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  Teil 2 - Psychohistorische Theorie 

4  Die Wiederaufführung früher Traumata in Krieg und sozialer Gewalt

»Ein gerechter Krieg für die wahren Interessen des Staates beschleunigt dessen Entwicklung in wenigen Jahren um das, was sonst Jahrzehnte dauern würde, er stimuliert alle gesunden Elemente und unterdrückt heimtückische Gifte.«  -Adolf-Lasson-

 

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In <Mein Kampf> erzählt Adolf Hitler, wie er als 18jähriger 1907 nach Wien zog, wo er sich häufig im Rotlichtviertel herumtrieb und wütend über »Juden und Ausländer« schimpfte, die dieses »ekelhafte, laster­hafte Treiben« anführten, das »unsere unschuldigen jungen blonden Mädchen verdarb« und »Gift« in die Adern Deutschlands injizierte.1) 

Monate, bevor er seine Blutvergiftungswahnvorstellungen weiter ausformulierte, erlebte Hitler mit der jungen Stefanie die einzige romantische Gefühls­verwirrung seiner Jugend.2) Er stellte sich vor, Stefanie wäre in ihn verliebt gewesen (obwohl sie ihn in Wirklichkeit nie kennen lernte), und er meinte, mit ihr telepathisch kommunizieren zu können. 

Er hatte solche Angst, auf sie zuzugehen, dass er Pläne schmiedete, sie zu entführen, umzubringen und danach sich selbst zu richten, um dann im Tode mit ihr vereint zu sein.

Hitler wurde in seiner Kindheit derartig misshandelt — sein Vater schlug ihn regelmäßig »mit der Flusspferd­peitsche«, einmal erduldete er 230 Hiebe mit Vaters Rohrstock, ein anderes Mal brachte ihn die Auspeitschung fast um3) —, sodass er voll Zorn der Welt gegenüber war. 

Als er älter wurde, mischten sich seine sexuellen Regungen mit Rachegefühlen, und er glaubte, sein Sperma wäre giftig und würde eine Frau vergiften, wenn es durch Geschlechtsverkehr in ihren Blutkreis gelangen würde.4)

Hitlers Wut auf die »jüdischen Blutvergifter« war demnach eine Projektion seiner eigenen Ängste davor, selbst ein solcher zu werden. In Wien war er dem etwas freizügigeren Umgang mit Sexualität ausgesetzt, und er hätte ja auch gerne mit Frauen geschlafen, aber er hatte Angst, er würde ihr Blut mit seinem Sperma vergiften. Er war wie besessen von sexuellen Perversionen und sprach ununterbrochen von »entarteten sexuellen Praktiken«.5) 

Er übertrug alsbald seine eigenen perversen, sadomasochistischen Bedürfnisse auf die Juden — »der dunkel­haarige jüdische Junge wartet seit Stunden auf das nichtsahnende Mädchen und trägt dabei den Gesichts­ausdruck satanistischer Lust«6) — und beschuldigte sie schließlich als »Weltblutvergifter«, die »ausländisches Blut in den Körper unseres Volkes einschleusten«.7) 

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Wie bei wahnhaften Erkrankungen üblich, so projizierte auch Hitler seine Ängste vor seiner eigenen vergiftenden Sexualität auf die Juden, was ihm half, einen psychotischen Zusammenbruch zu verhindern und in seinem späteren Leben weiter zu bestehen. In <Mein Kampf> beschrieb er diesen Moment, indem er darstellt, wie »ich die Juden als die kaltherzigen, schamlosen und berechnenden Anführer dieses ekelerregenden Treibens im Sumpf der Großstadt erkannte, ist mir der kalte Schauer über den Rücken gelaufen ... und es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ein langes Ringen hat seinen Abschluss gefunden8) 

Von diesem Moment an wurde Hitler zum professionellen Antisemiten, der Nazi-Ärzte beauftragte, herauszufinden, inwiefern sich jüdisches von arischem Blut unterscheidet, selbst regelmäßig Blutegel an sich ansetzte, damit sein Blut entgiftet würde,9) Reden hielt, die von Blut- und Giftmetaphern durchzogen waren und davon handelten, dass die Juden dem Volk das Blut aussaugen würden, bis er schließlich die Vernichtung aller »Weltblutvergifter« anordnete, was zum schrecklichsten Völkermord und destruktivsten Krieg, den die Menschheit je erlebte, geführt hat.

Der Erfolg von Hitlers Fähigkeit, Antisemitismus zur Aufrechterhaltung seiner eigenen psychischen Stabilität zu benutzen, hing von Millionen von Gefolgsleuten ab, die wie er diese Fantasie eines den europäischen Körper vergiftenden Feindes hatten. Zu dieser Zeit teilten viele in Europa Hitlers Erfahrungen, nämlich in ihrer Kindheit misshandelt worden zu sein,10) und auch die Fantasie, dass die Krankheiten der modernen Welt durch die blutvergiftenden Juden verursacht würden, war weit verbreitet. Man ging davon aus, dass »ein einziger Geschlechtsakt zwischen einem Juden und einer arischen Frau genügen würde, ihr Blut für immer zu vergiften«.11) 

Wenn Hitler diese Blutmetaphern in seinen Reden verwendete und sagte, die Welt wäre ein einziger Kampf zwischen den Völkern, wo »eine Kreatur das Blut der anderen trinkt« und Juden wie Spinnen wären, die »den Menschen das Blut aussaugen«, jubelten ihm Millionen zu, die die gleichen Blutvergiftungsfantasien hatten.12)

 

  Gruppenfantasien von vergiftetem Blut 

Bei der Untersuchung von nationalen Kollektivfantasien, die mit dem Gefühl, Mitglied einer Gruppe zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt zu sein, in Zusammenhang stehen — was ich als historische Gruppenfantasien13) bezeichnet habe —, stieß ich immer wieder auf Bilder von »vergiftetem Blut«, die kurz vor einem Kriegsausbruch oder gewalttätigen Revolutionen auftauchten. In Kriegen stellt man sich den Feind als jemanden vor, der der Nation das Blut aussaugt; in Revolutionen ist der Staat der Blutsauger, so zum Beispiel in den Gruppenfantasien während der Französischen Revolution, als der Staat als »riesige infernale Maschinerie, die die Bürger am Hals packt und ihnen das Blut aussaugt«14, gesehen wurde. 


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Bilder von vergiftetem Blut kehren in der Geschichte regelmäßig wieder. Was ich entdeckt habe, war, dass diese Vorstellungen normalerweise in Verbindung mit Schuldgefühlen aufgrund kurz zuvor durchlebten Wohlstands und Fortschritts auftreten, Dinge, die als »das nationale Blut wegen ihrer sündhaften Exzesse verunreinigend« und Männer »weich« und »feminin« machend empfunden werden, ein fürchterlicher Zustand, der nur durch ein reinigend wirkendes Blutopfer behoben werden kann.15 

Diese Fantasie des wiederkehrenden Blutvergießens durch einen Krieg basiert auf denselben erwarteten Effekten, nämlich reinigend zu wirken, wie Aderlasstherapien, die von Ärzten im 19. Jahrhundert zur Heilung vieler Krankheiten verschrieben wurden, von denen man ebenso glaubte, dass sie durch »Völlerei, Luxus und lustvolle Exzesse«16 verursacht wurden. Ein ranghoher Militär brachte es auf den Punkt, indem er sagte, Krieg sei »eine der großen Agenturen, die die Entwicklung der Menschen beeinflussen. [Er] befreit eine Nation von ihren Launen ... und läutert sie, wie eine Krankheit oder Notlage ... läutert den Einzelnen«; er würde die Menschen befreien von ihrer »Anbetung von Bequemlichkeit, Reichtum und allgemeiner Verweichlichung«.17 

Als Thomas Jefferson von John Adams gefragt wurde, wie man verhindern könne, »dass Luxus Verweichlichung, Vergiftung, Extravaganz, Laster und Torheit bewirkt?«, war Jeffersons Antwort, der Krieg wäre die einzige Heilungsmöglichkeit: »Der Baum der Freiheit muss von Zeit zu Zeit mit dem Blut der Patrioten gestärkt werden.«18 Ähnlich drückte es einmal ein Autor im August des Jahres 1914 aus: »Gottes Fluch hing schwer über einer degenerierten Welt, eine schreckliche Stille und das Gefühl vager Erwartung lagen in der schwülen, bewegungslosen Luft ... [aber] ein saubereres, besseres und stärkeres Land wird im Sonnenschein erstrahlen, wenn der Sturm durchgezogen ist ... eine blutige Säuberungsaktion wäre gut für das Land.«19)

