Wiggershaus 1977      Lackner 2002         Start    Weiter

Die Evolution der Kindheit  (1973)

Neuübersetzung 1999 von Artur Boelderl 

Do ye hear the children weeping, Oh my brothers... 
Elizabeth Barrett Browning, The Cry of the Children

16-55

Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir seit kurzem erst zu erwachen beginnen. Je weiter man in der Geschichte zurückgeht, desto niedriger ist das Niveau der Kindspflege und desto wahrscheinlicher ist es, daß Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, terrorisiert und sexuell mißbraucht werden. Unsere Aufgabe hier ist es festzustellen, wieviel von dieser Kindheitsgeschichte aus dem Material, das auf uns gekommen ist, wiedergewonnen werden kann. 

Daß dieses Muster von Historikern bislang nicht bemerkt worden ist, liegt daran, daß ernsthafte Geschichts­schreibung lange Zeit für Aufzeichnung von öffentlichen und nicht privaten Ereignissen gehalten wurde. Die Historiker haben sich so sehr auf den lärmenden Sandspielplatz der Geschichte mit seinen fantastischen Burgen und glorreichen Schlachten konzentriert, daß sie rundweg ignoriert haben, was in den Wohnungen um den Spielplatz herum vor sich geht. Und während Historiker für gewöhnlich die Sandkisten-Schlachten von gestern betrachten, um die Ursachen der heutigen zu finden, fragen wir uns stattdessen, wie jede Generation von Eltern und Kindern jene Themen schafft, die später in der Arena des öffentlichen Lebens ausgelebt werden.

Auf den ersten Blick scheint dieser Mangel an Interesse für das Leben von Kindern seltsam. Historiker sind traditionellerweise bemüht, Kontinuität und Wandel über die Zeiten zu erklären, und man weiß seit Plato, daß die Kindheit ein Schlüssel zu diesem Verständnis ist. Die Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehungen für den sozialen Wandel wurde von Freud kaum bemerkt; der Aufschrei des heiligen Augustinus, "Gebt mir andere Mütter, und ich werde euch eine andere Welt geben", wurde von bedeutenden Denkern über fünfzehn Jahrhunderte wiederholt, ohne je die Geschichtsschreibung zu beeinflussen. 

Seit Freud hat unsere Sicht der Kindheit freilich eine neue Dimension gewonnen, und im letzten halben Jahr­hundert ist die Erforschung der Kindheit für den Psychologen, den Soziologen und den Anthropologen zur Routine geworden. Für den Historiker steht sie erst am Anfang. Eine derart bestimmte Ablehnung verlangt nach einer Erklärung.

Historiker machen üblicherweise die geringe Zahl an Quellen für das Fehlen ernsthafter Erforschung der Kindheit vergangener Zeiten verantwortlich. Peter Laslett fragt sich, warum die 

"Mengen und Abermengen von kleinen Kindern in geschriebenen Aufzeichnungen seltsamerweise fehlen ... Das Schweigen all dieser Massen von Wickelkindern, Kleinkindern und Heranwachsenden in den Bemerkungen, die die Menschen zu dieser Zeit über ihre eigene Erfahrung gemacht haben, hat etwas Mysteriöses ... Wir können nicht sagen, ob Väter bei der Säuglingspflege geholfen haben ... Man kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts darüber sagen, was von den Psychologen Sauberkeitserziehung genannt wird ... Es braucht regelrecht eine Geistesanstrengung, sich stets zu vergegenwärtigen, daß Kinder in der herkömmlichen Welt immer in derartigen Zahlen zugegen waren, wo beinahe die Hälfte der gesamten Gemeinschaft im Zustande des Halbvergessenseins dahinlebte".1)  

Wie der Familiensoziologe James Bossard es ausdrückt: "Leider ist die Geschichte der Kindheit nie geschrieben worden, und [infolge] des Mangels an geschichtlichen Daten zur Kindheit bestehen einige Zweifel, ob sie je geschrieben werden kann."2)

Diese Überzeugung ist unter Historikern so stark, daß es nicht überrascht, wenn dieses Buch seinen Anfang nicht auf dem Feld der Geschichte, sondern bei der angewandten Psychoanalyse genommen hat. Vor fünf Jahren, als ich dabei war, ein Buch zur psychoanalytischen Theorie historischer Veränderung zu schreiben, schien es mir im Zuge einer Begutachtung der Ergebnisse eines halben Jahrhunderts angewandter Psychoanalyse so, daß diese deswegen keine Wissenschaft werden hatte können, weil sie nicht evolutionär geworden war. 

Nachdem der Wiederholungszwang die historische Veränderung per definitionem nicht erklären kann, endete jeder Versuch Freuds, Roheims, Kardiners und anderer, eine Theorie der Veränderung zu entwickeln, letztlich in einem keimfreien Disput darüber, ob die Henne oder das Ei zuerst dagewesen sei, nämlich ob die Kindeserziehung von kulturellen Eigenheiten abhängt oder umgekehrt. Daß die Praktiken der Kindeserziehung die Grundlage der erwachsenen Persönlichkeit sind, wurde wieder und wieder bewiesen. Wo sie aber ihren Ursprung nahmen, das brachte jeden Psychoanalytiker, der die Frage aufwarf, ans Ende seiner Weisheit.3)

1)  Peter Laslett, The World We Have Lost, New York 1965, 104. 
2)  James H. S. Bossard, The Sociology of Child Development, New York 1948, 598. 
3)  Geza Roheim, The Study of Character Development and The Ontogenetic Theory of Culture, in: E. E. Evans-Pritchard u. a. (Hgg.), Essays Presented to C. G. Seligman, London 1934, 292; Abraham Kardiner (Hg.), The Individual and His Society, New York 1939, 471; in Totem und Tabu umging Freud das Problem, indem er eine "Vererbung psychischer Dispositionen" annahm [vgl. Freud, Totem und Tabu, Frankfurt am Main 81986, 176 (=GW IX)].

17


In einem Vortrag, den ich 1968 vor der Association for Applied Psychoanalysis hielt, habe ich eine evolutionäre Theorie historischer Veränderung in den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern skizziert und vorgeschlagen, daß die Association — nachdem die Historiker die Arbeit an einer Geschichte der Kindheit bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufgenommen hatten — ein Historikerteam einsetzen solle, das sich durch die Quellen wühlen sollte, um die Hauptphasen der Kindeserziehung im Westen seit der Antike offenzulegen. Dieser Aufsatz ist Ergebnis dieses Projekts.

Die in meinem Projektentwurf skizzierte "psychogene Geschichtstheorie" setzte mit einer umfassenden Theorie historischer Veränderung ein. Sie postulierte weder Technologie noch Wirtschaft als zentrale Veränderungskraft in der Geschichte, sondern die "psychogenen" Veränderungen in der Persönlichkeit, die aufgrund aufeinanderfolgender Generationen von Interaktionen zwischen Eltern und Kind auftreten. Zu dieser Theorie gehörten mehrere Hypothesen, deren jede es durch empirisches Material aus der Geschichte zu belegen oder widerlegen galt:

1.  Die Evolution der Eltern-Kind-Beziehungen stellt eine eigenständige Quelle historischer Veränderung dar. Der Ursprung dieser Evolution liegt in der Fähigkeit aufeinanderfolgender Generationen von Eltern, auf das psychische Alter ihrer Kinder zu regredieren und die Ängste dieses Alters, wenn sie ihnen das zweite Mal begegnen, besser durchzuarbeiten als in ihrer eigenen Kindheit. Der Vorgang ist ähnlich dem der Psychoanalyse, der ebenfalls Regression und eine zweite Chance beinhaltet, sich Kindheitsängsten zu stellen.

2.  Dieser "Generationendruck" auf psychische Veränderung ist nicht nur spontan, insofern er im Regressionsbedürfnis des Erwachsenen und im Streben des Kindes nach Beziehung wurzelt, er tritt auch unabhängig von gesellschaftlicher und technologischer Veränderung auf. Er kann daher selbst in Perioden gesellschaftlicher und technologischer Stagnation ausfindig gemacht werden.

3.  Die Geschichte der Kindheit ist eine Abfolge immer engerer Annäherungen zwischen Erwachsenem und Kind, wobei jede Überwindung psychischer Distanz neue Angst hervorruft. Die Reduzierung dieser Angst der Erwachsenen ist die Hauptquelle der Praktiken der Kindeserziehung jedes Zeitalters.

18


4. Die Kehrseite der Hypothese, derzufolge Geschichte eine allgemeine Verbesserung der Kindespflege impliziert, ist, daß Eltern, je weiter zurück in der Geschichte man geht, umso weniger aufmerksam gegenüber den wachsenden Bedürfnissen des Kindes sind und sie umso weniger erfüllen. Das würde etwa auch bedeuten, daß — wenn es in Amerika heute weniger als eine Million mißbrauchter Kinder gibt4) — an einem bestimmten Punkt in der bisherigen Geschichte die meisten Kinder dem ausgesetzt waren, was wir heute als Mißbrauch betrachten. 

5. Insofern psychische Strukturen immer durch den schmalen Trichter der Kindheit von einer Generation an die nächste weitergegeben werden müssen, sind die Praktiken der Kindeserziehung in einer Gesellschaft nicht bloß ein Eintrag neben anderen in einer Liste kultureller Merkmale. Sie sind vielmehr die Bedingung von Weitergabe und Entwicklung aller anderen kulturellen Elemente und ziehen dem definitive Grenzen, was in allen anderen Bereichen der Geschichte erreicht werden kann. Bestimmte Kindheitserfahrungen müssen auftreten, damit bestimmte kulturelle Merkmale weiter bestehen, und treten diese Erfahrungen einmal nicht mehr auf, dann verschwindet das Merkmal. 

Das Belegmaterial für die Evolution der Kindheit wird in diesem Aufsatz untersucht, die weiteren Teile der psychogenen Theorie werden im restlichen Buch dargelegt.

 

Ältere Werke über Kinder in der Geschichte  

Obwohl ich glaube, daß dieser Aufsatz der erste ist, der die Geschichte der Kindheit im Westen ernsthaft untersucht, haben Historiker in vergangenen Epochen unleugbarerweise einige Zeit lang über Kinder geschrieben.5) Auch wenn dem so ist, meine ich trotzdem, daß die Erforschung der Geschichte der Kindheit gerade erst beginnt, weil die meisten dieser Werke die Tatsachen der Kindheit in den Perioden, die sie behandeln, derart verzerren. 

Offizielle Biographen sind die schlimmsten Angreifer; die Kindheit wird generell idealisiert, und nur wenige Biographen vermitteln irgendeine brauchbare Information über die frühesten Jahre ihres Forschungs­gegenstands. Die historischen Soziologen bringen es zustande, Theorien zusammenzudrehen, die Veränderungen in der Kindheit erklären sollen, ohne sich je die Mühe zu machen, eine einzige Familie in Vergangenheit oder Gegenwart zu untersuchen.6)

 

4)  Enid Nemy, Child Abuse: Does It Stern From the Nation's Ills and Its Culture?, in der New York Times vom 16. August 1971, 16; manche Schätzungen erreichen eine Höhe von 2,5 Millionen mißbrauchter Kinder, vgl. Vincent J. Fontana, So-mewhere a Child is Crying, New York 1973, 38.  
5)  Eine Auswertung einiger jüngerer Arbeiten findet sich bei John C. Sommerville, Towards a History of Childhood and Youth, in The Journal of Interdisciplinary History 3 (1972), 438-447, und Edward Saveth, The Problem of American Family History, m American Quarterly 21 (1969), 311-329.  
6)  Vgl. insbes. Neil J. Smelser, Social Change in the Industrial Revolution: An Application of the Theory of the British Cotton Industry, Chicago 1959; Fred Weinstein und Gerald Platt, The Wish to Be Free: Society, Psyche, and Value Change, Berkeley-Los Angeles 1969; sowie Talcott Parsons und Robert F. Bales, Family, Socialization, and Interaction Process, New York 1955. 

19


Die Literaturhistoriker, die Bücher mit dem Leben verwechseln, konstruieren ein fiktionales Bild der Kindheit, so, als ob man durch die Lektüre von Tom Sawyer erfahren könnte, was im amerikanischen Familienheim des 19. Jahrhunderts wirklich vorging.7)  Doch der Sozialhistoriker, dessen Aufgabe darin besteht, die Wirklichkeit gesellschaftlicher Bedingungen in der Vergangenheit ans Licht zu bringen, verschließt sich am heftigsten den Tatsachen gegenüber, die er aufwirft.8) 

 

7)  Vgl. Peter Coveney, The Image of Childhood: The Individual and Societyr A Study of the Theme in English Literature, Baltimore 1967; Gillian Avery, Nineteenth Century Children: Heroes and Heroines in English Children's Stories 1780-1900, London 1965; F. J. Harvey Darton, Children's Books in England: Five Centuries of Social Life, Cambridge 1966; und Paul Hazard, Books, Children & Men, Boston 1944. 

