Prof. Rolf Kreibich

Von der Utopie zur realen Vision

Nachhaltige Entwicklung in der Zeit des globalen Kapitalismus 

Rede auf der
Konferenz zur <Forderung nach der konkreten Utopie>
am 1.6.2000 in Singener Werkstätten

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Utopiebuch 

Bene   Kafka

 

 

1. Prolog       02     03    

 

 

Die Welt von heute ist Globalisierung, Deregulierung, Individualisierung und Digitalisierung. Nicht nur geballt in Worten, auch in der Realität prägen diese Phänomene Zeitgeist und Zeitgeist-Handeln

Der Trend heißt digitaler Kapitalismus — global und total. In feineren Worten der Wirtschafts­wissen­schaft heißt das <New Economy>. 

Die Leitperspektiven Wirtschaftswachstum, globaler Produktivitätswettlauf und Shareholder-Value kennzeichnen die weltweit dominierende Wirtschafts­weise. Ökonomische Parameter bestimmen heute alle Lebensbereiche, von der Bildung bis zur Technikentwicklung, vom Gesundheitssystem bis zur Kultur und zum Freizeitverhalten. 

Immer unvermittelter bläst der rauhe Wind des neoliberalen globalen Wirtschaftens bis in die privaten Wohnzimmer. Die Gentechnik und die Fort­pflanzungs­medizin bereiten uns schon auf primär ökonomische Kategorien im Bereich des werdenden Lebens vor. Ethische Schranken brechen wie Streichhölzer durch den Druck der Bio- und Genmani­pulateure in den Laboratorien der USA, Asiens und Europas und der weltweit agierenden Verwerter in den neuen Boom-Branchen.

Wieder einmal glauben wir, daß es keine Optionen gibt und die Welt von morgen nur das vollziehen kann, was sich heute in zweifellos mächtigen technologischen, ökonomischen, sozialen und immer mehr auch psychologischen und kulturellen Trends vollzieht. 

So hat es sogar den Anschein, daß sich kaum noch jemand Alternativwelten vorstellen kann.

Und selbst nach den Risiken dieses auf totaler Technisierung, Marktmacht und Entmachtung des traditionell Politischen gerichteten Pfades wird kaum noch gefragt und geforscht — Folgen zweiter und höherer Ordnung und Langzeitwirkungen sind angesichts der kurzfristigen Gewinnerwartungen tabu.

Schon werden die tragenden Ideen der Vor-Millenniums-Generationen, daß die Steuerung der Gesellschaft ethischen Grundwerten folgen, von demokratisch legitimierter Politik ausgehen und ein hinreichendes Maß an dauerhafter Tragefähigkeit und Solidarität aufweisen müsse, als antiquiertes Gedankengut einer verblichenen Epoche abgetan. 

Visionäre Qualitäten einer Welt der ökologischen und solidarischen Zukunftsfähigkeit, in der die meisten Menschen gerne leben wollen, werden der Vorstellungs­welt utopischer Unvernunft und eines irrationalen Leviathan zugeordnet.

Der Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus und die Dominanz der wirtschaftlichen Wachstumskurven und Aktienkurse der neuen globalen und digitalen Ökonomie haben — so scheint es — selbst zahlreichen kritischen Geistern den Verstand verdreht: 

Nicht notwendige Richtungskorrekturen für nicht mehr hinreichende Zukunftsmodelle ist vielfach die Reaktion, sondern Abkehr von jeglichen Visionen über alternative Zukünfte. 

Ich erwähne in diesem Zusammenhang J.Habermas, H.Enzensberger und G.Kunert mit ihren Abgesängen und Polemiken gegen utopische Qualitäten und alternative Zukunftsentwürfe. 

Das linksliberale Kursbuch ging vor dem Jahrtausendwechsel sogar noch einen Schritt weiter und proklamierte angesichts der anbrechenden Neuzeit der Herrschaft des Marktes und Individualisierung des politischen Handelns das Ende aller Visionen und die Forderung: "Schluß mit der Moral".

  

2  Von der Utopie zur realen Vision 

 

Lassen Sie mich versuchen, klar Position zu beziehen: 

Wir sollten hier und heute deutlich zum Ausdruck bringen, daß geschlossene Utopie-Modelle wie sie beispielsweise mit Thomas Morus' <Utopia>, Campanellas <Sonnenstaat>, Marx's <Kommunistischer Gesellschaft>, Skinners <Walden Two> oder Callenbachs <Ecotopia>, die die Menschheit beglücken sollten, endgültig in den Schrank historischer Irrwege gehören. 

Nur diese Erkenntnis ist nicht neu und wurde durch die Implosion der real sozialistischen Regime nur noch einmal bestätigt. Was die fatale Wirkung geschlossener Utopien anlangt, befinde ich mich durchaus in Einklang mit Joachim Fest, dem wohl schärfsten Kritiker utopischer Gesellschaftsmodelle, wenn er zu Recht deren "projektiven Größenwahn, den Anspruch auf Totalität, Endgültigkeit und Neuigkeit" angreift. 

