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Solschenizyn

 

239-268

Der Name Alexander Solschenizyn hat schon längst die Bedeutung eines Symbols gewonnen. Für die einen ist er das verkörperte Gewissen Rußlands, die Stimme des geknebelten, gepreßten russischen Volkes, eine Heldengestalt und ein genialer Schriftsteller. Für die anderen ist er der Feind Nummer eins, der die Grundfesten untergräbt, der die lieb gewordene Ruhe aufstört. Von der einen Seite glühende Liebe und Verehrung, von der anderen wütender Haß. Gleichgültig läßt er keinen. Allein das zeugt schon für den großen Schriftsteller. 

Worüber auch immer er schreibt, er senkt niemals den Ton, läßt sich nie zu verantwortungsloser Schönschreiberei herab, verliert niemals aus dem Auge, was für das Leben in Rußland heute das wichtigste und wesentlichste ist. Noch die kleinste Skizze, die er in den »Prosaminiaturen« auf einer halben Seite hinwirft, enthüllt schlagartig den einen oder anderen Aspekt des sowjetischen Lebens von heute.

Ein leidenschaftsloses, objektives Urteil über Solschenizyns Werk werden erst unsere Enkel fällen können, doch sie werden niemals begreifen, was Alexander Solschenizyn für uns Heutige bedeutete. Nur wenn sie die Leserbriefe wieder zur Hand nehmen, wie sie sich zu Hunderten ergossen, nachdem Twardowskij unter Umgehung der Zensur und mit Genehmigung Chruschtschows die ersten Erzählungen Solschenizyns erfolgreich lanciert hatte — so könnten sie vielleicht einiges erahnen und erfühlen:

»Strömende Tränen benetzten mein Gesicht, und ich habe sie nicht abgewischt, mich ihrer nicht geschämt, denn alles, was da auf diesen paar Zeitschriftenseiten geschrieben steht, enthält mein Leben, mein eigenes Leben.« — »Ich bin glücklich. Die Novelle hat die große Wahrheit bestätigt, daß Kunst und Lüge unvereinbar sind. Jetzt, da die Novelle erschienen ist (...), wird kein Schuft mehr reinwaschen können, was nicht reinzuwaschen ist.« — 

»Das Glücksgefühl, das man beim Lesen empfindet, ist schwer mit Worten wiederzugeben. Das Wort Glück klingt merkwürdig, wenn man an den Inhalt der Novelle denkt, doch Glück war es, womit mich die Wahrhaftigkeit, der Atem der Erde, die so lange nicht mehr erlebte wahre Menschlichkeit erfüllten, Glück darüber, daß sich diese Menschlichkeit in einem großen, klugen und begabten Menschen zeigt, daß es solch einen bewunderungswürdigen Menschen gibt, der alles weiß, alles verstanden hat.« 

»Das Buch ließ uns mit besonderer Freude fühlen: Rußland lebt! Nach langer, tödlicher Knebelung lebt es wieder! (...) Die Verbindung zwischen den Epochen ist wiederhergestellt, das Band, das unsere Literatur mit Tschechow und Tolstoj verknüpft!« »Für mich und andere, die ebenso denken, verkörpert die Novelle die letzte Hoffnung darauf, daß die Wahrheit doch irgendwo verborgten ist, daß sie noch nicht umgebracht, krepiert ist.« »Dank für deine große Tat, von ganzem Herzen Dank. Ich könnte dir alles geben, es wäre immer noch zu wenig.« 

»Jetzt habe ich die Geschichte von Matrjona schon zum fünften Mal gelesen. Sie selbst sind jener Mensch, ohne den unser Land nicht bestehen kann. Und deshalb drängt es mich so, mich ganz, ganz tief nach russischem Brauch vor Ihnen zu verneigen — im Namen unseres ganzen Landes, im Namen aller Russen.« »Daß wir nicht ganz vor Scham verzweifeln, dazu sind Sie in unser Land gesandt.« 

»Mit Ihrer Stimme hat unsere Stummheit angefangen zu reden. Ich kenne keinen anderen Schriftsteller, der so langersehnt und notwendig wäre wie Sie. Wo das Wort noch nicht verdorben ist, da ist noch Rettung für die Zukunft. Ihre Bücher verwunden und heilen die Seele. Sie haben der russischen Literatur ihre überwältigende Macht zurückgegeben.«

»Ihr Leben gehört schon nicht mehr Ihnen allein. Wahrscheinlich ist es Ihnen selbst noch gar nicht bewußt, wer Sie sind und was Sie für uns bedeuten.« 

 Solschenizyn auf detopia  

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Von den Früheren besaß einzig Lew Tolstoj ein derartiges Gewicht in der Öffentlichkeit. Im Westen wurden Solschenizyns erste Arbeiten von der linken Intelligenz begeistert aufgenommen, empfand diese doch schon seit geraumer Zeit Peinlichkeit und Scham angesichts der armseligen grauen Literatur im ersten Land des Sozialismus. Solschenizyn betrachteten sie als tapferen und kühnen Streiter für einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«. Später war ihre Enttäuschung groß, und die anfängliche naive Begeisterung wich grimmiger Feindschaft. 

Der Fall Solschenizyn zeigt, wie weit die westliche Intelligenz von dem Verständnis dessen entfernt ist, was sich im Inneren der sowjetischen Gesellschaft vollzieht. Ein bemerkenswertes Beispiel einer verzerrten Inter­pretation, mehr noch, einer diametral gegenläufigen Lektüre der Werke Solschenizyns liefert Vittorio Strada.(9) In der Sklavenarbeit der Sträflinge sieht er ein »Bild für den Aufbau des Sozialismus« (l'immagine della costruzione del socialismo), und zwar allein aus dem Grund, daß Iwan Denissowitsch Schuchow seine Arbeit mit Gewandtheit und Bereitwilligkeit verrichtet. Strada merkt überhaupt nicht, daß der Bauer Schuchow, dieser unverdorbene, naive, mit dem Boden verbundene Mensch, nicht deshalb bereitwillig und gewandt arbeitet, weil er irgendeinen mythischen Sozialismus aufbauen will, sondern weil er in seiner ursprünglichen Naivität »etwas seltsam in solchen Dingen (war), und das hatte er sich auch nach acht Jahren Lager noch nicht abgewöhnt. Er war selbst bei Kleinigkeiten noch mit Sorgfalt dabei, und er konnte es gar nicht vertragen, wenn irgend etwas verschwendet wurde«.10) Die Arbeit ist für ihn, den arbeitsgewohnten Menschen, ein Mittel, sich ganz in etwas hineinzugeben, der einzige Weg, sich im Lager noch als lebendiger Mensch zu fühlen und nicht als eine Sache mit der Nummer »Schtsch 854«

Vollends wie ein Witz klingen die Schlußfolgerungen, die Strada aus folgender vieldeutiger Passage des »Iwan Denissowitsch« zieht: »Fünf Straßen liefen hier zusammen (...) Wenn alle diese Straßen erst einmal fertig waren, würde der Hauptplatz der Stadt, die sie hier zu bauen hatten, bei der Wache sein, wo sie jetzt gefilzt werden sollten. Und die Leute, die einst in dieser großen Stadt leben, sie werden zu Demonstrationen hier zusammen­strömen, genauso wie jetzt die Sträflinge.« (S. 108) Den Hohn, der in diesen Worten liegt und den jeder Russe auf Anhieb begreift, bemerkt Strada überhaupt nicht; er sieht darin eine Apotheose der »Geschichte«, die unbeirrbar zum Sozialismus vorwärtsschreitet, und den Ausdruck einer »inneren Sozialität« (l'intrinseca socialitä), die der Wahn des »Kults« in den Menschen nicht habe zerstören können. 

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Das ganze Land, sagt uns Solschenizyn, hat sich in ein riesiges KZ verwandelt; das Lager, in dem Schuchow sitzt, ist bloß ein winziger Ausschnitt aus der Sowjetwelt, in dem wie in einem Brennglas die charakteristischen Merkmale dieser Welt vereinigt sind, und in dem zugleich die Prinzipien dieser Welt zur logischen Vollendung gelangen. Über die Straßen, auf denen jetzt die Häftlingskolonnen zum Filzen trotten, werden morgen die Kolonnen von »Freiwilligen« ziehen, von Menschen, die man zur Teilnahme an den Demonstrationen gezwungen hat, die von oben bestellte und »von Moskau« abgesegnete Transparente tragen müssen — die man zu einer geistigen Filzung treibt, um ihre Loyalität und Ergebenheit gegenüber den Oberen zu prüfen.

Diese Gedanken hat Solschenizyn in mehreren Werken zum Ausdruck gebracht; am klarsten und genauesten aber im <Archipel GULag>: 

»Was war unsere Freiheit? Was war das für ein Land, das Jahrzehnte hindurch den Archipel in sich getragen hat? (...) Unser Land wurde allmählich von den Giften des Archipels durchsetzt. Und Gott weiß, ob es sich jemals wieder von ihnen befreit. Werden wir die Fähigkeit und den Mut haben, die ganze Abscheulichkeit zu beschreiben, in der wir gelebt haben (und die, im übrigen, von der heutigen nicht allzusehr abweicht)? 

(...) Wir werden versuchen, kurz jene Kennzeichen des freien Lebens aufzuzählen, die durch die Nachbarschaft des Archipels bestimmt waren und mit ihm eine einheitliche Landschaft bildeten: Ständige Angst, mangelnde Freizügigkeit, Verschlossenheit, Mißtrauen, allgemeine Unkenntnis, Spitzeltum, Verrat als Daseinsform, Zersetzung, Grausamkeit, Sklavenmentalität.«11)

Die allgemeine Verschlossenheit, Angst und Lüge zerstörte jegliche »innere Sozialität« in einer Gesellschaft, wo ein Verräter für sein vorbildliches »soziales Verhalten« als Nationalheld gefeiert wurde (Pawlik Morosow) — keine Spur blieb mehr von dieser Sozialität; wenn dennoch etwas bewahrt wurde, das der unerhörten Entfremdung und Beziehungslosigkeit unter den Menschen entgegenstand (und auch das nicht immer, wie das Beispiel Pawlik Morosows zeigt), so waren es die ewigen Bande des Bluts, der dunkle (und gesegnete) Instinkt des Stammes. 