Von Kriegen hat man vielfach angenommen, sie würden das verunreinigte Blut einer Nation kraft eines Opferrituals reinigen, genau wie es bei Menschenopferungsriten in historischen Zeiten üblich war, als geglaubt wurde, das Blut der Geopferten würde alle erneuern. Krieg, so meinten diejenigen, die den blutigen Finnischen Bürgerkrieg vorbereiteten, reinige durch die Opferung von Soldaten auf dem Schlachtfeld von Schuld erzeugender materieller Prosperität: »Die Idee des Opfers durchdringt den Krieg ... die Jugend ... hat die Seele der Nation um Erneuerung schreien gehört, ihr Herzblut, [weil] Nationen ihre Erneuerung aus dem Blut der Gefallenen trinken.«20)

Üblicherweise nahm man an, dass das Blut der Soldaten benötigt würde, um eine maternale Figur zu nähren, entweder Mutter Erde, oder, wie bei den Azteken, eine blutrünstige weibliche Göttergestalt.21 Durch das Füttern der Göttin mit Soldatenblut wurde der Staat erneuert, und der Krieg säuberte den verunreinigten Blutkreislauf der Nation, so als ob eine »Wiedergeburt aus dem Schoß der Geschichte stattfände«, eine »blutige Taufe«, die alle Zügellosigkeit beseitigte.22)


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»Eine Nation ward wiedergeboren, / Regeneriert durch eine zweite Geburt!«, schrieb W. W. Howe nach dem blutigen Amerikanischen Bürgerkrieg.23 Ein anderer Amerikaner meinte über den Ersten Weltkrieg: »Es war, als würde neues Blut in alte Adern gegossen werden.«24

Hier taucht sofort die Frage auf: Woher kommen derartige Ängste vor verunreinigtem Blut? Und was haben sie mit der Geburt zu tun? Antworten auf diese Fragen können aber nur dann überzeugen, wenn im Vorfeld eine andere Fragestellung untersucht wird: Warum wird Krieg so oft als Frau beschrieben?

Gruppenfantasien von gefährlichen Frauen

In den letzten beiden Jahrzehnten sammelte ich als Zeitdokumente Titelseiten von Magazinen und politische Cartoons, die in ihren Abbildungen Vorstellungen von Krieg thematisierten. Einer der am wenigsten erwarteten Befunde bestand darin, dass Krieg so oft als gefährliche, blutrünstige Frau gezeigt wurde.25 Abgesehen von der Tatsache, dass Frauen keine große Rolle, weder in der Entscheidung für einen Krieg noch bei seiner Durchführung, spielten, ist die Darstellung von gefährlichen Frauen so häufig, dass ein Außerirdischer bei einem Besuch auf unserem Planeten fälschlicherweise daraus schließen könnte, das Weibliche wäre das kriegslüsternere Geschlecht. Von Athene bis Freyja, von Marianne bis Brittania sind furchterregende Frauen als Kriegsgöttinnen dargestellt worden,26 verschlingend, vergewaltigend und ihre Kinder zerfetzend. Das Bild ist uns so vertraut, dass wir aufgehört haben zu hinterfragen, warum Frauen so häufig als Anführende eines Krieges gesehen werden anstatt als dessen Opfer, das sie ja in Wirklichkeit sind.

Schon in der Antike, als der Kriegsgott meist männlich war, stellte man sich dessen Mutter als eine vor, die sich auf dem Schlachtfeld herumtrieb und nach Blut verlangte, um ihren unersättlichen Appetit zu stillen.27 Und obwohl es fast immer Männer waren, die die Kriege ausfochten,28 wurde von den Frauen in frühen Gesellschaften erwartet, dass sie das Geschehen von der Seite beobachteten, wie Cheerleader bei einem sportlichen Match, und ihre Kampfschreie kreischten, um jene Krieger, die sich zurückhielten, aus der Fassung zu bringen und zu beleidigen, und ein reichliches Blutschauspiel auf dem Schlachtfeld verlangten.29

   Das Marie-Antoinette-Syndrom und soziale Gewalt 

Die Französische Revolution demonstriert zur Gänze die Rolle der gefährlichen Frau als Fantasie bei sozialer Gewalt, ging ihr doch eine Flut von Abbildungen Marie Antoinettes in Pamphlets und Zeitungen voran, die — eigentlich war sie eine junge Frau mit eher anmutigem Naturell — als sexuell verschlingende, inzestuöse, lesbische, mordende »Blutsaugerin der Franzosen« dargestellt wurde.30) 


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Die Französische Revolution, Terror und Revolutionskriege waren von zunehmend gewalttätigen Fantasien in Bezug auf Marie Antoinette begleitet, die sich auf groteske Darstellungen mit sexuellen Perversitäten konzentrierten, während der König lediglich als impotentes Werkzeug in ihrer Hand gezeigt wurde. Letztlich deklarierte das Tribunal sie, von der Presse angepeitscht, als »gierig schlingendes Biest« und ließ sie köpfen, nachdem sie beschuldigt wurde, eine »nach dem Blut der Franzosen dürstende Tigerin«, ein »die Franzosen verschlingender wilder Panther, das weibliche Monster, das aus ihren Poren reinstes Blut der sans-culotte schwitzte« und ein »den Franzosen das Blut aussaugender Vampir« zu sein.31)

 

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Fig. 4-1 

Die Mutter aller Kriege.

 

(Vergößern durch klicken.)


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Ich habe herausgefunden, dass jedem Krieg, den ich analysiert habe, Gruppenfantasien von monströsen, blutrünstigen Frauen vorangingen. Sogar die populärsten Vorkriegsfilme reflektieren diese Fantasien von gefährlichen Frauen. Der bekannteste und beliebteste Film vor dem Zweiten Weltkrieg war »Der Zauberer von Oz«, der von einer niederträchtigen Hexe und ihrer Ermordung handelt; der zweitwichtigste war »Im Winde verweht«, mit Scarlett als Miststück in der Hauptrolle; und der drittwichtigste war »The Women«, der stolz anpries, 135 gefährliche Frauen zu bringen. »All about Eve« vor Korea und »Cleopatra« vor Vietnam hatten ähnliche gefährliche Frauen in den Hauptrollen, und dem ersten Golfkrieg ging eine ganze Reihe an Filmen über gefährliche Frauen voran, von »Eine verhängnisvolle Affäre« bis »Thelma and Louise«,32) einschließlich einer erfolgreichen TV-Serie mit dem Titel »Dangerous Women«.

Wenn der Krieg ausbricht, verschwinden diese schrecklichen Frauenbilder aus dem Fantasieleben der Nationen. Die Darstellung gefährlicher Frauen wird jetzt in den Feind projiziert, sodass der Krieg unbewusst als Kampf gegen eine Mutterfigur erfahren wird. Als zum Beispiel die Vereinigten Staaten Libyen attackierten, berichtete die New York Post von dem Gerücht, der amerikanische Geheimdienst hätte herausgefunden, Moammar Gadaffi wäre in Wahrheit ein »Transvestit in Frauenkleidern und High Heels«33, sogar ein Foto wurde montiert, um zu zeigen »wie er aussehen würde ... in Frauenkleidung«. Noch häufiger wird der Feind als gefährliche Mutter gezeigt, wie im ersten Golfkrieg, als Saddam Hussein als schwangere, gefährliche Mutter mit einer Nuklearwaffe im Bauch gezeichnet wurde oder als Mutter mit einem toten Kind (siehe Cartoons in Kapitel 2).

