Nina S.
Lugowskaja

Ich will leben

Ein russisches
Tagebuch aus
Moskau 1932-1937

432 Seiten

 

2003 first

2005 Hanser

2008 DTV

en.wikipe Lugovskaya

*1918 in Moskau bis 1993 (75)

dnb Person   dnb Name

bing Autorin 

ecosia  Autorin


detopia  Kommbuch 

L.htm   Sterbejahr

Biografiebuch 

Rachmanowa *1898

Julia Pjatnizkaja  *1899

Kersnowskaja *1907

Low-Ann-Marie *1912

Anne Frank *1929

Petruschewskaja *1938


Maximow  "Ich will leben"

Ein einzigartiges Dokument über das Leben in der stalinistischen Diktatur und den Alltag im Moskau der dreißiger Jahre. Nina Lugowskaja ist dreizehn, als sie das Tagebuchschreiben beginnt. Der Vater, gerade aus Sibirien zurückgekehrt, hält sich illegal in Moskau auf. Die Familie, in ständiger Angst vor Hausdurchsuchung und Deportation, versucht am bürgerlichen Lebensstil festzuhalten. In ihrem Tagebuch schreibt Nina über ihre Verliebtheiten, Probleme in der Schule, ihr Aufbegehren gegen die traditionelle weibliche Rolle, den Abscheu vor bolschewistischen Aufmärschen und über die ständige Angst, die das tägliche Leben bestimmt.

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Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jochen Hellbeck, Dept of History, Ruthgers University

Keine fünfzehn Jahre alt ist die Moskauer Schülerin Nina Lugowskaja, als sie 1933 in ihrem Tagebuch notiert: “Tagelang habe ich mir abends im Bett vorgestellt, wie ich ihn umbringe. Und dieser Diktator macht noch Versprechungen, dieser Unmensch, dieser Lump, dieser gemeine Georgier, der Russland zugrunde gerichtet hat. Wie ist es bloß dazu gekommen, dass das große Russland, das große russische Volk zur Gänze einem Gauner in die Hände gefallen ist? Dass Russland, das so viele Jahrhunderte um seine Freiheit gekämpft und sie endlich errungen hat – dass dieses Russland sich plötzlich selbst versklavt? Rasend vor Wut ballte ich die Fäuste. Ihn umbringen, [unleserlich] so schnell wie möglich!”

Dieses Zitat ist kein Einzelfall. An vielen Stellen in ihrem Tagebuch kommentiert Nina Lugowskaja die Zustände im kommunistischen Russland mit äußerster Schärfe, und es ist wohl vordringlich der politischen Brisanz ihrer Chronik zuzuschreiben, dass sie seit ihrer Entdeckung in einem russischen Archiv vor wenigen Jahren in vierzehn Sprachen übersetzt worden ist und nun auch in einer deutschen Ausgabe vorliegt. Die Politik überschattet das Tagebuch: mit Sorge verfolgt Nina das Schicksal ihres Vaters, eines von den Bolschewiken in den Untergrund getriebenen Sozialrevolutionärs. Zu Anfang der 1930er-Jahre lebt er noch zusammen mit seiner Frau und seinen drei Töchtern in Moskau. Nach dem Kirowmord wird er jedoch verhaftet.

Das Tagebuch bricht im Januar 1937 ab, unmittelbar vor einer Wohnungsdurchsuchung des NKWD, bei der neben Unterlagen des Vaters auch Ninas Tagebuch beschlagnahmt wird. Wenig später werden Nina, ihre Schwestern und ihre Mutter verhaftet und wegen “konterrevolutionärer” Aktivitäten zu je fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. In Ninas Fall stützt ihr Tagebuch die Anklage: der ermittelnde Staatsanwalt unterstrich mit Rotstift alle ihm “antisowjetisch” erscheinenden Passagen. Diese Unterstreichungen sind in der vorliegenden Edition kenntlich gemacht und eröffnen den Leser/innen eine zusätzliche, faszinierende Lesart des Tagebuchs – die des sowjetischen Geheimdiensts. Nach der Abbüßung ihrer Haft musste Nina Lugowskaja für weitere sieben Jahre im sibirischen Exil bleiben, bevor sie nach Moskau zurückkehren konnte, wo sie 1993 starb.

