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5  Die psychogene Geschichtstheorie

 

»Trauma verlangt nach Wiederholung.«
Selma Fraiberg

 

69-107

Sozialwissenschaftler waren selten an Psychologie interessiert. Angelehnt an das Modell Newton'scher Physik beschrieben sie Individuen üblicherweise als undurchsichtige Billardkugeln, die voneinander abprallen. Dass Individuen ihre eigenen komplexen internen Motivationen für die Art, wie sie sich in der Gesellschaft verhalten, haben könnten, dass sie Gefühle besitzen, die ihr Sozialverhalten beeinflussen, wurde nur selten zugegeben. Die Sozialwissenschaften reflektieren unsere übliche Gewohnheit, eher die äußere Welt als unsere inneren Entscheidungen für die Dinge verantwortlich zu machen. Die interessanteste Frage zu einer Gruppe — »Warum machen sie das?« — wird selten gestellt. 

Durkheim jedenfalls begründete mit Studien über Selbstmord und Inzest eine Soziologie, die behauptete, solche privaten Handlungen hätten keinerlei psychologische Ursachen und das Verständnis individueller Motive sei irrelevant für das Verständnis von Gesellschaft.1) Mit der Eliminierung der Psychologie aus den Sozialwissenschaften legte Durkheim die von den meisten Soziologen heute befolgten Prinzipien fest: »Die determinierende Ursache einer sozialen Tatsache sollte bei den vorausgehenden sozialen Fakten gesucht werden und nicht bei den Zuständen individuellen Bewusstseins.«2)

 

  Die Ablehnung der Psychologie in der Sozialwissenschaft  

Soziologen beten nach wie vor Durkheims Voreingenommenheit gegenüber der Psychologie nach. Die meisten stimmen mit C. Wright Mills, der mich als seinen Forschungsassistent an der Columbia University betreute, darin überein: »Studiere die Psychoanalyse gut genug, damit du den Kerlen antworten kannst, wenn sie dich attackieren.« Viele Soziologen stimmen zu: »Es gibt eine starke Tradition unter heutigen Gelehrten der Human­wissenschaften, emotionale Gründe zu ignorieren.«3)

1) Anmerkungen siehe Seiten 324-328.


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Denselben Annahmen folgen Politologen: »Politische Einstellungen werden allgemein als Resultat eines rationalen, reflektierenden Prozesses angenommen.«4) Auch die meisten Anthropologen pflichten dem bei: »Die Wissenschaft der Kultur ist unabhängig von den Gesetzen der Biologie und der Psychologie zu sehen.«5) Die Anthropologen, welche die Auswirkungen von Kindheit auf die Kultur beforschten, wurden im Großen und Ganzen von jenen Anthropologen ignoriert, die der Annahme folgten, Anthropologie hätte nichts mit dem inneren Zustand eines Subjekts zu tun.6)

Auch die meisten Historiker vermeiden eifrig psychologische Hintergründe, sagen entweder, dass Geschichte »darin besteht, mitzuteilen, was geschehen ist«, und nicht mehr,7) oder versuchen Geschichte als »entpersonalisierte strukturelle Macht« zu erklären, als ob ein solch leidenschaftliches menschliches Unternehmen wie die Geschichte »unpersönlich« sein könnte.

Diese Ablehnung der Wichtigkeit des individuellen emotionalen Lebens für die Gesellschaft bildete den Kern der sozialwissenschaftlichen Theorie seit ihren Anfängen. Philosophen von Hobbes bis Marx nahmen an, dass die Handlungen von Individuen a priori von purem Eigeninteresse geleitet wären, »ein Krieg, in dem jeder gegen jeden kämpft«, basierend auf der Annahme einer zweckorientierten Natur der Menschheit.8) Dasselbe gilt für die Wirtschaft, wie es ein Ökonom ausdrückt: »Der ökonomische Mensch muss sowohl rational als auch gierig sein.«9) Menschliches Verhalten in der Gesellschaft kann kurzsichtig oder uninformiert sein, aber nie unvernünftig, selbstzerstörend oder brutal — das ist nicht menschlich.

Der Ausschluss der stärksten Gefühle, ausgenommen die Gier, aus Sozialtheorien und die Eliminierung von Irrationalität und Selbstzerstörung aus den Modellen von Gesellschaft erklären, warum die Sozialwissen­schaft bislang ein so trostloses Bild bei der Bereitstellung erwägenswerter historischer Theorien bietet. Solange soziale Strukturen und Kultur als ausschließlich außerhalb der menschlichen Psyche liegend betrachtet werden, bleiben persönliche Motive sekundär, reaktiv zu äußeren Umständen, anstatt bestimmend für soziales Verhalten zu sein.