8)  Zu den besten Kindheitsgeschichten zählen folgende: 
Grace Abbott, The Child and the State, 2 Bde., Chicago 1938 # Abt-Garrison, History of Pediatrics, Philadelphia 1965 # Philippe Aries, Geschichte der Kindheit, München-Wien 1975 bzw. München 1998 # Sven Armens, Archetypes of the Family in Literature, Seattle 1966 # David Bakan, Slaughter of the Innocents, San Francisco 1971 # Howard Clive Barnard, The French Tradition in Education, Cambridge 1922 # Rosamond Bayne-Powell, The English Child in the Eighteenth Century, London 1939 # Frederick A. G Beck, Greek Education: 450-350 B.C., London 1964 #

Jessie Bedford (Pseudonym für Elizabeth Godfrey), English Children in the Olden Time, London 1907 # H. Blumner, The Home Life of the Ancient Greeks, übers, v. Alice Zimmern, New York 1966 # Bossard, Sociology; Robert H. Bremner u. a. (Hgg.), Children and Youth in America: A Documentary History, 3 Bde., Cambridge, Massachusetts, 1970 # Elizabeth Burton, The Early Victorians at Home 1837-1861, London 1972; M. St. Cläre Byrne, Elizabethan Life in Town and Country, London 1961; Ernest Caulfield, The Infant Weifare Movement in the Eighteenth Century, New York 1931; Oscar Chrisman, The Historical Child, Boston 1920; Phil-lis Cunnington und Anne Boch, Children's Costume in England: From the Four-teenth to the End of the Nineteenth Century, New York 1965; John Demos, A Little Commonwealth: Family Life in Plymouth Colony, New York 1970; J. Louise Despert, The Emotionally Disturbed Child - Then and Now, New York 1967; Georges Duby, La Societe aux XF et XIIe Siecles dans la Region Maconnaise, Paris 1953; Alice Morse Earle, Child Life in Colonial Days, New York 1899; Jonathan Gathorne-Hardy, The Rise and Fall of the British Nanny, London 1972; Willystine Goodsell, A History of Marriage and the Family, New York 1934; Si-ster Mary Rosaria Gorman, The Nurse in Greek Life: A Dissertation, Boston 1917; E. H. Hare, Masturbatory Insanity: The History of an Idea, in The Journal of Mental Science 108 (1962), 2-25; Edith Hoffman, Children in the Past, London o. J.; Christina Hole, English Home-Life, 1450 to 1800, London 1947; David Hunt, Parents and Children in History, New York 1970; Anne L. Kuhn, The Mother's Role in Childhood Education: New England Concepts 1830-1860, New Haven 1947; W. K. Lacey, The Family in Classical Greece, Ithaca, New York, 1968; Marion Lochhead, Their First Ten Years: Victorian Childhood, London 1956; Alan Macfarlane, The Family Life of Ralph Josselin: A Seventeenth-Century Clergyman, Cambridge 1970; Morris Marples, Princes in the Making: A Study of Royal Education, London 1965; H. I. Marrou, A History of Education in Anti-quity, New York 1956; Roger Mercer, L'enfant dans la societe du XVIlL siecle, Dakar 1951; Edmund S. Morgan, The Puritan Family: Religion & Domestic Rela-tions in Seventeenth-Century England, New York 1966; George Henry Payne, The Child in Human Progress, New York 1916; Lu Emily Pearson, Elizabethans at Home, Stanford, California, 1957; Albrecht Peiper, Chronik der Kinderheilkunde, Leipzig 1966; Henricus Pecters, Kind en juegdige in het begin van de modern tijd, Antwerpen 1966; Ivy Pinchbeck und Margaret Hewitt, Children in English Society, Bd. 1: From Tudor Times to the Eighteenth Century, London 1969; Chilton Latham Powell, English Domestic Relations, 1487-1653, New York 1917; F. Gordon Roe, The Georgian Child, London 1961; ders., The Victorian Child, London 1959; John Rurath (Hg.), Pediatrics of the Past: An Anthology, New York 1925; Alice Ryerson, Medical Advice on Child Rearing, Ed.D.-Dissertation, Harvard University Graduate School of Education, 1960; Paul Sangster, Pity My Simplicity: The Evangelical Revival and the Religious Education of Children 1738-1800, London 1963; Levin L. Schücking, The Puritan Family, London 1969; Rene A. Spitz, Authority and Masturbation: Some Remarks on a Bibliographical Investigation, in The Psychoanalytic Quarterly 21 (1952), 490-527; George Frederic Still, The History of Paediatrics, London 1931; Karl Sudhoff, Erstlinge der pädiatrischen Literatur: Drei Wiegendrucke über Heilung und Pflege des Kindes, München 1925; Gordon Rattray Taylor, The Angel-Makers: A Study in the Psycholo-gical Origins of Historical Change 1750-1850, London 1958; Bernard Wishy, The Child and the Republic: The Dawn of Modern American Child Nurture, Philadelphia 1968. 

9)  Charles Seltman, Women in Antiquity, London 1956, 72.

20-21


Stößt der eine Sozialhistoriker auf weitverbreiteten Kindsmord, so erklärt er diesen für "bewundernswert und menschlich".9) 

Beschreibt eine andere Sozialhistorikerin Mütter, die ihre Säuglinge regelmäßig mit Stöcken schlagen, während diese noch in der Wiege liegen, so kommentiert sie das ohne einen Anflug von Belegen damit, daß diese Praxis, "wenn ihre [der Mutter; A.d.Ü.] Disziplin streng war, recht und billig und von Zuneigung durch­drungen war".10) 

Begegnet eine dritte Müttern, die ihre Kinder jeden Morgen in Eiswasser tauchen, um sie "abzuhärten", und die Kinder sterben an dieser Praxis, so hält sie fest, daß "sie nicht absichtlich grausam waren", sondern einfach "Rousseau und Locke gelesen hatten".11) 

 

Keine Praxis der Vergangenheit erscheint dem Sozialhistoriker anders denn als pure Wohltat. Findet Laslett, daß Eltern ihre Kinder, sobald sie das Alter von sieben Jahren erreicht haben, als Diener in andere Familien schicken, während sie selbst andere Kinder aufnehmen, die ihnen dienen sollen, so sagt er, das sei in Wirklichkeit bloße Zuneigung gewesen, weil es "zeige, daß Eltern nicht willens gewesen sein könnten, ihre eigenen Kinder der Disziplin zu unterwerfen, im eigenen Heim zu arbeiten".12)

Nachdem William Sloan eingeräumt hat, daß heftige Schläge an kleinen Kindern mit unterschiedlichen Schlag­werk­zeugen "in der Schule und zuhause im 17. Jahrhundert ebenso an der Tagesordnung gewesen zu sein scheinen wie danach", sieht er sich bemüßigt hinzuzufügen, daß "Kinder, damals wie heute, mitunter Schläge verdienen".13) 

Bringt Philippe Ariès derart viel Belegmaterial für die offene sexuelle Belästigung von Kindern, daß er eingesteht, "das Spiel mit den Intimteilen von Kindern sei Teil einer weitverbreiteten Tradition gewesen",14) so fährt er damit fort, eine "traditionelle" Szene zu beschreiben, in der ein Fremder sich während einer Zugfahrt auf einen kleinen Buben wirft, "wobei seine Hand brutal im Hosenschlitz des Kindes herumwühlte", wozu der Vater lächelt, und schließt: "Worum es ging, war ein Spiel, dessen anstößigen Charakter wir nicht überbetonen dürfen."15)

Unmengen von Belegmaterial sind verborgen, werden verzerrt, abgeschwächt oder ignoriert. Die frühen Kinderjahre werden heruntergespielt, der formale Erziehungsinhalt wird endlos untersucht, und der emotionale Gehalt wird umgangen, indem die rechtliche Situation des Kindes betont und das Zuhause gemieden wird. Und ist der Charakter des Buchs eines Autors so beschaffen, daß die Allgegenwart unangenehmer Tatsachen nicht ignoriert werden kann, wird die Theorie erfunden, daß "gute Eltern in den Aufzeichnungen keine Spuren hinterlassen". 

 

10)  Daniel R. Miller und Guy E. Swanson, The Changing American Parent: A Study in the Detroit Area, New York 1958, 10. 
11)  Bayne-Powell, English Child, 6. 
12)  Laslett, World, 12; E. S. Morgan stimmt darin überein, daß puritanische Eltern ihre Kinder nur deshalb in jungen Jahren fortschickten, weil sie "fürchteten, sie mit zu großer Zuneigung zu verziehen", Puritan Family, 77.  
13)  William Sloane, Children's Books in England and America in the Seventeenth Century, New York 1955, 19. 
14)  Aries, Geschichte der Kindheit, 179. 
15)  A.a.O., 180.

22


Untersucht beispielsweise Alan Valentine Briefe von Vätern an ihre Söhne aus 600 Jahren und findet unter 126 Vätern nicht einen, der nicht unsensibel, moralistisch und durch und durch egoistisch wäre, so folgert er: "Ohne Zweifel hat eine unendliche Zahl von Vätern ihren Söhnen Briefe geschrieben, die unsere Herzen erwärmen und erheben würden, wenn wir sie nur finden könnten. Die glücklichsten Väter hinterlassen keine Geschichte, und jene Männer, die mit ihren Kindern nicht gerade am besten umgehen können, schreiben am ehesten die herzzerreißenden Briefe, die auf uns kommen."16)  

Auch Anna Burr, die 250 Autobiographien behandelt, hält fest, daß es keine glücklichen Erinnerungen an die Kindheit gibt, vermeidet aber sorgsam, daraus irgendwelche Schlüsse zu ziehen.17) 

 

Von allen bisherigen Büchern über die Kindheit ist Philippe Aries' Geschichte der Kindheit vermutlich das bekannteste; ein Historiker verweist auf die Häufigkeit, mit der es "als Heilige Schrift zitiert" wird.18) Aries' zentrale These besagt das Gegenteil von meiner: Er behauptet, daß — während das Kind zuvor glücklich war, weil es ihm frei stand, mit vielen Klassen und Altersstufen Umgang zu haben — in der Frühmoderne ein besonderer Zustand namens "Kindheit" erfunden wurde, der in das tyrannische Konzept der Familie mündete, die Freundschaft und Geselligkeit zerstörte und die Kinder ihrer Freiheit beraubte, indem sie sie erstmals der Rute und der Kerkerzelle als Strafen unterwarf.

Um diese These zu belegen, führt Aries zwei Hauptargumente an. Zum einen sagt er, ein eigener Begriff der Kindheit sei im Frühmittelalter unbekannt gewesen. "Die mittelalterliche Kunst kannte bis etwa zum 12. Jahr­hundert keine Kindheit oder war zumindest nicht bestrebt, sie im Portrait festzuhalten", weil die Künstler "unfähig waren, ein Kind darzustellen, es sei denn als einen erwachsenen Menschen im kleineren Maßstab".19) Das läßt nicht nur die Kunst der Antike völlig unberücksichtigt, sondern ignoriert auch umfangreiche Belege dafür, daß mittelalterliche Künstler sehr wohl wirklichkeitsgetreue Kinder malen konnten.20)

 

16) Alan Valentine (Hg.), Fathers to Sons: Advice without Consent, Norman, Oklahoma, 1963, xxx.  
17)  Anna Robeson Burr, The Autobiography: A Critical and Comparative Study, Boston 1909; vgl. auch Emma N. Plank, Memories of Early Childhood in Autobiographies, in The Psychoanalytic Study ofthe Child, Bd. 8, New York 1953.  
18)  Frank E. Manuel, The Use and Abuse of Psychology in History, in Daedalus 100 (1971), 203.  
19)  Aries, Geschichte der Kindheit, 92.  
20)  Eine enorme Bibliographie und viele Beispiele für Gemälde mit Kindern in der frühmittelalterlichen Kunst finden sich bei Victor Lasareff, Studies in the Iconography of the Virgin, in Art Bulletin 20 (1938), 26-65.

23


Auch Aries' etymologisches Argument dafür, daß ein eigener Begriff der Kindheit unbekannt gewesen sei, ist unhaltbar.21) Jedenfalls ist die Wendung von der "Erfindung der Kindheit" derart kraus, daß es verwundert, wieviele Historiker sie in letzter Zeit aufgegriffen haben.22) Sein zweites Argument, daß die moderne Familie die Freiheit des Kindes einschränke und die Härte der Bestrafungen erhöhe, läuft allen Zeugnissen zuwider.

 

Weitaus verläßlicher als Aries sind folgende vier Bücher, von denen nur eines von einem Berufshistoriker verfaßt wurde: George Paynes The Child in Human Progress, G. Rattray Taylors The Angel Makers, David Hunts Patents and Children in History und J. Louise Desperts The Emotionally Disturbed Child: Then and Now. 

Payne war der erste, der 1916 das große Ausmaß von Kindsmord und Brutalität gegenüber Kindern in der Vergangenheit, insbesondere in der Antike, erforschte. Taylors reich dokumentiertes Buch ist eine gelehrte psychoanalytische Lektüre über Kindheit und Persönlichkeit im England des späten 18. Jahrhunderts. Hunt konzentriert sich wie Aries auf das einzigartige Dokument des 17. Jahrhunderts, Héroards Tagebuch der Kindheit Ludwigs XIII., tut dies aber mit großer psychologischer Sensibilität und Wachheit gegenüber den psychohistorischen Implikationen seiner Ergebnisse. Und Desperts psychiatrischer Vergleich des falschen Umgangs mit Kindern in Vergangenheit und Gegenwart vermittelt die ganze Breite der emotionalen Haltungen gegenüber Kindern seit der Antike, wobei die Autorin ihren wachsenden Schrecken bei der Enthüllung einer Geschichte unaufhörlicher "Herzlosigkeit und Grausamkeit" zum Ausdruck bringt.23) 

 

21)  Natalie 2. Davis, The Reasons of Misrule, in Past and Present 50 (1971), 61 f. Frank Boll, Die Lebensalter: Ein Beitrag zur antiken Ethologie und zur Geschichte der Zahlen, Leipzig-Berlin 1913, hat die beste Bibliographie zu den "Lebensaltern des Menschen"; zu allen Variationen des Wortes "child" im Altenglischen vgl. Hilding Back, The Synonyms for "Child", "Boy", "Girl" in Old English, London 1934.  
22)  Richard Sennett, Families Against the City, Cambridge, Massachusetts, 1970; Joseph F. Kett, Adolescence and Youth in Nineteenth-Century America, in The Journal of Interdisciplinary History 2 (1971), 238-299; John und Virginia Demos, Adolescence in Historical Perspective, in The Journal ofMarriage and the Family 31 (1969), 632-638.  
23)  Despert, Emotionally Disturbed Child, 40.

24


Diesen vier Büchern zum Trotz müssen die entscheidenden Fragen zur vergleichenden Geschichte der Kindheit erst gestellt werden und sind weit davon entfernt, beantwortet zu werden. In den folgenden beiden Teilen dieses Kapitels werde ich einige psychologische Prinzipien behandeln, die für die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern in der Vergangenheit zutreffen. Die Beispiele, die ich anführe, stammen, obwohl sie nicht untypisch für das Leben eines Kindes in der Vergangenheit sind, nicht zu gleichen Teilen aus allen Epochen, sondern sind deswegen ausgewählt worden, weil sie die deutlichsten Illustrationen der beschriebenen psychologischen Prinzipien darstellen. 

Erst in den drei nachfolgenden Teilen, in denen ich einen Überblick über die Geschichte von Kindsmord, Weglegung, Ammensäugen, festem Wickeln, Schlagen und sexuellem Mißbrauch gebe, beginne ich zu erforschen, wie weitverbreitet diese Praktiken in jeder Epoche waren.