»Wenn ringsum Argwohn und Käuflichkeit herrschen, dann gibt dir die Blutsverwandtschaft das Grundvertrauen, daß der andere kein Spitzel ist, daß er nicht geschickt ist, dich auszuhorchen, sondern daß er dir ganz natürlich begegnet. Mit den hellsten und klügsten Köpfen wirst du nicht so reden wie mit deinen eigenen Verwandten, selbst wenn sie dunkel und ungebildet sind«, denkt Innokentij Wolodin im »Ersten Kreis der Hölle«.

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Versuche, Solschenizyn als Sozialisten hinzustellen, wurden auch noch nach dem Erscheinen seiner Romane »Rakowyj korpus« (dt. Krebsstation) und »W kruge perwom« (dt. Der erste Kreis der Hölle) unternommen (letzterer erschien in »gemilderter«, gekürzter Form, so wie der Autor ihn der Redaktion des »Nowyj mir« vorgelegt hatte, in siebenundachtzig Kapiteln; die volle Fassung von sechsundneunzig Kapiteln ist bislang noch nicht veröffentlicht). 

Diese Versuche zeigen, daß die westliche Intelligenz sich nicht vorstellen kann, wie sehr die furchtbaren Erfahrungen eines halben Jahrhunderts das Denken der Menschen in Rußland nicht nur vom Marxismus-Leninismus, sondern von jeglichem Sozialismus überhaupt abgebracht haben. 

Hier genügt es, an die letzten Äußerungen des Akademiemitglieds Sacharow oder an Igor Schafarewitschs unlängst erschienene Arbeiten über den Sozialismus zu erinnern,12) wo er nachweist, daß der Sozialismus keine neuartige, ausschließlich unserer Zeit angehörende Erscheinung ist, sondern eine universale Kraft darstellt, die im Verlauf der ganzen Menschheitsgeschichte wirksam war und nichts anderes als eine Erscheinungsform des Todestriebs ist.

Andere Samisdat-Autoren betrachten den Sozialismus als gesellschaftliche Entropie, als Vereinfachung und Verarmung des ganzen Lebens, Monopolisierung der gesamten Lebensenergie und folglich ihre Auslöschung; wieder andere schließlich sprechen davon, daß das utopische Verlangen, eine vollkommene Gesellschaft aufzubauen, logisch zum entgegengesetzten Resultat führen müsse — statt eines irdischen Paradieses entsteht die Hölle auf Erden.

Solschenizyn hat allerdings auch selbst dazu Anlaß gegeben, als Sozialist mißverstanden zu werden: In der »Krebsstation« (die er in Eile mit der besonderen Absicht schrieb, die krasse Direktheit des »Ersten Kreises« abzumildern, Zeit zu gewinnen und auf jeden Fall wieder etwas im »Nowyj mir« zu publizieren) spricht Schulubin vom »sittlichen Sozialismus« als einem von der Gesellschaft anzustrebenden Ideal. 

Aber an der gleichen Stelle wird Schulubins Ideal in verhüllter Form durch einen Verweis auf Wladimir Solowjow als vermeintlichen Anhänger eines solchen moralischen Sozialismus zurückgewiesen — doch jeder, der Solowjows monumentale <Rechtfertigung des Guten> kennt, jenes Klassikers der russischen Philosophie, weiß genau, daß Solowjow nicht nur kein Anhänger des Sozialismus war, sondern im Gegenteil nachzuweisen versuchte, daß der Sozialismus mit einem Aufbau der Gesellschaft auf moralischen Grundlagen unvereinbar sei.

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»Das Merkmal, das die menschliche Gesellschaft von der Gesellschaft der Ameisen oder anderer gesellschaftlicher Tiere unterscheidet, besteht darin, daß jeder Mensch als solcher ein moralisches Wesen ist, eine Person, die unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Nützlichkeit einen unbedingten Wert besitzt (...) Irgendwelche selbständigen ökonomischen Gesetze, irgendeine ökonomische Notwendigkeit kann es nicht geben, weil die Erscheinungen der Wirtschafts­ordnung nur als Aktionen des Menschen denkbar sind — eines moralischen Wesens, das die Fähigkeit besitzt, alle seine Handlungen den Motiven des reinen Guten unterzuordnen.« 

»Der diametrale Gegensatz zwischen Sozialismus und Christentum liegt in der moralischen Beziehung zu den Reichen ...« 

»Die Herrschaft fällt im Sozialismus dem materiellen Prinzip zu, ihm ist der Bereich der ökonomischen Beziehungen ganz untergeordnet, der in der Folge zum wichtigsten, grundlegenden, zentralen und das Leben der Menschen bestimmenden Bereich erklärt wird. In diesem Punkt verschwindet der innere Unterschied zwischen dem Sozialismus und der von ihm bekämpften bürgerlichen Ökonomie.« 

»Für die richtige Lösung der sogenannten >sozialen Frage< gilt es zuallererst zu erkennen , daß die Norm für die ökonomischen Beziehungen nicht in diesen selbst liegt, sondern daß sie der allgemeinen moralischen Norm unterliegen und einen besonderen Anwendungsbereich dieser Norm bilden.«13)

So ist Schulubins »sittlicher Sozialismus« ein Nonsens, eine contradictio in adjecto, denn eine moralisch orientierte Gesellschaft bedeutet, daß die Moral an die erste Stelle tritt, den Vorrang vor allem anderen hat, alles übrige dominiert; Sozialismus aber heißt, daß die Sozialisierung (also die Ökonomie und der Aufbau des Staates) an die erste Stelle tritt und Vorrang vor allem anderen erhält. Indem Solschenizyn so tat, als sei es ihm um die Rettung des Begriffs Sozialismus zu tun, machte er in Wirklichkeit den — vergeblichen — Versuch, ein weiteres Mal in einer legalen sowjetischen Publikation auszusprechen, was er dachte, und den Lesern nahezulegen, worauf es ihm ankam: 

»Es muß eine Gesellschaft entstehen, deren Beziehungen, Prinzipien und Gesetze alle aus der Sittlichkeit hervorgehen — nur aus ihr! ... Nicht nach Glück sollen die Menschen streben (...), sondern nach gegenseitiger Sympathie. Glücklich ist auch das Tier, das seine Beute frißt, aber Sympathie können nur die Menschen einander entgegenbringen! Das ist das Höchste, was Menschen erreichbar ist!«14)

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Der Widerspruch zwischen diesen Worten Schulubins und seinen Lobeshymnen auf den Sozialismus läßt sich in dem Roman aus dem unfertigen, verworrenen, unreifen Bewußtsein dieses vom Leben hart geprüften Menschen erklären.

Als es endgültig unmöglich wurde, Solschenizyn als Sozialisten hinzustellen, begannen die westlichen Kritiker ihn als Reaktionär und Ultrarechten zu titulieren, wobei sie vergaßen, daß rechts und links die Plätze tauschen, wenn man von Westen nach Osten schaut. In einem Samisdat-Sammelband über Solschenizyns Werke schreibt Alexander Tulygin etwas, das sich in Rußland von selbst versteht: »Nach allgemeiner Auffassung kann man nicht weiter links stehen als Solschenizyn (...), und einen Platz rechts neben Scholochow zu finden ist nicht mehr möglich, wenngleich Leute wie W. Kotschetow und I. Schewzow unermüdlich versuchen, ihn rechts zu überholen.«15)

 

Durch unsere Analyse sind wir ungewollt auf das Gebiet der Politik geführt wurden, doch bei Solschenizyn läßt sich das nicht vermeiden — für ihn ist das Schreiben nicht »Literatur«, sondern das Leben selbst, er ist von seiner Berufung besessen wie von einer Mission, ja er ist vielleicht das letzte Beispiel eines Schriftstellers, der zugleich Prophet ist, wie er in unserem Jahrhundert schon gar nicht mehr möglich schien. Welcher andere Schriftsteller könnte heute ohne Verstellung und Pose die Worte sprechen, die Solschenizyn der grausamen Macht ins Gesicht schleuderte:

»Ich bin natürlich unbesorgt, daß ich meine Aufgabe als Schriftsteller unter allen Umständen erfüllen werde — und aus dem Grab heraus sogar noch besser und unwiderlegbarer, als wenn ich am Leben bliebe. Niemand vermag der Wahrheit den Weg zu verlegen, und um sie weiter zu bringen, bin ich bereit, auch den Tod auf mich zu nehmen.«16)

Das aber irritiert jene, welche die unruhigen und schmutzigen Wogen des Lebens, das uns Entscheidung und Wahl abverlangt, von dem stillen Hafen der reinen Kunst fernhalten möchten. In Moskau bekommt man heute von etlichen Ästheten, die das Fehlen von Zivilcourage hinter der Pflege ihres subtilen Geschmacks zu verbergen suchen, zu hören, der größte moderne russische Schriftsteller sei Nabokov, und gegen seine virtuose Malerei sei Solschenizyn nichts als ein grober Kleckser. Sehr ähnliche Stimmen sind auch im Westen zu vernehmen (etwa K. Cassol). 

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Wir erkennen hier einen großen methodischen Fehler: den Versuch, ein Werk nach Kriterien zu bewerten, die ihm fremd und äußerlich sind und es daher nicht erklären können, sondern eine verzerrte Vorstellung von ihm vermitteln müssen. Solschenizyns Werk zeichnet sich durch eine seltene Integrität, Geschlossenheit, ungekünstelte Natürlichkeit, Spontaneität und Schlichtheit aus, und diesen lebendigen Körper in leblose Stücke zu zerschneiden (nach ästhetischen Kategorien), heißt jede Hoffnung auf ein Verstehen zunichte machen. An der Leiche kann man den Bau des menschlichen Körpers erforschen und begreifen, doch unmöglich den Menschen, der in diesem Körper gelebt hat.

Und wäre es denn nicht auch lächerlich gewesen, wenn Solschenizyn sich darangemacht hätte, jenen Tag des Iwan Denissowitsch in virtuoser Nabokovscher Prosa zu schildern? Nicht bloß lächerlich, sondern unsinnig, unernsthaft und sogar beleidigend für Iwan Denissowitsch. Was uns an Solschenizyn so staunen macht, was ihn vor allen anderen lebenden Schriftstellern auszeichnet, ist die wunderbare Intensität und Macht seiner geistigen Kräfte, die außergewöhnliche Glut, mit der er die entscheidenden Probleme Rußlands und der ganzen modernen Welt an sich selbst durchlebt, die durchsichtige moralische Klarheit und Reinheit und als Ergebnis all dessen ein wunderbarer und wunderwirkender Kraftstoß in den Kulminationspunkten des Erzählens, der den unvorbereiteten Leser unfehlbar ergreift und erhebt — in einer machtvollen, alles mitreißenden Bewegung, wie sie uns in der Literatur selten begegnet und eher für die Musik kennzeichnend ist. 