 

   Die Psychodynamik der Wiederaufführung   

 

Der massiven Absonderung von Noradrenalin, Dopamin, Serotonin und Peptiden nach einem unausweich­lichen Trauma folgt später eine Verringerung von Hormonen, vermutlich, weil der Verbrauch die Synthetisierung übersteigt. Schließlich werden Rezeptoren von Emotionen hypersensibel, was zu einer exzessiven Empfindlichkeit sogar gegenüber einem möglichen Trauma im späteren Leben führt.10) Es ist dieses massive »Fehlalarmsystem«, welches zu wiederholten Handlungen und dann zu Wiederaufführungen von Traumata führt — wiederholte Handlungen mit neuen, Angst reduzierenden Elementen, die im Herzen des Sozialverhaltens von Menschen begraben liegen.


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Die Verringerung von Neurotransmittern nach einer traumatischen Überflutung resultiert in eine Hyperalarm­bereit­schaft gegenüber jeder Situation, die darauf hinzuweisen scheint, in eine Wiedererfahrung des Traumas zu führen. Dies ist natürlich bei allen Tieren so und daher vermeiden diese einfach derartige Gefahren. Aber Menschen sind durch den Besitz eines entwickelten hippocampalen-präfrontalen kortikalgelagerten Bewusstseins, dessen Aufgabe die Änderung von Verhalten zur Vermeidung von traumatischen Situationen ist, einzigartig. Wenn sich ein Trauma ereignet, sind Menschen darin einmalig, zu glauben, sie wären für das Trauma verantwortlich. Es ist erstaunlich, wie früh und beständig sich dies in der klinischen Praxis beobachten lässt. 

Lenore Tell erzählt von einem mit Puppen spielenden Mädchen, das die ihr durch Pornographen im Alter von 15 Monaten zugefügten Belästigungen wiederholt.11) Ihr fehlte jede bewusste Erinnerung an die Ereignisse, sie wiederholte aber genau die Penetration durch einen erigierten Penis in derselben Weise wie in den pornographischen Filmen, die von der Polizei sichergestellt wurden. Noch erstaunlicher war, was sie sagte, während sie die Vergewaltigungsszene wiederaufführte: »Wer ist das? Meine Puppe. Sie liegt nackt auf dem Bett. Ich decke sie zu ... Ich schreie die Puppe an. Sie war schlimm! Ich schreie meine Pupe an: <Du! Du schlimmes Ding! Geh ins Bett, Du!>« Sie fühlte sich für ihre eigene Vergewaltigung schuldig!

 

Fast immer fühlen sich Kinder dafür schuldig, traumatisiert worden zu sein. »Ich muss zu laut gewesen sein, weil Mami mich verlassen hat«, war mein aufrichtiger Glaube, als meine Mutter meinen Vater verlassen hat. Ich glaubte auch die Schläge von meinem Vater zu verdienen, weil ich nicht folgsam genug war. Deshalb errichten Kinder ein separates, internes Selbst (genannt Alter Ego) als Beschützer, der sie davon abhält, laut, draufgängerisch, schmutzig, sexuell, verlangend zu sein — eigentlich, um sie vor dem Wachsen und damit vor dem Wiedererleben eines Traumas zu bewahren. 

Anfangs sind diese internen Beschützer freundlich; manchmal werden sie von fantasierten Spielkameraden repräsentiert oder gar als beschützendes Anderes, wenn die Traumata schwer oder sich wiederholend sind.12 Später, vor allem wenn die Adoleszenz Möglichkeiten für größere Erforschungen mit sich bringt, werden aus den beschützenden Anderen verfolgende Andere, die vom Selbst des Wirts »genug haben« und ihm jetzt sogar zu schaden versuchen.13 Das verfolgende Selbst sagt: »Es passiert nicht mir, es passiert ihr, und sie hat es verdient!« Anstatt sich der Chance auszusetzen, vom frühen Trauma wieder unbemerkt und hilflos eingefangen zu werden, könnte man das Trauma bei sich selbst oder anderen wiederaufführen, zumindest das Timing und die Intensität des Traumas könnten kontrolliert werden.14

Wiederholtes »Jemanden-zum-Sündenbock-Machen« ist eigentlich die zentrale Ursache für asoziales Verhalten, und die Sucht nach dem Trauma liegt in ihrem Kern.15) Es überrascht nicht, dass Gefängnispsychiater bei Gewalttätern herausfinden, dass sie bei ihren Verbrechen unverändert emotionale Traumata, Missbrauch und Demütigung aus ihrer Kindheit wiederholen,16) oder dass in ihrer Kindheit sexuell missbrauchte Frauen mehr als doppelt so wahrscheinlich als andere vergewaltigt werden, wenn sie erwachsen sind.17) 