 

Psychologische Prinzipien der Geschichte der Kindheit: 
projektive und Reversionsreaktionen

Bei der Erforschung der Kindheit über viele Generationen ist es am wichtigsten, sich auf jene Momente zu konzentrieren, die die Psyche der folgenden Generation am meisten betreffen: Das heißt vor allem darauf, was passiert, wenn ein Erwachsener sich einem Kind von Angesicht zu Angesicht gegenübersieht, das etwas braucht. Der Erwachsene verfügt, wie ich meine, im wesentlichen über drei Reaktionsweisen: (1) Er kann das Kind als Vehikel zur Projektion des Inhalts seines eigenen Unbewußten benutzen (projektive Reaktion); (2) er kann das Kind als Substitut einer in seiner eigenen Kindheit bedeutenden Erwachsenenfigur benutzen (Reversionsreaktion); oder (3) er kann mit den Bedürfnissen des Kindes empathisch sein und so handeln, daß sie befriedigt werden (empathische Reaktion).

Die projektive Reaktion ist Psychoanalytikern natürlich unter Termini vertraut, die von "Projektion" bis "projektive Identifikation" reichen, eine handfeste, intrusive Form, anderen seine Gefühle einzuflößen. Der Psychoanalytiker zum Beispiel ist durch und durch vertraut damit, als "Klosettbrille"24) für die massiven Projektionen des Patienten benutzt zu werden. Dieser Zustand, als Vehikel für Projektionen benutzt zu werden, ist für Kinder der Vergangenheit die Regel.

 

24)  Donald Meltzer, The Psycho-Analytical Process, London 1967; Herbert A. Rosenfield, Psychotic States: A Psychoanalytical Approach, New York 1965.

25


Auch die Reversionsreaktion ist denen vertraut, die prügelnde Eltern untersuchen.25) Kinder existieren nur dazu, elterliche Bedürfnisse zu erfüllen, und es ist stets das Versagen des Kindes-als-Elternteil, Liebe zu schenken, das die tatsächlichen Prügel auslöst. Wie eine schlagende Mutter es ausdrückt: "Ich habe mich in meinem ganzen Leben nie geliebt gefühlt. Als das Baby geboren wurde, dachte ich, es würde mich lieben. Als es weinte, hieß das, es liebte mich nicht. Also schlug ich es."

Der dritte Ausdruck, empathische Reaktion, wird hier in einem eingeschränkteren Sinn gebraucht, als das Wörterbuch ihn definiert. Er bezeichnet die Fähigkeit des Erwachsenen, auf die Ebene des Bedürfnisses eines Kindes zu regredieren und es richtig zu identifizieren, ohne irgend eine Beimischung der eigenen Projektionen des Erwachsenen. Der Erwachsene muß also genug Distanz gegenüber dem Bedürfnis bewahren können, um in der Lage zu sein, es zu befriedigen. Es ist eine Fähigkeit, die mit dem Gebrauch namens "freischwebende Aufmerksamkeit" — oder, wie Theodor Reik es nennt: "Hören mit dem dritten Ohr"26) — identisch ist, den der Psychoanalytiker von seinem Unbewußten macht. 

Projektive und Reversionsreaktionen sind bei Eltern in der Vergangenheit oft zugleich aufgetreten und haben eine Wirkung hervorgebracht, die ich das "Doppelbild" nenne, wobei das Kind sowohl als voll mit den projizierten Wünschen, Feindseligkeiten und sexuellen Vorstellungen des Erwachsenen und zugleich als eine Mutter- oder Vaterfigur gesehen wurde. Das heißt, es ist sowohl böse als auch voll Liebe. Je weiter zurück in der Geschichte man zudem geht, desto mehr an "Konkretisierung" oder Verdinglichung dieser projektiven und Reversionsreaktionen findet man, und umso bizarrer werden zunehmend die Haltungen Kindern gegenüber, ähnlich jenen zeitgenössischer Eltern von geprügelten und schizophrenen Kindern.

 

25)  Brandt F. Steele, Parental Abuse of Infants and Small Children, in: E. James Anthony und Therese Benedek (Hgg.), Parenthood: Its Psychology and Psychopatho-logy, Boston 1970; David G. Gil, Violence Against Children: Physical Child Abuse in the United States, Cambridge, Massachusetts, 1970; Brandt F. Steele und Carl B. Pollock, A Psychiatric Study of Parents Who Abuse Infants and Small Children, in: Ray E. Helfer und C. Henry Kempe (Hgg.), The Battered Child, Chicago 1968, 103-145; Richard Galdston, Dysfunctions of Parenting: The Battered Child, the Neglected Child, the Exploited Child, in: John G. Howells (Hg.), Modern Perspectives in International Child Psychiatry, New York 1971, 571-584. 
26)  Theodor Reik, Hören mit dem dritten Ohr. Die innere Erfahrung eines Psychoanalytikers, Hamburg 1976; vgl. auch Stanley L. Olinick, On Empathy, and Regression in Service of the Other, in British Journal of Medical Psychology 42 (1969), 40-47.

26


Die erste Veranschaulichung dieser eng miteinander verknüpften Begriffe, die wir untersuchen werden, findet sich in einer Szene zwischen Erwachsenem und Kind aus der Vergangenheit. Man schreibt das Jahr 1739; der Knabe, Nicolas, ist vier Jahre alt. Der Vorfall ist einer, an den er sich erinnert und den er sich von seiner Mutter bestätigen läßt. Sein Großvater, der ihm in den letzten Tagen viel Aufmerksamkeit entgegengebracht hat, beschließt, ihn "prüfen" zu müssen, und sagt: "Nicolas, mein Junge, du hast viele Fehler, und die verdrießen deine Mutter. Sie ist meine Tochter und hat mir immer gehorcht; gehorche auch du mir und bessere deine Fehler, oder ich werde dich auspeitschen wie einen Hund, der abgerichtet wird." Nicolas, der über den Betrug "von jemand, der so freundlich zu mir war", erzürnt ist, wirft seine Spielsachen ins Feuer. Der Großvater scheint dadurch erfreut zu sein.

"Nicholas ..., ich habe das gesagt, um dich zu prüfen. Hast du wirklich geglaubt, ein Großpapa, der gestern und vorgestern so lieb zu dir war, könnte dich heute wie einen Hund behandeln? Ich habe gedacht, du wärst klug ..." — "Ich bin kein wildes Tier, wie ein Hund." — "Nein, aber du bist nicht so gescheit, wie ich dachte, oder du hättest verstanden, daß ich dich nur aufgezogen habe. Es war nur ein Scherz ... Komm her zu mir." Ich lief in seine Arme. 

"Das ist noch nicht alles", setzte er hinzu. "Ich möchte, daß du und deine Mutter wieder gut seid; du hast ihr Kummer gemacht, tiefen Kummer ... Nicolas, dein Vater liebt dich; liebst du ihn auch?" — "Ja, Großpapa!" — "Stell dir vor, er wäre in Gefahr, und um ihn zu retten, wäre es nötig, deine Hand ins Feuer zu halten, würdest du es tun? Würdest du sie ... hineinhalten, wenn es nötig wäre?" — "Ja, Großpapa." — "Und für mich auch?" — "Für dich? ... Ja, ja." — "Und für deine Mutter?" — "Für Mama? Beide Hände, beide!" — "Wir werden sehen, ob du die Wahrheit sagst, denn deine Mutter braucht deine Hilfe sehr! Wenn du sie lieb hast, mußt du das beweisen." 

Ich gab keine Antwort; indem ich aber alles zusammennahm, was gesagt worden war, ging ich zum offenen Herd und hielt, während sie einander Zeichen gaben, meine rechte Hand ins Feuer. Der Schmerz ließ mich heftig aufschluchzen.27)

Was diese Art Szene so typisch für die Interaktion zwischen Erwachsenen und Kindern in der Vergangen­heit macht, ist das Vorhandensein von so vielen einander widersprechenden Haltungen auf seiten des Erwachsenen — ohne die geringste Lösungsmöglichkeit.

 

27)  Nicholas Restif de la Bretonne, Monsieur Nicolas; or, The Human Heart Unveiled, Bd. 1, übers, v. R. Crowder Mathers, London 1930, 95.

27


Das Kind wird geliebt und gehaßt, belohnt und bestraft, es ist böse und liebevoll, alles zugleich. Daß das das Kind in einen Double-bind widersprüchlicher Signale einspannt (der nach Bateson28) und anderen der Schizophrenie zugrundeliegt), liegt auf der Hand. Doch kommen die widersprüchlichen Signale selbst von Erwachsenen, die sowohl zu beweisen versuchen, daß das Kind sehr böse ist (projektive Reaktion), als auch, daß es sehr liebevoll ist (Reversionsreaktion). Es ist Funktion des Kindes, die drückenden Ängste des Erwachsenen zu verringern; das Kind agiert als Abwehrmittel des Erwachsenen. 

Die projektiven und Reversionsreaktionen sind es auch, die das Aufkommen von Schuldgefühlen angesichts der schweren Prügel, die wir so oft in der Vergangenheit finden, verunmöglichen. Dies deshalb, weil es nicht das Kind als solches ist, das geschlagen wird. Es sind entweder die eigenen Projektionen des Erwachsenen ("Schau sie an, wie sie ein Auge auf dich wirft! So schnappt sie sich die Männer — sie ist eine richtige Sexbombe!", sagt eine Mutter von ihrer geprügelten zweijährigen Tochter), oder es ist ein Reversionsprodukt ("Er glaubt, er sei hier der Boss — immer versucht er, einem Dinge anzuschaffen — aber ich habe ihm gezeigt, wer hier das Sagen hat!", sagt ein Vater von seinem neun Monate alten Buben, dem er gerade den Schädel zertrümmert hat).29) 

Man kann in den historischen Quellen oft das Verschmelzen von Geschlagenem und Schläger und damit ein völliges Fehlen von Schuldgefühlen ausmachen. Ein amerikanischer Vater berichtet 1830, daß er seinen vier Jahre alten Sohn mit einer Pferdepeitsche ausgepeitscht habe, weil dieser nicht in der Lage war, etwas zu lesen. Das Kind wird im Keller nackt festgebunden:

Als er in dieser Lage war und ich, die Frau meines Herzens und die Herrin des Hauses, allesamt verzweifelt, unsere Herzen sinken fühlten, begann ich mit dem Gebrauch der Rute ... Im Laufe dieser äußerst unangenehmen, selbstverleugnenden und unvertretbaren Arbeit machte ich zahlreiche Pausen, in denen ich Ratschläge gab und ihn zu überzeugen versuchte, Ausflüchte zum Verstummen brachte, Einwände beantwortete ... Ich fühlte die ganze Kraft göttlicher Autorität und den ausdrücklichsten Auftrag, den ich in meinem ganzen Leben je gespürt habe ... Doch unter dem bestimmenden Einfluß einer derart zornigen Leidenschaft und Sturheit, die mein Sohn an den Tag gelegt hatte, ist es kein Wunder, daß er glaubte, "mich durchprügeln zu müssen", schwach und zitterig, wie ich war, und er zweifellos wußte, daß es mich beinah krank machte, ihn zu peitschen. Die ganze Zeit über konnte er weder mich noch sich selbst bemitleiden.30)

 

28) Gregory Bateson, Steps to an Ecology of Mind, New York 1972 (dt. Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt am Main 1985).  
29) Barry Cunningham, Beaten Kids, Sick Parents, in der New York Post vom 23. Februar 1972, 14.  
30)  Samuel Arnold, An Astonishing Affair!, Concord 1830, 73-81. 

28


Diesem Bild des Verschmelzens von Vater und Sohn, wobei der Vater sich darüber beklagt, daß er selbst der Geschlagene sei und Mitleid verdiene, werden wir begegnen, wenn wir uns fragen, wieso Prügel in der Vergangenheit so weitverbreitet sein konnten. Sagt ein Pädagoge zur Zeit der Renaissance, man solle einem Kind, wenn man es schlage, mitteilen, "man verrichte die Züchtigung gegen seinen eigenen Willen, sei vom Gewissen dazu gezwungen und verlange von ihm, einen nie wieder solcher Mühe und Pein auszusetzen. Tue es dies dennoch (so sage man), so müsse es einen Teil des Schmerzes mit einem mitleiden und solle daher nun Erfahrung und Zeugnis davon haben, welchen Schmerz das für beide bedeute" — dann werden wir die Verschmelzung nicht so leicht übersehen und sie als bloße Heuchelei etikettieren können.31)

Tatsächlich sehen Eltern das Kind als derart voll von projizierten Anteilen ihrer selbst, daß sogar echte Unfälle des Kindes als Verletzungen der Eltern gesehen werden. Cotton Mathers Tochter Nanny fiel ins Feuer und verbrannte sich schwer, und er rief: "O weh, wegen meiner Sünden wirft der gerechte Gott mein Kind ins Feuer!"32) Er erforschte alles, was er kürzlich falsch gemacht hatte, nachdem er aber glaubte, er sei derjenige gewesen, der bestraft worden war, konnte er keine Schuld seinem Kind gegenüber empfinden (etwa deswegen, weil er sie allein gelassen hatte), und es konnte keine berichtigende Handlung gesetzt werden. Bald darauf verbrannten sich zwei andere Töchter schwer. Seine Reaktion bestand darin, eine Predigt darüber zu halten, "Welchen Nutzen Eltern aus Übeln ziehen sollten, die ihren Kindern zugestoßen sind".

Das Thema Kinder-"Unfälle" darf nicht auf die leichte Schulter genommen werden, liegt in ihm doch der Schlüssel zur Beantwortung der Frage, warum Erwachsene in der Vergangenheit so armselige Eltern gewesen sind. Läßt man tatsächliche Todeswünsche beiseite, die später erörtert werden sollen, geschahen in der Vergangenheit deshalb so zahlreiche Unfälle, weil kleine Kinder so oft allein gelassen wurden. Mathers Tochter Nibby wäre tödlich verbrannt, wäre nicht "jemand zufällig gerade beim Fenster vorbeigegangen",33) denn es war niemand da, der ihre Schreie hätte hören können. 

 

31)  Powell, Domestic Relations, 110.  
32)  Cotton Mather, Diary of Cotton Mather, Bd. 1, New York o. J., 283.  
33)  A.a.O., 369.  

