Peter Kafka

Das Grundgesetz vom Aufstieg

Vielfalt, Gemächlichkeit,
Selbstorganisation: Wege
zum wirklichen Fortschritt 

 

1989 bei Hanser, 170 Seiten

 Dr. Peter Kafka (1989) Das Grundgesetz vom Aufstieg - Vielfalt, Gemächlichkeit, Selbstorganisation: Wege zum wirklichen Fortschritt 

1989    170 Seiten 

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Ist diese Diagnose das letzte Wort?

Sollen wir mit zynischem Sarkasmus dem lieben Gott seine mißratene Welt vor die Füße werfen?

Sollen wir uns in Würde, noch ein letztes Apfelbäumchen pflanzend, auf das Ende vorbereiten?

 

In der Perspektive der Kosmologie, der Evolutionstheorie und Anthropologie weist Peter Kafka auf, daß das Geheimnis der Evolution, dem auch der Mensch seine Freiheit und seinen inneren Reichtum verdankt, in den Prinzipien der Vielfalt, Gemächlichkeit und Selbstorganisation besteht. Würden diese Prinzipien als unabdingbare Voraussetzungen für ein Wachstum ohne Zerstörung, für einen Fortschritt zu reicheren und wertvolleren Strukturen erkannt und anerkannt, dann wäre es möglich, den Teufelskreis zu durchbrechen, die Symptome neu zu sichten, eine treffendere Diagnose zu stellen und eine rettende Therapie einzuleiten, die uns und unserer Welt die Regeneration und einen neuen Aufstieg beschert. Die Evolution hat in uns, in den Gestalten, die die Krise herbeiführen mußten, auch die Fähigkeit entwickelt, sie zu überwinden. Die Revolution, die wir leisten müssen, muß haltbare Schranken setzen, die künftig verhindern, daß die Bedingungen der Evolution verletzt werden. Dann, allerdings nur dann, wird das Rettende, mit der Gefahr gewachsen, auch eintreten.

 

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Einleitung   (7)

 

1  Fortschritt - was ist das eigentlich?  (11)

2  Vom Urknall zur Wachstumskrise  (22)

  • Komplexität und Kompliziertheit  22

  • Möglichkeiten aus dem Nichts?  29

  • Gestalt oder Chaos?  40

  • Von Gaia zum Forschungsminister  55

  • Evolution durch Revolution?  71

3  Selbstheilung durch Emanzipation  (83)

  • Das Werden der Freiheit  83

  • Das Grundgesetz des Ausstiegs  (98)

  • Emanzipation von der Großen Politik  104

  • Emanzipation von wirtschaftlicher Entwicklung  113

  • Emanzipation von Wissenschaft und Technik  128

  • Geduld oder Gewalt?  146

4  Wohin ohne Ziel?  (157)

 

Einleitung 1989

 

Unsere Welt ist krank. Das ist nicht der Befund eines über sie geneigten Arztes, sondern ein sicheres Gefühl in uns selbst, in uns als den am höchsten entwickelten Organen dieser Welt. Und von uns selbst geht die Krankheit aus. Eine kleine, irgendwo in uns versteckte Fehlinformation hat uns vergessen lassen, daß Organe Teile eines Ganzen sind und diesem auch dienen müssen.

Wie die Krebszelle, die durch einen winzigen Fehler in der Erbinformation ihres Kernes vergessen hat, welchen Platz sie im Organismus hat, und die nun kein höheres Ziel mehr kennt als die möglichst rasche Vermehrung ihrer selbst und ihres vordergründigen Wohlergehens, so haben auch wir zu wuchern begonnen. Der Stoffwechsel unserer Wirtschaft hat sich grenzenlos ausgedehnt, und so verdrängen wir nun immer mehr andere Organe der lebendigen Erde.

Die Tumor-Analogie ist frappierend: Es ist nicht so sehr die Erschöpfung der Ressourcen, durch die schließlich der Tod einzutreten droht, denn noch lange ließe sich genügend Nahrung und Energie fürs Weiterwuchern heranschaffen – nein, esist vor allem das andere Ende des gewaltig gesteigertenStoffwechsels, wo der Zusammenbruch sich ankündigt: Die Menschen haben durch die Ausscheidungsprodukte ihrer Wirtschaft die wichtigsten Senken bald bis zum Rande gefüllt.