Bemerkenswert ist Nina Lugowskajas Tagebuch freilich nicht nur in politischer Hinsicht. Schonungslos protokolliert die jugendliche Verfasserin ihre alltäglichen Hoffnungen und Verzweiflungen und gibt so Einblicke in ihre Gedanken- und Gefühlswelt. Sie notiert ihre Schwärmereien für Mitschüler und Lehrer genauso wie ihr gleichermaßen von Eifersüchteleien und Nähe geprägtes Verhältnis zu ihren Schwestern, sie leidet unter ihrem Aussehen und schwankt zwischen überschwänglichen und grüblerischen, bis hin zu Selbstmordgedanken reichenden Stimmungen.

Weil das Tagebuch auf anrührende Art Probleme der Adoleszenz im Rahmen eines politischen Unterdrückungsregimes schildert, hat man seine Verfasserin schon zur “russischen Anne Frank” erhoben. Anne Frank und Nina Lugowskaja seien beide “verdammt” gewesen, schreibt Ljudmila Ulitzkaja im Vorwort zur deutschen Ausgabe, mit dem Unterschied, dass Anne Frank um die Gefahren wusste, die ihr drohten, während Nina Lugowskaja und zahllose andere ihrer Mitbürger unbewusst in die Menschenfalle des sowjetischen Terrors geraten seien.

Der Wert von Lugowskajas Tagebuch, so Ulitzkaja weiter, bestehe darin, dass sie niederschrieb, was viele damals dachten, aber “nicht einmal zu flüstern wagten” (s10). So enthalte das Dokument auch ein “gutes Gegengift für alle, die das <sowjetische Projekt> noch immer verlockend finden” (s12).

Dieses Urteil mag auf den ersten Blick schlüssig erscheinen, es vernachlässigt jedoch das spezifische Milieu, in dem das Tagebuch entstand. Nina war zweifelsohne von den politischen Überzeugungen ihres Vaters beeinflusst, eines Funktionärs der in den oppositionellen Untergrund getriebenen Partei der linken Sozialrevolutionäre, der trotz wiederholter Haftstrafen seinen antibolschewistischen Ansichten nicht abschwor. Noch aus der Verbannung versuchte der Vater auf die Erziehung seiner Töchter einzuwirken. In Briefen schrieb er ihnen vor, welche Bücher sie zu lesen hätten, was ihnen gut täte (Willenstraining, Selbsterziehung, kritisches Denken) und was sie tunlich lassen sollten (Mitmarschieren bei sowjetischen Festtagsdemonstrationen, Streben nach kleinbürgerlichem Glück). Selbst Ninas Entscheidung, Tagebuch zu führen, mag unter dem Einfluss des Vaters gestanden zu haben, der betonte, wie wichtig es sei, die “epochale” Gegenwart, eine “Zeit, die im Leben einer Nation nur alle paar Jahrhunderte auftaucht”, schriftlich festzuhalten. Es ist nicht nachvollziehbar, warum diese für das Verständnis des Tagebuchs essentiellen Briefe des Vaters zwar in der russischen, nicht jedoch in der deutschen Ausgabe enthalten sind. #1

Ganz im Sinne ihres Vaters träumt Nina vom heldenhaften Freiheitskampf und fürchtet, dass ihr Tagebuch mit all den in ihm festgehaltenen Eingeständnissen ihrer Schwächen vom Vater gelesen werden könnte, der sie daraufhin als “albernes, beschränktes Mädchen oder als sentimentale Träumerin und Melancholikerin” entlarven würde (21.3.1934, S. 144). Ihr Bestreben, sich die kämpferische Haltung des Vaters anzueignen, wirkt manchmal wie eine kindische Pose, etwa wenn sie aufgebracht die Verlegung eines eigentlich schulfreien Tags kommentiert: “Morgen gehen wir zwar zur Schule, aber der Geist der Rebellion ist schon zu tief in uns verwurzelt. All diese Ungerechtigkeiten von oben versetzen uns in Rage und haben nur zur Folge, dass wir den Kampf aufnehmen und versuchen, uns zu behaupten. Wir geben nie kampflos auf. Also kämpfen wir auch dieses Mal.” (17.1.1935, S. 257). Freilich entgingen auch diese Zeilen nicht dem Rotstift des ermittelnden Staatsanwalts.

