilisation ist unter anderem der Vorgang, durch den primitive Rudel zu einer den organischen Gemeinschaften sozialer Insekten — grob und mechanisch — entsprechenden Analogie umgeformt werden. Gegenwärtig beschleunigen der Druck der Übervölkerung und des technischen Fortschritts diesen Vorgang. 

Der Termitenstaat scheint ein realisierbares und in manchen Augen sogar erstrebenswertes Ideal geworden zu sein. Unnötig, zu sagen, daß dieses Ideal tatsächlich nie verwirklicht werden wird. Eine große Kluft trennt das soziale Insekt von dem nicht allzu geselligen, mit einem großen Gehirn ausgestatteten Säugetier; und auch wenn das Säugetier sein möglichstes täte, das Insekt nachzuahmen, die Kluft bliebe bestehen. So sehr sie sich auch bemühen, die Menschen können keinen sozialen Organismus schaffen, sondern nur eine Organisation. Bei dem Versuch, einen Organismus zu schaffen, werden sie bloß einen totalitären Despotismus zuwege bringen. 

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Schöne neue Welt bietet ein phantasievolles und einigermaßen zynisches Bild einer Gesellschaft, in welcher der Versuch, Menschen nach dem Ebenbild von Termiten zu erschaffen, fast bis an die Grenzen des Möglichen getrieben wurde. Daß wir auf die »schöne neue Welt« hingesteuert werden, ist offensichtlich. Nicht weniger offensichtlich aber ist es, daß wir, wenn wir wollen, uns weigern können, mit den geheimen Kräften, die uns antreiben, zusammenzuwirken.

Gegenwärtig jedoch scheint der Wunsch, Widerstand zu leisten, nicht sehr stark oder sehr verbreitet zu sein.

Wie William Whyte in seinem bemerkenswerten Buch <The Organization Man>* gezeigt hat, tritt eine neue Sozialethik an die Stelle unseres traditionellen ethischen Systems — desjenigen Systems, in dem das Individuum vorrangig ist. Die Schlüsselwörter in dieser Sozialethik sind »Einordnung«, »Anpassung«, »sozial­gerichtetes Verhalten«, »Zugehörigkeits­gefühl«, »Erwerbung sozialen Verhaltens«, »Teamwork«, »Gruppengleichgewicht«, »Gruppenloyalität«, »Gruppen­dynamik«, »Gruppendenken«, »gruppenschöpferisch«. 

Ihre grundlegende Annahme ist die, daß das soziale Ganze größeren Wert und größere Bedeutung hat als seine individuellen Teile; daß angeborene biologische Unterschiede kultureller Gleichförmigkeit geopfert werden müssen; daß die Rechte des Kollektivs den Vorrang haben vor dem, was das 18. Jahrhundert die Menschenrechte nannte.

Gemäß dieser neuen Sozialethik hatte Jesus völlig unrecht mit der Behauptung, der Sabbat sei für den Menschen geschaffen worden. Im Gegenteil, der Mensch wurde für den Sabbat geschaffen und muß seine ererbten Idiosynkrasien opfern und vorgeben, der standardisierte Allerweltskumpan zu sein, den die Organisatoren von Gruppenaktivitäten als ihren Zwecken ideal geeignet erachten. Dieser ideale Mensch ist der Mann, der »dynamische Konformität« (ein köstlicher Ausdruck!) entwickelt, intensive Treue zur Gruppe, ein unermüdliches Verlangen, sich unterzuordnen, dazuzugehören.

* Deutsche Ausgabe:  
William H. Whyte jr.
»Herr und Opfer der Organisation«
Econ Verlag, Düsseldorf 1958
410 Seiten   DNB.Buch

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Und dieser ideale Mann muß eine ideale Frau haben, höchst gesellig, unendlich anpassungsfähig, und sie muß sich nicht nur damit abgefunden haben, daß ihres Mannes Treue an erster Stelle der Gemeinschaft gilt, sie muß dieser auch selbst treu sein. »Er für Gott allein«, wie Milton von Adam und Eva sagte, »sie für Gott in ihm.« Und in einer wichtigen Hinsicht ist das Eheweib des idealen Organisationsmannes beträchtlich schlimmer dran als unsere Großmutter. Ihr und Adam war es vom Herrn erlaubt, bei ihrem »jugendlichen Tändeln« völlig hemmungslos zu sein.

Nicht wendet seinem schönen
Gespons sich Adam ab, noch weigert Eva
Mysterienriten ehelicher Liebe.

