3 Ausgangslage Rolf Kreibich, 2000
4 Zwischenbilanz und Belastungsgrenzen
Reale Visionen zeichnen sich dadurch aus, daß sie die Ausgangsbedingungen reflektieren. Wenn wir zu einer ehrlichen Lagebeschreibung kommen wollen, dann müssen wir mindestens auf drei Defizite achten:
Uns allen und unserer Gesellschaft mangelt es an hinreichender Fähigkeit und Bereitschaft, bekannte, vor allem langfristig zukunftsbegrenzende Fakten und Erkenntnisse wahrzunehmen und zu verarbeiten. In der Politik sind 4-Jahres-Perspektiven schon lang, in Unternehmen heute schon zwei bis drei Jahre.
Wir leiden in allen Handlungsbereichen an einem eklatanten Mangel an Phantasie und Kreativität für Zukunftsoptionen und langfristig tragfähigen Zukunftsstrategien.
Zwischen dem vorhandenen Wissen über Zukunftsentwicklungen und zukunftsfähige Strategien und Maßnahmen und dem konkreten politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zukunftshandeln klafft eine riesige Lücke.
Vor diesem Hintergrund nun eine kurze Lagebeschreibung:
Zukunftsentwicklungen von Gesellschaft, Wirtschaft, Sozialverhalten und Umwelt sind im allgemeinen höchst komplexe Prozesse. Zukünfte entwickeln sind nicht entlang von Fachdisziplinen oder einzelnen Praxisfeldern, sondern quer zu ihnen und diese übergreifend. Um gleichwohl brauchbares Wissen - vor allem Orientierungs- und Handlungswissen - zu erzielen, muß man die Methode anwenden, durch Unschärfe im Detail, Schärfe in die wichtigen Funktionsbeziehungen der Probleme und Prozesse zu bringen. Nur auf diese Weise gelingt es, den Wald vor lauter Bäumen zu erkennen.
Heute können wir sicher davon ausgehen, daß es viele Zukünfte gibt, nicht jedoch beliebig viele.
Diese durchaus nicht triviale Erkenntnis verdanken wir nicht nur den Erfahrungen der Vergangenheit, sondern auch der modernen Naturwissenschaft, der Evolutions- und Selbstorganisationstheorie. Fügen wir noch ein Ergebnis der Chaostheorie hinzu, dann sind selbst komplexe Zukünfte beeinflußbar und gestaltbar. Auch das ist nicht trivial, insbesondere mit dem Zusatz, daß an spezifischen Verzweigungspunkten der Entwicklung nur geringste Einflüsse ausreichen können, um gewaltige Wirkungen zu erzielen. Das gilt für das soziale Zusammenleben und für natürliche Systeme gleichermaßen. Die Wirkungsmächtigkeit von Handlungen hängt allerdings davon ab, daß geeignete Impulse zur richtigen Zeit und am richtigen Ort mit den richtigen Mitteln erfolgen.
Was wissen wir über die Zukunft? Was können wir wissen?
Wir verfügen über eine gigantische Informationsmenge — auch über die Zukunft. Trotzdem ist nur sicher, daß die Zukunft nicht vollständig bestimmbar ist — zum Glück. Auch wenn wir viele gesicherte Zukunftsinformationen haben. Mit diesen läßt sich allerdings im Raum prinzipieller Unsicherheit planen und gestalten und speziell auch verhindern. Vor allem letzteres stimmt mich optimistisch, denn die globalen anthropogen verursachten Megatrends tendieren mehr zu Verfall und Selbstzerstörung als zu Zukunftsfähigkeit.
In unserem auf Marktwirtschaft und Wettbewerb aufgebauten Wirtschaftssystem erhielt der Prozeß zwischen dem wissenschaftlich-technischen Innovieren und dem industriellen Produzieren eine enorme Dynamik. Er hat sich seit der technisch-industriellen Revolution immer mehr beschleunigt und mittlerweile auf alle Lebensbereiche bis hinein in die Haushalte, die Freizeitgestaltung, die private Kommunikation und das werdende Leben ausgedehnt. In der Fachsprache liegt hier ein positiv rückgekoppeltes System vor. Ein Prozeß dieser Art hat ja die immanente Eigenschaft, sich immer weiter aufzuschaukeln.