Dass gefährliche weibliche Charakteristika im Feind gesehen werden, geht weit in die Antike zurück, wo man in den ersten Kämpfen die Vorstellung hatte, gegen weibliche Monster gefochten zu haben, vielfach die Mutter des Helden, wie auch immer sie geheißen haben mag — Tiamat, Ishtar, Inanna, Isis oder Kali.34 Bezeichnend ist die aztekische Muttergöttin Huitzilopochtli, die »am ganzen Körper Mundöffnungen« hatte, die danach schrieen, mit Blut von Kämpfern gefüttert zu werden.35 

Um vollwertigen Status zu erlangen, mussten frühe indoeuropäische Krieger Initiationsrituale durchlaufen, bei denen sie eine monströse Puppe in Form einer weiblichen Giftschlange, ausgestattet mit drei Köpfen, attackierten.36 Obwohl die Krieger gegen Männer, nicht gegen Frauen, kämpften, kastrierten sie vielfach ihre Feinde und verwandelten sie symbolisch in Frauen; von alten nordischen bis zu den ägyptischen Gesellschaften wurden üblicherweise Haufen mit den Penissen der Feinde am Schlachtfeld abgebildet.37

Vergewaltigung scheint einer der mächtigsten Motivationsfaktoren für Krieg zu sein; nach dem weltbesten Kriegshistoriker ist die »Gelegenheit, sich an Massenvergewaltigungen zu beteiligen, nicht nur eine Belohnung für die Erfolgreichen, sondern, aus der Sicht des Soldaten, eines der Kardinalziele, für die er kämpfte«.38) 


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In vielen Kriegen wurden mehr Frauen vergewaltigt und ermordet als feindliche Soldaten. Krieg ist immer gerechte Vergewaltigung, es wird Rache an der bösen Mutter geübt, man kann sie herumstoßen, schlagen, sie vom Podest stürzen und ihr eine Lektion erteilen. Dabei ist der Held beides zugleich: ein Selbstmörder, der projizierte eigene Anteile bestraft, und ein Muttermörder, der Rache für frühe Traumata übt.39)  

Nun, obwohl wir jetzt verstehen, dass in Kriegen sowohl das eigene Land als auch der Feind ultimativ die Mutter verkörpern, bleibt die Frage: Was könnte die frühkindliche Ursache der Fantasien vom Feind als einem giftigen, blutsaugenden Monster sein? Warum fühlten sich die Amerikaner vor ihrem Revolutionskrieg von »Mutter England vergiftet« und fochten einen blutigen Krieg wegen einer belanglosen Steuer aus? Warum fürchtete Hitler »blutsaugende Juden und Ausländer«, und warum zogen Aztekenkrieger in den Kampf, um eine monströse Muttergottheit mit Blut zu nähren? Oder mehr auf die Gegenwart bezogen: Warum fürchteten sich Amerikaner so lange davor, ihr »nationales Lebensblut« würde durch Kommunisten vergiftet? Warum haben heute so viele das Gefühl, die Regierung und die Empfänger von Sozialhilfe würden ihnen ihr Blut aussaugen? Bilder von verschlingenden Feinden sind allgegenwärtig in der Geschichte. Mit Sicherheit wurde unser Blut in der Vergangenheit nicht wirklich vergiftet oder von einem maternalen Monster aufgesaugt. Oder doch?

 

Krieg und fötales Drama

 

Wie in meinem Buch <Foundations of Psychohistory> beschrieben,40) war ich nach erstem Sammeln von emotionalen Bildern rund um Kriegsausbrüche erstaunt über die wiederkehrenden Behauptungen der Aggressoren, dass sie gegen ihren Willen dazu gezwungen worden wären, in den Krieg zu ziehen, weil ihnen »plötzlich ein Netz über den Kopf geworfen wurde« oder ein »eiserner Ring sie immer enger umschloss«, oder man »an der Gurgel gepackt und stranguliert« wurde. 

Hunderte dieser Bilder und Vorstellungen von Nationen, die von Kriegen gewürgt und stranguliert wurden, habe ich angehäuft: »unfähig, Luft zu holen«, »erstickt, umringt«, »unfähig, den unerträglichen Druck zu lindern«; eine Welt, »schwanger mit Ereignissen«, gefolgt von dem Gefühl, »am Körper gepackt zu werden«, in einem »unausweichlichen Abgleiten« in Richtung Krieg, beginnend mit einem »Platzen von diplomatischen Bemühungen« und einem »Fall in den Abgrund«, wo man »unfähig, das Licht am Ende des Tunnels zu sehen«, ist, und die Nation den finalen »Sprung über die Klippen wagt«. Kriege wurden sogar »abgetrieben«, wenn sie zu früh endeten. Aus der gegebenen Konkretheit all dieser Geburtsfantasien schloss ich, dass Krieg eine Wiedergeburtsfantasie von enormer Kraft war, der sich Nationen durch eine tiefe Regression in fötale Traumata unterzogen.

Krieg wird schon lange in Bildern von Schwangerschaft beschrieben: »Krieg entwickelt sich im Mutterleib der Staatspolitik; seine Grundsätze liegen da verborgen, so wie die besondere Charakteristik des Individuums im Embryo« (Clausewitz); »Deutschland ist nie glücklicher als in der Schwangerschaft mit Krieg« (Sprichwort).41)


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Kriege werden als Überlebenskämpfe um »Atemraum« und »Lebensraum« empfunden, als ob eines der Traumata, die von Nationen wiedererlebt werden, der wachsende Mangel an Raum und Sauerstoff wäre, wie bei Föten unmittelbar vor und während der Geburt. Vor Kriegen werden Nationen paranoid, und sie haben das Gefühl, Gewalt ergreifen zu müssen, um dem zu entgehen, was sich wie eine würgende Gebärmutter oder der Geburtskanal anfühlt. Kanzler Theodor Bethmann-Hollweg zum Beispiel teilte dem Reichstag bei der Kriegserklärung 1914 mit, dass Deutschland von Feinden umgeben wäre, und »derjenige, der so wie wir bedroht wird und der für sein höchstes Gut kämpft, kann nur darüber nachdenken, wie er seinen Weg frei schlägt«.42 Auch Hitler wiederholte immer und immer wieder, nur eine »Wiedergeburt« durch Gewalt könne verhindern, »erwürgt oder vernichtet«43 zu werden.

 

Nun, die Vorstellung, Krieg könnte als Kampf gegen eine gefährliche Mutter gesehen werden, ist schon schwer genug anzunehmen. Dass darin auch Fantasien darüber, sich seinen Weg aus der drohenden Erwürgung bei der eigenen Geburt zu schlagen, enthalten sind, ist noch viel schwieriger zu akzeptieren. Aber die Entdeckung, die ich nach einer Durchsicht der Bilder im Vorfeld von Kriegen machte, erschien wie der letzte Schritt ins Unglaubliche, nämlich die Enthüllung einer Tiefe von Regression vor Kriegen, die größer ist als alles, worüber in der psychologischen Literatur je nachgedacht wurde. Immerhin war es eine Entdeckung, die zum ersten Mal die scheinbar wahren Hintergründe der Bilder von vergiftetem Blut zu erklären vermochte.

Ich fand heraus, dass die Cartoons von Kriegsfeinden, frühere wie heutige, von einem Bild dominiert wurden, dass noch verbreiteter war, als das von der gefährlichen Mutter: Es war das einer Meeresbestie, oftmals mit vielen Köpfen und Armen dargestellt, ein Drache, eine Hydra, eine große und giftige Schlange oder ein Oktopus, der der Nation drohte, ihr Blut zu vergiften. Die ersten Kulturen glaubten, die Bestie sei ein Drache und assoziierten mit ihm Wasserhöhlen oder Seen; moderne Kriege zeigen das Monster als blutsaugenden, vielköpfigen Feind. Tatsächlich leitet sich das Wort Drache vom griechischen Wortstamm für »Gebärmutter« ab, und die Nabelschnur, die Pythonschlange, saß auf dem griechischen Stein omphalos, dem Nabel der Erde.44 

Dieses schlangenartige, giftige Drachenmonster bezeichnete ich als Giftige Plazenta (die Großschreibung würdigt den Begriff als Prototyp für Gott und Nation), zumal große Ähnlichkeit damit zu bestehen scheint, wie eine echte Plazenta vom wachsenden Fötus empfunden wird, speziell wenn die Plazenta in der Erfüllung ihrer Aufgaben, das fötale Blut von Verschmutzungen zu reinigen und es wieder mit Sauerstoff aufzufüllen, versagt. Wenn das von der Plazenta zum Fötus kommende Blut hellrot und voller Nährstoffe und Sauerstoff ist, ist es für den Fötus, als würde er von einer Nährenden Plazenta gefüttert, aber wenn die Mutter raucht, Drogen nimmt, verletzt ist oder Angst hat, entfernt die Plazenta die Giftstoffe nicht aus dem fötalen Blut, das folglich verunreinigt und ohne Sauerstoff ist.


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Unter diesen stressvollen Bedingungen erlebt der hilflose Fötus eine erstickende Giftige Plazenta, das Urbild für alle späteren Hassbeziehungen, inklusive der mordenden Mutter, des kastrierenden Vaters und der gefährlichen Feinde. Es ist sogar wahrscheinlich, dass der Fötus, so wie Ödipus, dies wie einen Kampf mit einem gefährlichen Biest (Sphinx bedeutet im Griechischen »Würger«) empfindet, um die Verbindung zur Nährenden Plazenta wiederherzustellen. Dieser Kampf, welchen ich als fötales Drama bezeichnete, wiederholt sich in der Inszenierung von Tod und Wiedergeburt bei traumatischen Kriegsschlachten und anderen sozialen Gewalttaten.