Dieser musikalische Kraftstoß, der die Seele erhebt und erleuchtet — ist er nicht das Merkmal großer Kunst? Und nur große Kunst und eine große Seele vermögen solche hellen und wahrhaften Gestalten wie die Kadmins, Spiridon, Matrjona und Worotynzew zu schaffen, denn die positiven Gestalten eines Schriftstellers sind stets die Materialisation seiner eigenen Ideale, an ihnen sehen wir, an welchem Ideal der Schriftsteller sich mißt und welche menschliche Tiefe er erreicht. Bolkonskij und Besuchow sind das Maß für die Menschlichkeit Tolstojs, Myschkin und Aljoscha Karamasow das Maß für die Seele Dostojewskijs.

Was Solschenizyns Schreibtechnik betrifft, so muß man sagen, daß er nicht die Stiltradition Tolstojs fortsetzt, wie man hätte erwarten können, sondern eher die Tradition von Leskow und Remisow — Kritiker haben darauf schon verschiedentlich hingewiesen, wobei es für W. Sawalischin17) nicht einmal so sehr der ornamentale Skas-Stil Remisows als vielmehr der bäuerliche, neo-ornamentale Stil Sergej Klytschkows und Artjom Wesjolyjs mit seiner größeren Nähe zur Folklore und zur lebendigen Umgangssprache ist, der Solschenizyns Schreibweise beeinflußt habe. 

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Die Tradition des Skas läßt sich in Solschenizyns Stil tatsächlich deutlich ausmachen — in der ungezwungenen, freimütigen direkten Ansprache des Lesers, in der freien umgangssprachlichen Wortstellung und Syntax, in der »unliterarischen« Frische und Echtheit der Intonation (es klingt ganz wie mündliche Rede) und sogar in einer gewissen musikalischen Satzführung. Unübersehbar ist auch, daß Solschenizyn viel Arbeit daran wendet, die russische Sprache frischer und reicher zu machen (es gibt wohl keinen zweiten unter den modernen russischen Schriftstellern, der so am Wort arbeitet und der es vermocht hätte, dem einzelnen Wort derartige Ausdruckskraft zu erringen — nicht dem Satz, sondern ausdrücklich dem einzelnen Wort). 

Solschenizyn bereichert die Sprache, indem er wenig gebräuchliche Wendungen der Volkssprache (sogar Dialektismen), fast vergessene archaische Ausdrücke, neue »Sowjetismen« und eigene Wortneubildungen verwendet. Seine geschmeidige und ausdrucksstarke Syntax, die sich alle Vorzüge der russischen Grammatik zunutze macht, erlaubt sich zuweilen einige größere »Freiheiten«, verliert jedoch nie ihre Natürlichkeit und wird niemals extravagant.

Man muß hinzufügen, daß Solschenizyns Sprache von Werk zu Werk stark verschieden ist — je nach dem Charakter der handelnden Personen und nach dem Gegenstand des Erzählens; es ist eine außergewöhnlich biegsame, polyphone Rede (die verschiedene Tonlagen umfaßt — die sowjetische Umgangssprache, Jargon, gehobenen literarischen Stil, volkssprachliche Wendungen usw.), die jedoch stets mit energischer, keine Scheu kennender Geradheit vorgetragen wird.

Das erste Buch Solschenizyns, das, weil es nicht veröffentlicht werden durfte, im Samisdat zu zirkulieren begann, war die »Krebsstation«. In diesem Buch konnten die russischen Leser die erste und bisher auch unübertroffene Darstellung des »sowjetischen neuen Menschen« finden, des Repräsentanten einer neuen Gesellschaftsordnung, jenes neuen Menschentyps, den das sowjetische System hervorgebracht hat (in der Zukunft wird sich die russische Literatur mit diesem Typus sicherlich noch häufiger beschäftigen). 

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Solschenizyn zeigt jene ganz neuartige Form von Bewußtsein, die nirgendwo zuvor existiert hatte und kennzeichnend für den <Homo sovieticus> ist — diesen Begriff verwendet Mihajlo Mihajlov, der jenes Bewußtsein mit erstaunlicher und für einen Ausländer ungewöhnlichen Klarsicht erkannt und sogar einige seiner Kennzeichen beschrieben hat:18) die naive Fähigkeit, selbst noch der eigenen Lüge Glauben zu schenken, die freiwillige Unterdrückung der eigenen Individualität und die widerspruchslose Unterordnung unter offizielle Autoritäten, die Fähigkeit, für jegliche Gewalttat und jede Lüge eine innere Rechtfertigung zu finden. 

Pawel Nikolajewitsch Russanow wird unstreitig als die erste künstlerische Verkörperung dieses Typus in die russische Literatur eingehen, als historisches Zeugnis für die monströse Entartung der menschlichen Natur und entsetzliche Verarmung der menschlichen Persönlichkeit, einer Verarmung und Entartung, die aus der widernatürlichen Atmosphäre des totalitären Staats hervorwuchsen, die das Denken der Menschen lähmte, einengte und in die Lethargie zwang — wird doch eigenes Denken letzten Endes überflüssig in einem System, wo die »weisen Führer« mit Hilfe der »weisen, stets siegreichen Lehre« das Volk »von Sieg zu Sieg führen« und damit die »historische Aufgabe« erfüllen, auf jede Frage eine Antwort haben und die einzig richtige Erklärung für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wissen.

Den Lesern künftiger Zeiten werden Russanow, seine Frau Kapitolina Matwejewna und ihre Tochter Awieta vermutlich wie unwahrscheinliche Monster vorkommen. Und in der Tat — wie kann es Menschen geben, die daran glauben, daß in ihrem Land eine glückliche sozialistische Gesellschaft entstanden sei, und zur gleichen Zeit niemandem vertrauen, alle anderen der feindseligen Gesinnung gegen diese Gesellschaft verdächtigen, die »Überprüfung« jedes Menschen für notwendig halten und diese Kontrolle über die Loyalität der Bürger sogar zu ihrem Beruf machen? 

Wie kann man daran glauben, daß diese neue sozialistische Gesellschaft auf Gleichheit und Brüderlichkeit beruht, und sich zur gleichen Zeit zahlloser Privilegien erfreuen (Spezialgeschäfte, Sanatorien, Befreiung vom Armeedienst, Einlaß und Durchlaß aller Art usw.) und sogar hartnäckig auf diese Privilegien dringen (auf das Privileg, in einem besonderen Krankenhaus oder zumindest einem besonderen Zimmer untergebracht zu werden)? 

Und den Sohn vor der unstandesgemäßen Heirat mit einem Mädchen »aus den einfachen Schichten« warnen? Wie kann man glauben, man erfülle seine Staatsbürgerpflicht, indem man den Freund denunziert und sich nach dessen Verhaftung seine Wohnung unter den Nagel reißt? 

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Wie kann man glauben, man diene dem Volk, und zugleich Ablehnung und Widerwillen gegen dieses Volk empfinden? (»Russanows liebten das Volk — ihr großes Volk! Sie dienten ihm und waren bereit, ihm ihr Leben zu opfern. Doch die Bevölkerung konnten sie im Laufe der Jahre immer weniger ausstehen — diese aufsässige Bevölkerung, die sich ewig drückte, aufbegehrte und obendrein noch Forderungen stellte.«19)

Und der Kontrast zwischen der abstrakten Zeitungspropaganda und der konkreten Wirklichkeit — wie können diese Menschen ihn so ungerührt mitansehen? Wie ist es möglich, daß sie die Verlautbarungen ihrer Partei heute begeistert unterstützen, und morgen, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, ebenso überzeugt genau das Gegenteil gutheißen? (»Wenn sie sich uneinig wären, wenn die einen die alte Sprache, die anderen die neue sprechen würden, dann würde man merken, daß sich etwas geändert hat. Aber da alle auf einmal in der neuen Tonart reden, ohne Übergang, merkt man gar nichts von dem Umschwung« (Band 1, S. 404). 

Und im »Ersten Kreis«: »Als hauptamtlicher Sekretär war Stepanow nicht nur von sonstiger Arbeit befreit, sondern ebenso auch von dem Zweifel und der Gefahr, sich im Dunkeln zu verirren. Im Rundfunk brauchte nur verkündet zu werden, daß es kein heldenhaftes Jugoslawien mehr gebe, sondern lediglich eine Tito-Clique — und schon fünf Minuten später gab Stepanow diese Nachricht mit so viel Nachdruck und solcher Überzeugungskraft weiter, als wäre er nach jahrelangem Ringen selbst darauf gekommen«20.)

Alle diese Widersprüche im Bewußtsein des »Homo sovieticus«, jener Menschen, welche die tragenden Säulen bilden, durch die das Regime überhaupt erst lebensfähig ist, lassen sich heute nur verstehen und erklären, wenn man von der Vorstellung eines »zwiefachen Denkens«, eines »zwiefachen Bewußtseins« ausgeht. Das Phänomen des Zwiedenkens ist in der philosophischen Literatur des Samisdat hinreichend tiefgründig und ausführlich analysiert worden, womit der Samisdat ohne Zweifel einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung der Psychologie der Sowjetgesellschaft geleistet hat. Eine brillante Analyse des Zwiedenkens finden wir in Dmitrij Nelidows Essay »Ideokratisches Bewußtsein und Persönlichkeit«21. Nelidow definiert die sowjetische Gesellschaft als »Ideokratie« und stellt fest, daß die in dieser Gesellschaft obligatorische, sozusagen »herrschende« Ideologie unpersönlichen Charakter trägt, »von jeglichem individuellen Bewußtsein getrennt« ist. Sie gehört allen gemeinsam und keinem allein. 