Die Folgen sind bekannt: Alle die Industriegesellschaft bestimmenden Größen — betrachtet man diese auf einer Zeitachse von 10.000 Jahren Zivilisationsgeschichte der Menschheit — zeigen seit etwa dreihundert Jahren einen steilen sprunghaften Anstieg.
Solche Sprungkurven ergeben sich für:
die Nutzung materieller Ressourcen, also die Verwendung von Metallen und sonstigen Rohstoffen
den Einsatz fossiler Energieträger (Kohle, Erdöl, Erdgas)
die Produktion und Konsumtion von materiellen Gütern
die Expansion und Inanspruchnahme von Dienstleistungen.
Ebensolche Kurven ergeben sich aber auch:
für das Bevölkerungswachstum
für die Belastungen der Luft, der Gewässer und des Bodens mit Schadstoffen
für die Vernichtung von Pflanzen- und Tierarten
für das Anwachsen von Gefährdungspotentialen durch riskante Großtechnologien.
In keiner anderen Hochkultur haben sich auch nur annäherungsweise solche Veränderungen vollzogen wie in der durch Wissenschaft und Technik geprägten Industriezivilisation. Wir haben in den Industrieländern einen grandiosen Wohlstand erreicht und allein in den letzten 100 Jahren die Produktivität im Produktionsbereich um über 3500% erhöht und im Bürobereich allein in den letzten 40 Jahren um über 2000%. Wir haben das Realeinkommen in diesen 100 Jahren ebenfalls um 3000% gesteigert und die Lebenszeit der Menschen verdoppelt, im Durchschnitt um 37,5 Jahre verlängert.
Wir sollten zunächst einmal festhalten, daß diese Zahlen die Erfüllung langgehegter Zukunftsvisionen und Menschheitsträume widerspiegeln.
Hier liegt nämlich der Schlüssel dafür, daß wir nach wie vor primär in den Perspektiven Technikentwicklung, Wirtschaftswachstum, Produktivitätssteigerung und materieller Wohlstandsmehrung die zentralen Leitziele für Zukunft und Fortschritt sehen.
Abb. 1 Erfüllte Zukunftsvisionen
Industriegesellschaft in 100 Jahren
Wohlstandsmehrung:
Nettoeinkommen: 3000%
Produktivität in der Landwirtschaft: 3000%
Produktivität im Produktionsbereich: 3500%
Produktivität im Dienstleistungsbereich: 2500%
Lebenszeit: Verlängerung um 37,5 Jahre (Verdopplung)
Mobilität: Geschwindigkeit und Distanzüberwindung: Faktor 100
Auf der anderen Seite:
wächst jeden Tag die Weltbevölkerung um 250.000 Menschen,
wird die Atmosphäre mit 60 Millionen Tonnen Kohlendioxyd aus Kraftwerken, Heizungen und Kraftfahrzeugen belastet,
wird die Fläche von 63.000 Fußballfeldern Regenwald vernichtet.
Wir zerstören durch anthropogene Eingriffe täglich 20.000 ha Ackerland
und vernichten 100 bis 200 Tierarten.
Das sind die neuesten Zahlen der OECD und des Umweltbundesamtes:
Abb. 2: Zerstörung der Biosphäre
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Die auf der Schattenseite des technisch-industriellen Fortschritts meßbaren Belastungspotentiale lassen keinen anderen Schluß zu, als daß wir bei einem Fortschreiten auf dem Pfad der gigantischen Energie-, Rohstoff- und vor allem der Schadstoffströme in weniger als 80 Jahren unsere natürlichen Lebens- und Produktionsgrundlagen zerstört haben werden.
Wir haben am IZT Berlin die wichtigsten Weltentwicklungsprognosen und Simulationsmodelle der führenden Zukunftsforschungsinstitute ausgewertet und festgestellt, daß sie in einer zentralen Aussage gut übereinstimmen: Wenn es zu keiner durchgreifenden Umsteuerung kommt, dann liegt die Selbstzerstörung der Menschheit in diesem Jahrhundert bei einer Wahrscheinlichkeit von über 90%.
