Dr.
phil.
|
|
wikipedia Autor *1944 in Marburg dnb Nummer (43) detopia Kommbuch |
Der
Historiker Gerd Koenen holt weit aus, startet in der Urgemeinschaft, kommt zum
Christentum und landet über die Revolutionen in der Gegenwart.
Was war der Kommunismus? 2010, 143 Seiten
|
Lesart vom 30.09.2017 Gerd Koenen: „Die Farbe Rot“ Marx und die Diskrepanz zwischen Theorie und Realität Von Jacqueline Boysen Der Historiker Gerd Koenen holt weit aus für seine Kommunismus-Geschichte, startet in der Urgemeinschaft, kommt zum Christentum und landet über die Revolutionen in der Gegenwart. Dabei bietet er Erklärungen für die nicht verblassende Strahlkraft der Ideen von Karl Marx – damals wie heute. Das Sein bestimmte schon lange vor Karl Marx und Friedrich Engels das Bewusstsein. Gerd Koenen schlägt den großen Bogen der Menschheitsgeschichte und beschreibt Facetten von Armutsbekämpfung, Solidarität und der Suche nach einem gesellschaftlichen Miteinander. Und, er liefert Erklärungen für die nicht verblassende Strahlkraft der von Karl Marx angerührten Farbe Rot in den verschiedenen Epochen. „Du schließt die Augen und schaust in die Sonne, und durch deine Lider hindurch siehst du die Farbe deines Blutes – ein Karminrot. Dies ist die Farbe deiner leiblichen Existenz.“ – So elegisch beginnt kein gewöhnliches historisches Sachbuch. Hier wird der Leser hineingezogen in eine persönliche und zugleich doch akademische, eine epische und ganzheitliche Analyse dessen, was wir als leuchtendes Rot am linken Ende des politischen Farbenspektrums kennen:
Kulturelle Überlegungen theoretisch fassen Mit elementaren Betrachtungen zur emblematischen Farbe Rot, beginnt Gerd Koenen seinen umfangreichen Band zum „Kommunismus als Weltgeschichte“. Schon die Eingangsworte lohnten das Nachdenken, doch der Autor verlangt Aufmerksamkeit für weitere mehr als 1100 Seiten. Auf diesen breitet Gerd Koenen in erfreulich lesbarer Weise mit vielerlei Anekdoten und anhand einer Fülle von Zitaten der Kritiker wie der Klassiker marxschen Denkens aus, was das Faszinierende und Fürchterliche am Kommunismus ist. Der Kommunismus, so Koenens Ausgangsfeststellung, war der erste Versuch, kulturelle Überlieferungen theoretisch zu fassen, seine Vordenker beschworen den „neuen Menschen“ und erhoben mit „atheistischem Furor“ einen totalitären Gestaltungsanspruch. All dies wirke auch im 21. Jahrhundert fort:
Koenen beschreibt, dass stärker als die Utopie, stärker auch als Nöte und Bedrängnis, das Bedürfnis gewesen sei, ‚sich eine Vorgeschichte auf den Leib zu schreiben, eine Tradition zu erfinden, in der man zuhause sein würde‘, eine ideologische Wärmestube. Der 1944 in Marburg geborene Historiker weiß, wovon er schreibt, denn auch er war einst überzeugtes Mitglied des SDS und des straff maoistischen Kommunistischen Bunds Westdeutschlands – als junger Genosse träumte er, wie er selbst später formulierte, einen „Kindertraum vom Kommunismus“. Aus diesem erwachte er nach eigenem Bekunden 1982, aufgeschreckt und hitzig bekehrt durch die Beschäftigung mit der polnischen Solidarnosc. Auf die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts datiert Koenen denn auch den Höhepunkt des roten Zeitalters, das er beschreibt:
Die Strahlkraft der Farbe Rot Der Historiker umkreist in großen Linien Urgemeinschaft und Christentum oder auch die gewaltsamen vormarxistischen Revolutionen – das Sein bestimmte schließlich schon lange bevor Karl Marx und Friedrich Engels die Welterklärung um den historischen Materialismus bereicherten das Bewusstsein. Der Autor lässt dem Leser viel Raum für die eigene Deutung der beschriebenen Wirkmächte in der bürgerlichen und der sozialistischen Gesellschaft. Und er gibt immer wieder Erklärungen für die nicht verblassende Strahlkraft der von Karl Marx angerührten Farbe Rot in den verschiedenen Epochen. Zwischen Ideal und Zerstörungskraft Koenen liefert eine anregende und bisweilen aufregende Ideengeschichte, die schließlich das „Ur-chaos der Russischen Revolution“ beschreibt, die Weltkriege, die Teilung der Welt im Kalten Krieg, der bekanntlich auch ein „Heißer“ war, bis hin zum ambivalenten chinesischen Sonderfall – einem Kommunismus, der zugleich Katalysator ist für einen entfesselten Kapitalismus. Vor allem vermisst er streng die Diskrepanz zwischen Theorie und Realität, zwischen dem Ideal einer gerechteren Welt und der Zerstörungskraft einer politischen Ideologie, die stets den Kampf mit anderen Denkschulen führt, denen sie sich a priori überlegen glaubt. Der Gegenwart, China und den post-kommunistischen Systemen widmet der Historiker eine differenzierte Analyse. Dass im staatsoffiziellen Geschichtsbild Russlands heute dem Diktator Stalin erneut gehuldigt wird, erklärt er dabei ebenso ausführlich wie den Rückfall in autoritäre Strukturen in ehemals unfreien Ländern. Die Menschen seien mit der vor einem Vierteljahrhundert gewonnenen Freiheit überfordert.
Damit beschreibt der Historiker Prägungen, die bis heute fortwirken – und auch in der stabilen Demokratie in Deutschland inzwischen zu unübersehbaren politischen Verwerfungen geführt haben. Doch so wichtig Erklärungsmuster für das Verständnis komplexer Zusammenhänge, die sich nicht einfach bei Google finden, sind und so reich die Weltgeschichte an Schattierungen der wichtigen Farbe Rot ist – bisweilen blendet die schiere Fülle des aufgehäuften Materials den Leser. An Strahlkraft hätte die vorgelegte Universalgeschichte nicht eingebüßt, wenn Gerd Koenen seinen Text gestrafft hätte. Sein abschließender Appell wäre auch dann noch einleuchtend: Wisst um die Vergangenheit und bewahrt den offenen Blick auf die Gegenwart. |
Gerd Koenen - aus wikipedia-2021
Gerd Koenen ist ein deutscher Publizist und freiberuflicher Historiker. Sein Hauptarbeitsgebiet sind die deutsch-russischen Beziehungen im 20. Jahrhundert und die Geschichte des Kommunismus. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er mit seinen Büchern über den Kommunismus als Utopie der Säuberung (1998) und der autobiographisch geprägten Schilderung der linksradikalen Szene der 1970er Jahre in Das rote Jahrzehnt (2001) bekannt. Zuletzt erschien sein Hauptwerk Die Farbe Rot – Ursprünge und Geschichte des Kommunismus (2017).