29


Ein Vorfall in Boston zur Gründerzeit ist ebenso typisch:

Nachdem sie zu Abend gegessen hatten, brachte die Mutter ihre beiden Kinder in dem Zimmer zu Bett, wo auch sie selbst schliefen, und sie gingen einen Nachbarn besuchen. Als sie zurückkehrten ..., ging die Mutter zum Bett, fand ihr jüngstes Kind (eine Tochter von etwa fünf Jahren) nicht vor, und nach langer Suche fand sie es ertrunken in einem Brunnen in ihrem Keller ...34)

Der Vater gibt die Schuld an dem Unfall dem Umstand, daß er an einem Feiertag gearbeitet habe. Nun liegt der Punkt nicht nur darin, daß es bis ins 20. Jahrhundert herauf üblich war, kleine Kinder allein zu lassen. Wichtiger ist, daß Eltern sich nicht mit der Vermeidung von Unfällen beschäftigen können, wenn ihnen das Schuldgefühl aufgrund der Tatsache fehlt, daß ihrem Empfinden nach die eigenen Projektionen bestraft worden sind. Menschen, die das meiste projizieren, erfinden keine Sicherheitsherde, oft genug können sie nicht einmal darauf sehen, daß ihren Kindern die geringste Pflege zuteil wird. Unglücklicherweise sorgt ihre Projektion für die Wiederholung solcher Vorfälle.

Die Benutzung des Kindes als eines "Aborts" für die Projektionen Erwachsener liegt dem ganzen Begriff der Erbsünde zugrunde, und 1800 Jahre lang stimmten die Erwachsenen allgemein überein, daß — wie Richard Allestree es 1676 ausdrückt — "das Neugeborene voll von den Malen und der Verunreinigung der Sünde ist, die es von unseren ersten Eltern durch unsere Lenden erbt ...".35) Die Taufprozedur beinhaltete für gewöhnlich auch einen regelrechten Teufelsexorzismus, und der Glaube, daß das Kind, das bei seiner Taufe weint, den Teufel aus sich entlasse, hat die formale Aufhebung des Exorzismus in der Renaissance lange überlebt.36) Auch dort, wo die offizielle Religion den Teufel nicht hervorhob, war er doch gegenwärtig; hier die Beschreibung eines polnischen Juden des 19. Jahrhunderts beim Unterricht:

 

34) Carl Holliday, Woman's Life in Colonial Boston, Boston 1922, 25.  
35)  Richard Allestree, The Whole Duty of Man, London 1766, 20.   
36)  Keith Thomas, Religion and the Decline of Magic, New York 1971, 479; Beatrice Saunders, The Age of Candlelight: The English Social Scene in the 171 Century, London 1959, 88; Traugott K. Oesterreich, Possession, Demoniacal and Other Among Primitive Races, in Antiquity, the Middle Ages, and Modern Times, New York 1930; Grünewalds Bild Der heilige Cyriakus zeigt ein Mädchen, dem beim Exorzieren gewaltsam der Mund geöffnet wird, um den Teufel herauszulassen.

30


Er bezog eine ungemeine Freude aus den Leiden des kleinen Opfers, das auf der Bank zitterte wie Espenlaub. Und er pflegte die Peitschenhiebe kalt, langsam, bedächtig zu verabreichen ... er bat den Knaben, seine Kleider fallen zu lassen und sich über die Bank zu legen ... und schlug mit den ledernen Riemen drauf los ... "In jedem gibt es einen guten Geist und einen bösen Geist. Der gute Geist hat seinen eigenen Wohnort — das ist der Kopf. Und auch der böse Geist hat einen solchen — und das ist die Stelle, an der du die Peitschenhiebe bekommst."37)

Das Kind war in der Vergangenheit dermaßen mit Projektionen aufgeladen, daß es oft Gefahr lief, für einen Wechselbalg gehalten zu werden, wenn es zuviel weinte oder anderweitig zuviel forderte. Es gibt eine umfangreiche Literatur über Wechselbälger,38) doch wird nicht allgemein erkannt, daß es keineswegs nur mißgestaltete Kinder waren, die als Wechselbälger getötet wurden, sondern auch solche, die — wie der heilige Augustinus es ausdrückt — "an einem Dämon leiden ... Sie stehen unter der Gewalt des Teufels ... Manche Säuglinge sterben unter dieser Pein ...".39) 

Einige Kirchenväter erklärten, wenn ein Kind unausgesetzt nur weine, begehe es eine Sünde.40) Sprenger und Krämer behaupten in ihrer Bibel der Hexenjagd, dem Malleus Maleficarum von 1487, man könne Wechselbälger daran erkennen, daß sie "stets erbärmlich heulen und nicht einmal, wenn sie an vier oder fünf Mütter zum Säugen angesetzt werden, größer werden". Luther stimmt dem zu: "Es ist wahr: Sie nehmen oft die Kinder von Frauen im Kindbett heraus und legen sich selbst an deren Stelle und sind mit ihrer Scheißerei, Fresserei und Schreierei abscheulicher als zehn Kinder auf einmal."41) Guibert von Nogent betrachtet im 12. Jahrhundert seine Mutter gleich einer Heiligen, weil sie das Weinen eines Säuglings, den sie adoptiert hatte, hinnahm:

... das Baby belästigte meine Mutter und all ihre Diener mit dem Wahnsinn seines nächtlichen Jammerns und Weinens — obwohl es bei Tage sehr brav war, abwechselnd spielte und schlief — so sehr, daß niemand in dem nämlichen kleinen Raum ein wenig Schlaf finden konnte. 

 

37)  Shmarya Levin, Childhood in Exile, New York 1929, 58 f.  
38)  Carl Haffter, The Changeling: History and Psychodynamics of Attitudes to Handicapped Children in European Folklore, in The Journal ofthe History ofthe Beha
vioral Sciences 4 (1968), 55-61; der Aufsatz enthält die beste Bibliographie. Vgl. auch Bayne-Powell, English Child, 247, und Pearson, Elizabethans, 80.  
39)  Augustinus, Against Julian, New York 1957, 117.  
40)  William E. H. Lecky, History of the Rise and Influence of the Spirit of Rationalism in Europe, New York 1867, 362.  
41)  Haffter, Changeling, 58.  

31


Ich hörte die Ammen, die sie angestellt hatte, sagen, daß sie die Rassel des Kindes Nacht für Nacht nicht zu schütteln aufhören durften, so bösartig war es, nicht aus eigener Schuld, sondern wegen des Teufels in ihm, und daß die Kraft einer Frau völlig dabei versagte, ihn auszutreiben. Die gute Frau war von äußerster Pein gequält; unter all den schrillen Schreien war kein Mittel, ihrer schmerzenden Schläfe Erleichterung zu verschaffen ... Und doch hat sie das Kind nie aus dem Haus gesperrt ...42)

Der gefühlsmäßige Glaube, daß Säuglinge an der Kippe zur Verwandlung in restlos bösartige Wesen stünden, ist einer der Gründe, warum sie so lang und fest bandagiert oder gewickelt wurden. Man spürt den Unterton bei Bartholomäus Anglicus (um 1230): "Und aufgrund ihrer Zartheit können die Arme des Kindes leicht und schnell gebeugt und gebogen werden und verschiedene Farmen annehmen. Und daher werden die Gliedmaßen und Arme von Kindern mit Lysten [Bandagen] und anderen geeigneten Bändern festgebunden, auf daß sie nicht gekrümmt werden noch eine schlechte Form annehmen ..."43) 

Was da fest gewickelt wird, ist der mit den gefährlichen, bösartigen Projektionen der Eltern angefüllte Säugling. Die Gründe, die für das feste Wickeln in der Vergangenheit angeführt werden, sind dieselben wie die, welche Menschen in Osteuropa heute noch für diese Praxis angeben: Das Baby muß festgebunden werden, sonst reißt es sich die Ohren ab, kratzt sich die Augen aus, bricht sich die Beine oder berührt seine Genitalien.44) Wie wir in Kürze im Abschnitt über Wickeln und Einschränkungen sehen werden, bedeutet das oft auch das Schnüren von Kindern in alle Arten von Korsetten bzw. auf Stützen, Lehnbretter und in Gängelbänder und geht sogar bis zum Anbinden auf Stühlen, um die Kinder davon abzuhalten, "wie ein Tier" auf dem Boden herumzukrabbeln.

Wenn Erwachsene also ihre unannehmbaren Gefühle auf das Kind projizieren, leuchtet ein, daß strenge Maßnahmen ergriffen werden müssen, um dieses gefährliche "Abort-Kind" unter Kontrolle zu halten, sobald es den Wickelbändern einmal entwachsen ist. Ich werde später verschiedene Kontrollmethoden untersuchen, die Erwachsene über die Jahrhunderte angewandt haben, hier will ich jedoch nur ein Kontrollmittel veranschaulichen — das Erschrecken von Kindern durch Geister —, um dessen projektiven Charakter zu erörtern.

 

42)  Abt Guibert von Nogent, Seif and Society in Medieval France: The Memoirs of Abbot Guibert of Nogent, hg. v. John F. Benton, New York 1970, 96. 
43)  G. G. Coulton, Social Life in Britain: From the Conquest to the Reformation, Cambridge 1918, 46.  
44)   Ruth Benedict, Child Rearing in Certain European Countries, in The American Journal of Orthopsychiatry 19 (1949), 345 f. 

32


Die Zahl geisterähnlicher Figuren, die in der Geschichte dazu verwendet wurden, Kindern Angst einzujagen, ist Legion, und ihre regelmäßige Anwendung durch Erwachsene war bis vor kurzem allgemein verbreitet. Die Alten hatten ihre Lamia und Striga, die — wie deren hebräischer Prototyp Lilith — Kinder roh verspeisten und zusammen mit Mormo, Canida, Poine, Sybaris, Acco, Empusa, Gorgon und Ephialtes "zum Wohle des Kindes erfunden wurden, um es nämlich weniger unbesonnen und unbezähmbar zu machen", wie Dio Chrysostomus sagte.45) 

Die meisten antiken Autoren stimmten darin überein, daß es von Vorteil war, Kindern die Bilder dieser Hexen stets vor Augen zu halten, sie der Angst zu überlassen, nachts wach dazuliegen und auf die Geister zu warten, die sie entführen, fressen, in Stücke reißen und ihr Blut oder ihr Knochenmark aussaugen würden. Zur Zeit des Mittelalters freilich traten Hexen und Teufel in den Vordergrund und hier und da ein Jude als Aufschlitzer von Babykehlen, neben Herden von anderen Ungeheuern und Kobolden "wie jenen, [mit] denen Ammen ihnen gerne Furcht einflößen". Nach der Reformation wurde Gott selbst — der "dich über den Abgrund der Hölle hält, gerade so, wie man eine Spinne oder ein anderes hassenswertes Insekt übers Feuer hält"47) — zum vornehmlichen Schwarzen Mann zum Erschrecken von Kindern, und ganze Traktate wurden geschrieben, die in Babysprache die Qualen beschrieben, die Gott für Kinder in der Hölle in petto hatte: "Das kleine Kind ist in diesem glühend heißen Ofen. Hör nur, wie es schreit, um herauszukommen ... Es stampft mit seinen kleinen Füßen auf den Boden ..."48)

Als die Religion nicht mehr Brennpunkt der Schreckenskampagne war, wurden Figuren verwendet, die dem Elternhaus näher kamen: Der Werwolf wird dich auffressen, der Schwarze Mann oder der Rauchfangkehrer werden dich nächtens entführen.49) Diese Praktiken wurden erst im 19. Jahrhundert ein Ziel der Kritik.

 

45)  Dio Chrysostomos, Discourses, übers, v. J. W. Cohoon, London 1932, 36 (dt. Dio Chrysostomus, Sämtliche Reden, eingel., übers, u. erl. v. Winfried Ellinger, Zürich 1967).  
46)  Maffeo Vegio, De Educatione Liberorum, in: Maria W. Fanning (Hg.), Maphei Vegii Laudensis De Educatione Liberorum Et Eorum Claris Moribus Libri Sex, Washington, D.C., 1933, 642.  
47)  Carl Holliday, Woman's Life in Colonial Boston, New York 1960, 18 (Neudruck der 1922 in Boston erschienenen Ausgabe).  
48)  Brigid Brophy, Black Ship to Hell, New York 1962, 361.  
49)  Marc Soriano, From Tales of Warning to Formulettes: the Oral Tradition in French Children's Literature, in Yale French Studies, Bd. 43 (1969), 31; Melesina French, Thoughts on Education by a Parent, unveröffentlicht, Southampton 181?,42; Roe, Georgian Child, 11; Jacob Abbott, Gentle Measures in the Management and Training of the Young, New York 1871, 18; James Mott, Observations on the Education of Children, New York 1816, 5; W. Preyer, The Mind of the Child, New York 1896, 164; William Byrd, Another Secret Diary, Richmond 1942, 449; Francis Joachim de Pierre de Bernis, Memoirs and Letters, Boston 1901, 90. 

33


In England sagt ein Elternteil 1810, daß "der einst vorherrschende Brauch, junge Seelen mit Geister­geschichten zu erschrecken, nun allgemein mißbilligt wird, als Folge des wachsenden Anteils an gutem Verstand im Lande. Viele aber, die heute leben, können Ängste vor einer übernatürlichen Kraft und vor der Dunkelheit noch zu den tatsächlichen schlechten Erfahrungen der Kindheit zählen ..." 

Doch werden Kinder von ihren Eltern in vielen Dörfern Europas auch heute noch mit dem loup-garou (Werwolf), dem barbu (bärtigen Mann) oder dem ramoneur (Rauchfangkehrer) geängstigt, oder es wird ihnen erzählt, sie würden in den Keller geworfen, damit die Ratten an ihnen nagen.

Dieser Zwang, strafende Figuren zu personifizieren, war so stark, daß Erwachsene nach dem Prinzip der "Konkretisierung" tatsächlich Katchina-ähnlich gekleidete Puppen herrichteten, um sie zum Erschrecken von Kindern zu verwenden. Ein englischer Autor erklärt 1748, daß Kleinkindern die Angst anfänglich von Ammen eingeflößt wurde, die sie mit Geschichten von "raw-head und bloody-bones" erschreckten:

Die Amme setzt sich zum Ziel, das übelgelaunte Kind zu beruhigen, und bastelt in dieser Absicht eine ungeschlachte Figur, läßt sie hereinkommen und das Kind in greulichen, unangenehmen Tönen anschreien und anbrüllen, die den zarten Organen des Ohrs wehtun, und erweckt zur gleichen Zeit durch ihr Gestikulieren und ihre Nahe den Eindruck, als wolle die Puppe das Kind verschlucken.