Luft,Wasser und Boden können uns nicht mehr „entsorgen“. Waldvernichtung, Ozonloch, Treibhauseffekt, Verschmutzung der Meere, Erosion und Versauerung oder Versalzung der Böden, beschleunigtes Artensterben in aller Welt, weiter explosionsartig wachsende Städte mit 15 Millionen Einwohnern (bei denen man aber kaum von „wohnen“ sprechen kann und für die es großenteils „nichts zu tun“ gibt), alle zwei Sekunden der Hungertod eines Kindes, und dennoch innerhalb meiner eigenen Lebenszeit fast eine Verdreifachung der Erdbevölkerung – dies sind zwar für viele von uns noch immer leicht verdrängbare Symptome, wie ein ständiges schwaches Jucken. Doch wer tiefer schaut, sieht längst, wie es unter die Haut geht, wie sich unsere Metastasen schon bis in den letzten Winkel der Erde ausbreiten, den ganzen Organismus mit ihren Giften überschwemmen.

Die Krankheit kam nicht plötzlich. Schon im erwachenden Bewußtsein der frühesten Menschen mag sie sich angekündigt haben, erfahren als die Vertreibung aus dem Paradies. Die Propheten aller Zeiten und Völker warnten vor ihrem weiteren Fortschreiten, wenn sie auch die Symptome des einstigen Spätstadiums noch kaum ahnen konnten. Dann gewöhnte man sich allmählich an diesen Fortschritt, oft ohne großes Leiden. Wir haben nur noch verschwommene Erinnerung an Gesundheit – in Resten uralter Traditionen und aus Träumen, aus der Kindheit, vielleicht aus der Erfahrung von Liebe.

Doch nun pocht der Schmerz, das alte Warnsignal, unüberhörbar. Spürbar schwindet die Lebenskraft. Der Niedergang scheint unaufhaltsam. Trauer und Zorn mischen sich. Sollen wir in Depression und Haß versinken? Sollen wir mit zynischem Sarkasmus dem lieben Gott seine mißratene Welt vor die Füße werfen? Sollen wir uns in Würde auf das Ende vorbereiten? Oder wollen wir uns noch einmal aufbäumen, die Symptome neu sichten, eine treffendere Diagnose stellen, vielleicht gar die kleine Fehlinformation an der Wurzel aufdecken, eine rettende Therapie einleiten, unserer Welt Regeneration und neuen Aufstieg ermöglichen?

Wer Kindern in die Augen schaut, weiß die Antwort.

Sie sehen schon: Dies wird kein Sachbuch im heute üblichen Sinn. Es soll nicht einen Bereich der Welt herausgreifen und den Leser über diesen unterrichten. Unsere ganze Welt ist das Thema, und sie ist wohl nicht einmal für Juristen eine „Sache“.

Wir werden uns also der Welt nicht gegenüberstellen, wie das die Wissenschaft zu tun pflegt, sondern auch nach der „Ganzheit“, nach dem „Umgreifenden“ Ausschau halten. Tausende von Generationen vor dem wissenschaftlichen Zeitalter haben dies getan, sicher nicht mit weniger Begabung als wir, und ihre Einsichten sind in die Sprachen und ihre Mythen eingegangen. Manches davon möchte ich mit einiger Übersetzungsarbeit für uns retten oder wiedergewinnen, indem ich es so zu formulieren versuche, daß Widersprüche zu wissenschaftlichen Einsichten sich in neuer Sprache auflösen können. Ich will einen einfachen Gedanken hin- und herwenden, bis er jeder Weltanschauung einleuchten kann. Er soll die „kleine Fehlinformation an der Wurzel“ aufdecken helfen, jenes aus kindlichem Größenwahn geborene Mißverständnis: Wer die Grundgesetze der Natur entdeckt habe, der könne nun in Eile die Welt verbessern.

Da ich mich beruflich mit der physikalischen Beschreibung der Welt beschäftigt habe, werden freilich wissenschaftliche Ergebnisse durchaus eine Rolle spielen. Auch die Denkweise und die illustrierenden Bilder sind oft davon beeinflußt. Aber es kommt mir nirgends auf wissenschaftlichen Wahrheitsbeweis für meine Aussagen an. Alles was ich durch die Wissenschaft erfahren habe, wird vielmehr durch meine eigene Person reflektiert oder gebrochen erscheinen.

