Jefrosinija Kersnowskaja

"Ach Herr, wenn unsre 
Sünden uns verklagen"

Eine Bildchronik aus dem Gulag 

 

Mit einem Geleitwort von Lew Kopelew
und einem Vorwort von Wladimir Wigiljanskij 

Jefrosinija Kersnowskaja - "Ach Herr, wenn unsre  Sünden uns verklagen" - Eine Bildchronik aus dem Gulag - Mit einem Geleitwort von Lew Kopelew und einem Vorwort von Wladimir Wigiljanskij  

1991    (1907-1994, 87)

DNB.Buch     380 Seiten

Goog Buch  

wikipedia  Oleg Wolkow  (1900-1996)
mit Link zu Kersnowskja auf russisch

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Jefrosinija  Kersnowskaja (1991)  Ach Herr, wenn unsre Sünden uns verklagen Eine Bildchronik aus dem Gulag Mit einem Geleitwort von Lew Kopelew und einem Vorwort von Wladimir Wigiljanskij

zeit.de--bilder-aus-dem-gulag 

Sie überwand die Hölle

Geleitwort zur deutschen Ausgabe

Lew Kopelew

 

Das Buch von Jefrosinija Kersnowskaja ist einzigartig: ein wahrheitsgetreues Zeitzeugnis, ein sittliches Bekenntnis und ein Kunstwerk - ein lyrisches Epos in Worten und Bildern.

Alle Zeichnungen und Berichte dieses Buches sind wahr; jede winzige Einzelheit ist in ihrer eigenartigen, besonderen Wirklichkeit genau dargestellt, zugleich aber ist sie beispielhaft, musterhaft - ein Tropfen, in dem sich die tiefsten Kreise der Hölle spiegeln und das unlöschbare Licht der Menschlichkeit durchfunkelt.

Im letzten Jahrzehnt sind bereits viele Bücher über das Reich des GULAG erschienen, darunter Werke begabter, bedeutender Zeitzeugen wie Jewgenija Ginsburg, Anatolij Martschenko, Warlam Schalamow, Alexander Solschenizyn und Oleg Wolkow. Hin und wieder höre ich: Das Lagerthema ist erschöpft, abgegrast, da gibt es nichts Neues mehr zu entdecken.

Doch das Werk von Jefrosinija Kersnowskaja ist neu, unvergleichbar und wird für alle Zeiten neu bleiben. Die Kunstwerke zu den uralten Themen von Leben und Tod, Liebe und Leiden verkörpern die ewigen menschlichen Probleme in vergänglichen, zeitlich und räumlich beschränkten Gestaltungen: in Gedichten über den Trojanischen Krieg, in Stücken über den Teufelsbeschwörer Faust, in Erzählungen über den Ritter von der traurigen Gestalt Don Quichote.... Sie entstanden aus konkreten Beweggründen und waren für konkrete Auditorien zur Belehrung oder Unterhaltung bestimmt. Als solche wurden sie auch lange noch von Hörern, Lesern, Übersetzern und Schauspielern aufgenommen. Doch allmählich erkannte man, daß in ungekünstelten Worten und Bildern unsterbliche Poesie und zeitlose Weisheit verdichtet, verkörpert und verborgen sind.

Jefrosinija Kersnowskaja zeichnete, malte, schrieb, um ihre Erinnerung festzuhalten, um ihre Erfahrungen und Erkenntnisse mitzuteilen. Sie wollte es, sie mußte es, damit Opfer und Leiden der Märtyrer nicht vergessen werden, damit aber auch die Folterknechte, die Henker angeprangert werden und damit das gesamte System, das auf brutale Menschenverachtung gebaut war, von den kommenden Generationen gefürchtet und verabscheut wird.