    

Fig. 4-2 
Krieg als Kampf 
mit der Giftigen Plazenta.

 


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Die kosmische Schlacht mit der Giftigen Plazenta, in der wir das fötale Drama vom verlorenen Paradies wiederholen, in der wir in den Strudel und den zermalmenden Druck der Geburt gezogen werden und den plazentaren Drachen bekämpfen, ist bei einer Comicfigur anschaulich darstellbar, nämlich bei Conan dem Barbaren, obwohl ich dazu auch Bilder und Texte aus altertümlichen Mythen von Kämpfen mit Seeungeheuern, etwa Tiamat, Rahab, Behemoth, Humbaba, Apophis, Hydra, Gorgon oder Typhon, hätte nehmen können.45 

In dieser Comicbuchversion wird erst ein verstoßenes Kind gezeigt, das seine nasse Geburtsstrecke zwischen den Schädel zermalmenden Knochen beginnt, nach dem Platzen der Fruchtblase in den Strudel der Geburt gezogen wird und dann von der Giftigen Plazenta gewürgt wird, ein schwarzes Seeungeheuer, das es zu ersticken versucht. Der Held, man muss ihn sich als eine kräftige Version des Fötus vorstellen, kämpft mit der Giftigen Plazenta und befreit den Fötus, der sich an Land rettet. Die letzte Tafel zeigt das Ziel, jedoch ist dies nicht die Geburt, nicht das Erreichen von Land, sondern die Wiedervereinigung mit der Plazenta. Dass es sich dabei um die Nährende und nicht die Giftige Plazenta handelt, die das Baby im Arm hält, geht in der Darstellung daraus hervor, dass das Seeungeheuer jetzt weiß und nicht schwarz ist.

In den meisten Kulturen wird angenommen, dass die Plazenta nach der Entbindung sehr lebendig ist; man hält sie für so gefährlich für die Gemeinschaft, dass, würde man sie nicht irgendwo in einem tiefen Loch vergraben, der ganze Stamm davon krank werden könnte.46 Bis in moderne Zeiten glaubte man, die Gebärmutter wäre ähnlich einem Biest in der Lage, sich im Körper der Frau zu bewegen, manchmal in ihrem Hals zu wohnen und Erstickungsanfälle zu verursachen.47 In Cartoons wird die Plazenta normalerweise als weibliches Seeungeheuer gezeigt — das Jungianer die Drachenmutter nennen48 —, welches unschuldige Leute verzehrt. In vielen frühen Kulturen gab es Vorstellungen von verschlingenden Drachen, die Stammeseingeführte durch Wiederausspeien »wiedergebären«.

Sicher ist, dass ein umfassendes Verstehen dieser in Plazenta-Vorstellungen wurzelnden Bilder von »vergiftetem Blut« und der fötalen Herkunft von Krieg und sozialer Gewalt erst möglich sein wird, wenn wir die Psychologie von gefährlichen Gebärmüttern, Giftigen Plazentas und erstickenden Geburten genauer erforscht haben — das bedeutet auch, die Psychologie und Neurobiologie von fötalem Leben besser zu verstehen.

 

Die Ursprünge der Fötalpsychologie

 

Nachdem Freud zuerst vorschlug, geistiges Leben würde nach der Geburt beginnen, gestand er später ein, zur der Ansicht gekommen zu sein, er hätte Unrecht gehabt, indem er sagte: »Der Geburtsakt ist das erste Angsterlebnis.«49) 


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Obwohl fast alle anderen Psychoanalytiker glaubten, geistiges Leben würde mit dem Säuglingsalter beginnen, gab es eine Reihe von Ausnahmen, angefangen mit Otto Ranks »Das Trauma der Geburt« von 1923,50) wodurch mit Untersuchungen zur Geburtsangst in Leben und Kultur von Erwachsenen begonnen wurde

Nach Rank schrieb Donald Winnicott in den frühen 1940igern eine Arbeit über »Geburtserinnerungen, Geburtstrauma und Angst«,51) die jedoch wenig Beachtung fand. Er hielt fest: »Man findet selten Arzte, die davon ausgehen, dass die Erfahrung der Geburt wichtig für das Baby wäre, dass es irgend eine Bedeutung für die emotionale Entwicklung des Individuums hätte und dass Gedächtnisspuren dieser Erfahrung andauern könnten und Anlass für Probleme auch noch beim Erwachsenen geben würden«. 

Schon als er noch Kinderarzt war, sah Winnicott, dass Neugeborene sich enorm unterscheiden und sich in die Länge ziehende Geburten traumatisch auf den Fötus auswirken könnten, resultierend in extreme Angst — so groß, dass er dachte, »manche Babys werden paranoid geboren, damit meine ich in einem Zustand eines zu erwartenden Verfolgungswahns«.52) Er konnte daraus bereits schließen, dass »während der gesamten Zeit schon ein menschliches Wesen da im Mutterleib ist, fähig, Erfahrungen zu machen und Erinnerungen zu akkumulieren und sogar Abwehrmaßnahmen zu organisieren, um mit den Traumata umzugehen«. 

Manchmal erlaubte er seinen Kinderpatienten, die Geburtsangst direkt zu durchlaufen, indem er ein Kind auf seinen Schoß nahm und dieses »unter meinen Mantel kroch, sich umdrehte und kopfüber zwischen den Beinen hindurch auf den Boden glitt; das wiederholte es immer wieder ... Nach diesen Erfahrungen war ich soweit, davon auszugehen, dass Erinnerungsspuren der Geburt andauern«.53 Er ermutigte einige erwachsene Patienten dazu, Atemschwankungen, das Zusammenziehen des Körpers, den Druck auf den Kopf, krampfartige Bewegungen und die Angst vor Vernichtung, die man während des Geburtsvorganges erfährt, wiederzuerleben, und erzielte damit spannende therapeutische Erfolge.54)

Nach Winnicott publizierten Psychotherapeuten wie Fodor, Mott, Raskovsky, Janov, Grof, Verny, Fedor-Freyberg, Janus u.a. umfassende Arbeiten, welche zeigten, wie deren Patienten während der Therapie das Geburtstrauma erneut durchlebten und dadurch bedeutende Blockaden in deren emotionalen Leben beseitigt werden konnten.55) Diese traumatischen Geburtsempfindungen — eingeschlossen zu sein, zermalmender Druck auf den Kopf, Herzrasen, in einen Strudel gezogen zu werden oder von furcht erregenden Monstern verschluckt zu werden, explosive Vulkane und Tod/Wiedergeburtskämpfe — erscheinen regelmäßig in 60 Prozent unserer Träume, die offenkundig prä- und perinatale Bilder enthalten.56) 

Eines der vielleicht wichtigsten Ergebnisse klinischer Forschung von Therapeuten über perinatales Trauma — besonders in den Arbeiten von Lynda Share57) — ist, dass ein frühkindliches Trauma regelmäßig eine überwältigende Angst vor der Weiterentwicklung im Leben hervorruft. Es ist, als ob der Fötus zu dem Schluss kommt: »Im Leben voran zu schreiten führt zu einem Desaster, ich muss mein ganzes Leben <ungeboren> bleiben, um eine Wiederholung des schrecklichen Anfangs zu vermeiden.« 


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Es hat sich herausgestellt, dass Föten, die unter Verletzungen im Mutterleib oder Komplikationen bei der Geburt leiden, Frühgeburten und Neugeborene mit allen anderen möglichen schwierigen medizinischen Umständen den Rest ihres Lebens in Angst vor jedem Wachstum und jeder Individualisierung verleben.58)

 

Forschung über das fötale Gedächtnis

Es hat sich in den letzten Jahrzehnten vieles in unserem Wissen über den Fötus geändert, seitdem Pioniere erste Forschungen in der perinatalen Psychologie betrieben haben. Neurobiologen erzielten überraschende Fortschritte im Verständnis darüber, wie sich das Gehirn im Mutterleib entwickelt, die Experimentalpsychologie fand viel über fötales Lernen heraus, Kinderärzte verbanden alle möglichen späteren Probleme mit fötaler Not, und ein Psychoanalytiker begann sogar damit, tausende Stunden von Ultraschallbeobachtungen einzelner Föten mit deren Problemen während der Kindheit in ihrer Therapie zu vergleichen. Es gibt mittlerweile tausende Bücher und Beiträge zu diesem Thema, und es gibt zwei internationale Gesellschaften zu prä- und perinataler Psychologie mit ihren jeweils eigenen Journalen.59)

Ich kann hier nur einige der wichtigsten Trends dieser jüngsten umfassenden Forschungen zusammenfassen.