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Sie ist einfach »die objektive Realität, die uns in der Vorstellung gegeben ist«, mit der jeder Bürger in irgendeiner Form rechnen muß. »Ob er dieser Ideologie ergeben ist oder ob er sie bedingungslos ablehnt, sie bleibt stets eine äußere Gegebenheit, an die er gebunden ist, unabhängig von seinem persönlichen Eifer oder Unglauben. Der Inhalt dieser Ideologie ist das Glaubensbekenntnis des Staates.« Die Ideologie ist für jedermann verpflichtend. »Es gibt jedoch praktisch niemanden und kann wohl auch niemanden geben, dessen Überzeugung restlos in diesem System aufginge und sich in der Sprache dieses Systems formulieren ließe. Und deshalb korrigiert jede ideologische Sympathie< (...) unfehlbar das individuelle Bewußtsein zugunsten des unpersönlichen entfremdeten Bewußtseins, das in sich die Summe des staatlichen Glaubens verkörpert.« 

Die Ideologie »als Absolutum« durchdringt »alle Formen des gesellschaftlichen Seins, indem es sich gegen das relative Bewußtsein geltend macht«. Und indem es dieses individuelle Bewußtsein entwertet und herabsetzt, »zwingt es die Menschen in die Situation von Kleinkindern im Kindergarten, die von einem gesichtslosen ideologischen >Es< erzogen werden«. Die Ideokratie unterscheidet sich prinzipiell von allen anderen Arten der Tyrannei, denn »trotz aller möglichen Personifikationen, trotz allen Kults kann die totalitäre Gesellschaft ihrem Wesen nach nicht von einer einzelnen Persönlichkeit regiert werden. Nicht Stalin war der absolute Diktator, sondern die zur Gottheit erhobene Wahrheit (...) Es herrscht nicht eine Person, sondern ein ideologischer Dschinn, den man aus der Flasche gelassen hat (...) Der sogenannte Personenkult war lediglich eine unter mehreren Kulminationen des Kults der Unpersönlichkeit, eben der Ideologie«. 

Nelidow weist auf ein aufschlußreiches Paradox der ideokratischen Gesellschaft hin: »Unter der Herrschaft der Ideen hört der Mensch auf, von Ideen im eigentlichen Sinne zu leben. Er lebt von Ideenkomplexen — von Instinkten, die in einer spezifischen Weise durch den permanenten ideologischen Druck in ihm herangezüchtet werden.« 

Und in der Tat, wir sehen, daß Russanow in Solschenizyns Roman nicht reflektiert, sondern einfach gleichsam instinktiv auf die Äußerungen und Gedanken anderer reagiert. Gespräche über Gewissen oder Religion lösen in ihm festgelegte Reaktionen aus: »Religion ist Opium fürs Volk«, Gewissen ist ein »idealistischer Wahn«, jede Äußerung, die die nötige Loyalität vermissen läßt — »ideologische Diversion«, und dergleichen mehr.

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Die gesamte Beziehung des Individuums zur Außenwelt ist gleichsam eine Parodie auf die Kantsche transzendentale Erkenntnis (die Perzeption der Welt durch den Menschen mit a priori vorgegebenen Mitteln) — der Mensch spricht und denkt in Stereotypen, beurteilt alles nach fertigen und verbindlichen Schablonen. Persönliche Überzeugungen und Gewissen werden in diesem System zu völlig fremden und inakzeptablen Begriffen. 

»Wenn uns die große Weltliteratur der vergangenen Jahrhunderte — mit Shakespeares und Schillers und Dickens' vereinten Kräften — pechschwarze Bösewichter auf die Beine stellt, dann sieht es für uns schon fast possenhaft aus und leicht befremdlich für das moderne Empfinden (...) Um Böses zu tun, muß der Mensch es zuallererst als Gutes begreifen oder als bewußte gesetzmäßige Tat. So ist, zum Glück, die Natur des Menschen beschaffen, daß er für seine Handlungen eine Rechtfertigung suchen muß. Macbeths Rechtfertigungen waren schwach — und es zernagte ihm sein Gewissen. Und auch Jago ist ein Jagnjonok — ein Lamm. Die Phantasie und Geisteskraft der shakespearischen Bösewichter machte an einem Dutzend von Leichen halt. Denn es fehlte ihnen die Ideologie.«11) 

Russanow machte sich nicht die geringsten Gewissensbisse, als er denunzierte »Feinde entlarvte« und in den Tod schickte und dabei »würdevoll mit erhobenem Kopf einher« ging — denn »damals wäre doch niemandem der Gedanke gekommen, daß an seinem Verhalten etwas Ehrloses sei!« (Band 1, S. 276) Der Gedanke kam einem gar nicht — basta! Daß es ein persönliches Gefühl der Scham geben könnte, ist Russanow offensichtlich unbekannt.

Die Ideologie, die dekretiert, das individuelle Gewissen habe zu verschwinden, die seine Souveränität aufhebt und es zwingt, sich vorgegebenen Schablonen unterzuordnen, so fährt Nelidow fort, »legt sich auf die Persönlichkeit, versucht sich in ihr aufzulösen und sie zugleich gänzlich zu vereinnahmen. Das aber stellt sich als prinzipiell undurchführbar heraus, und es entsteht das Phänomen des Zwiedenkens«. Die Ideologie »will euch von innen her beherrschen. Dieses Eindringen eines fremden Denkens und Wollens in euer Denken und Wollen, eure Anbiederung und Anpassung an dieses Fremde, euer Verzicht auf die in eigener Verantwortung getroffene geistige Wahl, auf eure eigenen Gedanken und euren Glauben — das alles kann man nur als Zerstörung des menschlichen Wesens, als Dehumanisierung bezeichnen«. 

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»Das Zwiedenken ist eine geistige Krankheit, eine Krankheit, die beredt dafür zeugt, daß die Menschheit gefallen ist, doch gerade in dem Gefallensein auch dafür Zeugnis ablegt, daß das Geistige unzerstörbar ist. Das Zwiedenken entsteht, weil die Menschen, so total sie sich auch ihren ideologischen Reflexen hingeben, so sehr sie lügen, sich verstellen und Fratzen schneiden, so eifrig sie sich selbst überlisten und betrügen mögen — dennoch Menschen bleichen.«

Auch Russanow spürt, wenngleich er sich dessen selber nicht bewußt ist, die Lüge und Unwahrhaftigkeit dieses Staates und dieser Ideologie, deren treuer Diener er ist — daher auch sein Entsetzen über die Rehabilitierungen, seine Angst vor Veränderungen; und in seinem Verhalten weicht er ständig von der geraden Linie ab, wie sie für den lupenreinen Sowjetmenschen verpflichtend ist. Russanow wird sich seiner Abweichungen selbst nicht bewußt oder doch nur vage und unvollständig — worin wir wiederum eine Besonderheit des Zwiedenkens erkennen können: das subjektiv überzeugte Vereinbaren zweier unvereinbarer Prinzipien. In diesem Punkt stimmen wir Nelidow nicht zu, nach dessen Ansicht »sich grob zwei Grundformen, zwei Pole des Zwiedenkens ausmachen lassen. Wir wollen sie hier mit den Begriffen Dummheit und Zynismus bezeichnen. Dummheit markiert die unterste Stufe der Separierung des eigenen Ichs von der sozio-ideologischen Marionettenidentität. Der Zynismus markiert die höchste Stufe dieser Separierung«.

Nelidow verwischt auf diese Weise die deutlich gezogene Grenze, die das Zwiedenken als prinzipiell neuartige Erscheinung, welche für die ideokratische Gesellschaft kennzeichnend ist, von der normalen Heuchelei unterscheidet, wie sie zu allen Zeiten in jeder Gesellschaft existiert hat. Der Zyniker, der sich der vom Zwang diktierten Verlogenheit seiner eigenen Worte und Taten bewußt ist, hat ein einheitliches und kein zwiegespaltenes Bewußtsein. Er begreift mit aller Klarheit, wo die Wahrheit und wo die Lüge ist, und sein Zynismus besteht eben darin, daß er sich bereit findet, der Lüge nachzugeben. Ein Mensch mit zwiefachem Bewußtsein jedoch glaubt und glaubt nicht, weiß und weiß nicht zur gleichen Zeit; die Zerstörung seiner Persönlichkeit besteht eben darin, daß er beständig die Stimme des eigenen Gewissens und des eigenen Verstands ersticken und sie in unnatürlicher Weise mit Gewissenlosigkeit und Unverstand versöhnen muß. 

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Von ihm selbst unerkannt, spielt sich in seinem Inneren beständig ein dumpfer Kampf zwischen den schwach glimmenden, aber unaustretbaren Fünkchen des Bewußtseins von Wahrheit und Gerechtigkeit und der mächtigen dominierenden Ideologie, die ihm diktiert, was er für gerecht und wahr zu halten habe. Es ist gar nicht das Meer von Blut, es sind nicht die Millionen von Toten, sondern es ist diese Dehumanisierung, die Zerstörung der menschlichen Persönlichkeit, worin das furchtbarste Verbrechen des totalitären ideokratischen Staates besteht.

Andrej Sacharow, der über verschiedene Fragen gegen Solschenizyn polemisierte, hielt es genau in diesem Punkt für geboten, seine Übereinstimmung mit Solschenizyn zu betonen: »Ebenso wie Solschenizyn halte ich die Errungenschaften, deren sich unsere Propaganda mit solcher Vorliebe brüstet, für geringfügig, wenn man sie mit den Folgen der inneren Überanspannung, Enttäuschung und Depression vergleicht, mit dem Verlust an Beziehungen unter den Menschen, mit dem Schaden, den sie an ihrer Seele nehmen.«23)

In Solschenizyns Werken finden wir eine ganze Galerie von Menschen dieser neuen Rasse, dieser Major Schikins und Myschins; doch der eindrücklichste von allem bleibt nach wie vor Russanow. Der Autor stellt ihn in eine Situation, in der das zwiefache Bewußtsein die stärkste Prüfung zu bestehen hat, er stellt ihn vor ein furchtbares Problem: das Problem des Todes, das er allein und selbständig lösen muß, weil die Ideologie ihm hier nicht im geringsten zu helfen vermag — denn die Ideologie ist unsterblich, und der Tod eines einzelnen kleinen Menschen hat für sie keinerlei Bedeutung. (»Der Tod [...] näherte sich ihm vorsichtig [...] Russanow war wie gelähmt, er konnte gegen diesen heranschleichenden Tod nicht ankämpfen, konnte in Gedanken an ihn überhaupt nichts entscheiden, aussprechen [...] Es gab keine Vorschrift, keine Anweisung, die Pawel Nikolajewitsch hätte schützen können« [Band 1,368].) 