Kulturhistoriker sollen die weltanschaulichen, ästhetischen Quellen, Wurzeln und Vorbilder dieses Buches erforschen: Man wird dann wohl erinnert an die kleinen „Nebenbilder", von denen manche Ikonen umrahmt sind, an die Bilderbögen, auf die Moritatensänger zu zeigen pflegen, an Goyas „Caprichos", an expressionistische Holzschnittfolgen von Frans Masereel, an flüchtige Skizzen der Zeitungsreporter, an Comics usw. Doch heute ist vor allem die zeitlose geistige Ausstrahlung dieses zeitbedingten und zeitgebundenen Kunstwerks maßgebend.

Für einige Leser wird es vielleicht schwer sein, in einem Anlauf von der ersten bis zur letzten Seite durch dieses Buch zu kommen. Man sollte es zwanglos, ohne Hast und Eile aufnehmen, vielleicht mit Pausen, Abstand und manche Seiten auch wiederholen. Jefrosinija Kersnowskaja bietet jedem die Möglichkeit, an der Verwandlung schmutziger, böser Wirklichkeit in reine gütige Kunst teilzunehmen.

Am Ende ist ein Sieg des Geistes über die Ungeister, über eine geistfremde Wirklichkeit. Trotz aller Greuel des hoffnungslosen Alltags im GULAG, trotz schwerster Sklavenarbeit, Hunger, Ängsten, Erniedrigungen, Folter, trotz steter Todesfurcht blieb diese Frau unbeugsam, blieb ihrer Weltempfindung und -anschauung, ihren sittlichen Grundsätzen treu. Sie berichtet über schreckliche Geschehnisse, sie zeigt abstoßend häßliche Dinge, doch ihr Buch beschert eine erlösende Katharsis, eine freudige Erkenntnis: Menschliche Würde und Güte überwinden das Böse, überwinden die Hölle.

 

Köln,  Juli 1991,  Lew Kopelew 

 

 


 

 

Jefrosinija Kersnowskaja

Anstelle eines Vorwortes

 

 

Was ist dies für ein Buch? Memoiren? Nein! Blätter, vergilbten Fotos ähnlich, die nur für den Bedeutung haben, der in den verschwommenen Abbildungen die Gesichter längst verstorbener Menschen wiedererkennt — von Verwandten, Freunden und in diesem Fall auch Feinden? Nein! Was dann? Es sind Höhlenzeichnungen, unbeholfene Zeichnungen einer unerfahrenen Hand (gekritzelt auf kahle Höhlenwände), die den Menschen helfen sollen, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie ihre Urahnen Mammuts gejagt, welche Waffen sie benutzt haben — kurz: ein Weg, das Leben und Dasein der Vorfahren zu verstehen.

Die Zeit vergeht. Wir, die Augenzeugen jener Ereignisse, jener Epoche, von der hier erzählt wird, werden immer weniger; der Selbsterhaltungstrieb (genauer gesagt das, was man »Lebensweisheit« nennt) läßt einen zunächst schweigen, dann alles bejahen, um anschließend all die Lügen zu glauben, die sich wie eine dünne Staubschicht über das Bild der Vergangenheit legen. Und wenn man darauf dann nichts mehr erkennen kann, wird es durch ein Bild ersetzt, das für die Wahrheit ausgegeben wird. Wer von den »lebenden Augenzeugen« wird es wagen, der offiziellen Version zu widersprechen?

Die Zeugen sterben aus. Mit ihnen stirbt die Wahrheit. 

 

Mama! Meine liebe Alte! Meine erste und letzte, einzige und unersetzliche Freundin... Du bist nicht mehr da, aber du bist in allem, was mich umgibt: diesem alten, aber bequemen Sessel (ich habe ihn gekauft, weil du alles »Gemütliche« geliebt hast); dem Tisch, der leicht und niedrig war, damit du ihn selbst bewegen konntest; den zahlreichen Kissen — deinen »zastrele« — damit Du es immer bequem hattest; dem Rundfunkgerät, dem Plattenspieler, den vielen Schallplatten (und wieviele du davon noch kaufen wolltest!). 