 

Biologen dachten, Föten hätten eine unfertige Myelinisierung der Neuronen und könnten daher keine Erinnerungen haben.60) Diese Vorstellung wurde widerlegt.61) Vielmehr fand man heraus, dass der Fötus, weit davon entfernt, ein nicht fühlendes Wesen zu sein, äußerst fein auf seine Umgebung reagiert, und dass unsere ersten Gefühle in unserem frühen emotionalen Gedächtnissystem abgespeichert werden, das im Zentrum der Amygdala liegt, dem zentralen Angstsystem, ganz im Unterschied zum Deklarativen (Expliziten) Gedächtnissystem im Zentrum des Hippocampus, dem Zentrum des Bewusstseins, welches erst spät in der Kindheit voll funktionsfähig wird.62)

Das fötale Nervensystem ist gegen Ende des ersten Trimesters so gut entwickelt, dass es auf die Berührung der Handfläche mit einem feinen Haar mit Zugreifen, der Lippen mit Saugen, und der Augenlider mit Blinzeln reagiert.63 Der Fötus hüpft, wenn von der Nadel der Fruchtwasseruntersuchung berührt, und wendet sich vom Licht ab, wenn der Arzt ein hell leuchtendes Fötoskop einführt.64 Im zweiten Trimester kann der Fötus nicht nur sehen und hören, sondern tastet auch aktiv, fühlt, erkundet und lernt von seiner Umgebung, schwimmt im einen Moment friedlich, dann wieder heftig tretend, schlägt Saltos, uriniert, ergreift seine Nabelschnur, wenn er sich ängstigt, strampelt und tritt gegen die Plazenta, veranstaltet kleine Boxspiele mit seinem Pendant, wenn es Zwillinge sind, und reagiert auf Berührungen oder Stimmen durch den Unterleib der Mutter.65 Jeder Fötus entwickelt seine eigenen Aktivitätsmuster, sodass Ultraschalltechniker rasch lernen, jeden Fötus als eigene Persönlichkeit zu erkennen.66)


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Emotionale Reaktionen auf fötalen Stress

Zusätzlich zu dem, was wir über die verheerenden Folgen durch die Einwirkung von Drogen und Alkohol auf den Fötus wissen,67 besitzen wir jetzt bedeutende Belege dafür, wie maternaler Stress und andere Gefühle auf den Fötus übertragen werden. Der Fötus, so fand man heraus, reagiert sensibel auf eine große Anzahl von maternalen Emotionen, zusätzlich zu jeglicher Droge, die die Mutter einnimmt, oder physischen Traumata, welche die Mutter erleidet.68)

Wenn die Mutter Angst verspürt, werden ihre erhöhte Herzfrequenz, ihr schreckhaftes Sprechen und die Änderungen der Neurotransmitterniveaus unmittelbar an den Fötus weitergeleitet, und ihrem Herzjagen folgt binnen Sekunden das des Fötus; wenn sie Angst hat, kann der Fötus innerhalb von 50 Sekunden unter Sauerstoffunterversorgung leiden. Bei schwangeren Affen, durch simulierte Angriffe gestresst, wurde die Blutversorgung zur Gebärmutter derart beeinträchtigt, dass die Föten schwere Erstickungserscheinungen aufwiesen.69 

Auch Veränderungen der Niveaus von Adrenalin, Epinephrinplasma und Norepinephrin, hohe Konzentration von Hydroxycorticosteroiden, Hyperventilation und viele andere Folgen maternaler Angst kennt man als direkt den menschlichen Fötus beeinflussend. Zahlreiche andere Studien dokumentieren sensorische, hormonelle und biochemische Mechanismen, durch die der Fötus mit den Gefühlen der Mutter und der Außenwelt kommuniziert.70) An Babyaffen sah man, dass sie nach der Geburt hyperaktiv waren und höhere Konzentrationen des Stresshormons Cortisol aufwiesen, wenn die Mutter während der Schwangerschaft experimentell gestresst worden war.71)

Es zeigte sich, dass maternale Stress- und Angstzustände niedrige Geburtsgewichte, höhere Geburten­sterb­lich­keit, Atemwegsinfektionen, Asthma und eine verminderte Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten verursachen.72) Eine Studie über 120 ungewollte schwedische Babies zeigte, dass diese aggressiver waren, von Altersgenossen stärker abgelehnt wurden, niedrigere akademische Leistungen erbrachten, hyperaktiv waren und eine dreimal höhere Kriminalisierungsrate aufwiesen als Babies, die »gewollt waren«.73) 

Ultraschallstudien erkennen die fötale Not klar, wenn der Fötus sich in Schmerzen während der Hypoxämie und anderen Zuständen herumwirft und um sich tritt. Eine Mutter, deren Ehemann ihr gerade verbal Gewalt angedroht hatte, kam in eine Arztpraxis mit einem, was auch für sie schmerzhaft war, sich derartig heftig herumwerfenden und um sich tretenden Fötus, dessen Herzschlagfrequenz erhöht war und über Stunden blieb.74) Das gleiche wilde Sichherumwerfen von Föten konnte bei Müttern beobachtet werden, deren Partner plötzlich verstarben. Maternale Angst kann tatsächlich den Tod des Fötus verursachen.75) Ehezwietracht korreliert »mit fast 100-prozentiger Sicherheit... mit Kindersterblichkeit in Form von schlechter Gesundheit, neurologischer Dysfunktion, zurückgebliebener Entwicklung und Verhaltens­störungen«.76) 


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Margaret Fries leitete eine über 40 Jahre dauernde Langzeitstudie, die bei den Untersuchten lebenslang konstant bleibende emotionale Muster vorhersagt, so man diese mit der Einstellung zum Fötus während der Schwangerschaft verbunden sieht.77) Maternaler emotionaler Stress, Ablehnung des Fötus und fötale Not sind in verschiedenen Studien statistisch mit Frühgeburten, niedrigen Geburtsgewichten, höherer Unausgewogenheit von Neurotransmittern, stärkerem infantilen Klammern, höherer Kindheits­psycho­pathologie, häufigerer physischer Erkrankung, höherer Rate an Schizophrenie, niedrigeren Intelligenzquotienten in der Kindheit, größerem Misserfolg in der Schule, höherer Kriminalität, einer größeren Neigung zum Suchtmittelkonsum im Erwachsenenalter, der Ausübung von Gewaltdelikten und der Begehung von Selbstmord in Verbindung gebracht worden.78) 

Der Anstieg sozialer Gewalt durch prä- und perinatale Umstände wurde von einer wichtigen dänischen Studie bestätigt, die zeigt, dass Buben von Müttern, die diese nicht haben wollten (25 Prozent der schwangeren Mütter geben zu, ihre Babys nicht zu wollen)79 und die auch Komplikationen bei der Geburt erleben, mit viermal höherer Wahrscheinlichkeit als Jugendliche gewalttätige kriminelle Taten verüben als Kontrollgruppen.80) Amerikanische Studien zeigen ähnlich höhere Kriminalität bei maternaler Ablehnung während der Schwangerschaft.81)  

 

Die Realität fötaler Gedächtnisleistung

Eine wachsende Anzahl von Studien wie auch experimenteller und klinischer Daten belegt, dass das fötale Erinnerungsvermögen nicht nur ausreichend ausgebildet ist, um im Mutterleib zu lernen, sondern auch, um sich an pränatale Erfahrungen und die Geburt zu erinnern. Neugeborene erinnern sich an pränatal gelernte Wiegenlieder82) und können die Stimme der Mutter aus anderen weiblichen Stimmen heraushören und unterschiedlich (beispielsweise durch gesteigertes Tempo beim Saugen am Schnuller) auf vertraute Melodien reagieren, die sie bereits im Uterus gehört haben.83) 

Als Beweis eines noch komplexeren Gedächtnisses ließ DeCasper sechzehn schwangere Mütter entweder The Cat in the Hat oder ein zweites Gedicht mit einem anderen Versmaß sechs Wochen vor der Entbindung ihren Föten zweimal täglich vorlesen.84 Als die Babys geboren waren, verband er die Schnuller mit einem Mechanismus, der ihnen erlaubte, durch schnelleres oder langsameres Saugen zwischen zwei Tonbandaufnahmen zu wählen, nämlich zwischen der Aufnahme, bei der die Mutter das vertraute Gedicht, und jener, wo sie ein unbekanntes Gedicht, vorlas. Bald hörten die Babys das Band mit dem vertrauten Gedicht, was darauf hinweist, dass sie die Aufgabe, sich an komplexe Sprachmuster zu erinnern, die sie im Uterus gelernt hatten, gemeistert haben. 