Heutzutage darf, wie ein Artikel in der <Harvard Business Review> ausführt, die Ehefrau des Mannes, der versucht, dem von der sozialen Ethik aufgestellten Ideal gerecht zu werden, »nicht zuviel von ihres Mannes Zeit und Interesse beanspruchen. Seiner ausschließlichen Konzentrierung auf seine berufliche Aufgabe wegen muß sogar seine sexuelle Betätigung auf einen zweiten Platz verwiesen werden«.

Der Mönch legt Gelübde der Armut, des Gehorsams und der Keuschheit ab. Dem Organisationsmann ist es erlaubt, reich zu sein, aber er verspricht Gehorsam (»er nimmt Autorität ohne Groll hin, er blickt zu seinen Oberen auf« Mussolini ha sempre ragione), und er muß bereit sein, zum größeren Ruhm der Organisation, die ihn beschäftigt, sogar den Freuden des Ehebetts zu entsagen.*

* Unter Mao Tse-tung sind aus diesen Ratschlägen zur Erreichung eines kapitalistischen Ideals höhere Gebote in Form von Verordnungen geworden. In den neuen Volksgemeinden Chinas wurde das Eheleben abgeschafft. Damit keine tiefere Zuneigung aufkomme, werden Ehemänner und Ehefrauen in gesonderten Baracken untergebracht, und nur jede zweite Samstagnacht dürfen sie (eine kurze Zeit, wie Prostituierte und ihre Kunden) beieinander liegen.

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Es ist wert, hier vermerkt zu werden, daß in <1984> die Mitglieder der Partei gezwungen sind, einer Sexualethik von mehr als puritanischer Strenge zu entsprechen. In <Schöne neue Welt> hingegen ist allen erlaubt, ihren sexuellen Regungen ohne Hemmung oder Hindernis zu frönen. Die in Orwells Fabel beschriebene Gesellschaft ist eine dauernd im Kriegszustand befindliche, und das Ziel der Herrschenden ist erstens, selbstverständlich, die Macht um ihrer selbst willen auszuüben, und zweitens, ihre Untertanen in jenem Zustand beständiger Spannung zu halten, den ein Zustand beständigen Krieges von den Betroffenen erfordert. Indem sie gegen die Sexualität eifern, können die Bonzen die erforderliche Spannung in ihren Anhängern erhalten, und sie können gleichzeitig ihrer Machtgier auf eine sehr befriedigende Art frönen.  

Die in <Schöne neue Welt> beschriebene Gesellschaft dagegen ist ein Weltstaat, in welchem der Krieg abgeschafft wurde und wo es das oberste Ziel der Herrschenden ist, ihre Untertanen um jeden Preis daran zu hindern, Schwierigkeiten zu machen. Das erreichen sie unter anderem, indem sie einen (durch Abschaffung der Familie möglich gewordenen) Grad geschlechtlicher Freiheit legalisieren, welcher die »schöne neue Welt« gegen so gut wie jede Form destruktiver (oder schöpferischer) emotioneller Spannung sichert. In <1984> wird die Machtgier durch Zufügen von Schmerzen befriedigt; in <Schöne neue Welt> durch das Anordnen kaum weniger erniedrigender Lust.

Die landläufige soziale Ethik ist ganz offensichtlich bloß eine nachträgliche Rechtfertigung der weniger wünschenswerten Folgen der Überorganisierung. Sie stellt einen recht kläglichen Versuch dar, aus der Not eine Tugend zu machen und einen positiven Wert aus einer unerfreulichen Gegebenheit zu ziehen. Sie ist ein sehr unrealistisches und daher sehr gefährliches Moralsystem. Das soziale Ganze, dessen Wert, so wird angenommen, größer ist als der Gesamtwert aller seiner Teile, ist nicht ein Organismus in dem Sinn, in dem man sich ein Bienenvolk oder einen Termiten-Staat als einen Organismus vorstellen kann.

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Es ist bloß eine Organisation, ein Stück sozialer Maschinerie. Werte aber kann es nur in Hinsicht auf das Leben und das Bewußtsein geben. Eine Organisation nun ist weder bewußt noch lebendig. Ihr Wert ist ein instrumentaler und derivativer. An sich ist sie nichts wert; sie ist nur gut in dem Ausmaß, in dem sie das Wohl der Individuen fördert, welche Teile des kollektiven Ganzen sind. Organisationen einen Vorrang vor Personen einzuräumen, heißt die Zwecke den Mitteln unterordnen. Was geschieht, wenn Zwecke den Mitteln untergeordnet werden, wurde deutlich von Hitler und Stalin dargetan. Unter des einen wie des anderen Schreckensherrschaft wurden individuelle Zwecke organisatorischen Mitteln untergeordnet durch eine Mischung aus Gewalttätigkeit und Propaganda, systematischem Terror und systematischem Manipulieren von Gehirnen. 