Du hast die Musik ja so gern gehabt! Du brauchtest sie, wie die Luft... Am Vorabend deines Todes, als dir die Luft stockte, hast du gebeten, die »Iwan Sussanin« - Platte aufzulegen. Du hattest schon keine Kraft mehr, bei deinen Lieblingsarien mitzusingen, und so dirigiertest du mit immer schwächer werdender Hand: »Steig auf, du, meine letzte Morgenröte.«

Und die Bilder? Es sind doch deine Bilder, die überall hängen, wohin man auch blickt! Ich hab sie für dich gemalt und dabei an dich gedacht... Ich fing dort, in Norilsk, zu malen an, sofort nach der Entlassung aus dem Lager. Ich besaß noch nichts, keine Bleibe, keine Matratze, kein einziges Laken, träumte aber davon, etwas Schönes zu malen, was mich an meine Vergangenheit erinnern sollte, an die Vergangenheit, die mit dir, meine Liebe, verbunden war.

Ich malte und wanderte in Gedanken mit dir durch die Landschaften, die ich zeichnete. In einem stillen Winkel meiner Seele glomm die Hoffnung, daß du noch am Leben seist, es war nur ein schwacher Funken. Ohne Hoffnung ist das Leben so düster. Es gibt wohl doch einen gewichtigen Unterschied zwischen dem absoluten Dunkel, das einen Blinden umgibt, und dem kaum wahrnehmbaren Licht, das ein schwaches Sehen möglich macht! Hast du nicht deswegen meine »Bilder« geliebt, meine Liebste.

Du wolltest so gern, daß ich male! Du wolltest überhaupt, daß mein Leben vollkommen und interessant wäre; und du versuchtest, mich zu überreden, selbst als du schon auf dem Krankenbett lagst: »Geh' doch und sieh dir den Film an! Vas! J'aime tant quand tu vas au cinema. (Ich hab's so gern, wenn du ins Kino gehst!) Ich möchte nicht, daß du dich meinetwegen langweilst.«

Ich konnte dir nicht sagen, daß mir der Sinn nicht nach Vergnügen stand, daß Vorahnung und Trauer mich gepackt hatten; daß ich dich in meine Arme nehmen und mit meinem Körper vor dem unabwendbaren Schicksal schützen wollte. Das einzige, was mich ablenken konnte, war das Malen...

Du hast im Sessel gesessen und eine Patience gelegt. Du hast mich mit deinen gütigen, liebevollen Augen angesehen und immer wieder begeistert ausgerufen: »Vraiment, tu as du talent! Tu dois faire de la peinture! Absolument! Promez le moi« (Du bist wirklich begabt. Du mußt malen. Unbedingt! Versprich es mir!).

Du wolltest, daß ich es dir verspreche, meine Liebste. Dein Wille ist mir heilig! Und du hast mich um noch eins gebeten: die Geschichte dieser schrecklichen, traurigen Jahre meiner »Universitäten« aufzuschreiben. »Du erzählst mir ab und zu mal dies, mal jenes... Ich werde nicht klug daraus! Schreib' doch alles der Reihe nach auf, dann werde ich eventuell verstehen, wie du gelebt hast.«

Nein, meine Liebe! Du wirst diese traurige Geschichte nie bis zum Schluß kennenlernen... Und nicht etwa deswegen, weil Du dich jetzt dort befindest, »wo es keinen Atem mehr gibt«, sondern deswegen, weil mein ganzes Leben in diesen Jahren eine Kette von abscheulichen und absurden Ereignissen war, die für einen gesunden Menschenverstand unvorstellbar sind und für den, der so etwas nicht selbst erlebt hat, kaum glaubhaft sind!

Das wollte ich sagen — anstelle eines Vorworts.

 

 


 

 

  

 

     

 

 

 

 

 

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