Leben Koenen wuchs in Bochum und Gelsenkirchen auf und studierte ab 1966 in Tübingen Romanistik, Geschichte und Politik. Dort trat er unter dem Eindruck der Erschießung von Benno Ohnesorg durch die Polizei dem sich radikalisierenden Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) bei. 1968 wechselte er nach Frankfurt am Main, wo er 1972 das Staatsexamen in Geschichte und Politik bestand und bei Iring Fetscher mit den Vorbereitungen für eine Promotion zur Demokratietheorie von Karl Marx begann. 1973 trat er dem neu gegründeten Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) bei, einer damals von Joscha Schmierer geführten, straff organisierten, maoistischen K-Gruppe. Unter deren Einfluss gab er 1974 sein Promotionsvorhaben auf, um sich stattdessen der „revolutionären Betriebsarbeit“ zu widmen und ab 1976 die Kommunistische Volkszeitung des KBW zu redigieren. 1982 trat Koenen aus dem KBW, dessen Auflösung er zuvor gefordert hatte, aus und engagierte sich in der Solidarität mit der polnischen Widerstandsbewegung Solidarnosc, über die er gleichzeitig publizierte. In mehreren Veröffentlichungen widmete sich Koenen später der Geschichte des literarischen Personenkults (Die Großen Gesänge – Lenin, Stalin, Mao Tsetung, 1991) sowie der Wahrnehmung des revolutionären Russland in Deutschland (so 1998 in einem von ihm herausgegebenen großen Sammelband Deutschland und die russische Revolution 1917–1924, zusammen mit Lew Kopelew). Von 1988 bis 1990 war Koenen Redakteur der von Daniel Cohn-Bendit herausgegebenen Zeitschrift Pflasterstrand, in der 1990 der Essay Der Kindertraum vom Kommunismus erschien.[1] Dessen Grundthesen legte der Autor 1998 in Utopie der Säuberung ausführlicher dar. Während der damals hitzig geführten Diskussion um das Schwarzbuch des Kommunismus wurde die Utopie intensiv rezipiert und machte Koenen auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.
Seine Kommunismuskritik skizzierte er 1990 so:
– Gerd Koenen: Der Kindertraum vom Kommunismus 2001 wurde Koenens (teilweise autobiographisches) Buch Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977 wiederum breit rezipiert, da sein Erscheinen mit der Diskussion um die linksradikale Vergangenheit von Joschka Fischer und den Stellenwert der 68er-Bewegung in der Geschichte der Bundesrepublik zusammenfiel. 2003 erschien von Koenen eine Skizze über den Entstehungszusammenhang des deutschen Linksterrorismus anhand des Dreieckverhältnisses von Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Bernward Vesper. Dieses Buch diente als Vorlage für den auf der Berlinale 2011 vorgestellten und ausgezeichneten Spielfilm von Andres Veiel Wer wenn nicht wir. Anders als andere Intellektuelle mit kommunistischer Vergangenheit, etwa die französischen Autoren des Schwarzbuch des Kommunismus, geht Koenen nicht so weit, seine eigenen linksradikalen Positionen in einer 180°-Wende absolut zu verurteilen. So polemisierte er 2001 in der von Joscha Schmierer herausgegebenen Zeitschrift Kommune gegen den „Versuch der jungen Senioren von der Frei- und Christdemokratie, mit einer Rhetorik des universellen Verdachts ihren Weg des entschiedenen Konformismus als den einzig möglichen Weg der Sozialisation ex post noch zu etablieren“. Artikel von Koenen erschienen auch in Der Spiegel, Die Zeit und vielen überregionalen Tageszeitungen. Darüber hinaus ist Koenen Autor bzw. Ko-Autor verschiedener Hörfunk- und Fernsehbeiträge. Koenen promovierte 2003 an der Universität Tübingen zum Dr. phil. mit einer Arbeit zum Thema Rom oder Moskau – Deutschland, der Westen und die Revolutionierung Russlands 1914–1924. Das Werk wurde in überarbeiteter, ergänzter und gekürzter Form unter dem Titel Der Russland-Komplex verlegt. Gemeinsam mit dem russischen Philosophen Michail Ryklin erhielt Koenen am 21. März 2007 auf der Leipziger Buchmesse den mit insgesamt 15.000 Euro dotierten Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Von 2008 bis 2010 forschte Koenen im Freiburger FRIAS zur Geschichte des Kommunismus.[4] Von 2015 bis 2016 war er Fellow des Imre Kertesz Kollegs in Jena. Im Herbst 2017 erschien Koenens bisheriges Hauptwerk Die Farbe Rot – Ursprünge und Geschichte des Kommunismus. Das Buch wurde im November 2017 für den Bayerischen Buchpreis, im März 2018 für den Leipziger Buchpreis nominiert, jeweils in der Kategorie Sachbuch. Werke (Auswahl)
|
https://www.perlentaucher.de/buch/gerd-koenen/die-farbe-rot.html
Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 23.11.2017
Gerd Koenens tausendseitiges Werk über den Kommunismus sticht aus der Vielzahl der Erscheinungen zum Thema hervor, versichert Rezensent Alexander Cammann. Nicht nur, weil das Buch, wie er findet, brillant geschrieben ist, sondern auch, weil der Historiker neue Perspektiven eröffnet, so Cammann. Er lässt sich von Koenen auf einen - zugegebenermaßen recht ausführlichen - Streifzug durch die Jahrhunderte mitnehmen, lernt einiges über das "ständige Wechselspiel" zwischen Theorie und Praxis, Ideologien und Emotionen, liest eindringliche Zitate und staunt, wie geschickt der Autor historische Momente szenisch verdichtet.
Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.09.2017
Herfried Münkler verdrückt eine Träne. Mit Gerd Koenens Buch bekommt er es schwarz auf weiß: Die Geschichte des Kommunismus ist am Ende. Das heikle Unternehmen, diese Geschichte bis dahin zu rekapitulieren, gelingt dem Autor laut Münkler allerdings, indem er die Sowjetunion ins Zentrum seiner Betrachtung rückt. Koenens Fähigkeit, Beobachtungen zu Adam Smith und Theorien von Thomas Müntzer gleichsam umsichtig vor Leser auszubreiten und die Fallen der Ideengeschichte zu umgehen, scheint Münkler bemerkenswert. Ein hegelianischer Blick, der die eigenen Zweifel klug mit in die Betrachtung einbezieht, findet Münkler.
Lesen Sie die Rezension bei buecher.de
Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 29.09.2017
Als Historiografie taugt Gerd Koenens Geschichte des Kommunismus "Die Farbe Rot" nicht wirklich, bedauert Urs Hafner. Auf mehr als eintausend Seiten reihe der Autor Anekdoten aus mehreren Jahrtausenden Welt-, Literatur- und Ideengeschichte aneinander, wobei er manchmal die späte Rezeption antiker Werke fälschlicherweise als Nachweis dafür anführt, dass der Kommunismus damals bereits in nuce enthalten war, erklärt der Rezensent. So entsteht keine schlüssige Erzählung, zu der man Stellung beziehen könnte, kritisiert Hafner. Allerdings vermeidet Koenen dadurch, den Begriff Kommunismus gleichförmig auf alle historischen Strömungen anzuwenden, die sich auf ihn berufen haben, lobt der Kritiker.
Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 29.09.2017
Jens Bisky erkennt ein Fragezeichen hinter der Wendung vom Ende des Kommunismus. Gerd Koenens monumentale Darstellung hilft ihm dabei. Beeindruckt hat ihn am Text die Sammlung all der bekannten und weniger bekannten Bestimmungen, Aphorismen, Zitate und Beschreibungen zum Kommunismus, vor allem aber, wie der Autor sich immer wieder selbst misstraut und alles andere als ein wohlfeiles Handbuch vorlegt, indem er den Bogen sehr weit spannt von Gilgamesch bis zu den jüngsten Verlautbarungen von Chinas KP. Schwach findet der Rezensent hingegen die proportionale Ordnung des Buches (nur 200 Seiten nach Lenins Tod?). Insgesamt scheint es ihm trotz seiner 1000 Seiten zu kurz.
Lesen Sie die Rezension bei buecher.de
Rezensionsnotiz zu Die Welt, 22.09.2017
Nach der Lektüre von Gerd Koenens Geschichte des Kommunismus "Die Farbe Rot" rät Rezensent Richard Herzinger zur Wachsamkeit: die Ideologie sei im Wandel und wenigstens in ihrer chinesischen Variante der Kopplung an einen staatsgesteuerten Turbokapitalismus eine gefährliche Konkurrenz für die liberalen Demokratien, so Herzinger. Koenen, der sich lange Zeit selbst als Kommunist verstand, schweift in seiner Geschichte zwar sehr weit ab, findet der Rezensent, aber die Widersprüche und das Gefälle zwischen Idee und Wirklichkeit arbeitet er dennoch schön heraus, weshalb Herzinger das Buch gerne all jenen empfiehlt, die sich vor einem eintausendseitigen Essay über den Kommunismus nicht scheuen.