 

50)  French, Thoughts, 43; vgl. auch Enos Hitchcock, Memoirs of the Bloomsgrove Family, Bd. 1, Boston 1790, 109; Iris Origo, Leopardi: A Study in Solitude, London 1953, 24; Hippolyte Adolphe Taine, The Ancient Regime, Gloucester, Massachusetts, 1962, 130; Vincent J. Horkan, Educational Theories and Principles of Maffeo Veggio, Washington, D.C., 1953, 152; Ellen Weeton, Miss Weeton: Journal of a Governess, hg. v. Edward Hall, London 1936, 58.  
51)  Laurence Wylie, Village in the Vaucluse, New York 1957, 52 (dt. Übersetzung unter dem Titel Dort in der Vaucluse, Frankfurt am Main 1969).  
52)  Dialogues on the Passions, Habits and Affections Peculiar to Children, London 1748, 31; Georg Friedrich Most, Der Mensch in den ersten sieben Lebensjahren, Leipzig 1839, 116.

34


Diese furchterregenden Figuren waren auch sehr beliebt bei Ammen, die wollten, daß die Kinder im Bett blieben, während sie selbst nächtens ausgingen. Susan Sibbald hat Geister als einen wirklichen Teil ihrer Kindheit im 18. Jahrhundert in Erinnerung:

Das Auftauchen von Geistern war ein keineswegs ungewöhnliches Ereignis ... Ich erinnere mich sehr gut, als beide Kindermädchen in Fowey eines Abends das Kinderzimmer verlassen wollten ... Wir verstummten, als wir die schauerlichsten Ächzer und Kratzer aus dem Verschlag neben der Treppe vernahmen. Die Tür wurde aufgerissen, und oh Schreck!, herein kam eine Gestalt, groß und weiß gekleidet, aus deren Augen, Nase und Mund Feuer herauszukommen schien. Wir verfielen beinahe in Krämpfe und fühlten uns tagelang nicht wohl, wagten aber kein Wort darüber zu sagen.

Die erschreckten Kinder waren nicht immer so alt wie Susan und Betsey. Eine amerikanische Mutter erzählt 1882 von der zweijährigen Tochter einer Freundin, deren Kindermädchen, als es sich am Abend mit den anderen Dienern vergnügen wollte, während die Eltern aus dem Haus waren, sich vergewisserte, daß sie nicht gestört werden würde, indem sie dem kleinen Mädchen erzählte, daß

fürchterlicher Schwarzer Mann ... im Zimmer versteckt sei, der sie fangen würde, sobald sie ihr Bett verließe oder auch nur den geringsten Laut von sich gebe ... um so sicherzustellen, daß der Verlauf ihrer abendlichen Vergnügungen nicht unterbrochen würde. Sie machte eine riesige Gestalt eines schwarzen Mannes mit angsteinflößenden, stierenden Augen und einem gewaltigen Mund und stellte sie ans Fußende des Bettes, in dem das kleine unschuldige Kind fest schlief. Als der Abend in den Räumlichkeiten der Diener vorüber war, kehrte das Kindermädchen zu seinem Schützling zurück. Als sie leise die Tür öffnete, gewahrte sie das kleine Mädchen, aufrecht in seinem Bett sitzend und, vor Furcht in Agonie gefallen, auf das schreckliche Ungeheuer vor ihm starrend, wobei beide Hände in sein blondes Haar verkrampft waren. Es war mausetot.54)

 

53)  Francis P. Hett (Hg.), The Memoirs of Susan Sibbald 1783-1812, 176.  
54)   Rhoda E. White, From Infancy to Womanhood: A Book of Instruction for Young Mothers, London 1882, 31. 

35


Abbildung 1 
 Kinder, die mit einer Schreckensmaske spielen 
(Jacques Stella, 1657)

Es gibt einige Zeugnisse dafür, daß diese Verwendung von maskierten Figuren zum Erschrecken von Kindern bis in die Antike zurückgeht. Das Thema "Kinder, die mit Masken erschreckt werden" ist sehr beliebt bei Künstlern und zieht sich von den römischen Fresken bis zu den Drucken Jacques Stellas (1657); nachdem diese frühen traumatischen Ereignisse jedoch weitestgehender Verdrängung unterliegen, war ich nicht in der Lage, ihre präzisen antiken Gestalten ausfindig zu machen. Dio Chrysostomus sagte, daß "furchteinflößende Bilder Kinder verschrecken, wenn sie Essen haben möchten oder spielen oder irgend etwas anderes Unsinniges wollen", und es wurden Theorien über deren wirkungsvollsten Einsatz erörtert: "Ich meine, daß jeder Knabe irgend einen speziellen Kobold fürchtet und gewohnt ist, von diesem erschreckt zu werden — Bürschchen freilich, die von Natur aus ängstlich sind, schreien auf, egal, was man hervorzieht, um sie zu erschrecken ..."56)

 

55)  Strabo, The Geography, Bd. 1, übers, v. Horace L. Jones, Cambridge, Massachusetts, 1960, 69 (dt. Geographica. In 17 Büchern, übers, u. erl. v. Wolfgang Aly, 2 Bde. erschienen, Bonn 1968 bzw. 1971); Epiktet, The Discourses as Repor-ted by Arrian, Bd. 1, übers, v. W. A. Oldfather, Cambridge, Massachusetts, 1967, 217, 243 sowie Bd. 2, 169 (dt. Handbüchlein der Moral und Unterredungen, Kg. v. Wolfgang Kraus, ZüricK 1996). 
56)  Dio CKrysostomos, Discourses, Bd. 1, 243, sowie Bd. 5, 107.

36


Werden nun kleine Kinder mittels maskierter Figuren erschreckt, wenn sie bloß weinen, essen oder spielen wollen, dann hat der Anteil der Projektion und das Bedürfnis der Erwachsenen, diese zu kontrollieren, solche massiven Ausmaße angenommen, wie man sie heutzutage nur bei offen psychotischen Erwachsenen findet. Die genaue Häufigkeit der Verwendung derartiger Figuren in der Vergangenheit kann noch nicht exakt bestimmt werden, obwohl sie oft als allgemein verbreitet bezeichnet werden. Von vielen Formen kann man aber zeigen, daß sie üblich waren. 

So gab es etwa bis vor kurzem in Deutschlands Geschäften um die Weihnachtszeit herum immer ganze Haufen von Besenstielen, die in der Mitte zusammengebunden wurden und an beiden Enden eine steife Bürste aufwiesen. Diese wurden verwendet, um Kinder zu schlagen; in der ersten Dezemberwoche verkleideten sich die Erwachsenen mit furchterregenden Kostümen und gaben vor, Boten Christi mit Namen Pelznickel zu sein, die die Kinder bestraften und ihnen sagten, ob sie nun Weihnachtsgeschenke kriegen würden oder nicht.57) 

Erst wenn man die Anstrengung sieht, mit der Eltern kämpfen, um diese Praxis des konkreten Veranschaulichens furchterregender Bilder aufzugeben, zeigt sich die Macht ihres Bedürfnisses nach dieser Praxis. Einer der frühesten Anwälte der Kindheit im Deutschland des 19. Jahrhunderts war Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter). In seinem beliebten Buch Levana verurteilte er Eltern, die ihre Kinder "mittels Schreckensbildern" ruhig hielten, und führte medizinische Zeugnisse dafür an, daß solche Kinder "häufig dem Wahnsinn zum Opfer fallen". 

Doch war sein eigener Zwang zur Wiederholung seiner Kindheit so groß, daß er sich gezwungen sah, abgeschwächte Versionen derselben Praxis für seinen eigenen Sohn zu erfinden:

Wenn man über jede Sache eigentlich nur einmal erschrickt, nicht zweimal: so glaub' ich, könnte man ja durch scherzhafte Vorspiele den Kindern den Ernst ersparen. Zum Beispiel: Ich gehe mit meinem neunjährigen Paul in einem dicken Wald spazieren. Plötzlich fallen drei geschwärzte und gewaffnete Kerle hervor und uns an, weil ich mit ihnen Tages vorher gegen eine kleine Diebs-Prämie den Überfall abgekartet habe. Wir beide sind nur mit Stöcken ausgerüstet, die Räuberhorde aber mit Stechgewehr und einer blindgeladenen Pistole. (...) ... ich (schlage) dem einen Schnapphahn die abgedrückte Pistole seitwärts, damit sie mich verfehlt, (legiere) dem andern mit dem Stocke den Degen aus der Hand ... (...) Allerdings (setz' ich hier in der zweiten Auflage dazu) sind solche Spiele schon ihrer Unwahrheit wegen bedenklich ... (...) Andere Degen- und Mantelstücke ... wären mit Vorteil in der Nacht aufzuführen, um die Phantasien des Gespensterglaubens zu platter Alltäglichkeit zu entkleiden ...58)

 

57)  Anna C. Johnston, Peasant Life in Germany, New York 1858, 353. Mehrere Informanten haben mir gesagt, daß sich dies bis weit ins 20. Jahrhundert hinein fortgesetzt hat. 
A.d.Ü.: Offenbar spielt deMause hier auf die Bräuche der Krampus- oder Schiachperchtenumzüge am Tag vor dem Heiligen Nikolaus (5. bzw. 6. Dezember) an, die in manchen Gegenden Süddeutschlands und Österreichs nach wie vor gepflegt werden.

37


Ein anderer Bereich der Konkretisierung dieses Bedürfnisses, Kindern Angst einzujagen, umfaßt die Verwendung von Leichen. Vielen sind die Szenen in Mrs. Sherwoods Roman History of the Fairchild Family bekannt, in welchen die Kinder dazu gebracht werden, Galgen aufzusuchen, um die dort hängenden verwesenden Leichname zu besichtigen, während ihnen moralische Geschichten erzählt werden. Oft wird nicht erkannt, daß diese Szenen aus dem alltäglichen Leben genommen sind und einen wichtigen Teil der Kindheit vergangener Tage bildeten. Ganze Schulklassen wurden zu Hinrichtungen geführt, und Eltern nahmen ihre Kinder des öfteren zu Erhängungen mit und peitschten sie hernach zuhause aus, damit sie das Gesehene im Gedächtnis behielten.60) 

Sogar ein so humanistisch orientierter Erzieher wie Maffeo Vegio, der ganze Bücher schrieb, um gegen das Schlagen von Kindern zu protestieren, mußte einräumen, daß "es nicht immer eine schlechte Sache ist, sie [die Kinder] Zeugen einer öffentlichen Hinrichtung werden zu lassen".61)

Die Auswirkungen dieser dauernden Leichenschau auf die Kinder waren natürlich massiv. Ein kleines Mädchen ging, nachdem ihre Mutter ihr den frischen Leichnam ihrer neunjährigen Freundin als Exempel gezeigt hatte, rastlos auf und ab und sagte: "Sie werden die Tochter in das tiefe Loch stecken, und was wird Mutter tun?"62 Ein Knabe wachte mitten in der Nacht schreiend auf, nachdem er Zeuge von Erhängungen geworden war, und "erhängte seine eigene Katze".63 Die elf Jahre alte Harriet Spencer hielt in ihrem Tagebuch fest, überall tote Körper auf Galgen und zermalmte auf Rädern gesehen zu haben. 

 

58)  Jean Paul, Levana oder Erziehlehre, Bad Heilbrunn 1963, 181; vgl. auch 179 f. 
59)  Mrs. Mary Sherwood, The History of the Fairchild Family, London o. J.  
60)  Taylor, Angel-Makers, 312; Most, Mensch, 118; Frances Ann Kemble, Records of a Girlhood, New York 1879, 27; Horkan, Educational Theories, 117; Dr. Courtenay Dünn, The Natural History of the Child, New York 1920, 300; E. Mastone Graham, Children of France, New York o. J., 40; Hett, Memoirs, 10; Ivan Bloch, Sexual Life in England, London 1958, 361; Harriet Bessborough, Lady Bessborough and Her Family Circle, London 1940, 22-24; Sangster, Pity, 33 f.   
61)  Maffeo Vegio, De Educatione Liberorum, 644.  
62)  Memoir of Elizabeth Jones, New York 1841, 13.  
63)  C. S. Peel, The Stream of Time: Social and Domestic Life in England 1805-1861, London 1931, 40.  

38


Ihr Vater nahm sie mit, um ihr Hunderte von Leichen zu zeigen, die aufgetürmt worden waren, um Platz für weitere zu schaffen.

... Papa sagt, es sei dumm und abergläubisch, sich vor dem Anblick toter Körper zu fürchten, und so bin ich ihm über ein dunkles, enges und steiles Stiegenhaus nachgegangen, das sich einen langen Weg rundherum hinunter wand, bis sie eine Tür zu einer großen Höhle öffneten. Diese wurde von einer in der Mitte herunterhängenden Lampe erleuchtet, und der Mönch hielt eine Fackel in der Hand. Zuerst konnte ich nichts sehen, und als ich es schließlich konnte, wagte ich es kaum zu schauen, da allenthalben fürchterliche und gräßliche schwarze Figuren waren, von denen einige grinsten, andere auf uns zeigten oder Schmerzen zu leiden schienen, in allen erdenklichen Stellungen, und so schrecklich, daß ich mir das Schreien beinahe nicht verkneifen konnte, und mir schien, sie bewegten sich alle. Als Papa sah, wie unangenehm mir zumute war, war er nicht zornig, sondern sehr freundlich und sagte, ich müsse es überwinden und eine der Figuren berühren, was sehr schockierend war. Ihre Haut war über und über dunkelbraun und ganz an den Knochen angetrocknet und ganz hart und fühlte sich an wie Marmor.64)

Dieses Bild des freundlichen Vaters, der seiner Tochter hilft, die Angst vor Leichen zu überwinden, ist ein Beispiel dafür, was ich "projektive Fürsorge" nenne, um es von wahrer empathischer Fürsorge zu unterscheiden, die das Ergebnis der empathischen Reaktion ist. Projektive Fürsorge setzt die erste Stufe der Projektion des eigenen Unbewußten des Erwachsenen auf das Kind voraus und kann von der empathischen Fürsorge dadurch unterschieden werden, daß sie den tatsächlichen Bedürfnissen des Kindes gegenüber entweder unangemessen oder unzureichend ist. Die Mutter, die allem Unbehagen ihres Kindes damit begegnet, es zu stillen, die Mutter, die der Kleidung ihres Säuglings große Aufmerksamkeit schenkt, während sie ihn zur Amme zum Stillen fortschickt, und die Mutter, die eine volle Stunde darauf verwendet, ein Kind richtig mit Wickelbändern festzubinden — alle sind sie Beispiele für projektive Fürsorge.

Projektive Fürsorge ist jedoch nichtsdestoweniger hinreichend, um ein Kind zum Erwachsenen heranzuziehen. Sie ist in der Tat das, was Anthropologen, die die Kindheit bei Primitiven untersuchen, oft "gute Fürsorge" nennen, und erst wenn ein in der Psychoanalyse bewanderter Anthropologe denselben Stamm erneut untersucht, kann man sehen, daß hier die Projektion und nicht wirkliche Empathie bemessen und gewertet wird.