Die Ideologie kann ihm keine einzige Antwort vorsagen — das heißt, sie gibt ihm Antworten, doch die können einen lebendigen Menschen nicht zufriedenstellen, ein lebendiger Mensch kann sich nicht damit abfinden, daß sein Leben bloß ein winziges Schräubchen in der grandiosen Maschinerie der Geschichte sein soll, das so lange gebraucht wird, bis es sich verschlissen und abgenutzt hat und dann als unnützer Plunder auf den Abfallhaufen fliegt. Russanow irrt im Finstern umher, er sucht in einem Abgrund von Furcht und Verzweiflung. Doch sein Bewußtsein, das in die Aporie geraten ist und vielleicht zum erstenmal den Glauben an die »Weise Lehre« verloren hat, erfährt trotz allem keine Wende, es erweist sich als endgültig und unwiederbringlich verrottet.

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Eine andere Wirkung haben diese Prüfungen auf Rubin im »Ersten Kreis der Hölle« — bei ihm bekommt das Zwiedenken einen Sprung. Rubin, der seinen Bruder verriet, weil die Partei es verlangte, der die Bauern während der Kollektivierung hungern ließ und der sich bereit fand, dem KGB bei der Ergreifung des tollkühnen Unbekannten zu helfen, der den alten Professor Dobroumow über das Telefon zu warnen versuchte (»Dieser Mensch, der sich entschlossen hatte, in der beobachteten Wohnung anzurufen [...] war Rubin sympathisch [...] Aber objektiv gesehen trat dieser Mensch, der nur das Gute wollte, in der Tat gegen die positiven Kräfte der Geschichte auf [...] Rubin [...] sah auf den mürrischen Smolossidow, auf den unsinnig hochmütigen Bulbanjuk. Sie widerten ihn an, er wollte sie nicht sehen. Aber hier, auf dieser kleinen Kreuzung der Geschichte, stellten sie objektiv die positiven Kräfte dar«24) — dieser Rubin, anders als Russanow ein kluger und feinfühliger Mensch, beginnt Gewissensbisse zu verspüren. Erinnerungen quälen ihn. 

In seinem zwiefachen Bewußtsein entsteht ein Bruch, und wenn jenes zwiefache Bewußtsein selbst schon die Gespaltenheit des Menschen anzeigt, der unter dem furchtbaren Druck der Ideokratie einen Sprung bekommen hat, so rührt der Riß daher, daß diese Ideokratie selber einen fatalen Sprung erlitten hat, er zeugt von dem nahenden Untergang des ideokratischen Staates oder zumindest dem Beginn seines Endes. Die allzu offenkundig gewordene Lüge zerstört die Ideologie, und das zwiefache Bewußtsein fällt in seine beiden Bestandteile auseinander: Wahrheit und Lüge, Gut und Böse, Mißgestalt und Schönheit, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit können nicht mehr länger in ihrer widernatürlichen Einheit existieren. Und das Zwiedenken wird zur gewöhnlichen Heuchelei. Asja (»Krebsstation«) erzählt Djomka, wie sie in der Schule Aufsätze schreiben mußten: »Saschka Gromow fragte auch noch: >Kann ich denn nicht schreiben, was ich selber denke?< >Was ich selber denke<, sagte sie [die Lehrerin — J. M.], >ich werde dir helfen! Ich verpaß dir eine Fünf!<« (Band 1, S. 194)

Innokentij Wolodin hat keine besonderen Prüfungen durchmachen müssen, sein Leben verlief glatt und erfolgreich, doch auch bei ihm hat das zwiefache Bewußtsein einen Sprung bekommen. Nach langem Nachdenken und ernsthafter Selbstversenkung befreit er sich von dem Spuk der Ideologie. Und selbst der Oberstleutnant Klimentjew befreit sich für einen Augenblick davon, indem er der natürlichen Eingebung seines Gefühls nachgibt (als er Nershins Frau in der Metro trifft).

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Wie in der »Krebsstation« stehen im »Ersten Kreis der Hölle« alle Personen in einer »Grenzsituation«. Der Mensch wird auf seine Festigkeit geprüft. Und obgleich das Buch nur den ersten Kreis der sowjetischen Hölle zeigt (und ein kleines Stückchen vom neunten, wo in der eisigen Einsamkeit seiner Regierungsdatscha Luzifer selbst vor sich hingrübelt) — jener Hölle, die nach dem Plan ihrer Erbauer das Paradies auf Erden werden sollte —, so vermag Solschenizyn doch, indem er die Schicksale und Beziehungen der Menschen sich kreuzen läßt und mit kundiger Hand ein weit gespanntes Netz aus Nebenhandlungen und Seitenlinien knüpft, uns ein breites Bild der Stalinschen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu zeigen. 

Und jeder, der in dieser totalitären Gesellschaft lebt, wird in diesen furchtbaren Kampf auf Leben und Tod mit hineingezogen, den Kampf zwischen Gut und Böse. Keiner kann sich der Wahl, der Entscheidung entziehen (selbst der nur ganz kurz in dem Buch auftauchenden Studentin Musa, die sorglos fern von aller Politik und der Männerwelt des Kampfes lebt, macht sich diese Notwendigkeit der Wahl dramatisch geltend, als sie sich als Spitzel betätigen soll).

 

In diesem ungleichen Kampf, in einer Welt, wo äußerlich das Böse triumphiert, bleibt dem Menschen nur der Weg des persönlichen Opfers. Der Sieg kann nur um den Preis des Untergangs errungen werden. Entweder geistiger Sieg und physische Qualen und Untergang oder geistiger Tod und materieller Triumph — ein drittes gibt es nicht. Dieses Dilemma arbeitet Solschenizyn besonders scharf anhand der Dialektik von Glück und Unglück und Freiheit und Unfreiheit heraus. Als der freieste Mensch erweist sich paradoxerweise der Häftling, der alles verloren hat. 

Gelassen und furchtlos erwidert der Ingenieur Bobynin dem finsteren allmächtigen Staatssicherheitsminister Abakumow (der ihn warnt: »Wenn ich sanft mit Ihnen umgehe, ist das kein Grund für Sie, die Beherrschung zu verlieren«): 

»Wenn Sie grob zu mir wären, würde ich gar nicht mit Ihnen sprechen, Bürger Minister. Schreien Sie Ihre Obersten und Generäle an, die haben zuviel vom Leben, die hängen zu sehr daran (...) Ich habe nichts, denken Sie daran — überhaupt nichts! {...) Die Freiheit habt ihr mir schon lange weggenommen, sie mir zurückzugeben, steht nicht in euren Kräften, weil ihr selbst nicht frei seid. 

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Ich bin zweiundvierzig Jahre alt, ihr habt mir fünfundzwanzig Jahre aufgebrummt, bei der Zwangsarbeit bin ich schon gewesen, mit einer Nummer herumgelaufen, in Handschellen, von Polizeihunden bewacht, und in einer Brigade für verschärfte Zwangsarbeit — womit können Sie mir noch drohen? Was können Sie mir noch wegnehmen? (...) Verstehen Sie (...) daß sie nur so lange mächtig sind, wie sie den Menschen nicht alles weggenommen haben. Denn ein Mensch, dem sie alles weggenommen haben, ist außerhalb ihres Machtbereichs, ist wieder frei.« (S. 114)

Ebenso dialektisch und schwankend ist das Glück. Oberst Jakonow mit seiner »wunderbaren Wohnung«, seinem materiellen Erfolg und all seinen Privilegien und Major Rojtman mit seiner glücklichen Familie werden von der Ungewißheit und der Furcht gequält, alles zu verlieren. Der unglückliche Häftling Nershin aber erlangt in seiner sorglosen Leichtigkeit und seiner klaren inneren Ruhe das wahre Gefühl des Glücks, und selbst Rusjka Doronin, der mit blutüberströmtem Gesicht, aber in gehobener Stimmung, stolz und zufrieden mit sich selbst, in die Untersuchungshaft abgeführt wird, ist vielleicht viel glücklicher als jene, die ihn verhören werden.

So sind auch in diesem Roman Solschenizyns die Antriebsfedern der Handlung, die Säulen, auf denen die Konstruktion ruht, wieder moralische Kategorien. Das bedeutet durchaus nicht, daß Solschenizyns Romanschaffen erbaulich-belehrend und er selber ein Moralist (im schlimmsten, herabgesunkenen Sinn des Wortes) wäre. Er hält es einfach nur für undenkbar, daß sich außerhalb moralischer Kategorien das Leben der Menschen und der Gesellschaft betrachten und schildern lassen könnte, so wie es undenkbar ist, daß die Menschen ohne Luft existieren könnten. 

»Als ernsthaft und wissenschaftlich gelten jetzt nur solche Untersuchungen über Gesellschaften und Staaten, deren Verfahren sich vornehmlich auf ökonomische, statistische, demografische, ideologische Argumente stützen; schon als zweitrangig gelten geografische, als verdächtig — psychologische Überlegungen, und bereits als völlig provinziell gilt es, das staatliche Leben an einer ethischen Wertskala zu messen (...) Weshalb werden Werturteile und Forderungen, die so verpflichtend, so unbedingt anzuwenden sind für einzelne Menschen, für Familien, für kleine Kreise und persönliche Beziehungen — weshalb werden sie hier, beim Übergang zu tausend- und millionenfacher Zahl, zu den menschlichen Verbänden, völlig verworfen, ja untersagt? (...) 