Gemessen am grandiosen Maßstab einer heroischen Existenz begreift Nina ihr eigenes Leben als gescheitert. “Pessimismus und Jungens, Jungens und Pessimismus” (27.6.1936, S. 384), so fasst sie selbst die Leitthemen ihres Tagebuchs zusammen. Die harsche Selbstkritik dient zugleich aber auch als Mahnung und Ansporn; insofern liest sich das Tagebuch auch als eine fortgesetzte Disziplinartechnik, die Nina Lugowskaja keinesfalls allein praktizierte. Die “Arbeit an sich” ist ein Leitthema in vielen Tagebüchern der Stalinzeit, und das Bemühen der Verfasser, sich zu aktiven, gesellschaftlich nützlichen und weltanschaulich geschlossenen “Persönlichkeiten” zu erziehen, lässt erkennen, wie der revolutionäre Imperativ im Inneren wirkte und das Denken und Fühlen von sowjetischen Bürgern ganz unterschiedlicher Herkunft strukturierte.#2

Auch Lugowskajas Ausruf, “Ich will leben,” von den Herausgebern als Buchtitel gewählt, fügt sich in diesen Kontext. Nina, die diese Worte wiederholt in ihrem Tagebuch notiert, verband damit jedoch nicht – in Analogie zu Anne Frank – ihren Überlebenswillen unter unmenschlichen Bedingungen. Vielmehr diente er als Schlusspunkt von Eintragungen, in denen sie mit ihrer, wie sie fand, rein negativen und destruktiven Sichtweise des Lebens abrechnete. Wirklich zu leben, das hieß für sie, ihrer Grübelei und ihrem Pessimismus zu entkommen, der sie zu einer “alten” und “unnützen” Person stempelte. Sehr deutlich wird hier, wie die Verfasserin in die lebensbejahende Kultur der Stalinzeit eingebunden war und wie sehr auch die vom Regime unablässig betriebene “Agitation zum Glück” den einzelnen Zweifler in die Vereinsamung trieb und atomisierte.#3

Nina Lugowskajas Tagebuch liest sich fesselnd. Forscher, die sich mit der Kindheits-, Jugend- und Geschlechtergeschichte befassen, werden es mit besonderem Gewinn lesen.#4 Darüber hinaus eignet es sich, gerade auch zusammen mit anderen veröffentlichten Tagebüchern aus der Sowjetzeit, für einen breiteren nicht-russischsprachigen Leserkreis. Gemindert wird der Wert der vorliegenden Ausgabe jedoch durch eine Anzahl von editorischen Mängeln. Nicht nur, dass der bereits erwähnte Briefwechsel zwischen dem Vater und seinen Töchtern fehlt, auch sind wesentliche Passagen aus dem Tagebuch gekürzt worden – darunter Verweise auf den Spanischen Bürgerkrieg oder auf einen Romanhelden Maxim Gorkis, die Lugowskaja im Einklang mit dem sowjetisch-revolutionären Wertekanon zeigen (Eintragungen vom 27.4.1935 und 6.11.1936).

Marketing-Überlegungen waren wohl ausschlaggebend dafür, dass die deutsche Ausgabe das Tagebuch als einen Fund aus dem KGB-Archiv anpreist. Hingegen gibt die russische Ausgabe als Fundort das Staatsarchiv der Russischen Föderation an. Dort landete das vom NKWD 1937 beschlagnahmte Tagebuch wohl in den 1950er-Jahren im Zusammenhang mit Nina Lugowskajas wiederholten Bemühungen, als Sowjetbürgerin rehabilitiert zu werden.

Die Herausgeber der deutschen Ausgabe wären gut beraten gewesen, Irina Osipovas kenntnisreiche und umsichtige Einleitung aus der russischen Erstausgabe zu übernehmen. Stattdessen stoßen die deutschen Leser auf drei kurze Begleittexte - ein Vorwort und zwei Kommentare -, von denen keiner sorgfältig auf das Tagebuch und seine Autorin eingeht. Immerhin beschert Ljudmila Ulitzkajas sprunghaftes Vorwort einen gewissen Erkenntnisgewinn. Es verweist auf das ungebrochene Bedürfnis im gegenwärtigen Russland, die sowjetische Vergangenheit durch ein simplistisches Schwarz-Weiss-Prisma zu erfassen. Der historischen Aufarbeitung öffnet sich hier ein weites Feld.