 

64)  Bessborough, Bessborough Family, 23 f. 

39


So weisen Studien der Apachen65) diesen immer die höchsten Einträge auf der Skala der "oralen Befriedigung" zu, die für die Entwicklung des Gefühls der Geborgenheit so wichtig ist. Die Apachenfrau stillt das Kind, wie das bei vielen primitiven Stämmen der Fall ist, zwei Jahre lang auf Verlangen, und darauf beruht die Bewertung. Erst als der psychoanalytisch geschulte Anthropologe L. Bryce Boyer sie besuchte, wurde die wahre projektive Grundlage dieser Fürsorge offenbar:

Die Fürsorge, die Säuglingen von Apachenmüttern zuteil wird, ist heutzutage verblüffend inkonsistent. In der Regel verhalten sie sich in den Beziehungen zu ihren Babys sehr zärtlich und aufmerksam. Es gibt viel Körperkontakt. Die Zeiten der Nahrungsaufnahme werden im allgemeinen vom Schrei des Babys bestimmt, und jedes Unbehagen wird zuerst mit einer Brustwarze oder einem Fläschchen beantwortet. Zur gleichen Zeit verfügen die Mütter über ein sehr eingeschränktes Verantwortungsgefühl, soweit die Kindesfürsorge betroffen ist, und man gewinnt den Eindruck, daß die Zärtlichkeit der Mutter ihrem Baby gegenüber darauf basiert, dem Säugling diejenige Pflege zu gewähren, die sie sich selbst als Erwachsene wünscht. Eine große Zahl von Müttern setzt ihre Kinder aus oder legt sie weg — Babys, die sie eine Woche vorher noch liebevoll gestillt haben. Die Apachen nennen diese Praxis sehr treffend "das Baby wegwerfen". Sie empfinden nicht nur kaum eine bewußte Schuld aufgrund dieses Verhaltens, sondern sind zu Zeiten offen erfreut darüber, in der Lage gewesen zu sein, sich der Last zu entledigen. 

In manchen Fällen "vergessen" Mütter, die ihre Kinder weggelegt haben, regelrecht darauf, daß sie sie je gehabt haben. Die gewöhnliche Apachenmutter glaubt, körperliche Pflege sei alles, was ein Säugling braucht. Sie hat wenig oder gar keine Gewissensbisse, ihr Baby bei der nächstbesten Person zu lassen, während sie ihrem Antrieb folgend zum Tratsch, Einkaufen, Wetten, Trinken oder "Herumhängen" weggeht. Im besten Fall vertraut die Mutter ihr Baby einer Schwester oder einer älteren Verwandten an. In Ursprungszeiten war ein solches Arrangement beinahe immer möglich.66)

Sogar ein so einfacher Akt wie der, Empathie mit Kindern aufzubringen, die geschlagen werden, fiel Erwachsenen in der Vergangenheit schwer. 

 

65)  John W. M. Whiting und Irvin L. Child, Child Training and Personality: A Cross-Cultural Study, New Haven 1953, 343.
66)  L. Bryce Boyer, Psychological Problems of a Group of Apaches: Alcoholic Hal-lucinosis and Latent Homosexuality Among Typical Men, in The Psychoanalytk Study of Society, Bd. 3 (1964), 225.

40


Die wenigen Pädagogen, die vor Beginn der Moderne rieten, Kinder nicht zu verprügeln, argumentierten im allgemeinen damit, daß es schlechte Folgen haben würde, und nicht damit, daß es dem Kind Schmerzen zufügte. Ohne dieses Element der Empathie hatte der Rat jedoch keine wie immer geartete Wirkung, und Kinder konnten und durften geschlagen werden wie eh und je. Mütter, die ihre Säuglinge drei Jahre lang zu Stillammen schickten, waren ehrlich betroffen darüber, daß ihre Kinder danach nicht zu ihnen zurückkommen wollten, sie waren aber nicht in der Lage, den Grund dafür ausfindig zu machen. 

 

Hunderte Generationen von Müttern schnürten ihre Kinder in Wickelbänder ein und sahen untätig zu, wie diese aus Protest schrieen, weil ihnen der psychische Mechanismus fehlte, mit ihnen empathisch zu sein. Erst als der langsame historische Fortschritt in der Evolution der Eltern-Kind-Beziehung diese Fähigkeit über aufeinanderfolgende Generationen von Interaktionen zwischen Eltern und Kindern endlich aufbaute, wurde ersichtlich, daß festes Wickeln völlig unnötig war. Hören wir, wie Richard Steele 1706 im Tatler beschreibt, wie sich seiner Meinung nach ein Säugling nach der Geburt fühlt:

Ich lag sehr ruhig da; doch die Hexe nimmt mich auf keine noch so geringe Veranlassung oder Provokation hin auf und umwickelt meinen Kopf, so fest sie nur kann; dann bindet sie meine beiden Beine zusammen und läßt mich eine schreckliche Mixtur hinunterschlucken. Ich hielt es für einen groben Eintritt ins Leben, mit der Einnahme von Arzneien zu beginnen. Nachdem ich so gekleidet worden war, wurde ich zu einem Bett getragen, in dem eine hübsche junge Dame (meine Mutter, meine ich) Anstalten machte, mich zu Tode zu drücken ... und mich in die Arme eines Mädchens warf, das dazu angehalten worden war, sich um mich zu kümmern. Das Mädchen war sehr stolz über seine weibliche Beschäftigung als Kinderfrau und nahm es, weil ich einen Laut von mir gegeben hatte, auf sich, mich aus- und von neuem einzuwickeln, um zu sehen, was mir Unbehagen bereite; dies tat sie und steckte eine Nadel in jede Masche. Ich weinte immer noch, woraufhin sie mich in ihrem Schoß auf mein Gesicht legt; und um mich zu beruhigen, verfiel sie darauf, alle Nadeln hineinzuhämmern, indem sie mir auf den Rücken klopfte und ein Wiegenlied kreischte ...67)

Ich habe bis zum 18. Jahrhunden keine Beschreibung mit diesem Grad an Empathie gefunden. Nicht lange danach kamen 2000 Jahre festen Wickelns zu einem Ende.

Man hegt die Vorstellung, es müsse doch alle möglichen Arten von Orten geben, an denen man auf der Suche nach dieser fehlenden empathischen Fähigkeit in der Vergangenheit fündig werden könnte. 

 

67)  Asa Briggs (Hg.), How They Lived, Bd. 3, New York 1969, 27.

41


Der erste dieser Orte ist natürlich die Bibel; hier sollte man zweifellos Empathie gegenüber den Bedürfnissen von Kindern finden, denn wird Jesus nicht immer so dargestellt, daß er kleine Kinder in den Armen hält? Liest man jedoch alle der über 2000 Verweise auf Kinder, die die Bibelkonkordanz auflistet, dann fehlen diese sanften Bilder. Man findet Unmengen zum Kindesopfer, zur Steinigung von Kindern, zum Verprügeln, zu ihrem strengen Gehorsam, zu ihrer Liebe gegenüber ihren Eltern und zu ihrer Rolle als Träger des Familiennamens, aber nicht eine einzige Stelle, die die geringste Empathie ihren Bedürfnissen gegenüber verrät. Sogar die wohlbekannte Wendung "Es leiden die kleinen Kinder, und verbiete ihnen nicht, zu mir zu kommen", erweist sich als die im Nahen Osten übliche Praxis, Exorzismen durch Handauflegen durchzuführen, was viele heilige Männer taten, um das Kindern einwohnende Böse auszutreiben: "Dann brachte man ihm kleine Kinder, auf daß er seine Hände auf sie lege und bete ... er legte seine Hände auf sie, und dann ging er." (Matt. 19,13)

All das will nicht heißen, daß Eltern ihre Kinder in der Vergangenheit nicht geliebt hätten; das taten sie wohl. Auch heute sind Leute, die ihre Kinder schlagen, keine Sadisten; sie lieben ihre Kinder, zu gewissen Zeiten und auf ihre eigene Art, und sind manchmal in der Lage, zärtliche Gefühle auszudrücken, insbesondere wenn die Kinder nichts fordern. Dasselbe galt für die Eltern in der Vergangenheit; Ausdrücke von Zärtlichkeit gegenüber Kindern treten am häufigsten dann auf, wenn das Kind nichts fordert, besonders wenn es entweder schläft oder tot ist. Homers Wendung "wie eine Mutter eine Fliege von ihrem Kind wegscheucht, wenn es im süßen Schlafe liegt" findet sein Gegenstück in Martials Totengedicht:

Decke die zarten Gebeine kein starrer Rasen und Erde,
sei ihr nicht schwer! Denn auch sie war es ja niemals für dich.

Erst im Augenblick des Todes rufen die Eltern, zuvor unfähig, empathisch zu sein, mit Morelli (1400) aus: "Du liebtest ihn, doch hast deine Liebe nie dazu verwendet, ihn glücklich zu machen; du behandeltest ihn eher als einen Fremden denn als einen Sohn; du vergönntest ihm nie je eine ruhige Stunde ... Du küßtest ihn nie, wenn er es wünschte; du erschöpftest ihn in der Schule und mit vielen groben Schlägen."69)

 

68)  Horace E. Scudder, Childhood in Literature and Art, Boston 1894, 34; Martial, Epigrams, Bd. 2, übers, v. Walter C. A. Kerr, Cambridge, Massachusetts, 1968, 255 (dt. Epigramme. Lat./dt., hg. u. übers, v. Paul Barie und Winfried Schindler, Düsseldorf 1999). 
69)  Giovanni di Pagalo Morelli, Ricordi, hg. v. V. Branca, Florenz 1956, 501. 

42


Natürlich ist es nicht die Liebe, die dem Elternteil der Vergangenheit fehlte, sondern vielmehr die emotionale Reife, deren es dazu bedarf, das Kind als eine von einem selber unterschiedene Person zu sehen. Es ist schwierig abzuschätzen, welcher Prozentsatz von den Eltern heutzutage die empathische Ebene mit hinreichender Konsistenz erreicht. Ich habe einmal eine informelle Umfrage unter einem Dutzend Psychotherapeuten gemacht und sie gefragt, wieviele von ihren Patienten am Anfang ihrer Analyse in der Lage waren, von ihren Kindern Vorstellungen als Individuen unabhängig von ihren eigenen projizierten Bedürfnissen zu haben; alle gaben an, daß nur sehr wenige diese Fähigkeit besäßen. Einer von ihnen, Arnos Gunsberg, drückte es so aus: "Das tritt nicht auf bis zu einem schon sehr fortgeschrittenen Punkt ihrer Analyse, immer zu einem besonderen Moment — wenn sie nämlich zu einem Bild ihrer selbst als unabhängig von ihrer eigenen, alles in sich begreifenden Mutter gelangen."

Parallel zur projektiven Reaktion läuft die Reversionsreaktion, bei der Kind und Elternteil die Rollen tauschen und oftmals ziemlich bizarre Ergebnisse die Folge sind. Die Reversion erfolgt schon lange, bevor das Kind geboren wird — sie ist die Quelle des sehr starken Verlangens nach Kindern, das man in der Vergangenheit feststellt und das immer nach Maßgabe dessen ausgedrückt wird, was Kinder ihren Eltern geben können, und niemals danach, was die Eltern ihnen geben können. Medea führt, bevor sie den Kindsmord begeht, Klage darüber, daß sie, wenn sie ihre Kinder tötet, niemanden mehr haben wird, der sich um sie kümmert:

Vergebens also zog ich euch, ihr Kinder, auf! 
Vergebens duldet' ich und schwand in Sorgen hin 
Und trug umsonst die grausen Schmerzen der Geburt! 
Traum! ehemals nährt' ich Arme schöne Hoffnungen. 
Der Greisin, wähnt' ich, solltet einst ihr pflegen, ihr 
Die Augen einst zudrücken der Entschlummerten: 
Das schönste Glück der Sterblichen. Nun ist dahin 
Die süße Sorgfalt.70)

 

70)  Euripides, Medea, 1029-1036 (dt.: Euripides' Werke, übers, v. F. H. Bothe, Bd. 1, Berlin 1800, 1007-1014); auch Jason bemitleidet lediglich sich selbst, vgl. a. a. O., 1325-1327 (dt. 1328-1331). (Vgl. auch ders., Medea. Gr./dt., hg. u. übers, v. Karl H. Eller, Stuttgart 1983.)

43


Ist es erst geboren, wird das Kind Elternteil von Mutter und Vater, entweder in positiver oder negativer Hinsicht, völlig ohne Zusammenhang mit dem tatsächlichen Alter des Kindes. Das Kind wird ungeachtet seines Geschlechts oft in ähnliche Kleider gehüllt wie die Mutter des Elternteils, das heißt nicht nur in ein langes Kleid, sondern auch in eines, das mindestens eine Generation lang aus der Mode ist. Die Mutter wird buchstäblich im Kind wiedergeboren; Kinder werden nicht nur wie "Miniatur-Ausgaben von Erwachsenen" gekleidet, sondern ganz eindeutig als Miniatur-Frauen, oft auch komplett mit Dekolleté. 

 

Die Vorstellung, daß der Großelternteil tatsächlich im Baby wiedergeboren wird, ist in der Antike weitverbreitet, und die Nähe des Wortes "Baby" zu den verschiedenen Bezeichnungen für Großmutter (baba, Babe) weist auf ähnliche Annahmen hin. Es gibt jedoch auch Belege für konkretere Reversionen in der Vergangenheit, solche, die regelrecht halluzinatorisch sind. So wurden etwa die Brüste von Säuglingen oft von Erwachsenen geküßt, oder es wurde an ihnen gesaugt. Sowohl Penis als auch Brustwarzen des kleinen Ludwig XIII. wurden von den ihn umgebenden Leuten oft geküßt. 

Obwohl Heroard, der Autor seines Tagebuchs, ihn immer zum Tätigen stilisiert (mit dreizehn Monaten "läßt er M. de Souvre, M. de Termes, M. de Liancourt und M. Zamet seinen Zipfel küssen") , wird später ersichtlich, daß er manipuliert wurde: "Er will die Marquise nie seine Brustwarzen berühren lassen, seine Amme hatte ihm gesagt: <Herr, laßt niemanden Eure Brustwarzen oder Euren Zipfel anrühren; sie werden sie Euch abschneiden.>"75) Doch konnten die Erwachsenen ihre Hände und Lippen immer noch nicht von seinem Penis und seinen Brustwarzen lassen. Beides stellte die wiedergekehrten Brüste der Mutter dar.