In den leistungsfähigeren Diktaturen von morgen wird es wahrscheinlich viel weniger Gewalttätigkeit geben als unter Hitler und Stalin. Die Untertanen des künftigen Diktators werden schmerzlos von einem Korps bestausgebildeter Sozialingenieure manipuliert werden. »Der Anreiz von Sozial­konstruktionen in unseren Tagen«, schreibt ein enthusiastischer Befürworter dieser neuen Wissenschaft, »gleicht dem Anreiz, den technische Konstruktionen vor fünfzig Jahren besaßen. War die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts die Ära der technischen Ingenieure, so könnte seine zweite Hälfte durchaus die Ära der Sozialingenieure sein«und das 21. Jahrhundert wird, vermute ich, die Ära der Weltaufsichtsräte, des wissenschaftlich begründeten Kastensystems und der »schönen neuen Welt« sein. 

Auf die Frage Quis custo-diet custodes? — wer wird unsere Wächter überwachen, wer wird die Manipulierer manipulieren? —, ist die Antwort ein klares Verneinen dessen, daß sie irgendwelche Überwachung brauchen würden. Gewisse Doktoren der Soziologie scheinen den rührenden Glauben zu hegen, daß Doktoren der Soziologie nie durch Macht verdorben werden können. Wie Sir Galahads Stärke ist auch die ihre gleich der Stärke von zehn Männern, weil ihr Herz rein ist — und ihr Herz ist rein, weil sie Wissenschaftler sind und sechstausend Stunden lang Sozialwissenschaften studiert haben.

Leider aber ist höhere Bildung nicht unbedingt ein Garant höherer Tugend oder höherer politischer Weisheit. Und zu diesem ethisch und psychologisch begründeten Mißtrauen kommt noch ein Mißtrauen rein wissenschaftlichen Charakters. Können wir die Theorien gelten lassen, auf die die Sozialingenieure ihre Praxis gründen und in deren Begriffen sie ihre Manipulation menschlicher Wesen rechtfertigen?

Zum Beispiel sagt uns Prof. Elton Mayo kategorisch: »Das Verlangen des Menschen, beständig seinen Mitmenschen als Arbeitsgenosse assoziiert zu sein, ist eine starke, wenn nicht, die stärkste spezifisch menschliche Eigenschaft.« Dies ist, möchte ich sagen, offenkundig unwahr. Manche Menschen haben das von Mayo beschriebene Verlangen, andere aber nicht. Es ist eine Sache des Temperaments und der ererbten Konstitution. Jede soziale Organisation, die auf der Annahme gründet, daß »der Mensch« (wer immer »der Mensch« sein mag) sich wünsche, beständig seinen Mitmenschen assoziiert zu sein, wäre für viele individuelle Männer und Frauen ein Prokrustesbett. Nur das Abschneiden von Gliedmaßen oder die Streckfolter könnten sie ihm angepaßt machen.

Und wie romantisch irreführend sind die lyrischen Lobeshymnen auf das Mittelalter, mit welchen viele heutige Theoretiker sozialen Verhaltens ihre Werke schmücken! »Zu einer Zunft, einem Feudalgut oder einer Dorfgemein­schaft zu gehören, beschützte den Menschen des Mittelalters während seines ganzen Lebens und gab ihm Frieden und Heiterkeit.« Beschützte ihn wovor? dürfen wir wohl fragen. Gewiß nicht vor rücksichtsloser Ausbeutung durch seine Höheren.

Und Hand in Hand mit all diesem »Frieden«, dieser »Heiterkeit« gab es während des ganzen Mittelalters ungeheuer viel chronische Frustration und akutes Unglück und einen leidenschaftlichen Groll gegen das starre hierarchische System, das keine vertikale Bewegung auf der sozialen Leiter erlaubte und für diejenigen, die an die Scholle gebunden waren, sehr wenig horizontale Bewegung im Raum zuließ. 

Die unpersönlichen Kräfte der Übervölkerung und Überorganisierung und die Sozialingenieure, welche versuchen, diese Kräfte zu lenken, drängen uns einem neuen mittelalterlichen Regime zu. Dieses erneute Regime wird annehm­barer sein als das ursprüngliche; durch solche Annehmlichkeiten aus der »schönen neuen Welt« wie Kinderkonditionierung und Hypnopädie und durch Drogen hervorgerufene Euphorie. 

Für die Mehrzahl der Menschen aber wird es noch immer eine Art von Sklaverei sein.

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Aldous Huxley 1958