Chamberlain fasst seine ausführliche Arbeit über Geburtserinnerungen, die er als verlässlich ansieht, wenn er sie mit den Erinnerungen der Mutter und den Krankenhausaufzeichnungen vergleicht, zusammen: »Sie veranschaulichen dasselbe klare Bewusstsein von Gewalt, Gefahr und Vertrauensbruch, das auch wir Erwachsene in ähnlichen Situationen zeigen würden. ... Sogar Dreijährige haben manchmal explizite und akkurate Geburtserinnerungen.«85)


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Erkenntnisse aus der Ultraschallforschung

Die wahrscheinlich beeindruckendste Studie über die Persönlichkeit des Fötus wurde von der italienischen Psychoanalytikerin Alessandra Piontelli erstellt, die tausende Stunden von Ultraschalluntersuchungen mit klinischer psychoanalytischer Arbeit an Kleinkindern verglich. Sie begann ihre Forschung über perinatale Erinnerungen, als sie auf ein 18 Monate altes Kind stieß, von dem die sensiblen Eltern berichteten, es wäre unablässig ruhelos und könnte nicht schlafen:

Ich bemerkte, dass er sich unaufhörlich bewegte, wie besessen von einer Suche nach etwas in jedem Winkel meiner kleinen Praxis, auf der Suche nach etwas, das er nie zu finden in der Lage sein würde. Seine Eltern meinten, er würde das die ganze Zeit tun, Tag und Nacht. Ab und zu versuchte Jacob, einige Gegenstände in meinem Zimmer zu schütteln, als ob er versuchen wollte, sie wiederzubeleben. Seine Eltern sagten mir, dass jeder Meilenstein in seiner Entwicklung (wie Aufsetzen, Krabbeln, Gehen oder erste Worte) von einer intensiven Angst und Schmerz begleitet waren, als ob er Angst davor hatte, so formulierten sie, <etwas zurück zu lassen>. 

Als ich ganz einfach zu ihm sagte, dass er anscheinend etwas suche, was er verloren hätte und nicht mehr finden könne, schaute er mich gespannt an. Dann kommentierte ich seine Versuche, die Dinge lebendig zu schütteln, als ob er Angst hätte, ihre Starre bedeute den Tod. Seine Eltern brachen beinahe in Tränen aus und erzählten mir, dass Jacob eigentlich ein Zwilling sei, aber dass sein Gegenüber, Tino, wie sie ihn schon genannt hatten, zwei Wochen vor der Geburt verstarb. Jacob hat demnach zwei Wochen mit seinem konsequent nicht reagierenden Zwillingsbruder im Uterus verbracht.86)

Das Ansprechen seiner Ängste, dass jeder Schritt nach vorne in seiner Entwicklung vom Tod von jemanden, den man gerne hat und für den man sich verantwortlich fühlt, begleitet sein könnte, »bewirkte eine unglaubliche Veränderung seines Verhaltens«, sagte Piontelli.

 

Die Giftige Plazenta

Bis zur Geburt hat der Fötus natürlich nie eine »Mutter« getroffen, nur eine Gebärmutter, eine Plazenta und eine Nabelschnur. Piontellis Ultraschallstudien enthüllen die komplexe Beziehung zwischen dem Fötus und seinen »ersten Objekten.« Föten streicheln und erkunden die Plazenta vor ihnen immer wieder und greifen zur Beruhigung nach der Nabelschnur, wenn sie gestresst werden. Ihr Verhalten der Plazenta und der Nabelschnur gegenüber korreliert mit späteren Verhaltensmustern in ihrer Kindheit, wenn Piontelli zum Beispiel beobachtet, wie ein Fötus in der Gebärmutter die Plazenta als Kopfkissen benutzt, und man sieht, wie er »sich in die Plazenta hineingräbt ... als ob sie ein Kissen wäre«, sie alsdann bemerkt, wie er nach der Geburt Schwierigkeiten hat, an der Brust der Mutter zu saugen und sie stattdessen lieber als Kissen verwendet: »Er saugt nicht... er lehnt sich dagegen ... obwohl es ja kein Kissen ist!«87


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Offenkundig mit der Plazenta in Verbindung gebrachte Vorstellungen finden Kliniker häufig bei Patienten in tiefer Regression, die vielfach blutsaugende Monster halluzinieren, welche sie verfolgen. Die meisten dieser Monsterphobien lösen extreme Ängste aus, die Patienten fürchten blutsaugende Spinnen, Vampire, Oktopusse, Medusen oder Sphinxe.88 Es macht einfach keinen Sinn, diese blutsaugenden Biester und Spinnen »phallische Mütter« zu nennen, wie das Freud und Abraham taten,89 zumal sie von nabelschnurartigen Fäden begleitet werden.90) Der Vampir als blutsaugende Frau ist eine andere weit verbreitete Fantasie von Patienten.

 

Das fötale Drama in der Geschichte

Wie auch immer sie maskiert sein mögen, die Giftige Plazenta und der Leidende Fötus sind die wichtigsten Bilder des fötalen Dramas, und die Wiederaufführung ihrer gewaltsamen Begegnung ist eine zentrale religiöse und politische Aufgabe der Gesellschaft. Ich weise darauf hin, dass dieser Kampf mit dem verfolgenden plazentaren Biest die ersten Gründe für Krieg und soziale Gewalt darstellt, Traumata, die regelmäßig wegen des neurobiologischen Imperativs der jungen Gehirnentwicklung wiederaufgeführt werden. Das Zentrum der Gesellschaft ist dort, wo das fötale Drama aufgeführt wird — wie Delphi wird es oft als »Nabel der Welt« bezeichnet und mit der Anbetung des plazentaren Weltbaumes assoziiert.91 Die Evolution der Gesellschaft schreitet als fötales Drama von Stammesgesellschaften zu Königreichen und zu Nationen voran und wird mit einer größer und größer werdenden Anzahl von Personen beladen, die durch Opferrituale emotional eingestimmt werden.

Gruppenfantasien von vergiftetem Blut verbreiten sich speziell nach Perioden des Fortschritts und der Prosperität. In Perioden apokalyptischer Jahrtausendwechsel sind sie besonders allgegenwärtig. Traditionelle Historiker machen für diese apokalyptischen Fantasien, wie das periodische »Große Erwachen« in Amerika92) oder die Milleniumsbewegungen in England,93) »kollektiven Stress« verantwortlich.94 Das Problem ist, dass diese Bewegungen immer nach Perioden des Fortschritts, des Friedens und der Prosperität auftreten. In Wirklichkeit sind jene Dinge, die man fürchtet und uns in tiefste Regression führen, Wachstum und neue Herausforderungen, ein Wachstum, das die Wiederholung früher Traumata gefährdet.

Alte Gesellschaften glaubten, dass dem Universum wegen der wachsenden Verschmutzung immer wieder die Gefahr drohe, in uranfänglichen Wassern zu versinken, und die Welt untergehen würde, sollte nicht ein Krieg zwischen einem Helden und einem erstickenden Seeungeheuer ausgefochten werden.95 Der Sinn des Krieges und alles anderen opferartigen Blutvergießens lag, sagt Frazer, »im Untermauern der Gezeiten des Lebens durch einen Strom von Blut, der stagnieren und in den Adern der Gottheiten schal werden könnte«.96 Wir setzen diesen Glauben weiter bis in moderne Zeiten herauf fort — wie das Kapital 6 dokumentieren wird, haben die meisten Nationen ihr reinigendes Kriegsritual viermal pro Jahrhundert wiederholt, seit durch historische Zeugnisse belegt.97


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Die Neurobiologie früher Traumata

Die neurobiologischen Auswirkungen von Trauma und Verwahrlosung — sowohl pränatal als auch während der Kindheit — und der Zwang, frühe traumatische Gewalt zu wiederholen und sie anderen wie sich selbst aufzubürden, können ziemlich gut durch die erst kürzlich erzielten Fortschritte der Neurowissenschaft verständlich gemacht werden. Unausweichliche Gefahren und unerträglicher Stress veranlassen das Gehirn zu massiven Absonderungen und einer späteren Verringerung von verschiedenen Neurotransmittern, einschließlich Noradrenalin, Dopamin und Serotonin, die zu Hypervigilanz, explosivem Zorn und übertriebener Empfindlichkeit gegenüber ähnlichen Ereignissen in der Zukunft führen, die so erlebt werden, als wären sie genau so gefährlich wie der frühere Vorfall. 98) 

Dazu kommt, dass Hormone — speziell Kortison —, die das Gehirn im Angesicht der Bedrohung überfluten, toxisch auf Zellen im Hippocampus wirken, dem Teil des Gehirns, der das Zentrum des neuralen Systems für das Bewusstsein darstellt, und dort effektiv Neuronen töten und die Größe des Hippocampus reduzieren, was die Modifikation früher Traumata fast unmöglich macht.99 Ohne Erinnerungsfähigkeit und die Möglichkeit, frühe Traumata durch neue Erfahrungen zu modifizieren, fährt das Gehirn damit fort, normalen Stress als Wiederkehr von traumatischen Ereignissen zu interpretieren, auch wenn das eigentliche Trauma schon lange zu Ende ist.