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Im Hinblick auf Zukunftswissen und dessen Relevanz gibt es wahrscheinlich große Übereinstimmung über die Bedeutung der weltweiten Bevölkerungsentwicklung und ihrer langfristigen Folgen. Wir können mit großer Sicherheit sagen, daß die Zahl der auf der Erde lebenden Menschen bis zum Jahr 2040 auf 9 bis 12 Mrd. ansteigen wird, d.h. um 50 bis 100% höher sein wird als heute. Das wird bei wenig geänderten Rahmenbedingungen zu einer weiteren Verschärfung der Disparitäten zwischen Erster und Dritter Welt führen.
Auch in Zukunft wird das Verhältnis zwischen den 20% bis dann 10% Reichsten und 20% bis dann 30% Ärmsten trotz Weltbank- und IWF-Programmen weiter auseinandergehen — das zentrale Problem von intragenerativer Gerechtigkeit auf globaler Ebene. Beim Gewinn aus dem Naturvermögen beträgt das Verhältnis zwischen reicher und armer Welt pro Kopf schon heute 60:1, beim Bruttosozialprodukt zwischen den reichsten und ärmsten Ländern pro Kopf 400:1.
Das kann auf Dauer nicht gutgehen.
Es spricht sehr viel dafür, daß der globale ökonomische Wettbewerb mit seinen rasanten Produktivitätssteigerungen auch in Zukunft weitergehen wird, insbesondere durch den Technologie- und Innovationswettlauf zwischen der Triade USA, Japan und Europa und daß die Verlierer in der Zweiten und Dritten Welt immer mehr verlieren werden. Wir sollten uns deshalb nicht wundern, wenn in nicht allzu ferner Zukunft die Migrationsströme anschwellen, und zwar nicht nur aus politischen, sondern vielmehr aus ökonomischen, sozialen und ökologischen Gründen.
Ziemlich verläßliche Zukunftsaussagen lassen sich auch über die grundlegenden Entwicklungstendenzen der postindustriellen Gesellschaften machen:
Die Tertiarisierung und Quartarisierung der Wirtschaft, also die Entwicklung zur Dienstleistungs- und zur Informations- bzw. zur Wissenschaftsgesellschaft, wird fortschreiten. Schon heute arbeiten in Deutschland ca. 64 % im Dienstleistungssektor, in den USA sind es bereits 76 %, in Schweden 75 %. Daß von diesen Beschäftigten schon fast 2/3 im Bereich Informations- und Kommunikationsdienstleistungen, Forschung, Know-how-Entwicklung, Bildung, Ausbildung und Weiterbildung tätig sind, ist das eigentlich herausragende Merkmal des wirtschaftlichen Strukturwandels und des Wandels zu neuen Beschäftigungsstrukturen. Die Entwicklung zur Informationsgesellschaft mit ihren globalen und flexiblen Wirtschafts- und Beschäftigungsstrukturen ist unaufhaltsam. Ob es sich dabei um die Entfaltung zur Wissensgesellschaft handeln wird, hängt allerdings noch sehr von unseren Zukunftsvisionen und den politischen Rahmenbedingungen ab, die es zu gestalten gilt. Die Entwicklung wird jedenfalls alle Lebensbereiche grundlegend verändern.
Abb. 3 Beschäftigungsentwicklung in Richtung Informationsgesellschaft
Es spricht viel dafür, daß die weithin vorprogrammierte und weltweite Erhöhung der Güter- und Personenströme schon bald zu einem zentralen Krisenfaktor der Industriezivilisation werden könnte. Die ungebremsten Folgen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens GATT '94 und Gründung der Welthandelsorganisation und die Folgen der weltweiten Motorisierungswelle, insbesondere auch in den bevölkerungsreichen Ländern China, Indien, Pakistan und in Lateinamerika, werden schon bald die Biosphäre und regionale Öko- und Sozialsysteme überfordern.
Gute Aussichten für die Automobilindustrie und die Wirtschaftsentwicklung in den nächsten Jahren, gravierende Langfristfolgen für Mobilität, Umwelt und Lebensqualität. In Deutschland kommen auf 1000 Personen schon heute 560 Pkw, in den USA 780, in Kalifornien 1.140, in China 3. Auch für Deutschland sind die Zukunftsprognosen der Verkehrsentwicklung einheitlich dramatisch: Zunahme der PKW-Verkehrsleistungen bis 2010 ca. 35 bis 40%, Zunahme des LKW-Fernverkehrs ca. 80 bis 100%.