 

 

Anmerkungen:

#1 Vgl. Chocu zit’. Iz dnevnika skol’nicy, 1932-1937. Po materialam sledstvennogo dela sem’i Lugovskich, hg. von I.I. Osipova, Moskau: Formika-S, 2003.

#2 Siehe hierzu: Hellbeck, Jochen, Revolution on My Mind. Writing a Diary under Stalin, Cambridge, 2006; Kharkhordin, Oleg, The Collective and the Individual in Russia. A Study of Practices, Berkeley, 1999.

#3 Vgl. Agitation zum Glück. Sowjetische Kunst der Stalinzeit, hg. von Gaßner, Hubertus, Bremen, 1994; zur vitalistischen Kultur der Stalinzeit und deren Wurzeln siehe Glatzer Rosenthal, Bernice, New Myth, New World: from Nietzsche to Stalinism, University Park, 2002.

#4 Vgl. unter anderen: Kuhr-Korolev, Corinna, "Gezähmte Helden". Die Formierung der Sowjetjugend 1917-1932, Essen, 2005; Sowjetjugend 1917-1941. Generation zwischen Revolution und Resignation, hg. von Kuhr-Korolev, Corinna, Essen, 2001.

#5 Das wahre Leben, Tagebücher aus der Stalin-Zeit, hg. von Garros, Véronique, Berlin, 1998; Tagebuch aus Moskau 1931-1939, hg. von Hellbeck, Jochen, München, 1996; Das Tagebuch der Nina Kosterina, München, 1973.
 

 

Zitation
Jochen Hellbeck, Rezension zu: Lugowskaja, Nina: Ich will leben. Ein russisches Tagebuch 1932-1937. München 2005 , ISBN 3-446-20571-3, in: H-Soz-Kult, 24.08.2006, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-8232.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 17.12.2005
Berührt zeigt sich Renate Wiggershaus von diesem "erschütternden Tagebuch" Nina Lugowskajas, das die russische Historikerin Irinia Ossiopowa in den Geheimarchiven der Stalinära gefunden hat und nun in einer "lebendigen" deutsche Übersetzung vorliegt. Die Aufzeichnungen über die Drangsalierung durch Stalins Terrorregime, die Nina Lugowskaja von ihrem 13. Lebensjahr bis zu ihrer Verhaftung mit achtzehn durch das Staatssicherheitskomitee niederschrieb, zeugen für Wiggershaus von "erstaunlicher Sensibilität und Selbstreflektiertheit". Vor allem die sozialhistorischen und politischen Aspekte des Buches erscheinen ihr aufschlussreich. Sie charakterisiert die Autorin als "wache, hellsichtige Beobachterin", die zornig die Exekutionen an Weißgardisten kommentiert, die langen Schlangen hungriger Menschen registriert, die Verlogenheit des bolschewistischen System anprangert und den verbrecherischen Stalin anklagt. "Ihre Tagebücher sind ein Zeitdokument", resümiert die Rezensentin, "das exemplarisch für Zehntausende steht, die in die Maschinerie des stalinistischen Terrors gerieten, ohne dass Spuren von ihrem Schicksal zeugen".


Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 12.12.2005
"Endlich hat auch der Bolschewismus seine Anne Frank.", konstatiert Rezensentin Sonja Zekri angesichts der Tagebücher von Nina Lugowskaja, die im Russischen Staatsarchiv entdeckt und nun publiziert worden sind. Lugowskaja war zusammen mit ihrer Familie vom russischen Geheimdienst NKWD verhaftet worden, dem ihre Aufzeichnungen in die Hände fielen. Aufgefallen war sie durch eine Bemerkung, in der sie voller aufbegehrender Wut auf die Regierung davon sprach, sie habe sich tagelang im Bett vorgestellt, wie sie Stalin töten wolle. Lugowskaja schildere eine Jugend voller Furcht, wie sie viele im Russland der 30er Jahre erlebt haben. Die besondere Leistung der Autorin sieht Zekri darin, den Terror beim Namen genannt und ein angebliches kollektives Unwissen entlarvt zu haben, wenn sie über die Kollektivierung der Landwirtschaft spricht, der Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind, über Hungersnöte, Kannibalismus, über Diebstähle und Banditentum oder über den protzigen Technikkult der Regierung. "Wenn eine Vierzehnjährige alles dies kannte, dann kannten andere sie auch.". Wie die Tagebücher der Anne Frank sieht die Rezensentin hier die "Zerbrechlichkeit des Privaten" veranschaulicht.


Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 26.10.2005
Im Archiv des russischen Innenministeriums hätte die Menschenrechtsorganisation Memorial dieses Tagebuch der Nina Lugowskaja gefunden, berichtet Rezensent Ulrich M. Schmid, und als seltenes Beispiel eines unabhängigen und kritischen Berichts veröffentlicht. Darin zeige sich ein neues Erkenntnisinteresse gegenüber der Stalinzeit, das nicht mehr nur die Repression sondern vielmehr die positiven Identifikationsangebote für unterprivilegierte Schichten untersuche. Schmid ist beeindruckt von der selbstbewussten jungen Frau mit ihrer schwelgerischen Gier nach Leben und Liebe einerseits und ihrer "hellsichtigen" Regimekritik andererseits. Wobei, betont Schmid, sie gleichwohl ihren eigenen "pubertären Verwirrungen" gegenüber blind bleibe. Lukowskajas Vater ist als Bäcker Opfer der Stalinisierung gewesen. 1937 wurde auch Nina mit ihrer Mutter und ihren zwei Schwestern verhaftet und zu 5 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Die aus der Sicht des Rezensenten interessantesten Passagen des Tagebuchs seien Szenen wie jene, als beispielsweise eine harmlose Schneeballschlacht in der Schule zu Polizeiverhör und Hausdurchsuchung führte, und sich damit gewissermaßen der "kollektive Wahnzustand" der Stalinzeit offenbart.



Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 13.10.2005
Sonja Margolina würdigt die Tagebücher, die Nina Lugowskaja von 1932 bis zu ihrer Verhaftung 1937 verfasst hat, als wichtiges "Zeitdokument" und zudem als wahre "Fundgrube" für Eindrücke von der stalinistische Alltagswelt. Die zu Beginn ihrer Aufzeichnungen 14-Jährige hatte Stalin beschimpft und das System kritisiert. Als das Tagebuch bei einer Hausdurchsuchung gefunden wurde, bezichtigte man die Familie der Planung eines "Terrorakts" und schickte sie ins Arbeitslager, berichtet die Rezensentin. Besonders berührt haben sie dann bei der Lektüre auch die Unterstreichungen des Untersuchungsrichters, die im Abdruck der Tagebücher typologisch hervorgehoben werden und die so einen Eindruck vom "'Hirn' der Repressionsmaschine" vermitteln. Die "Denkverbrechen", die Ablehnung des Systems, waren dabei durchaus nicht das Hauptthema der Jugendlichen, betont Margolina. Vielmehr geht es um typische Jugendprobleme, Minderwertigkeitskomplexe und familiäre Konflikte, über die sich Lagowskaja in "kindlichem Egoismus" ergeht, so die Rezensentin weiter. Dass die Aufzeichnungen dennoch von großem Interesse sind, liegt nicht zuletzt an den "erstaunlichen" literarischen Fähigkeiten der Tagebuchschreiberin, die, wie die Rezensentin lobt, durch Christiane Körner "kongenial" ins Deutsche übersetzt worden sind. Mit ihren Eintragungen hat Lugowskaja den "erstickten Stimmen" der Menschen, die die "bolschewistische Macht hassten" einen "Ton gegeben", so Margolina anerkennend.

 


Ein Tagebuch aus dunkler Zeit
Nein, ein sanftes, liebes Mädchen war die Moskauer Schülerin Nina Lugowskaja nicht. Sie war ein komplexbeladener, kratzbürstiger Teenager, der ungestüm gegen die Eltern, die Schule und ihr gesellschaftliches Umfeld rebellierte. Aber der Aggressivität, dem Widerspruchsgeist und der Tapferkeit der 14- bis 18-Jährigen verdanken wir ein ganz einzigartiges Dokument über die Stalinzeit der Dreißigerjahre.
Von Karla Hielscher | 06.10.2005, dlf

 