Speziell frühe fötale und infantile Traumata zeigen paranoide Folgen. Der Grund dafür ist, dass der Hippocampus bis zum dritten oder vierten Lebensjahr ziemlich unfertig ist und deshalb das frühe Trauma im emotionalen Gedächtnissystem verschlüsselt liegt, tief in der Amygdala, und sich besonders zum präfrontalen Kortex hin erstreckt, dem Zentrum der Emotionen100 — Erinnerungen, die als »unzugänglich für ihre Löschung« beschrieben wurden.101 Frühe Traumata bewirken angsterfüllte Erinnerungen, die, lange nachdem die Erinnerung an das traumatische Erlebnis selbst schon vergessen worden ist, für den Rest des Lebens einflussreich bleiben.102

 

Kultur und Geschichte als homöostatische Mechanismen

Die soziale Wiederaufführung von frühen Traumata und Verwahrlosung, von beschädigten neuronalen und hormonellen Systemen vorherbestimmt, ist somit ein homöostatischer Mechanismus des Gehirns, den Gruppen durch Kriege, ökonomische Dominanz und soziale Gewalt leisten. Jeder von uns konstruiert ein separates neurales System für diese frühen Traumata und ihre Abwehr — ein dissoziiertes System der Persönlichkeit, das diese frühen fötalen, infantilen und kindheitlichen Traumata im Zuge unseres Aufwachsens abspeichert, abwehrt und ausarbeitet. 


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Ist dieses Grundkonzept einmal realisiert, wird die ganze Rationalisierung der Geschichte transparent. Wenn zum Beispiel die Deutschen sagen, dass sie den Zweiten Weltkrieg beginnen mussten, um »Rache für den Tag der Schande« zu üben, kann man den scheinbaren Verweis (den Vertrag von Versailles) ignorieren und stattdessen den realen Grund der »Deutschen Schande« — routinemäßige Demütigungen, Verprügelungen, sexueller Missbrauch und den Verrat der deutschen Kinder durch ihre Fürsorgenden — erkennen (siehe Kapitel 6).

 

Der Führer als Giftcontainer

Weil die Nabelschnur des Fötus als ein fünftes pulsierendes Gliedmaß zu sehen ist, und weil die Plazenta das erste Liebesobjekt des Fötus ist, glaube ich, dass wir den Verlust von Nabelschnur/Plazenta so tief erleben, dass wir das Gefühl beibehalten, immer noch eine »Phantomplazenta« zu haben — das gleiche Phänomen wie Phantomschmerzen bei Amputierten103 — und konstant nach einem Führer oder einer Flagge oder einem Gott, der als Ersatz dient, suchen. Genau wie man von Göttern glaubt, sie wären Wesen, »von welchen der ganze Segen fließt«, werden Führer als solche, »von denen die ganze Macht fließt«, gesehen. 

Im antiken Ägypten wurde vom Volk die echte Plazenta des Pharao aufgehoben und auf einem Stab in den Kampf getragen; die erste Flagge in der Geschichte.104 In Amerika huldigen wir immer noch rituelle unserer plazentaren Flagge — mit ihren roten Arterien und blauen Venen am Ende einer nabelschnurartigen Fahnenstange — auf öffentlichen Versammlungen, und die heilige Fahne ist das Zentrum jedes Opferrituals, genannt Krieg, das unsere Nation zusammenhält.105 In Baganda wurde die Plazenta des Königs auf den Thron gelegt und angebetet; ihre Priester empfingen dann Botschaften durch sie.106 Wir tun das Gleiche, wenn wir den Himmel nach UFOs absuchen — plazentare Hightech-Scheiben — in der Hoffnung, diese hätten Botschaften für uns.107 

Lawson hat UFO-Entführungsszenarios experimentell mit den tatsächlichen Geburtserfahrungen der Entführten verglichen: Diejenigen, welche eine normale vaginale Geburt hatten, imaginierten Tunnelerlebnisse während der Entführung, während jene, die durch Kaiserschnitt auf die Welt kamen, vom UFO an sich gerissen wurden, ohne Tunnelbüder.108

 

     

Fig. 4-3 

Der Führer als Giftcontainer


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Die Sehnsucht nach einer Phantomplazenta — einem »Giftcontainer« für unsere gefährlichen Emotionen — als Führer, und die Suche nach einer Giftigen Plazenta als Feind, mit dem wir kämpfen können, sind die zentralen Aufgaben aller sozialen Organisationen noch vor irgendeinem Nutzen, den sie haben mögen. Führer sind nicht nur Mütter oder Väter und werden nicht immer idealisiert. Sie sind zuvor und zuallererst Giftcontainer für unsere Gefühle. Giftcontainer sind Objekte, in die wir unsere verleugneten Gefühle werfen können, so wie wir einst unser verunreinigtes Blut in die Plazenta pumpten, in der Hoffnung, es würde gereinigt werden. Menschen schreiben ihren politischen und religiösen Giftcontainern alle möglichen magischen und plazentaren Bedeutungen zu, einschließlich dem Vermögen, unsere Emotionen zu reinigen, welche sich wie verunreinigtes Blut anfühlen. Wenn der Führer unfähig erscheint, diese Emotionen zu handhaben, wenn er schwach erscheint und uns verlässt, wenn der Fortschritt in unserem Leben zuviel Unabhängigkeit nach sich zu ziehen scheint und wir unsere frühe Verstoßung durch unsere Plazenta wiedererleben, fangen wir an, nach Feinden zu suchen, denen wir unser Trauma aufbürden können.109)

 

Krieg als Opferritual 

Krieg ist also ein Opferritual, dazu bestimmt, Angst vor Individuation und Verlassenwerden abzuwehren, indem unsere frühen Traumata an Sündenböcken wiederaufgeführt werden. Dies ist exakt das Gegenteil von Theorien über »sozialen Stress« all der anderen Sozialwissenschaftler, zumal es gewöhnlich Erfolge sind — Freiheit und neue Herausforderungen —, die wir als Auslöser von Krieg kennen lernten, nicht politische oder ökonomische Notlagen. Krieg opfert Jugend — Symbole unserer Stärke und Hoffnung —, denn es ist unser aufstrebendes, jugendliches, unabhängiges Selbst, das wir als Erstes dafür verantwortlich machen, uns in Schwierigkeiten gebracht zu haben. Nur wenn wir aufhören zu wachsen, können wir uns vor unserer schrecklichsten Angst schützen — der Wiederholung unserer frühesten Tragödien.

Die Bildersprache des Krieges als Wiederaufführung ist allgegenwärtig. Ziehen wir nur einmal die Geburtsbilder rund um die Atombombe in Betracht. Als Ernest Lawrence seinen Physikerkollegen kabelte, dass die Bombe fertig zum Testen wäre, antworteten diese: »Gratulation den frischgebackenen Eltern. Wir können es kaum erwarten, die Neuankunft zu sehen.«110 Nachdem die Bombe bei Los Alamos zur Explosion gebracht worden war, schrieb ein Journalist: »Man fühlte sich, als wäre man privilegiert gewesen, der Geburt der Welt beizuwohnen ... der erste Schrei einer neugeborenen Welt.«111 Während des Treffens von Harry Truman mit den Regierungschefs der Welt, unmittelbar vor dem Abwurf der Bombe über Japan, erreichte ihn eine Nachricht von General Leslie Groves, dass ihr Test erfolgreich gewesen sei: »Der Doktor ist eben äußerst enthusiastisch und überzeugt davon zurückgekehrt, dass der Kleine Junge genauso stämmig ist wie sein großer Bruder. ... Ich hätte seine Schreie von hier aus hören können.«112 