Angesichts der enormen Dynamik der IuK-Technologien, der weltweiten Fusionen und Vernetzungen von Unternehmensstrukturen und Finanztransaktionen wird die Globalisierung von Wirtschaft, Handel und Beschäftigung fortschreiten mit all den einschneidenden Veränderungen für die nationalen und regionalen Volkswirtschaften sowie die Beschäftigungs- und Unternehmensstrukturen.
Die Massenarbeitslosigkeit ist hierbei ein gewichtiger Faktor. Denn wer arbeitslos ist, leidet nicht nur unter Wohlstandsverlust, sondern ist in ganz starkem Maße als Persönlichkeit bedroht und belastet die Staatskasse. Dieses heute in Deutschland auf der politischen Agenda ganz oben stehende Problem ist auch global eine Geißel. Wir sollten hier aber zwei zentrale Erkenntnisse im Auge behalten: Es gibt sowohl in Deutschland als auch weltweit viel Arbeit und das bisher rigide verteidigte klassische Erwerbsarbeitsmodell ist sicher nicht die einzige Form sinnvoll zu arbeiten, um sinnerfüllt zu leben. Im Hinblick auf ein neues flexibles Wirtschafts- und Beschäftigungssystem bieten sowohl die Globalisierung als auch die neuen Informationstechnologien erhebliche Entwicklungschancen.
Das Wachstum von Weltproduktion und Welthandel ist unter "stabilen Rahmenbedingungen" weitgehend vorgezeichnet: Während in den vergangenen 5 Jahren der Welthandel um durchschnittlich ca. 6% stieg, gehen die Prognosen von einem Wachstum von durchschnittlich 6 bis 7% in den nächsten Jahren aus. Das hat zur Konsequenz, daß sich die gesamten Waren- und Dienstleistungsströme innerhalb von 10 Jahren noch einmal weltweit verdoppeln. Diese im Grundsatz optimistische Perspektive ergibt aber nur dann ein positives Szenario, wenn wir eine Entkopplung der Warenproduktion und Dienstleistungen von den Stoff-, Energie- und Schadstoffströmen und eine gerechtere Verteilung der Gewinne aus dem Natur- und Produktionsvermögen zwischen den Ländern der Ersten, Dritten und Vierten Welt erreichen.
Völlig im Nebel tappen wir allerdings hinsichtlich unseres Zukunftswissens über die globalen Finanzströme. Zur Zeit wissen wir nur, daß die globalen Finanztransaktionen in den letzten Jahren überexponentiell angestiegen sind. Heute geht es um ein Kapital von ca. 3.500 Mrd. DM, das täglich — weitgehend virtuell — weltweit hin- und hergeschoben und vermehrt wird. Das entspricht fast der Summe des jährlich erwirtschafteten Bruttosozialproduktes von Deutschland. Niemand weiß mehr, wie lange das noch so gehen wird, denn hinter diesen Summen stehen ja kaum reale Werte.
Wir haben recht gute Kenntnisse über den langfristigen Trend zu Individualismus, d.h. zu individualistischen Lebens-, Konsum- und Freizeitformen und zur Auflösung kollektiv geprägter Arbeitsstrukturen. Die Interaktion auf offenen Märkten erhöht natürlich die Freizügigkeit des einzelnen und die Möglichkeiten, seine "Güter"-Dienste, Wissen, Lebenszeit, Kreativität, Leistungsfähigkeit — weltweit hochflexibel anzubieten und dabei den Gewinn zu maximieren und die Kosten zu minimieren.
Was aber sind die gesellschaftlichen Wirkungen und persönlichen Folgen eines permanenten Lebens in globalen und beschleunigten Technostrukturen ohne persönliche Kontakte?