Ein weiterer Anlaß für den "Säugling-als-Mutter"-Mechanismus war der allgemeine Glaube, Säuglinge hätten Milch in ihren Brüsten, die ausgedrückt werden mußte. Die italienische balia (Milchamme) des 14. Jahrhunderts wurde gelehrt, "sicherzugehen und seine [des Säuglings] Brüste oft zu drücken — um vorhandene Milch herauszubekommen, weil diese ihn schmerzt".76)

 

71)  Aries, Geschichte der Kindheit, 112; Christian Augustus Struve, A Familiär Treatise on the Physical Education of Children, London 1801, 299.  
72)  Agnes C. Vaughan, The Genesis of Human Offspring: A Study in Early Greek Culture, Menasha, Wisconsin, 1945, 107; James Hastings (Hg.), A Dictionary of Christ and the Gospels, New York 1911, 533.  
73)  Kett, Adolescence, 35, 230.  
74)  E. Soulie und E. de Barthelemy (Hgg.), Journal de Jean Heroard sur l'Enfance et la Jeunesse de Louis XIII, Bd. 1, Paris 1868, 35.  
75)  A.a.O., 76.

44


Es gibt in der Tat eine schwache Rationalisierungsmöglichkeit für diese Annahme, da ein Neugeborenes in seltenen Fällen als Resultat eines Rests weiblicher Hormone von seiner Mutter einen Tropfen milchiger Flüssigkeit auf seinen Brüsten aufweisen kann. Doch gab es einen Unterschied zwischen diesem Fall und "der unnatürlichen, aber weitverbreiteten Praxis, die zarten Brüste eines neugeborenen Säuglings gewaltsam zu quetschen, mit der rauhen Hand der Amme, was die häufigste Ursache von Entzündungen in diesem Bereich ist", wie der amerikanische Pädiater Alexander Hamilton noch 1793 schreiben mußte.

Küssen, Saugen und Quetschen der Brust sind nur ein paar der Praktiken, denen das "Kind als Brust" unterworfen wird; man findet eine Vielzahl von Praktiken wie jene, vor der folgender Pädiater zu Anfang des 19. Jahrhunderts gewarnt hat:

Eine Praktik aber der verletzendsten und abstoßendsten Art ist die vieler Kindermädchen, Tanten und Großmütter, die dem Kind zumuten, an ihren Lippen zu saugen. Ich hatte Gelegenheit, den Verfall eines blühenden Säuglings zu beobachten, als Folge davon, von einem halben Jahr aufwärts an den Lippen seiner kränklichen Großmutter zu saugen.78)

Ich habe sogar mehrere Hinweise auf Eltern gefunden, die "Kinder lecken". Davon mag beispielsweise George du Maurier gesprochen haben, als er über sein Neugeborenes sagte: "Das Kindermädchen bringt sie jeden Morgen zu mir ans Bett, damit ich sie mit der ,Prügelzunge' lecken kann — ich genieße diese Handlung so sehr, daß ich damit fortfahren werde, bis (das Kind) die Mündigkeit erreicht."79)

Man gewinnt den Eindruck, daß das perfekte Kind jenes wäre, das den Eltern buchstäblich die Brust gibt, und die Alten würden wohl zustimmen. Wann immer über Kinder diskutiert wurde, kam mit Sicherheit die Geschichte von Valerius Maximus zur Sprache, der ein "perfektes" Kind beschreibt.

 

76)  Francesco da Barberino, Reggimento e costume di donne, Turin 1957, 189. 
77)  Alexander Hamilton, The Family Female Physician: Or, A Treatise on the Management of Female Complaints, and of Children in Early Infancy, Worcester 1793, 287.  
78)  Struve, Treatise, 273.  
79)  Albrecht Peiper, Chronik, 120; Daphne du Maurier (Hg.), The Young George de Maurier: A Selection of His Letters 1860-67, London 1951, 223.

45


Plinius erzählt sie so:

Es gibt fürwahr unzählige Beweise kindlicher Zuneigung auf der ganzen Welt, einen jedoch in Rom, mit dem sich der ganze Rest nicht messen kann. Eine plebejische Frau von niedriger Stellung, die gerade ein Kind geboren hatte, erhielt Erlaubnis, ihre Mutter zu besuchen, die zur Strafe ins Gefängnis geworfen worden war; der Wärter durchsuchte sie vorher jedesmal, um zu verhindern, daß sie irgendwelche Lebensmittel mit hineinnahm. Man ertappte sie dabei, wie sie ihrer Mutter Nahrung aus ihren eigenen Brüsten gab. Infolge dieses Wunders wurde die fromme Zuneigung der Tochter mit der Entlassung der Mutter belohnt, und beiden wurde lebenslanger Unterhalt gewährt; und der Ort, an dem dies statthatte, wurde der entsprechenden Göttin geweiht, ein Tempel für die kindliche Zuneigung.... 80)

Die Geschichte wurde durch die Jahrhunderte immer wieder als Musterbeispiel erzählt. Peter Charron hat sie 1593 das "Zurückleiten des Stroms zur Quelle" genannt, und das Thema war Gegenstand von Gemälden von Rubens, Vermeer und anderen.

Oft wird das Bedürfnis, das Bild vom "Kind als Mutter" auszuagieren, übermächtig; bei einem typischen Vorfall wird hier einem sechs Jahre alten Mädchen 1656 von Kardinal Mazarin und anderen Erwachsenen ein "Streich" gespielt:

Eines Tages, als er sie wegen eines Verehrers neckte, den sie zu haben behauptete, begann er sie endlich dafür zu tadeln, daß sie guter Hoffnung sei ... Sie machten ihre Kleider von Zeit zu Zeit enger und ließen sie glauben, sie würde immer dicker. Das ging solange, wie man es für notwendig hielt, um sie von der Wahrscheinlichkeit ihres Guter-Hoffnung-Seins zu überzeugen ... Die Zeit ihrer Niederkunft kam, inmitten ihrer Laken fand sie am Morgen ein neugeborenes Kind. Man kann sich das Erstaunen und die Verzweiflung, in welche sie bei diesem Anblick geriet, nicht vorstellen. "So etwas", sagte sie, "ist niemandem außer der Jungfrau Maria und mir je widerfahren, denn ich habe nie irgendeinen Schmerz empfunden." Die Königin kam, um sie zu trösten, und bot sich als Gottesmutter dar; viele kamen, um mit ihr zu schwatzen wie mit einer, die soeben niedergekommen war.82)

 

80)  Plinius, Natural History, übers, v. H. Rockham, Cambridge, Massachusetts, 1942, 587 (dt.: Cajus Plinius Secundus, Naturgeschichte, übers, v. Ph. H. Külb, Bd. 7, Stuttgart 1843, 832).  
81)  Sieur Peter Charron, Of Wisdom, übers, v. George Stanhope, London (3)1729, 1384.  
82)  St. Evremond, The Works of Monsieur de St. Evremond, Bd. 3, London 1714, 6.  

46


Kinder haben sich seit jeher auf viele konkrete Arten um Erwachsene gekümmert. Von römischen Zeiten an bedienten Knaben und Mädchen ihre Eltern bei Tisch, und im Mittelalter arbeiteten alle Kinder mit Ausnahme der königlichen als Diener, entweder zu Hause oder für andere, und liefen oft zu Mittag von der Schule heim, um ihre Eltern zu bedienen.83) Ich werde hier nicht den ganzen Gegenstand der Kinderarbeit erörtern, man sollte sich aber daran erinnern, daß Kinder vieles von dem, was es auf der Welt an Arbeit gibt, vom Alter von vier bis fünf Jahren an erledigt haben, lange bevor im 19. Jahrhundert Kinderarbeit ein solches Thema wurde.

 

Abbildung 2 

Elisabethanische Familie beim Abendessen. 

Man beachte, daß das kleinste Kind beim Essen steht und das ältere die Familie bedient. 

 

83) W. Warde Fowler, Social Life at Rome in the Age of Cicero, New York 1926, 177; Edith Rickert (Hg.), The Babee's Book: Medieval Manners for the Young, London 1908, xviii; Mrs. E. M. Field, The Child and His Book, London 1892, Reprint Detroit 1968, 91; Frederick J. Furnivall (Hg.), Early English Meals and Manners (1868), Reprint Detroit 1969, 229; Pearson, Elizabethans, 172.

47


Die Reversionsreaktion zeigt sich jedoch am deutlichsten in der emotionalen Interaktion zwischen Kind und Erwachsenem. Sozialarbeiter von heute, die "prügelnde" Mütter besuchen, sind oft darüber erstaunt, wie sehr kleine Kinder den Bedürfnissen ihrer Eltern entsprechen:

Ich erinnere mich, ein achtzehn Monate altes Mädchen seine Mutter beschwichtigen zu sehen, die sich in einem Zustand höchster Angst befand und in Tränen aufgelöst war. Zuerst setzte sie das Fläschchen ab, an dem sie nuckelte. Dann bewegte sie sich auf solche Weise umher, daß sie sich ihrer Mutter nähern, sie berühren und zuletzt beruhigen konnte (wozu ich nicht einmal ansatzweise in der Lage gewesen war). Als sie spürte, daß ihre Mutter sich wieder wohlfühlte, ging sie durchs Zimmer, legte sich hin, griff nach ihrem Fläschchen und begann wieder an ihm zu nuckeln.84)

Diese Rolle haben Kinder in der Vergangenheit häufig übernommen. Ein anderes Kind hat man "nie weinen oder unruhig gesehen ... Als sie noch ein Baby in den Armen ihrer Mutter war, hob sie zu dieser Jahreszeit oft ihre kleine Hand und wischte die Tränen von der Wange ihrer Mutter ..."85) Die Ärzte versuchten gewöhnlich, Mütter dazu zu bewegen, ihre Kinder selbst zu säugen, statt sie zu einer Milchamme zu senden, indem sie versprachen, daß "er (der Säugling) es als Gegenleistung dafür unternimmt, ihr (der Mutter) tausend Freuden zu erweisen ... er küßt sie, streichelt ihr Haar, ihre Nase und Ohren, er schmeichelt ihr ..."86) 

In Verfolgung dieses Themas habe ich über fünfhundert Gemälde von Müttern und Kindern aus allen Ländern katalogisiert und herausgefunden, daß die Bilder früher das Kind zeigen, wie es die Mutter betrachtet, ihr zulächelt und sie zärtlich behandelt, als umgekehrt die Mutter, wie sie das Kind betrachtet, ihm zulächelt und es zärtlich behandelt, was für eine Mutter auf Gemälden überhaupt seltene Handlungen sind.

 

84)  Elizabeth L. Davoren, The Role of the Social Worker, in: Ray E. Helfer und C. Henry Kempe (Hgg.), The Battered Child, Chicago 1968, 155. 
85)  Ruby Ann Ingersoll, Memoir of Elizabeth Charlotte Ingersoll Who Died September 18, 1857 Aged 12 Years, Rochester, New York, 1858, 6. 
86)  Jacques Guillimeau, The Nursing of Children, London 1612, 3.

48


    

Abbildungen 3a und 3b - Das Kind als Liebhaber der Mutter. Unter den üblicherweise steifen mittelalterlichen Darstellungen von Mutter und Kind sind auch ein paar wie diese, die den Wunsch veranschaulichen, daß das Kind ein Liebhaber sein möge, der die Mutter leidenschaftlich umarmt.

 

Die Fähigkeit des Kindes, Erwachsene zu bemuttern, war oft seine Rettung. Mme. de Sevigne entschloß sich, ihre achtzehn Monate alte Enkeltochter nicht mit auf eine Reise zu nehmen, die für das Kind hätte fatal sein können.

Mme. du Puy-du-Fou möchte nicht, daß ich mein Enkelkind mitnehme. Sie sagt, es würde sie der Gefahr aussetzen, und endlich füge ich mich; ich würde es nicht wollen, die kleine Lady zu gefährden — ich mag sie sehr ... sie tut hundert und mehr kleine Dinge — sie spricht, liebkost die Leute, tätschelt sie, bekreuzigt sich, bittet um Verzeihung, macht Knickse, küßt einem die Hand, zuckt mit den Schultern, tanzt, schmeichelt, krault einen am Kinn: kurz, sie ist insgesamt liebreizend, bisweilen vergnüge ich mich Stunden mit ihr. Ich will nicht, daß sie stirbt.87)

Das Bedürfnis der Eltern nach Bemutterung erlegte dem heranwachsenden Kind eine enorme Last auf. Es war mitunter sogar die Ursache seines Todes. 

 

87)  H. T. Barnwell (Hg.), Selected Letters of Madame de Sevigne, London 1959, 73.

49


Einer der häufigeren Gründe, die für den Tod eines Säuglings angegeben werden, war "Drauflegen" oder Ersticken im Bett, und obwohl das oft auch nur eine Ausrede für Kindsmord war, räumten Pädiater ein, daß es sich dann, wenn es tatsächlich vorgefallen war, der Weigerung der Mutter zuzuschreiben war, das Kind in ein eigenes Bett zu geben, wenn sie schlafen ging; "indem sie das Kind nicht loslassen will, hält sie es noch fester, während sie schläft. Ihre Brust verschließt die Nase des Kindes".88) 

Dieses reversive Bild vom Kind als Sicherheitsdecke stellte die Wirklichkeit hinter der bekannten mittel­alter­lichen Warnung dar, daß Eltern sorgfältig darauf achten müßten, ihre Kinder nicht zu hätscheln "wie der Efeu, der den Baum, den er umwächst, unweigerlich abtötet, oder die Affenmutter, die ihre Jungen aus bloßer Verliebtheit beim Umarmen zu Tode drückt".89)

 

Das psychologische Prinzip des Doppelbildes

Der unentwegte Wechsel zwischen Projektion und Reversion, zwischen dem Kind als Teufel und als Erwachsenem, bringt ein "Doppelbild" hervor, das für einen Großteil der bizarren Eigenschaften der Kindheit in der Vergangenheit verantwortlich ist. Wir haben bereits gesehen, inwiefern dieser Wechsel vom Bild des Erwachsenen zum projizierten Bild eine Vorbedingung des Prügeins ist. Wir können jedoch eine noch reichhaltigere Vorstellung vom Doppelbild bekommen, indem wir eine tatsächliche Kindheit der Vergangenheit ein wenig detaillierter untersuchen. Die ausführlichste Aufzeichnung einer Kindheit vor der Moderne ist das Tagebuch Heroards, des Arztes Ludwigs XIII., das beinah tägliche Einträge darüber enthält, was er das Kind und dessen Umgebung tun sah und sagen hörte. Das Tagebuch erlaubt uns des öfteren, einen Blick auf das im Umschlagen begriffene Doppelbild zu erhaschen, wie es sich in Heroards eigenem Denken ereignet, insofern seine Darstellung des Babys zwischen projektiven und reversiven Bildern hin und her wechselt.