Doch deshalb muß das, was ich zu sagen habe, nicht so beliebig sein, wie es vielleicht der Postmoderne anstünde. Mein Denken ist altmodisch und langsam – noch immer mit der Aufklärung beschäftigt oder mit deren Recycling, wie ich es einmal nannte. Aber es hat sich in fünf Jahrzehnten beim Anschauen der Welt unter dem Zwang entwickelt, aus jener Wut und Trauer doch Hoffnung zu schöpfen, und es erhält dadurch eine gewisse Verläßlichkeit und Widerstandsfähigkeit, wie ein sorgfältig geflochtenes Rettungsfloß, eine Art schwimmender Insel – aber nur in dem Sinn, daß es hoffentlich Menschen, die von hier aus weiterdenken wollen, nicht in einem Sumpf von Beliebigkeit versinken lassen wird.

Mancher mag über meinem scheinbaren „Materialismus“ oder „Reduktionismus“ ungeduldig werden. Wer noch in geistigen Traditionen aufwachsen konnte und darin geborgen blieb, wird staunen, warum er bei der Geschichte von Raum, Zeit und Materie beginnen sollte, um etwas über das eigene Wesen und seine eigene Aufgabe zu lernen, die er doch längst offenbart glaubt. Wer allerdings sieht, wie wenig die geistigen Traditionen den sogenannten Materialismus an der Eroberung der Welt und nun vielleicht an ihrer Zerstörung hindern konnten, der ist vielleicht doch geneigt, sich einmal in ein „wissenschaftliches Weltbild“ hineinversetzen zulassen und in ihm neue Erfahrungen zu machen.

Meist werde ich nicht der Herkunft meiner Gedanken und Formulierungen nachgehen. Sicherlich ist vieles davon vorher, gleichzeitig oder nachher auch von anderen gedacht worden, doch selbst, wo mir dies ausnahmsweise bekannt ist, werde ich nichts zitieren. Es soll eine Collage entstehen, die als Gesamtbild ihren Wert hat, nicht durch die in ihr verwendeten, verwandelten, Materialstückchen.

Das als Nachweis von Wissenschaftlichkeit geltende Zitieren von Quellen ist ohnehin oft eine Farce – dann nämlich,wenn es sich nur um Meinungen handelt, die eine eigene Meinungstützen sollen. In der Mathematik und den exakten Naturwissenschaften gibt es für hinreichend simple Aussagen tatsächlich Beweise, auf die man sich berufen darf, um sie nicht stets wiederholen zu müssen, wenn man auf ihnen weiteraufbauen will. Doch sobald der Gegenstand komplexer wird, hört die Verläßlichkeit auf. In den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, die sich damit einen exakte nAnstrich geben wollen, knüpft das Zitieren genaugenommen wohl eher an traditionelle Vorstellungen von Heiligen Schriften und begnadeten Autoritäten an. Zwar will kaum noch ein Wissenschaftler solche anerkennen, aber ein bißchen wärmt doch jeden die Hoffnung, er selbst erwerbe einen Hauch unantastbarer Heiligkeit, wenn andere ihn zitieren. Um dies zu erreichen, zitiert er zweckmäßig ebenfalls andere, und so kommt es, daß schließlich die ganze Wissenschaft einen Schein von Heiligkeit um sich hat. Diesen möchte ich hier nicht verstärken.

Ich will Sie auf Gedanken stoßen, zu denen auch Ihnen, ganz ohne Wissenschaft, etwas einfallen kann. Lesen Sie das Buch also bitte eher als eine Art Feuilleton. Und in der Tat beginnen wir mit dem Wiederabdruck eines Zeitungsartikels.

Im Januar 1988 hatte Christian Schütze, seit langem engagierter Streiter für eine vernünftigere Umweltpolitik, in der Süddeutschen Zeitung einen Aufsatz mit dem Titel <Das Grundgesetz vom Niedergang> veröffent­licht, indem er darstellen wollte, warum alles menschliche Wirtschaften am Entropiesatz, also dem <Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik> scheitern müsse. Damit löste er bei vielen Lesern tiefen Pessimismus aus oder bestätigte ihn, wo er ohnehin schon eingekehrt war.

Er regte mich damit zu einer Antwort an, in der ich Gedanken zusammenfaßte, die ich seit vielen Jahren in Vorträgen, Aufsätzen und Büchern darzustellen versucht hatte, um dem zunehmenden Pessimismus fast aller Sensiblen entgegenzuwirken.

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Dr. Peter Kafka (1989) Das Grundgesetz vom Aufstieg - Vielfalt, Gemächlichkeit, Selbstorganisation: Wege zum wirklichen Fortschritt