Zum Individualismus-Trend gehört auch die seit Jahren sich verstärkende Tendenz zur Event- und Fun-Kultur. Es gibt deutliche Anzeichen dafür, daß sich hier eine neue Werte- und Verhaltensorientierung herausbildet, die nicht nur den Staat, sondern die politische Gesellschaft insgesamt und unsere Kultur herausfordert. Die Love-Parade mit 1,5 Mio jugendlichen Ravern steht gegen Arbeitslosen-Demos mit 80 bis 140 Teilnehmern, von denen die meisten älter als 50 Jahre sind.
Wenig bekannt und weitgehend verdrängt wird die erschreckende Botschaft, daß wir uns gemäß UN- und Weltbank-Indizes in den Industrieländern, auch in der Bundesrepublik Deutschland, trotz Wirtschaftswachstum auf einem Pfad abnehmender Lebensqualität befinden.
Wir müssen uns fragen: Was sind das für Zukunftsperspektiven, wenn mit immer mehr Produkten und Produktivität immer weniger Qualität des Lebens entsteht? Was ist das für eine Zukunftslogik, wenn für die meisten mehr Schaden als Nutzen produziert wird?
4 Zwischenbilanz und Belastungsgrenzen
Angesichts der technischen Beschleunigung und wirtschaftlichen Dynamik und vor allem wegen der damit verbundenen dramatischen Zunahme des Naturverbrauchs und der sozialen Disparitäten muß eine grundlegende Neuorientierung unseres Handelns erfolgen. Weil das aber an die Substanz eines tief verwurzelten Werte- und Handlungssystems geht, scheue ich mich ebensowenig wie der Club of Rome, von der Notwendigkeit eines "revolutionären Denkens und Handelns" zu sprechen (Club of Rome 1991: "Die globale Revolution").
Auch das Washingtoner <Worldwatch Institute> und die beiden Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages <Schutz der Erdatmosphäre> und <Schutz des Menschen und der Umwelt> und vor allem die Rio-Konferenz der Vereinten Nationen haben eindrucksvolles Material und wichtige Erkenntnisse über die Langfristfolgen unseres derzeitigen Wirtschaftens und über die langfristigen Notwendigkeiten unseres zukünftigen Handelns zusammengetragen.
Soziale Folgen dieser Entwicklung kündigen sich schon heute in den steigenden ökonomischen und sozialen Migrationsströmen an. Sie können alsbald zu Lawinen anschwellen. Genau diese Einschätzung bestärkt der im September letzten Jahres veröffentlichte "Millennium-Bericht" der Vereinten Nationen <Globale Umwelt — Geo 2000>.
Dieser von UNEP-Direktor Klaus Töpfer vorgestellte Bericht steht unter den seit Jahren im Prinzip bekannten, bei uns in letzter Zeit jedoch mehr und mehr verdrängten Schlagzeilen: "Armut, quantitatives Wachstum und exzessives Konsumverhalten einer Minderheit zerstören unsere natürlichen Lebensgrundlagen"; "Es ist kaum noch Zeit zur Rettung des Klimas"; "Weltweite rasante Zunahme von Umweltflüchtlingen" (Hauptproblem: "sauberes Trinkwasser").
Tatsächlich hat die klassische Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspraxis mit dem Jahrhundert-Trick, die Natur, die Dritte Welt und die Menschen als Abfallsenken des Wirtschaftens einfach aus der Bilanzierung herauszulassen, erreicht, daß nur die Erfolgsbilanz der Industriegesellschaft durch den Maßstab "Bruttosozialprodukt" aufgenommen wurde und die Folgen zweiter und höherer Ordnung — wie sie C.Weizsäcker nannte — und ihre Rückwirkungen auf die Ziele erster Ordnung weitgehend ausgeblendet blieben.
Diese Erfolgsbilanz hat sich bei uns allen tief eingeprägt. Heute wissen wir, daß prinzipielle Belastbarkeitsgrenzen und Risikopotentiale nicht gesehen wurden.
Abb. 4 Belastungsgrenzen
Die wichtigsten hiervon sind die Erschöpflichkeit der Rohstoffe, die Überschreitung der Absorptionsfähigkeit globaler und lokaler Ökosysteme, die irreversiblen Folgen in Natur und Sozialsystem und die quasi irreversiblen Folgen. Auch die soziale Sprengkraft der Ungleichverteilung von Reichtum und Armut beziehungsweise von Gewinnen und Verlusten aus dem Naturvermögen, die Diskrepanzen zwischen produktiver Arbeitswelt und Massenarbeits¬losigkeit sowie der Umschlag eines komplexen Mobilitätssystems in Immobilität gehören auf die Schattenseite unserer technisch-ökonomischen Entwicklungsdynamik.