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... Auch die menschliche Gesellschaft kann nicht von Gesetzen und Forderungen befreit werden, die Ziel und Sinn des einzelnen Menschenlebens sind (...) Die Gefühle, die bei den Menschen in einer bestimmten Zeit vorherrschen, die sind es auch, die im gegebenen Zeitpunkt die ganze Gesellschaft kennzeichnen, ihren sittlichen Charakter bilden. Und wenn es gar nichts Gutes mehr gibt, das sich in einer Gesellschaft entfalten könnte, so wird diese sich selbst vernichten, oder sie wird viehisch werden, weil die schlechten Instinkte gesiegt haben — wohin der Pfeil erhabener ökonomischer Gesetze auch zeigen mag.«25)

Nershin gelangt auf seinem Weg der Leiden, der Prüfungen und der schmerzlichen Reflexionen zu dem Schluß: 

»Die Ziele der Gesellschaft dürfen keine materiellen sein! (...) Die Form des Eigentums hat zehntrangige Bedeutung, und welche die beste ist, weiß man nicht (das sage ich, nachdem ich das sozialistische Eigentum lange genug kennengelernt habe) — als Fortschritt würde ich nicht den materiellen Überfluß ansehen, sondern die allgemeine Bereitschaft, sich in den Mangel zu teilen!«26)

Den Ausweg aus der Sackgasse, in der die sowjetische Gesellschaft steckt, sehen Solschenizyns Helden wie Solschenizyn selbst nicht in sozialökonomischen Umgestaltungen (»Mit sozialökonomischen Reformen, auch den weisesten und besten, kann man nicht ein Reich der allgemeinen Lüge zu einem Reich der allgemeinen Wahrheit umbauen; diese Bausteine eignen sich nicht dafür«)27 und nicht in einer revolutionären Umwälzung (»Die Aufhebung der Privilegien ist eine moralische und keine politische Aufgabe [...] <Verboten> waren die Privilegien bei uns schon immer, auch mit Blei und Feuer — aber unter der Hand haben sie wieder Einzug gehalten, nur die Besitzer haben gewechselt. Privilegien kann man nur durch eine allgemeine Wandlung des Bewußtseins abschaffen, so daß sie für die Besitzer selbst nicht mehr verlockend sind, sondern moralisch abstoßend werden«),28 sondern in einer inneren Umwälzung, einer »sittlichen Revolution« (»Die Wende zur inneren Entwicklung, das Übergewicht des Inneren gegenüber dem Äußeren wird, falls es je geschieht, eine große Wende für die Menschheit bedeuten, nur mit der Wende vom Mittelalter zur Renaissance zu vergleichen. Ändern wird sich für die Menschen nicht nur die Richtung ihrer Interessen und ihrer Tätigkeit, sondern das menschliche Wesen selbst wird verändert, und noch mehr das Wesen der menschlichen Gesellschaften«).29

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Dieses »Übergewicht des Inneren gegenüber dem Äußeren« in Solschenizyns Werken selbst wird noch deutlicher erkennbar, wenn man sie mit anderen Büchern über das Lager vergleicht, etwa mit den Erzählungen Schalamows oder dem Roman Tatarinzews. Dort finden wir dokumentarisch registrierte schreckliche Realität, Angst und Mutlosigkeit, Müdigkeit und hoffnungsloses Verzweifeln an der Möglichkeit, daß dieser Schrecken mit irgend etwas aufzuhalten, dieses Absinken des Menschen durch irgend etwas zu neutralisieren sei. Der schonungslose Realismus dieser Bücher läßt keine Illusionen, keine Hoffnungen mehr. 

Solschenizyns Realismus jedoch gemahnt eher an den »Realismus« des Mittelalters. L. Rshewskij nennt ihn »charakterisierenden Realismus«,30) M. Aucouturier »epischen Realismus« (im Unterschied zum »anekdotischen« Realismus).31) Das bedeutet nicht, daß Solschenizyn nicht imstande wäre, farbkräftig lebensvolle Bilder zu entwerfen — in seinen Romanen, besonders im »Ersten Kreis der Hölle«, den wir oben näher betrachtet haben, finden wir erstaunliche Seiten, die an die bedeutendsten Vorbilder des »malenden« Realismus heranreichen, etwa die Verhaftung Innokentij Wolodins und seine »Bearbeitung« in der Lubjanka oder das Wiedersehen zwischen Nershin und seiner Frau im Gefängnis.

Nachdem der Roman »Der erste Kreis der Hölle« weite Verbreitung im Samisdat fand und im Ausland publiziert wurde, begann die sowjetische Presse ihre Angriffe gegen Solschenizyn. Doch vergeblich suchen wir in den sowjetischen Zeitungen und Zeitschriften nach einer kritischen Analyse seiner Werke, nach Gegenargumenten oder wenigstens nach einer klaren Auskunft, was genau man denn für unannehmbar halte. Es war eine organisierte Kampagne der Hetze und Verleumdung. Die Journalisten behaupteten in ihren Artikeln und die Parteipropagandisten auf ihren Versammlungen, Solschenizyn sei ein Schizophrener, den man ins Irrenhaus einsperren müsse; er habe nicht als politischer Häftling, sondern als gewöhnlicher Krimineller im Lager gesessen; er sei in Gefangenschaft geraten und habe mit den Deutschen kollaboriert; er stamme aus einer reichen Adelsfamilie und empfinde einen angeborenen, instinktiven Haß gegen die Sowjetmacht; und im nächsten Augenblick das Gegenteil: Er sei Jude und heiße in Wirklichkeit Solschenizer usw. 

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Zur vollen Höhe der Absurdität jedoch erhob sich die Propaganda nach dem Erscheinen seines Buches »Awgust Tschetyrnadzatogo« (dt. August Vierzehn). In diesem außergewöhnlichen Werk, das von starkem patriotischen Empfinden, von grenzenloser Liebe zu Rußland erfüllt ist (und das allenfalls mit Tolstojs »Krieg und Frieden« verglichen werden kann), entdeckte die sowjetische Presse »Verherrlichung der deutschen Bewaffnung« und beschuldigte den Autor, er habe ein antipatriotisches, gegen das russische Volk gerichtetes Buch geschrieben.

»August Vierzehn« ist nur der erste Teil eines gewaltigen mehrbändigen Epos über die russische Revolution, dieses »wichtigsten Themas unserer neueren Geschichte«32. Den Plan zu diesem Buch faßte Solschenizyn schon sehr früh, 1936, und er sieht darin »das wichtigste Vorhaben meines Lebens«. Jedes abschließende Urteil über »August Vierzehn« wäre daher noch verfrüht, und viele Mängel des Romans (wie ein gewisser Schematismus bei der Darstellung vieler Personen, die einstweilen knapp umrissen sind) erklären sich eben daraus, daß dies erst der Beginn einer großen Arbeit ist und der Autor hier noch Atem holt. Doch schon dieser erste Teil hat ein immenses Interesse bei den russischen Lesern hervorgerufen. Im Samisdat ist ein ganzer Sammelband mit Leserreaktionen erschienen, »Awgust Tschetyrnadzatogo tschitajut na rodine« (August Vierzehn in der Heimat gelesen). 

Dieses Interesse erklärt sich aus dem heute sehr starken Bestreben in der sowjetischen Gesellschaft, die Wahrheit über die jüngere Geschichte Rußland zu erfahren, eine Wahrheit, die in den Geheimarchiven und Spezialbibliotheken verborgen und von der sowjetischen Propaganda umgefälscht worden ist. Durch das Erkennen und Begreifen unserer jüngeren Geschichte hoffen die Menschen zum Verständnis der Probleme von heute zu gelangen. 

»Gelähmt stehen wir vor dem blutigen Alptraum der vergangenen Jahrzehnte, der sich vor uns eröffnet hat«, schreibt ein Leser, 

»unser ganzes Inneres ist von Schmerz, Scham und Verzweiflung erfüllt, wir verfluchen diese entsetzliche Welt, sagen uns von ihr los und zugleich von unserer ganzen Geschichte, die zu diesem bitteren Resultat geführt hat. Doch die meisten von uns haben nicht die Kraft zu begreifen, was uns so weit gebracht hat, weil die Grundvoraussetzung für dieses Begreifen — das historische Gedächtnis und das Gefühl für die Geschichte — bei uns fehlt (...) Man hat uns gelehrt, blind dem platten Gesetz der historischen Notwendigkeit zu vertrauen (...) Das Thema der historischen Bewußtlosigkeit nimmt in meinem Denken die Ausmaße einer nationalen Katastrophe an, die unserem ganzen Land trotz des beginnenden Erwachens bevorsteht. Wir müssen begreifen (...), daß unser Gedächtnis zu gewinnen für uns heute das gleiche bedeutet, wie die historische Zukunft zu gewinnen (...) Keines der Probleme, vor denen das wiedererwachte russische Denken heute steht, läßt sich lösen oder auch nur richtigstellen, ohne daß wir die Last unserer historischen Erfahrungen berücksichtigen«.33)

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Und das ist die Aufgabe, die sich Solschenizyn stellt — Rußlands Vergangenheit zu beleuchten. Doch diese Aufgabe ist zweifach und in ihrer Doppelgestalt widersprüchlich: Sie bedeutet zum einen, Fakten zu rekonstruieren, und zum zweiten, den Zusammenhang dieser Fakten und den Grad ihrer Bedeutsamkeit festzustellen, das Knäuel von Ursache und Wirkung zu entwirren. 

Die erste Aufgabe in der Form eines künstlerischen Werkes zu lösen, scheint vielen unmöglich. Das längst Entschwundene in seiner ganzen anschaulichen Fülle wiedererstehen zu lassen, vermag wohl nicht einmal ein Genie. Und der historische Roman ist vielleicht nur eine Projektion der Gegenwart auf eine vergangene Zeit (viele Kritiker haben darauf hingewiesen, daß Tolstoj in »Krieg und Frieden« die russische Gesellschaft seiner Zeit und nicht der Zeit Napoleons und Alexanders II. schildere). 

Zudem setzt eine Rekonstruktion von Tatsachen und Ereignissen eine bewußte Auswahl und Anordnung voraus, sieht also in der zweiten Aufgabe — Analyse und Interpretation — nicht ein Resultat, sondern eine Prämisse. Wie Solschenizyn diese beiden Aufgaben lösen wird, läßt sich noch nicht beurteilen. Bisher kann man nur feststellen, daß es wohl ein guter und richtiger Gedanke war, Kapitel einzufügen, die eine dokumentierte historische Übersicht geben, und Zitate aus der Presse jener Jahre in den Text einzumontieren. Der künstlerischen Darstellung in Gestalt des Gemäldes muß die »Kinoleinwand« Unterstützung verleihen; über die Wirksamkeit dieses Verfahrens freilich läßt sich — zumindest in diesem ersten Teil des Epos — durchaus streiten. Künstlerisch ohne Zweifel gelungen ist die Gestalt des Generals Samsonow, der als eine tragische, fast Shakespearesche Figur vor uns ersteht.

Was die zweite Aufgabe, Analyse und Interpretation, angeht, so sind bereits in diesem ersten »Knoten« einige Grundlinien des Gesamtkonzepts gezogen. Solschenizyn wendet sich zum einen gegen den historischen Fatalismus Lew Tostojs: Wenn eine Handvoll verschworener Fanatiker die Macht in einem Land an sich reißt (zum Zeitpunkt der russischen Revolution zählten die Bolschewiki ein paar tausend unter einer Bevölkerung von hundertfünfzig Millionen Menschen) und darauf das Antlitz dieses Landes und letzten Endes der ganzen Welt radikal zu verändern vermögen, läßt sich kaum noch der These zustimmen, der freie Wille des einzelnen Menschen gehe im elementaren Wirken der Geschichte unter.