War doch diese schwere Zeit der gewaltsamen kommunistischen Umgestaltung und des ständig wachsenden Terrors auch die Zeit eines – von einer allumfassenden Glückspropaganda angefeuerten - enthusiastischen Idealismus und optimistischer Zukunftshoffnungen der sowjetischen Jugend. Dem konnten sich – und das beweisen sogar die bisher veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen aus jenen Jahren – nicht einmal die Angehörigen der verhafteten so genannten „Volksfeinde“ entziehen. Die unscheinbare Schülerin Nina jedoch wurde in ihrer kompromisslosen Ablehnung der bolschewistischen Macht und der Despotie Stalins, der nach ihren Worten „Russland zugrunde richtet“, keinen Moment schwankend. Die Haltung ihrer Familie spielte dabei eine wesentliche Rolle.

Nina lebte mit ihrer Mutter, die als Lehrerin für Erwachsenenbildung arbeitete, und ihren beiden älteren Zwillingsschwestern Shenja und Ljalja in einer relativ gut situierten, gebildeten Moskauer Familie mit großer Wohnung, Klavier und Haushaltshilfe. Der aus dem Bauernstand stammende Vater aber war ein einst aktives Mitglied der von den Bolschewiki bekämpften linken Sozialrevolutionäre. Schon zu Zarenzeiten nach Sibirien verbannt, während der Revolution Sowjetdeputierter, gründete er in den 20er Jahren gemeinsam mit anderen ehemaligen Sozialrevolutionären eine erfolgreiche Bäckereigenossenschaft. Unter der sich festigenden Diktatur Stalins war es nur eine Frage der Zeit, bis nicht nur er – schon jahrelang verfolgt, aus Moskau ausgewiesen und schließlich verhaftet – sondern auch seine Frau und die Töchter in den GULAG verschleppt wurden.

Ninas Tagebuchaufzeichnungen vom Herbst 1932 bis zum Beginn des Terrorjahres 1937 demonstrieren, dass in dieser Familie die Traditionen und Werte der vorrevolutionären russischen Intelligenzija, die Ideale der Menschenrechte, noch lebendig waren. Das Verhältnis der schwierigen, aufmüpfigen Nina zum Vater war allerdings alles andere als einfach. Sie hasste ihn als Familiendespoten, verehrte ihn aber als seinen Ideen treuen Revolutionär. So wie er gab sie ihren maximalistischen moralischen Anspruch an sich und die Welt nie auf.

"Ich spüre die ganze Nutzlosigkeit und Sinnlosigkeit des heutigen Lebens, und das belastet mich schrecklich. Es bedrückt mich, all die Ungerechtigkeit, die Lüge und die Grausamkeit zu sehen und zu spüren, dass ich hilflos bin. Aber was kann ich tun? Wird der Mensch denn niemals frei sein?“

Besondere Glaubhaftigkeit bekommen Ninas Tagebücher gerade dadurch, dass es in diesen drei dicken Schulheften über weite Strecken um die typischen banalen und doch so tief empfundenen Erlebnisse und Gefühle eines nicht gerade hübschen jungen Mädchens in der Pubertät geht. An diesen Aufzeichnungen fasziniert das unverbundene Nebeneinander unbedarfter Backfischgeschichten und Lebensreflexionen von beeindruckender Reife und Ernsthaftigkeit.

Das eigentlich Sensationelle für uns heute sind jedoch ihre hellsichtigen politischen Urteile und Kommentare. Das Tagebuch dieses radikal denkenden, freiheitsdurstigen jungen Menschen über sich und das Schicksal ihrer Familie spiegelt die tragische Geschichte und den Alltag des sowjetischen Lebens der 30er Jahre.

Erstaunlich gut informiert und nüchtern beobachtet Nina das politische Geschehen. Über die entsetzlichen Folgen der Kollektivierung der Landwirtschaft in der Ukraine berichtet sie schon 1933 und beweist damit, dass es auch in Moskau jeder wissen konnte:

„Hungersnöte. Kannibalismus. Was die Zugereisten aus der Provinz nicht alles erzählen! Dass man nicht nachkommt, die Leichen von den Straßen zu holen, dass die Provinzstädte von hungernden, abgerissenen Bauern überfüllt sind. (..) Und die Ukraine? Die freie Kornkammer Ukraine... Was ist aus ihr geworden?“

Von einem Ferienaufenthalt auf dem Dorf erzählt die Fünfzehnjährige:

"Begierig lausche ich den Erzählungen der Bauern über ihr Leben und Treiben, und ich habe genug gehört, um die Bolschewisten mehr denn je zu hassen.“

Nach dem Mord am Leningrader Parteisekretär Kirow im Dezember 1934, der Stalin als Vorwand für den Beginn des großen Terrors diente, notiert sie:

"Viele Leitartikel haben dieses Ereignis lauthals besprochen, und viele bestellte Redner und sowjetische Gesinnungslumpen haben die Fäuste geschüttelt und wie die Papageien pathetisch über den Köpfen der Arbeiter ausgerufen: (...) Erschießt den Verräter... Und viele so genannte Sowjetbürger, die jeden Begriff von Menschsein und Menschenwürde verloren haben, stimmten wie das Vieh für die Erschießung. Man kann kaum glauben, dass es im zwanzigsten Jahrhundert einen Winkel in Europa gibt, wo sich mittelalterliche Barbaren eingenistet haben und wilde, archaische Vorstellungen so merkwürdig mit Wissenschaft, Kunst und Kultur einhergehen. Schon vor dem Ermittlungsverfahren, als man noch nichts von einer Organisation wusste, wurden mehr als hundert Menschen umgebracht.(...) Also mehr als hundert Menschen für ein Bolschewistenleben. ....Was für ein Recht haben sie, so grausam und willkürlich mit dem Land und den Menschen umzuspringen, so dreist im Namen des Volkes ungeheuerliche Gesetze zu erlassen, so zu lügen und sich dabei hinter den mittlerweile völlig sinnentleerten großen Worten „Sozialismus“ und „Kommunismus“ zu verstecken.?“... Eine Inquisition ist das doch und kein Sozialismus!“

Sie empört sich über den politisch ideologischen Drill in der Schule, wo harmlose Späße oder Disziplinlosigkeiten als „konterrevolutionäre Handlungen“ geahndet werden:

"Was für elende jämmerliche Feiglinge die Bolschewisten sind! Wenn sie die Kinder nicht von klein auf einschüchtern, ist es mit ihrer Macht vorbei, auch wenn sie sich auf den Kopf stellen. Doch sie erziehen uns zu unterwürfigen Sklaven, indem sie jede Regung des Protests erbarmungslos ausmerzen. Jede kritische Einstellung, jede noch so kleine Andeutung von Freiheit und Unabhängigkeit wird fürchterlich bestraft.“

Mit ihren älteren Schwestern, die sich als Studentinnen für Textilgestaltung dem herrschenden System anzupassen versuchen, diskutiert sie hartnäckig:

"Was lässt sich aber auch gegen solche unreflektierten, auswendig gelernten Phrasen sagen, wie zum Beispiel „Wer nicht für die Bolschewisten ist, ist gegen die Sowjetmacht“ oder „Das sind alles Übergangserscheinungen“ oder „Später wird alles besser“. Sind 5.000.000 Tote in der Ukraine eine Übergangserscheinung? (...) Und welche Nation hat jemals mit so sklavischer Unterwürfigkeit und Fügsamkeit zu allen Scheußlichkeiten, die verübt werden, ja und amen gesagt?“

Nina weiß, wie gefährlich es ist, in diesen Zeiten des Terrors und der Angst Tagebuch zu schreiben. Eine Vorstellung, die sie peinigte, war aber vor allem, dass die Spitzel ihr „Liebesgefasel“ lesen und darüber lachen könnten! Der Ermittler aber, der 1937 eine Anklage gegen das junge Mädchen „wegen Vorbereitung eines Terroranschlags auf Stalin“ konstruierte, hat in ihrem konfiszierten Tagebuch nur die politischen Stellen rot angestrichen.

Nina Lugowskaja überlebte den GULAG, konnte sogar noch ihren Traum, Künstlerin zu werden verwirklichen, arbeitete als Malerin und Bühnenbildnerin und starb 1993 in der Provinzstadt Wladimir. Geblieben ist uns ihr Tagebuch aus dunkler Zeit – ein bewegendes Dokument der Freiheitssehnsucht und des jugendlichen Aufbegehrens gegen die alles beherrschende Sowjetideologie.

 

 

 

 

 

 

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Nina Lugowskaja - Ich will leben - Tagebuch aus Moskau - 1932-1937 - 432 Seiten