Geschlossene Zukunftsentwürfe, die meist aus dem Geist technokratischer Ganzheitskonstruktionen entspringen und die Menschen als Objekte und die Bürger als Schachfiguren betrachten, haben ganz zweifellos die Tendenz zu Totalitarismus und Gewaltherrschaft. Da sollte sich niemand mehr etwas vormachen.

Eine andere Frage ist allerdings, ob phantasievolle utopische Qualitäten in offenen Zukunftsentwürfen dem gleichen Verdikt des Totalitarismusverdachts unterzogen werden dürfen und müssen.

Verschiedene Denker und Gestalter offener Gesellschafts­konzepte und Zukunftsprojektionen wie G.Picht, R.Jungk, H.Jonas, O.Flechtheim verteidigten ebenso wie der Utopie-Forscher R.Saage mit unterschiedlicher Begründung und Intensität die Notwendigkeit des utopischen Denkens. 

Sie meinten allerdings "aufgeklärte Utopien" (G.Picht) oder "libertäre Utopien" im Sinne eines "neuen utopischen Denkens", das sich nicht mehr auf Totalrevision des Bestehenden richtet, "sondern als kritisches Korrektiv und regulatives Prinzip auf die Problemlage der Dritten Industriellen Revolution bezogen ist."

Ich könnte mit dieser Form utopischer Qualität für das Zukunftsdenken und Zukunftshandeln leben, wenn damit auch im politischen Diskurs die Grenzen zu geschlossenen Utopien zu ziehen wären. 

Leider ist zu befürchten, daß dies nicht möglich ist und eine Loslösung von den historisch so stark belasteten geschlossenen Utopiemodellen selbst durch den Begriff der "Konkreten Utopie" nicht gelingt. 

Auch sollten wir einbeziehen, daß der Begriff der Utopie selbst einen semantischen Kern hat, der für offenes Zukunftsdenken oder gar offenes reales Zukunfts­gestalten wenig Raum läßt: Der Duden führt aus: "Utopie ist ein als unausführbar geltender Plan ohne reale Grundlage"

Fügen wir noch etwas zur Entstehung des Begriffs hinzu: Utopie ist ein "Land, das nirgends ist" (T.Morus). Ein "Nichtland", "Nirgendwo", "Traumland", "erdachtes Land" — in dem ein gesellschaftlich-politischer Idealzustand herrscht.

Nicht weil ich etwas gegen schöne Träume hätte, auch nicht gegen Entwürfe eines schönen Lebens, sondern weil die Ideologisierung solcher Gedanken­gebäude und ihr machtpolitischer Mißbrauch für ganz andere Ziele zu befürchten ist, sind mir die Begriffe "Visionen" — "reale Visionen" — "Leitbilder" — "Zukunftsentwürfe" — "Zukünfte" — lieber; vor allem auch im Plural. 

Sie sind weniger belastet und bringen die Notwendigkeit für phantasievolle, kreative Entwicklungsoptionen besser zum Ausdruck. Wir sind doch Zeit- und Leidens­genossen nicht nur des einen grandiosen marxistisch-kommunistischen Traumlandes, in dem wir buchstäblich "nirgendwo" Parameter einer idealen Gesellschaft, ja nicht einmal solche der Zukunftsfähigkeit und Lebensqualität erkennen, geschweige denn real erfahren konnten.

 

Auch für das zweite große Traumland unserer Zeit, das neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsideal des weltweiten freien Spiels der Marktkräfte, sind solche Idealparameter nicht zu erkennen. Hier stoßen wir vielmehr auf das Paradoxon, daß die stärksten Gegner utopischen Denkens, die neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftslenker, der wohl fatalsten Utopie der Geschichte anhängen: ständiges Wirtschaftswachstum bei unbegrenzter Ressourcen­inanspruchnahme und grenzenloser Beschleunigung — wie soll das gehen bei endlichen Ressourcen und einer Biosphäre, die keinen einzigen Parameter kennt, der immer nur wächst oder sich beschleunigt?

Angesichts der realen Abgrenzungsprobleme zwischen geschlossenen Utopiemodellen und libertinärem utopischen Denken schlage ich vor, die unfrucht­baren Dispute über Begriffe zu beenden und stattdessen kreativ und phantasievoll über Inhalte, Wege und Maßnahmen in Richtung Zukunfts­fähigkeit und lebenswerter Zukünfte nachzudenken.  

Besonders für den Wandel in Richtung Nachhaltigkeit setzen wir ja gerade nicht auf Ideales und Abgeschlossenes, sondern auf Lebensfähigeres, Besseres, Schöneres, Korrigierbares und vor allem auf Prozessuales und auf die Wirklichkeit. 

Visionen und Leitbildern nähert man sich immer nur an, allerdings mit realen Chancen und realen Mitteln. Das Relative und an der Wirklichkeit ständig Gebrochene und Rückgekoppelte wiegt für die Umsetzung schwerer als das Absolute. Das Prozeßhafte zielt vor allem auch auf Beteiligung der Betroffenen, also der Menschen und Bürger, die selbst ihre Wünsche und Visionen für lebenswerte Zukünfte entwickeln und durch geeignete Strategien und Maßnahmen konkret gestalten. 

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Rolf Kreibich - Rede 2000