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Zum anderen greift er auch den Fatalismus des marxistischen historischen Determinismus an, indem er die persönliche Verantwortung jedes einzelnen und die Bedeutung der individuellen Freiheit hervorhebt. 

»So wäre es, wenn das Leben der Persönlichkeit tatsächlich durch die empirische Umwelt bestimmt wäre. Das wäre auch das einfachste: Die Schuld läge immer bei der Umwelt, man brauchte lediglich die Umwelt zu verändern. Aber (...) außerdem gibt es das geistige Leben des einzelnen Menschen, und darum, selbst im Widerspruch zur Umgebung, die persönliche Verantwortung dieses einzelnen für das, was er tut und was die anderen in seiner Gegenwart tun (...) Sie können doch helfen, etwas verhindern, oder die Hände in Unschuld waschen.« 

Das sagt die Professorin Andoserskaja zu ihren revolutionär gesinnten Studentinnen (S. 682). Doch die haben die Antwort schnell parat: »Wir sind die Moleküle der Umwelt.« (S. 683)

Solschenizyn läßt diese beiden Weltanschauungen aufeinanderstoßen, die in ihrer Entwicklung auf den ersten Blick zu paradoxen Resultaten führen: Die historischen Deterministen drängen zum aktiven Handeln, machen die Revolution, die Personalisten hegen Widerwillen gegen die Revolution. 

»Ein vernünftiger Mensch kann nicht für die Revolution sein, denn Revolution ist permanente und irrsinnige Zerstörung. Jede Revolution erneuert nicht das Land, sondern verheert es zunächst, und zwar für lange. Und je blutiger und anhaltender sie ist, je höher der Preis ist, den das Land dafür zahlt, desto näher kommt sie dem Prädikat: die Große« (S. 724).

Dieser Widerspruch folgt aus der grundlegenden Verschiedenheit der Prämissen. Die Materialisten und Marxisten sind der Überzeugung, sie hätten die Gesetze der Geschichte erkannt, sie könnten die Zukunft »wissenschaftlich« voraussehen — daher unterliegen sie der Versuchung, diese Zukunft zu »machen«, eine Versuchung, die mit dem eigenen deterministischen Konzept in Widerspruch gerät. Die Personalisten dagegen glauben: Die beste soziale Ordnung der Zukunft »werden wir nicht unserer eigenmächtigen Erfindung verdanken«. Die Gesetze der Geschichte »bleiben uns vielleicht immer verborgen«, auf jeden Fall sind sie »nicht an der Oberfläche, ein gefundenes Fressen für jeden Schlaukopf. Die Gesetze der besten menschlichen Ordnung können nur in der Weltordnung begründet sein. In der Idee des Weltganzen. Und in der Bestimmung des Menschen« (S. 514 ff.).

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Der äußerlichen oberflächlichen Errichtung, die zudem gewaltsam durchgeführt wurde und das Blut anderer Menschen kostete, stellt Solschenizyn die langsame, aufbauende Erschaffung entgegen, die sich auf die Liebe zum Leben und auf das ehrfürchtig konzentrierte Hineinhorchen in das Geheimnis des Menschen und seine Bestimmung gründet. Solschenizyn erinnert an die stürmische ökonomische Entwicklung Rußlands zu Beginn dieses Jahrhunderts, die von der Propaganda über die »Erfolge des Sozialismus« vergessen gemacht und vernebelt worden ist; mit Sympathie zeichnet er uns Pioniere und Erbauer, wie den Ingenieur Obodowskij, die gezwungen sind, zwischen zwei Feuern zu leben, zwischen dem rechten und dem linken Extremismus, die Rußland vereint in den Abgrund stürzen. »Auf dieser Seite — die Schwarze Hundertschaft! Auf der anderen — die Rote Hundertschaft! Und dazwischen ist ein Dutzend Leute, die arbeiten wollen — aber es geht nicht! Kaputtgemacht werden sie! Zermalmt!« (S. 727) Lag das Verhängnis nicht schon darin, daß es eben nur ein Dutzend waren, die arbeiten wollten — und daß die übrigen entweder Revolutionäre oder Gendarmen waren? Diese Frage stellt uns Solschenizyn voll Schmerz über sein Rußland.

Die Liebe zu Rußland, zum russischen Bauern, zum russischen Menschen überhaupt, die Liebe zur Heimat durchdringt dieses Buch als beherrschende Empfindung; doch das ist kein trüber mystischer Nationalismus und keine kreatürliche Ergebenheit, sondern ein ganz helles, hohes poetisches Empfinden. Solcher Patriotismus hat, wie Rosette Lamont in ihrer interessanten Arbeit festgestellt hat,34 mit dem politischen Nationalismus nichts gemein; es ist ein geistiger Nationalismus, für den der Sinn, der oberste Wert des Lebens im Geist des Volkes liegt, für den die wahre Kultur nur die ist, die ihre Wurzeln im Humus des Volkes hat, und nicht jene, die im sterilen Vakuum eines abstrakten Intellektualismus konstruiert wird. 

Für Solschenizyn ist Rußland kein geografischer Ort, sondern eine geistige Realität, die konkrete Verkörperung eines universalen Geistes; Russe zu sein ist für ihn der einzige Weg, Christ und Persönlichkeit zu sein. Rußland liegt im Innern des Menschen, nicht außerhalb von ihm, es ist eine bestimmte Art zu fühlen, zu denken und zu leben. Und die russische Sprache ist eine bestimmte Art, dieses Denken und Fühlen auszudrücken. Deshalb widmet Solschenizyn in »August Vierzehn« der Sprache solche Aufmerksamkeit; seine stilistische und sprachschöpferische Suche wird hier besonders deutlich sichtbar. 

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Roman Gul erörtert in seinem klugen Artikel »Tschitaja >Awgust Tschetyrnadzatogo<« (Beim Lesen von August Vierzehn)35 sehr eingehend, was dem Schriftsteller bei diesen sprachlichen Versuchen geglückt und was weniger gelungen ist (und darüber hinaus, welche Details des damaligen Alltags richtig und welche falsch wiedergegeben sind).

Es ist schwer zu sagen, wie dieses grandiose Epos, das Solschenizyn »das wichtigste Vorhaben meines Lebens« nennt, am Schluß aussehen und welchen Platz es einst in der russischen Literatur einnehmen wird. Daß jedoch sein »Archipel GULag« für immer zu den bedeutendsten Wegemarken unserer Zeit gehören wird, steht außer Zweifel. Es scheint unglaublich, daß ein einzelner Mensch solch eine titanische Arbeit zu bewältigen imstande war, und noch unglaublicher, daß ein einzelner dem mächtigsten totalitären Staat der Erde einen derart vernichtenden Schlag versetzen konnte. 

Dabei hat Solschenizyn in seinem Buch überhaupt nichts sensationell Neues aufgedeckt. Wir wußten, daß die Konzentrationslager nicht von Stalin, sondern von Lenin geschaffen wurden, genauer von der Revolution selbst (Solschenizyn gibt freilich noch das genaue Geburtsdatum der sowjetischen KZs an — 23. Juli 1918: nur neun Monate nach der Revolution36), wir wußten auch, daß der Terror das Ergebnis der »wissenschaftlichen Theorie der Revolution« war (Solschenizyn freilich weist darüber hinaus anhand langer Zitate aus Marx, Engels und Lenin mit beispielloser Gründlichkeit und seltener Ausdruckskraft nach, daß es gerade die Überzeugung von dem »wissenschaftlichen Fundament« ihrer Doktrin, von der »wissenschaftlichen« Unfehlbarkeit ihrer »zweckmäßigen« Aktionen — im Gegensatz zu dubiosen moralischen Kategorien wie Gut und Böse — war, die zu den Schrecken der totalitären Diktatur führte). 

Entscheidend sind nicht die Fakten, nicht Enthüllungen, sondern etwas anderes: Solschenizyn zwingt uns mit der Kraft seiner Begabung, handgreiflich und hautnah konkret zu fühlen, was jene Millionen erlebt haben, in deren Namen er spricht und die selbst nicht mehr von sich erzählen konnten. Ein Mensch von einer außergewöhnlichen sittlichen Reinheit und Kraft, hat er uns die Augen geöffnet und uns Bereiche der Bosheit und Unmenschlichkeit gezeigt, deren wir uns vielleicht nicht völlig bewußt gewesen waren.

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In diesem Buch »Archipel GULag«, das er im Untertitel »Opyt chudoshestwennogo issledowanija« (Versuch einer künstlerischen Untersuchung) nennt, können wir Solschenizyns schriftstellerische Methode am deutlichsten und überzeugendsten erkennen. Die im Westen verbreitete Ansicht, Solschenizyns Schaffen sei traditionell, ja archaisch und stehe ganz in der Tradition des Tolstojschen Romans, beruht auf einem eindeutigen Mißverständnis. Die Konstruktion in Solschenizyns Romanen ist nicht so einfach, wie das auf den ersten Blick aussehen mag. Einfachheit ist Solschenizyns Ziel, doch sie ist das Ergebnis eines durchaus nicht einfachen Prozesses. Selbst bei oberflächlicher Lektüre fällt auf, daß eines der Hauptmerkmale seiner Romane die Zerstörung der zeitlichen Aufeinanderfolge ist. 

Die Handlung, ja die Fabel konzentriert sich in der Regel in einer ganz kurzen Zeitspanne: im »Iwan Denissowitsch« ist es ein Tag, im »Ersten Kreis« sind es die wenigen Tage, die zwischen dem verhängnisvollen Telefonanruf des Innokentij Wolodin und seiner Verhaftung vergehen, in der »Krebsstation« ist es die Zeit von Kostoglotows Aufenthalt im Krankenhaus, in »August Vierzehn« sind es die wenigen Augusttage, die die Vernichtung der Armee des Generals Samsonow besiegeln. Solschenizyns Chronotop ist sehr eigenwillig. (Den Begriff »Chronotop« hat M. Bachtin vorgeschlagen, um die Raum-Zeit-Beziehungen im Roman zu kennzeichnen, wobei in diese Beziehungen nicht nur Raum und Zeit der dargestellten Realität eingehen, sondern auch der räumlich-zeitliche Umfang des Buches selbst; dieser Begriff ist sehr hilfreich für das Aufspüren der Besonderheiten von Solschenizyns Romanen.) 