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Wie es eine als Kind sexuell zum Sündenbock gemachte Prostituierte sagte: »Wenn ich es mache, kontrolliere ich. Ich kann sie durch Sex kontrollieren.«18 

Die Wiederaufführung als Abwehr von dissoziiertem Trauma ist die entscheidende Schwachstelle in der Entwicklung des menschlichen Geistes — verständlich aus der Sicht des Individuums, als Weg zur Aufrechterhaltung der Zurechnungsfähigkeit, aber tragisch in seinen Auswirkungen auf die Gesellschaft, da es bedeutet, dass frühe Traumata auf der historischen Bühne zu Krieg, Herrschaft und selbstdestruktivem Sozialverhalten vergrößert werden. Geschichte ist deshalb ein sozialer Mechanismus, von dem erwartet wird, uns persönlich geistig gesund zu halten — um schlecht adaptierte Zustände des Gehirns durch das Wiederaufführen früher Traumata auf Kosten anderer zu kontrollieren. Und weil wir unseren Kindheits­terror auch an den eigenen Kindern wiederaufführen, hält unsere Sucht nach der Schlachtbank der Geschichte Generation für Generation an.

 

   Die Angst vor Individuation und Wachstumspanik   

 

Die krönende Leistung der menschlichen Spezies — unser Selbstbewusstsein, die Kenntnis vom Ich und vom Anderen als einzigartige Individuen mit einer Geschichte und zukünftigen Zielen — hat so lange gebraucht, um sich zu entfalten, und war so unausgeglichen, dass die Menschheit eine Spezies mit einem extrem fragilen Selbst darstellt. Schimpansen haben kaum genug Selbstbewusstsein, sich in einem Spiegel zu erkennen,19 und Menschen in früheren Zeiten begannen ihr Selbstbewusstsein erst durch die langsame Entwicklung von Elternschaft zu verbessern, hauptsächlich als Resultat der wachsenden Empathie der Mutter gegenüber ihrem Kind (siehe Kapitel 8). 

Bei den desintegrierten Ichs von Psychotikern beobachtet Eigen: »Die Art und Weise, wie Individuen durch den psychotischen Prozess auseinander gerissen werden, lässt uns erkennen, dass das Auftauchen einer realisierbaren Bedeutung des Ichs und der Anderen zu den größten Errungenschaften der Menschheit gezählt werden muss«20) — eine Leistung, die Jahrtausende gebraucht hat. Wie es Modell aufzeigt,21) wächst das aufstrebende private Selbst beim Kind mit der Erkundung der Umwelt und der laufenden Hilfe der Betreuenden. Deshalb entwickeln Kinder, deren unreife Eltern sie für eigene emotionale Bedürfnisse benützen und die sie zurückweisen, wenn die Bedürfnisse des Kindes nicht ihre eigenen reflektieren, etwas, das Winnicott ein »falsches Selbst« nennt, oder gar ein multiples Selbst, welches gesellschaftskonform sein mag, aber dadurch nicht besser wird. Das ist deshalb so, weil die soziale Evolution von der langsamen Entwicklung des lebensfähigen Ichs abhängt, welches im Gegenzug allein durch die langsame und ungleichmäßige Evolution der Kindeserziehung erreicht wird.


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Eher denn als schmerzhafte Erfahrungen werden Traumata als Verletzungen des privaten Ichs definiert, zumal weniger körperlich schmerzende Verletzungen, wie etwa, wenn dem Kind von den Eltern mitgeteilt wird, dass man wünschte, es würde sterben, traumatischer für das Ich sind als zum Beispiel schmerzhafte Unfälle.22) Ohne ein gut entwickeltes, beständiges privates Ich fühlen sich Menschen durch jeden Fortschritt, jede Freiheit, jede neue Herausforderung bedroht und durchleben Vernichtungsbefürchtungen, Ängste, das fragile Selbst würde sich desintegrieren. Als Erwachsene suchen wir stetig nach der elterlichen Zuwendung, die wir als Kinder vermissten. Masterson belegt dies mit dem Überbegriff Verlassenheits­depression, unter dem, wie er sagt, »sechs Reiter der Psychischen Apokalypse reiten: Depression, Panik, Wut, Schuld, Hilflosigkeit und Leere, [die] quer durch die psychische Landschaft Verwüstung ausüben.«23) 

Nach den Untersuchungen von Socarides24) bringen Angst vor Wachstum, Individuation und Selbstbehauptung bedrohende Gefühle von Desintegration mit sich und ziehen den Wunsch nach Verschmelzung mit der omnipotenten Mutter nach sich (buchstäblich in die Gebärmutter zurück zu kriechen). Wünsche, die sich unmittelbar in Ängste, verschlungen zu werden, verwandeln, zumal die Vereinigung den totalen Verlust des Selbst zur Folge haben würde. Wenn Socarides' Patienten sich in Richtung Individuation bewegen — etwa in eine eigene Wohnung ziehen oder eine neue Arbeit annehmen — haben sie Träume, von einem Strudel geschluckt oder einem Monster verschlungen zu werden. Die einzige Rettung von diesen maternalen Verschmelzungswünschen/-ängsten ist eine »Flucht in externe Realität vor der internen Realität«,25 eine Flucht, bei der soziale Institutionen eine zentrale Rolle spielen.