Betrachten wir die kritischen Belastungsgrenzen aus der Perspektive des sich beschleunigenden "Globalen Wandels", der nicht nur für den Bürger X, sondern auch für viele Politiker, Wirtschaftsmanager, Fachwissenschaftler und Akteure der Zivilgesellschaft als Zukunftswissen besonders schwer zu erfassen ist, dann gehören nach Schellnhuber die folgenden Mega-Prozesse zu den "Kernproblemen und Krisentendenzen unserer Zivilisation", die "genug Störkraft besitzen, um die herkömmliche Betriebsweise des planetarischen Ökosystems qualitativ zu verändern:
Abb. 5 Kernprobleme des Globalen Wandels in der Biosphäre
Klimawandel
Verlust biologischer Vielfalt
Bodendegradation
Süßwasserverknappung und -verschmutzung
Verschmutzung der Weltmeere in der Anthroposphäre
Bevölkerungsentwicklung und die grenzüberschreitende Migration
Gesundheitsgefährdung
Gefährdung der Ernährungssicherheit
wachsende globale Entwicklungsdisparitäten
Ausbreitung nicht-nachhaltiger Lebensstile
wikipedia Disparität "ungleiches Paar"
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Befinden wir uns nun angesichts der bisherigen Befunde in einem globalen und nationalen Jammertal der Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit? Meine Antwort ist: Keinesfalls, denn wir verfügen über Konzepte, Strategien und Maßnahmen, die den Gang aus den bisherigen Sackgassen ermöglichen. Nur halte ich es für unumgänglich, daß wir uns auf die wirklich relevanten Probleme und Handlungsnotwendigkeiten konzentrieren und die dramatischen Befunde über unsere Ausgangslage und das Zukunftswissen nicht verleugnen oder verdrängen.
Wenn sich die Politik, die Wirtschaft und die Unternehmen angesichts der Globalisierung von Produktion, Handel und Beschäftigung heute mehr denn je an äußerst kurzfristigen Entwicklungszielen politischer Legislaturperioden und technischer Innovationen orientieren, dann sollte sich niemand wundern, wenn wir uns beschleunigt aus ökologischen Kreisläufen und sozialen Gleichgewichtszuständen herauskatapultieren. Die Folgen der Klimaschwankungen mit entsprechenden Umweltkatastrophen und die exponentiell angestiegenen Kosten der Rückversicherer geben einen ersten Eindruck wohin das führt.
Die Situation ist also einzigartig: Die Sackgasse ist bekannt. Die Auswege sind im Prinzip bekannt. Die meisten Akteure in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sollten eigentlich wissen, daß sie beim Weitermachen wie bisher verlieren werden. Das führt zur entscheidenden Frage:
Läßt sich unter den Bedingungen der zunehmenden Globalisierung sowie der Digitalisierung des Kapitalismus ein Grundkonsens zwischen den gesellschaftlichen Akteuren sowohl national als auch international finden, der sich sowohl auf die Leitziele einer dauerhaft zukunftsfähigen Entwicklung bzw. nachhaltigen Wirtschaftsweise als auch auf die wichtigsten Instrumente und Maßnahmen bezieht?
Spätestens bei den konkreten Maßnahmen scheiden sich ja bekanntermaßen die Geister, wenn es etwa um wirksame internationale Vereinbarungen über die Reduktion von CO2-Emissionen, eine strukturverändernde Ökosteuer, einen fairen Technologietransfer oder faire Preise für die Dritte Welt, die Umsetzung rationeller und regenerativer Energietechniken, entsorgungsfreundlicher Produkte und Produktionsverfahren, eine sparsame Flächennutzung, die Durchsetzung von Kreislaufwirtschaft oder um ökologisch und sozial verträgliche Mobilität geht.
Ich bin gleichwohl verhalten optimistisch, weil wir für Lösungsperspektiven, Zukunftsstrategien und Maßnahmen die reale Vision der "Nachhaltigen Entwicklung" haben.
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