Die Untersuchung dieses Solschenizynschen Chronotops zeigt uns, wie der Schriftsteller zu seinem einen großen Ziel gelangt, das ihn ganz beherrscht: »die Wahrheit zu sagen«. Die Ambivalenz, ja die dreifache Valenz des russischen Wortes für »Wahrheit«, prawda, (Wahrheit als das faktisch Richtige; Wahrheit als Wahrhaftigkeit, Echtheit; und prawda — die Gerechtigkeit) bringt sehr deutlich zum Ausdruck, worum es geht. Solschenizyns Roman ist ein Versuch, ein Experiment. So wie der wissenschaftliche Versuch darauf angelegt ist, durch das sorgfältige Konstatieren auch noch der nebensächlichsten Begleitumstände und Bedingungen das allgemeingültige Gesetz für eine Erscheinung zu finden, so zielt auch Solschenizyn darauf, durch die gewissenhafteste mikroskopische Untersuchung der Lebensäußerungen (diese dokumentarische Sorgfalt, dieser Überreichtum an kleinsten Details des sowjetischen Alltags muß dem westlichen Leser entgehen, der unser Leben nicht kennt) die wesentliche, universale Wahrheit des Lebens zu finden. 

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Die künstlerische Intuition und Phantasie verleiht dabei dem dokumentarischen Material eine beeindruckende Anschaulichkeit. Gerade die künstlerische Intuition erlaubt es dem Autor, verstehend in das Wesen der untersuchten Erscheinung einzudringen und dabei in Tiefen zu gelangen, die auf anderen (wissenschaftlichen) Wegen niemals zu erreichen wären — darin ist die künstlerische Untersuchung der wissenschaftlichen überlegen. Der Roman strömt nicht in die Breite, sondern in die Tiefe. Der Augenblick erstarrt, und wie bei einer Momentaufnahme können wir ihn aufmerksam betrachten; der Augenblick weicht zurück in die Vergangenheit, und in dieser Retrospektive beginnen wir einen wahren, aktuellen Sinn zu begreifen.

Kaum war der »Archipel GULag« erschienen, als der Historiker Roy Medwedew,37) einer der wenigen überzeugten Marxisten, die es in Rußland noch gibt, sich kritisch dazu äußerte. Die Kraft und Größe des Buches erkannte er an: »Kaum jemand, so glaube ich, wird nach dem Lesen dieses Buches derselbe sein wie beim Aufschlagen der ersten Seite. Ich kenne kein einziges Werk der russischen oder der Weltliteratur, das sich in dieser Beziehung mit Solschenizyns Buch vergleichen ließe.« Er bestätigte, daß »alle wesentlichen Tatsachen, die in dem Buch angeführt sind, und erst recht all die Details des Lebens und des Leidens der Häftlinge von ihrer Verhaftung bis zu ihrem Tod (...) voll und ganz der Wahrheit entsprechen« und daß alle Zitate aus Marx und Lenin korrekt seien. 

Er bestätigte, daß »in den Jahren der Revolution (1905-1907) und in der nachfolgenden Zeit der Reaktion die zaristischen Henker innerhalb eines Jahres ebenso viele Menschen erschossen (...), wie 1937-1938 in unserem Land innerhalb eines Tages erschossen wurden oder im Lager umkamen«, und daß den sowjetischen Häftlingen das Gefängnis und die Verbannung der Zarenzeit »wie eine Art Erholungsurlaub vorkommen mußten«. Roy Medwedew bestreitet jedoch, daß die totalitäre Diktatur und der Terror eine Folge der Politik Lenins und der Lehre von Marx seien. Allerdings führt er kein einziges Argument zur Begründung seiner These an. Die amerikanische Verlegervereinigung erklärte sich bereit, historische Materialien zu veröffentlichen, mit deren Hilfe die sowjetische Regierung den »Archipel GULag« widerlegen möge, doch solche Materialien wurden nicht vorgelegt. Die haßerfüllte Verleumdungs­kampagne der sowjetischen Presse erreichte ihren Höhepunkt, nahm aber schon farcehafte Züge an: 

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Die sowjetischen Zeitungen sahen sich nicht nur außerstande mitzuteilen, wovon Solschenizyns Buch eigentlich handele (zu peinvoll ist dieses Thema für sie; da ist es leichter zu erzählen, Solschenizyn besitze drei Autos, und damit den Haß der neidischen Spießer auf ihn zu lenken), sondern sie mochten nicht einmal den Titel des Buches nennen — liegt doch schon in diesem Titel gefährliche Sprengkraft.

Am meisten jedoch machte uns Russen betroffen, daß die westlichen »Linken« nicht in der Lage (oder nicht willens) waren, diesen Provokationen ernsthaft und entschieden entgegenzutreten. Statt die in dem Buch gestellten Probleme gründlich zu analysieren, zogen sie es vor, Solschenizyn (ohne jede Grundlage) persönlich anzugreifen, sprachen davon — in der Absicht, ihn zu kompromittieren —, wieviel Geld er im Westen für sein Buch bekommen habe, und verschwiegen dabei, daß er nahezu alle Einkünfte in den Fonds zur Unterstützung sowjetischer politischer Häftlinge gab. Seriöse kommunistische Zeitungen waren sich nicht zu schade, für das schäbige, im KGB zusammengeschusterte Druckwerk von Solschenizyns erster Frau Natalja Reschetowskaja Reklame zu machen.

In dieser erhitzten Atmosphäre, als er jeden Tag damit rechnen mußte, verhaftet oder aus dem Hinterhalt erschlagen zu werden, schrieb Solschenizyn seinen berühmt gewordenen »Offenen Brief an die sowjetische Führung«, der in Rußland und im Westen so viele Debatten entfacht hat. Streit rief übrigens nur der positive Teil des Briefes, Solschenizyns Programm, hervor — was die Analyse der gegenwärtigen Lage betrifft, so wurde sie von allen als zutreffend und klarsichtig erkannt. 

»Alles ist in Lüge versumpft, und alle wissen das, und in privaten Gesprächen sprechen sie offen darüber, und lachen und geben ihren Widerwillen zu, in offiziellen Reden aber verkünden sie gleisnerisch, <was sich gehört>, und ebenso gleisnerisch lesen und hören sie gelangweilt die Reden anderer — wieviel Energie der Gesellschaft wird hier verschwendet! (...) Diese allgemeine Zwangslüge, zu deren Gebrauch man genötigt wird, wurde die quälendste Seite der Existenz der Menschen in unserem Lande — schlimmer als alle materiellen Unzulänglichkeiten, schlimmer als alle staatsbürgerliche Unfreiheit (...) Nachdem unser Staat nun einmal der Gewohnheit, der Tradition, dem Beharrungsgesetz folgend immer noch an dieser falschen Doktrin und ihren verzweigten Verirrungen festhält — sie ist es auch, die dessen bedarf, daß Andersdenkende hinter Gitter kommen. Denn eine falsche Ideologie kann auf Widersprüche, auf Proteste nicht anders reagieren als mit Waffen und Gittern.«38)

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Die Machthaber antworteten mit der Verhaftung des Schriftstellers. Solschenizyn wurde ins Lefortowo-Gefängnis gebracht und mit der Anklage des »Landesverrats« konfrontiert (Artikel 64 des Strafgesetzbuchs der RSFSR, der neben anderen Strafen auch die Todesstrafe vorsieht). Doch die unbeugsame Festigkeit Solschenizyns, der sich standhaft weigerte, auch nur den kleinsten Kompromiß einzugehen, und die empörten Proteste in Rußland und im Ausland bewogen die Herrschenden, zu einem seit den Zeiten Trotzkijs nicht mehr angewandten Mittel Zuflucht zu nehmen — der gewaltsamen Abschiebung ins Ausland.  

Diese hochdramatischen Tage hat Solschenizyn in seinem Erinnerungsbuch »Bodalsja teljonok s dubom« (dt. Die Eiche und das Kalb) anschaulich geschildert. Dieses Buch liefert uns nicht nur unschätzbares Material für das Verständnis des Schriftstellers und seines Werks, sondern es macht auch sehr eindrücklich deutlich, welches Leben einen Schriftsteller erwartet, wenn er den Grundsatz der offiziellen sowjetischen Literatur — »die wesentliche Wahrheit nicht sagen« — nicht mehr gelten läßt und aus der sowjetischen Literatur in die illegale russische Literatur wechselt. 

Es erscheint unglaublich, welche Anstrengungen der Nobelpreisträger unternehmen mußte, um das Geschriebene vor fremden Augen zu verbergen, es vor der Vernichtung zu bewahren: die Manuskripte in Flaschen versiegeln und vergraben (A. Kusnezow verwendete Konservendosen), alle Entwürfe, Pläne und vorläufige Fassungen verbrennen, ein System finden, um die gesamte Fläche einer Seite maximal zu nutzen, sich in den Datschas von Bekannten versteckt halten, der Verfolgung durch das KGB zu entgehen suchen. »Ich bin abends nie zu Bett gegangen, ohne mich zu vergewissern, ob alles versteckt war und wie ich mich zu verhalten hätte, wenn es nachts an die Tür klopft«.39) 

Das Leben des russischen Schriftstellers läßt an die düstere Utopie eines Orwell denken: versteckte Mikrofone und »schriftliche Gespräche« mit den Freunden — um die Lauscher zu überlisten —, Schleichwege durch nächtliche Gassen mit Wechseln der Kleidung, um die Verfolger abzuschütteln, Besuche von der Miliz in der Wohnung, Drohungen anonyme Briefe und pausenlose Telefonanrufe, Provokationen des KGB, Verleumdungen in der Presse, ohne daß man darauf antworten kann.

Sehr aufschlußreich sind die Kapitel, wo Solschenizyn davon erzählt, unter welchen Umständen seine ersten Erzählungen im »Nowyj mir« erschienen, welche Atmosphäre, welche Regeln in der Redaktion dieser liberalsten sowjetischen Zeitschrift herrschten und welches der Preis für diese Art von »Liberalismus« war.

Einen Schriftsteller wie Solschenizyn von seinem heimatlichen Boden loszureißen, bedeutete, ihm und damit der russischen Literatur und den russischen Lesern einen grausamen Schlag zu versetzen. Als er die Heimat verlassen mußte, hinterließ Solschenizyn dem russischen Volk sein Vermächtnis: »Lebt nicht mit der Lüge!« 

(»Gewalt kann sich hinter nichts anderem verbergen als hinter der Lüge, und die Lüge kann sich nur durch Gewalt halten .... Und hier liegt der von uns vernachlässigte, einfachste und zugänglichste Schlüssel zu unserer Befreiung: selbst nicht mitlügen!«) 40)

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   Juri Malzew 1981