Das Tagebuch setzt ein mit der Geburt des Dauphins 1601. Sofort tauchen seine Erwachsenen-Qualitäten auf. Er kam aus dem Mutterleib und hielt seine Nabelschnur "mit solcher Kraft, daß sie (die Mutter oder die Hebamme) sie ihm nur schwer entreißen konnte". Er wurde beschrieben als "stark muskulös", und sein Schrei war so laut, daß "er sich überhaupt nicht wie ein Kind anhörte". Sein Penis wurde sorgfältig untersucht und für "gut vorbereitet" erklärt.90) 

 

88)  Most, Mensch, 74.
89)  Charron, Wisdom, 1338; Robert Cleaver, A godlie forme of household government..., London 1598, 296.
90)  Soulie, Heroard, 2-5.

50


Da er ein Dauphin war, tut man diese ersten Projektionen erwachsener Eigenschaften als bloßen Stolz über einen neuen König ab, bald aber beginnen sich die Bilder regelrecht aufzutürmen, und das Doppelbild, demzufolge er sowohl ein Erwachsener als auch ein unersättliches Kind ist, wird immer deutlicher.

Am Tage nach seiner Geburt ... klingen seine Schreie im allgemeinen überhaupt nicht wie die eines Säuglings und klangen niemals so, und wenn er an der Brust saugte, so geschah dies mit einem ganzen Mundvoll, und er öffnete seine Kiefer so weit, daß er mit einem Zug mehr zu sich nahm als andere in dreien. Daher war seine Amme beinahe stetig trocken ... Er war niemals völlig gestillt.91)

Die Vorstellung vom gerade ein paar Wochen alten Dauphin abwechselnd als eines kindlichen Herkules, der die Schlangen besiegte, und als eines Gargantua, der 17.913 Rinder brauchte, um gestillt zu werden, steht völlig quer zu dem in Wirklichkeit kränklichen, schwachen, gewickelten Säugling, dessen Bild aus Heroards Aufzeichnungen hervorgeht. Von den Dutzenden Leuten, die zu seiner Pflege eingeteilt waren, war keiner in der Lage, die Befriedigung seiner einfachsten Bedürfnisse nach Nahrung und Ruhe zu gewährleisten. Dauernd wurden unnötige Wechsel bei den Milchammen vorgenommen und ständige Ausgänge und lange Reisen veranstaltet.92) Als er an die zwei Monate alt war, war der Dauphin dem Tode nahe. Heroards Angst wuchs, und als Abwehr gegen diese Angst wurde seine Reversionsreaktion deutlicher:

Von der Amme gefragt: "Wer ist dieser Mann?", antwortet er in seiner Sprechweise und mit Freude: "Erouad!" [Heroard] Man kann sehen, daß sein Körper sich nicht mehr entwickelt oder genährt wird. Die Muskeln auf seiner Brust sind völlig verschwunden, und der große Wulst, den er zuvor an seinem Nacken hatte, war nun nur noch Haut.93)

Als der Dauphin beinahe zehn Monate alt war, wurden Gängelbänder an seinem Kleid angebracht. Gängelbänder wurden zur Verwendung angeraten, um dem Kind das Gehen beizubringen, öfter aber wurden sie dazu eingesetzt, es wie eine Marionette zu manipulieren und zu kontrollieren. In Kombination mit Heroards projektiven Reaktionen erschwert dies das Verständnis dessen, was tatsächlich vorfiel und was von denjenigen im Umfeld des kleinen Ludwig manipuliert wurde. So wird zum Beispiel berichtet, daß er es im Alter von elf Monaten genossen habe, mit Heroard zu fechten, und das so sehr, daß "er mich lachend durch den ganzen Raum hetzt". 

 

91)  A.a.O., 7-9. 
92)  A.a.O., 11. 
93)  A.a.O., 14 f.

51


Ein Monat später jedoch berichtete Heroard, daß er "beginnt, sich standhaft herumzubewegen, wenn man ihn unter den Armen hält". Es ist offenkundig, daß er am Gängelband geführt oder geschwungen wurde, wenn es hieß, er habe Heroard "gehetzt". Nachdem er in Wirklichkeit erst sehr viel später in Sätzen sprechen konnte, halluzinierte Heroard in der Tat, als er berichtete, jemand sei den vierzehn Monate alten Dauphin besuchen gekommen, der "sich herumdreht und alle ansieht, die in Reih und Glied an der Balustrade stehen, sich ihn erwählt und ihm seine Hand hinhält, die der Prinz dann küßt. M. d'Haucourt tritt ein und sagt, er sei gekommen, das Kleid des Dauphin zu küssen; er dreht sich zu ihm und sagt, das sei nicht nötig".95) 

Zur selben Zeit wurde er als sexuell überaus aktiv beschrieben. Die projektive Grundlage dafür, dem Kind ein erwachsenes Sexualverhalten zuzuschreiben, ist in Heroards Beschreibungen augenfällig: "[Mit zwölf Monaten] ruft der Dauphin den Pagen zurück und hebt mit einem ,Ho!' sein Hemdchen, um ihm seinen Zipfel zu zeigen ... er verlangt, daß jeder seinen Zipfel küßt ... in Begleitung des kleinen Mädchens zieht er sein Hemd hinauf, zeigt ihm seinen Zipfel mit solcher Begierde, daß er völlig außer sich ist." Und nur wenn man sich besinnt, daß es sich im folgenden in Wirklichkeit um ein fünfzehn Monate altes Baby handelt, das wahrscheinlich am Gängelband geführt wird, kann diese Szene von Heroards massiven Projektionen abgelöst werden:

Der Dauphin geht hinter Müe. Mercier, die kreischt, weil M. de Montglat ihr mit der Hand auf die Hinterbacken geschlagen hat; auch der Dauphin kreischte. Sie floh zum Bett hin; M. de Montglat folgte ihr und wollte ihr den Hintern küssen, sie schreit sehr laut auf; der Dauphin hört es und beliebt, ebenfalls laut zu schreien; genießt dies und schüttelt seine Beine und seinen ganzen Körper vor Freude ... man heißt seine Frauen kommen; er heißt sie tanzen, spielt mit der kleinen Marguerite, küßt sie, umarmt sie; wirft sie zu Boden, schmeißt sich mit bebendem Körper und knirschenden Zähnen auf sie ... neun Uhr ... Er versucht, ihr mit einer Birkenrute auf die Hinterbacken zu schlagen. Mlle. Belier fragt ihn: "Monsieur, was hat M. de Montglat mit Mercier getan?" Auf der Stelle begann er mit einem süßen Lächeln in die Hände zu klatschen und sich auf diese Weise so zu erhitzen, daß er unter Freuden hinfortgetragen wurde, nachdem er eine gute halbe bis dreiviertel Stunde lachend und händeklatschend zugebracht hatte, wobei er sich ungestüm auf sie geworfen hatte, ganz wie jemand, der den Witz verstanden hatte.97)

 

94)  A.a.O., 32, 34. 
95)  A.a.O., 36. 
96)  A.a.O., 34, 35.

52


Nur selten läßt Héroard erkennen, daß der Dauphin bei diesen sexuellen Manipulationen in Wirklichkeit passiv war: "Die Marquise steckt oft ihre Hand unter seine Weste; er läßt sich von der Amme in sein Bett bringen, wo sie mit ihm spielt und ihre Hand oft unter sein Mäntelchen steckt." Öfter noch wird einfach dargestellt, wie er ausgezogen, mit dem König, der Königin oder beiden oder auch mit verschiedenen Dienern zu Bett gebracht und von der Zeit an, da er ein Säugling war, bis mindestens zu seinem siebenten Lebensjahr in sexuelle Manipulationen einbezogen wurde.

 

Ein weiteres Beispiel für das Doppelbild findet sich anläßlich der Beschneidung. Es ist bekannt, daß Juden, Ägypter, Araber und andere die Vorhaut von Knaben beschnitten. Die Gründe dafür sind mannigfaltig, alle aber fallen in den Bereich des Doppelbilds von Projektion und Reversion. Derartige Verstümmelungen von Kindern durch Erwachsene implizieren immer Projektion und Bestrafung, um projizierte Leidenschaften zu kontrollieren. Wie Philo es im 1. nachchristlichen Jahrhundert ausgedrückt hat, galt die Beschneidung 

"der Ausrottung der Leidenschaften, die den Geist einschnüren. Denn nachdem von allen Leidenschaften die des Verkehrs zwischen Mann und Frau die größte ist, haben die Gesetzgeber empfohlen, daß dasjenige Instrument, welches diesem Verkehr dient, verstümmelt werde, wobei sie darauf hingewiesen haben, daß diese mächtigen Leidenschaften gezügelt werden müssen und nicht nur diese bestimmte, sondern alle Leidenschaften von dieser einen gesteuert werden".99) 

Moses Maimonides stimmt dem zu:

Ich glaube, daß einer der Gründe für die Beschneidung die Verringerung des Geschlechtsverkehrs und die Schwächung der Geschlechtsorgane war; ihr Ziel bestand darin, die Tätigkeiten dieses Organs einzuschränken und es soviel wie möglich ruhen zu lassen. Das wahre Ziel der Beschneidung bestand darin, dem Geschlechtsorgan eine solche Art von körperlichem Schmerz zuzufügen, daß nicht seine natürliche Funktion oder die Potenz des einzelnen beeinträchtigt, sondern vielmehr die Macht der Leidenschaft und des allzu großen Verlangens verringert würde.100)

97)  A.a.O., 42 f.
98)  A.a.O., 45. Diese sexuelle Einbeziehung des Dauphins kann nicht nur dazu dienen, sein königliches Charisma zu befördern, zumal auch der König und die Königin beteiligt sind. 
99)  Felix Bryk, Circumcision in Man and Woman: Its History, Psychology and Ethnology, New York 1934, 94.

53


Das reversive Element der Beschneidung kann im Thema von der Eichel als Brustwarze gesehen werden, das in den Einzelheiten einer Versiqn dieses Rituals eingebettet ist. Der Penis des Kleinkindes wird gerieben, um ihn steif zu machen, und die Vorhaut wird eingeritzt, entweder mit dem Fingernagel des Mohel oder mit einem Messer, und dann rund um die Eichel abgezogen. Daraufhin saugt der Mohel das Blut von der Eichel. Das geschieht aus demselben Grund, aus dem jeder den Penis des kleinen Ludwig küßte — weil der Penis und im besonderen die Eichel die wiedergekehrte Brustwarze der Mutter ist und das Blut deren Milch. 

Die Vorstellung, daß das Blut des Kindes magische Milch-Eigenschaften besitze, ist uralt und liegt vielen Opferhandlungen zugrunde, doch statt dieses komplexe Problem hier zu untersuchen, würde ich es vorziehen, mich auf den hauptsächlichen Sinn der Beschneidung zu konzentrieren, nämlich das Auftauchen der Eichel-als-Brustwarze. Es ist nicht allgemein bekannt, daß die Entblößung der Eichel nicht nur für die Völker, die Beschneidungen durchführen, ein Problem war. Den Griechen und Römern galt die Eichel als heilig; ihr Anblick "löste Angst und Erstaunen im Herzen des Menschen aus", und daher banden sie die Vorhaut entweder mit einer Schnur zusammen, die kynodesme genannt wurde, oder klemmten sie sonst mit einer fibula zu, einer Klammer, was Infibulation genannt wurde.104) Belege für die Infibulation, sowohl aus Gründen der "Mäßigung" als auch "um die Begierde zu zügeln", finden sich auch in der Renaissance und der Neuzeit.105)

War die Vorhaut nicht lang genug, um die Eichel zu bedecken, wurde manchmal eine Operation durchgeführt, bei der die Haut an der Wurzel des Penis eingeschnitten und nach oben gezogen wurde.106)  

In der Kunst der Antike wurde die Eichel in der Regel bedeckt dargestellt, wobei der Penis entweder in eine Spitze auslief oder sonst die zusammengeschnürte Vorhaut deutlich abgebildet wurde, auch im erigierten Zustand. Ich habe nur zwei Fälle gefunden, bei denen die Eichel dargestellt wurde: entweder wenn sie Ehrfurcht hervorrufen sollte, wie in den Abbildungen des Phallus, die üblicherweise an Türschwellen angebracht wurden, oder wenn der Penis bei der Fellatio gezeigt wurde.107) Somit war das Reversionsbild bei Juden und Römern gleichermaßen in ihrer Einstellung gegenüber der Eichel-als-Brustwarze enthalten.

54-55

 # 

100)  A.a.O., 100. 
101)  A.a.O., 57, 115.
102)  Auch Personen, die sich heutzutage selbst verstümmeln, erfahren das Fließen von Blut als Milch; vgl. John S. Kafka, The Body as Transitional Object: A Psychoanalytic Study of a Self-Mutilating Patient, in British Journal ofMedical Psychologe 42 (1969), 209. 
103)  Eric J. Dingwall, Male Infibulation, London 1925, 60; und Thorkil Vanggaard, Phallos: A Symbol and its History in the Male World, New York 1969, 89.
104)  Dingwall, Infibulation, 61; Celsus, De Medicina, Bd. 3, übers, v. W. B. Spencer, Cambridge 1938, 25; Augustin Cabanes, The Erotikon, New York 1966, 171; Bryk, Circumcision, 225-227; Soranus, Gynecology, Baltimore 1956, 107; Peter Ucko, Penis Sheaths: A Comparative Study, in Proceedings of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland for 1969, London 1970, 43.
105)  Dingwall, Infibulation, 27, 56-58; Count de Buffon, A Natural History, Bd. 1, übers, v. William Smellie, London 1781, 217.
106)  Paulus Aegineta, The Seven Books of Paulus Aegineta, 3 Bde., übers, v. Francis Adams, London 1844-1847, Bd. 1, 346; Celsus, Medicina, 421. 
107)  Otto J. Brendel, The Scope and Temperament of Erotic Art in the Greco-Roman World, in: Studies in Erotic Art, hg. v. Theodore Bowie und Cornelia V. Christenson, New York 1970, Tafeln 1, 17, 18, 20.

 ^^^^ 

 

 

 

 www.detopia.de