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Bei dem Abwurf der Hiroshima-Bombe, die »Little Boy« genannt wurde, aus dem Bauch eines Flugzeugs — nach der Mutter des Piloten benannt —, kabelte General Groves an Truman: »Das Baby wurde geboren.« Auch die Überlebenden der Hiroshima-Explosion beriefen sich gewöhnlich bei der Bombe auf »das echte Kind«.113 Ähnliches nach der Explosion der ersten Wasserstoffbombe, als Edward Tellers telegrafiert: »Es ist ein Junge.«114 Offensichtlich findet man, Nuklearwaffen seien mächtige Babys — sich rächende Föten. Mit ihnen kann unsere Rache für unsere frühen Traumata nun gewaltig sein. Man kann verstehen, warum Truman, nachdem er hörte, dass die erste Nuklearbombe abgeworfen wurde, ausrief: »Das ist das größte Ding in der Geschichte!«116

 

Wachstumspanik und interne Opfer 

Kriege sind opfernde Verteidigung, sie haben bewiesen, Ängste vor einer Desintegration des Ichs aus Gründen von Wachstumspanik effektiv zu verringern. Noch effektiver, als Mütter und Kinder in externen Kriegen zu opfern, ist der interne, institutionalisierte Krieg gegen Mütter und Kinder, den Nationen periodisch als Sozialpolitik anführen. Struktureller Gewalt (mehr Tote allein wegen Armut) unterliegen bis zu 15 Millionen Menschen pro Jahr weltweit, verglichen mit durchschnittlich 100.000 Toten jährlich in Kriegen.116) 

Wirtschaftliche Abschwünge schaden oder töten mehr Mütter und Kinder in der Rolle von Geopferten als die meisten Kriege.117 Wie auch bei auswärtigen Kriegen (externes Opfer) werden ökonomische Kriege gegen Mütter und Kinder (internes Opfer) regelmäßig auch in Zeiten des Friedens geführt. Diese internen Kriege entsprechen den regressiven Bildern, die wir diskutiert haben; so fand zum Beispiel William Joseph bei der Untersuchung der Börsencrashs 1929 und 1987 in den Medien vermehrt Bilder von gefährlichen Frauen, die darauf hindeuten, dass die Zeit für ein internes Opfer bevorstand.118

Dass ein wohlhabendes Amerika arrangiert hat, ein Drittel seiner Bevölkerung habe in Armut zu leben, ist ein Hinweis darauf, warum Nationen arme Leute brauchen, um sie für den eigenen Wohlstand zu bestrafen. Nachdem es Wohlstand und die Angst vor nicht zu tolerierendem Wachstum sind, die die Wiederaufführung des Traumas auslösen, macht es Sinn, dass in Amerika heute — der reichsten und freiesten Nation in der Geschichte — mehr Frauen und Kinder in Armut leben als in jeder anderen industrialisierten Nation. 

Die amerikanischen Armutsraten von Kindern sind viermal so hoch wie die der meisten europäischen Nationen und verschlechtern sich weiter, sie stiegen in den letzten Jahren um 25 Prozent an.119 Besonders Kinderarmut ist ein Resultat nationaler Politik; wie es ein Experte in Worte fasste: »Kinder fangen Armut nicht ein, sie werden durch staatliche Unterlassung arm gemacht.«120 Alle diese benachteiligten Kinder sind emotionale Sündenböcke, Giftcontainer für die Reichen auf der obersten Sprosse der amerikanischen Gesellschaft.


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Wirtschaftlicher Erfolg ermöglicht den Menschen einen Zuwachs an Möglichkeiten zur Individualisierung; nationaler Wohlstand und Frieden sind deshalb gefährlich: »Wenn ich wachse und mich vergnüge, wird etwas Schreckliches passieren.« Perioden prolongierten Wohlstands ohne »Außenfeind« erzeugen deshalb eine Wachstumspanik, die Opfer benötigt, ob in den Opferritualen der Hebräer oder der Azteken gestern oder in heutigen ökonomischen Zyklen. In guten wirtschaftlichen Zeiten, wie zu Clintons Amtsperiode, haben amerikanische Gesetzgeber mithilfe der Mehrheit der Bevölkerung verschiedenste Unterstützungen für Kinder energisch gekürzt. In New York City sind 39 Prozent der Kinder Sozialhilfebezieher, in Chicago 47 Prozent, in Detroit 67 Prozent; und überall wurden Antisozialgesetze verabschiedet.121 

1996, am Höhepunkt der aktuellen Prosperität, haben Amerikaner beider Parteien mit dem Einverständnis des Präsidenten Ernährungsunterstützungen für 14 Millionen Kinder und die Sozialversicherung für 750.000 behinderte Kinder gekürzt, weitere Einschnitte gab es bei Schulmahlzeiten, Head Start [ein Frühförderungs­programm für finanziell benachteiligte Kleinkinder, A.d.Ü.], Jugendschutz, Ausbildung, im Gesundheitswesen für Kinder und bei Hilfen für obdachlose Kinder — was der Präsident des Children's Defense Fund als »ein unglaubliches Budgetmassaker bei den Schwächsten« beschrieb.122) Irgendjemand muss ja für unseren Wohlstand bezahlen. Und dieser Jemand sind unsere Kinder. Kinder zu Sündenböcken zu machen ist kein Paradoxon; es ist eine historische Regelmäßigkeit.

Dass die Gruppenfantasien, die sich hinter der Kürzung von Unterstützungen für Frauen und Kinder befinden, denen der oben diskutierten Blutsaugerfantasien ähnlich sind, kann in jedem der Vampirfilme aus dieser Zeit gesehen werden, oder in den Vorstellungen derer im Kongress und in den Medien, die behaupteten, dass Sozialhilfeempfänger uns »ausbluten« und »wie ein gigantischer

Blutegel den Bürgern das Blut aussaugen« würden — die Bestrafung dafür wiederum lag für die Regierung darin, den Sozialhilfeempfängern das »Blut auszusaugen«.123 So meinte auch Präsidentschaftskandidat Senator Phil Gramm: »Wenn wir fortfahren, Mütter zu bezahlen, die illegitime Kinder haben, wird das Land bald mehr illegitime als legitime Kinder besitzen«, und dies alles auf unsere Kosten. 

 

   

Fig. 4-4 
Die Regierung 
als verschlingender Vampir.  

 

Historisch gesehen wurden zu jeder Zeit des Wohlstands in der Geschichte Amerikas (wie in den 1850ern und den 1890ern) von den Neureichen Gesetze verabschiedet, die die Wohlfahrt für die »es nicht verdienenden Armen« stoppten. Diese Gesetzgebung der Antisozialhilfe, heute wie früher, hat nichts mit Sparen zu tun; faktisch kosten die Kürzungen durch erhöhte Drogenabhängigkeiten, Diebstahl und Mord hundertmal mehr als das, was sie einsparen. 

Jedes Mal, wenn Gesetzgeber »moralischen Verfall« und den »Verfall familiärer Werte« — Codewörter für die Angst vor Freiheit — verurteilen, meinen sie damit nur, dass in der darin liegenden Vorstellung der soziale Kollaps vermieden werden kann, wenn die »Abhängigkeit beendet« wird — Codewörter für die Bestrafung armer Kinder, Symbole ihrer eigenen Abhängigkeits­bedürfnisse.

Obwohl diese Folgerungen aus der relativen Beständigkeit früher Traumata und ihrer unausweichlichen Wiederaufführung durch Krieg, soziale Gewalt und ökonomische Ungerechtigkeit zugegebenermaßen entmutigend sind, kann eine Kenntnis der Gründe für menschliche Gewalt durchaus hoffnungsvoll sein. Wenn nämlich frühe Traumata eher als die aggressive menschliche Natur der Grund für unsere Gewalttätigkeit sind, könnten Anstrengungen, diese Traumata radikal zu reduzieren, erwarten lassen, dass Krieg und Herrschaft zurückgehen. 

Wenn wir, anstatt den Jahrtausende alten historischen Zyklus von traumatisierten Erwachsenen fortzusetzen, die ihren inneren Terror ihren Kindern aufbürden, es mit Liebenswürdigkeit versuchen und als Gesellschaft Müttern und Kindern effektiv helfen, statt ihnen etwas aufzubürden, sie zu verstoßen oder zu bestrafen, werden wir bald in der Lage sein, unser dringendes Bedürfnis, traumatische Erinnerungen auf der sozialen Bühne wiederaufzuführen, zu beenden. 

Kapitel 9 beschreibt ein neues Sozialprogramm, bestehend aus Elternzentren mit Hausbesuchsprogrammen, das endlich den Kindesmissbrauch beenden würde, auf dem Kriege und soziale Gewalt basieren. Nur durch Investitionen in solche Programme, basierend auf dem realen Reichtum der Nationen — ihrer Kinder —, kann die Welt ihre selbstzerstörerische Gewalt und Herrschaft eliminieren und schließlich in Frieden und Gleichberechtigung leben.

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