Patienten, die oft in Psychotherapie gehen, werden sich dieser Individuationspanik bewusst, wenn sie sich entwickeln und sich von den alten emotionalen Mustern loslösen. Man kann diese Ängste als alles durchdringende Wachstumsangst, die traumatisierte Individuen — das ist fast jeder — während ihres täglichen Lebens mit sich tragen, charakterisieren. »Wenn wir wachsen, werden wir nie das sein, was Mami und Papi wollen, das wir sein sollten, und wir werden ihre Liebe niemals bekommen.« 

Masterson zitiert einen seiner Patienten:

Ich ging die Straße hinunter und hatte plötzlich das Gefühl, von absoluter Freiheit umschlungen zu sein. Ich konnte sie schmecken. Ich wusste, ich war fähig, alles zu tun, was ich wollte. ... Ich war einfach ich selbst und dachte, ich hätte das Geheimnis des Lebens entdeckt: in Kontakt zu den eigenen Gefühlen zu sein und sie offen gegenüber anderen auszudrücken, ohne große Sorgen darüber, was die anderen über dich dachten.

Dann, so plötzlich wie es kam, verschwand es wieder. Ich bekam die Panik und fing an, über die Millionen Dinge, die ich im Studio zu tun hatte, nachzudenken, über Besorgungen, die ich nach der Arbeit erledigen musste. Mir wurde übel und ich begann zu schwitzen. Ich ging in Richtung meiner Wohnung, die meiste Zeit im Laufschritt. Als ich da war, fühlte ich mich, als wäre ich verfolgt worden. Von wem? Der Freiheit, glaube ich.26


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Es ist die manische Flucht in den Aktionismus — eine Flucht zur Abwehr von Wachstumsangst —, welche den emotionalen Ursprung eines großen Teils von Sozialverhalten darstellt. Historisches Verhalten agiert als homöostatischer Mechanismus, der Unausgewogenheiten des Gehirns zu korrigieren versucht, mit dem Führer als einer Art Psychiater, von dem erwartet wird, unsere kollektiven Stimmungsstörungen zu heilen. Manisches Ausagieren bei politischen Aktivitäten die hauptsächlich Fantasien von Herrschaftswahn beinhalten ist daher eine universale menschliche Sucht, ähnlich den dopaminergen Effekten von Kokain. Deshalb nehmen Führer so häufig Drogen, die eine Manie provozieren können, wie John F. Kennedy während der Kubakrise (Amphetamine) und George Bush während des Golfkriegs (Halcion). Wie Drogen können grandiose manische soziale Aktivitäten, wie Krieg und politische Herrschaft, eine kurzfristige Hochstimmung und eine Dopaminwallung bewirken, aber nicht die anhaltende Freude, wie sie durch Selbsterkundung und Liebe entsteht.

 

   Wie traumatisch ist Kindheit?  

 

Das Auftreten von Trauma in der Kindheit, früher und heute, ist ein zentraler Fokus dieses Buchs. Meine gesamten Schlussfolgerungen haben sich nach drei Jahrzehnten zusätzlicher Forschung nicht gegenüber dem verändert, was ich in <The History of Childhood> geschrieben habe: 

»Die Geschichte der Kindheit ist ein Albtraum, von dem wir erst vor kurzem begonnen haben zu erwachen. Je weiter man in die Geschichte zurückgeht, umso niedriger das Niveau der Kinderfürsorge, und umso wahrscheinlicher, dass Kinder umgebracht, verstoßen, geschlagen, terrorisiert und sexuell missbraucht werden.«27)

Tatsächlich lautet die Schlussfolgerung aus meinem gesamten Studienleben über die Geschichte der Kindheit, dass Gesellschaft auf dem Missbrauch von Kindern basiert. 

Gerade so, wie es Familientherapeuten heute befinden, hat Kindesmissbrauch vielfach die Funktion, auf diese Weise Familien zusammenzuhalten, um so ihre emotionalen Probleme zu lösen, wie schon routinierte Aggression, Folter und Herrschaft über Kinder das gesellschaftlich effektivste Instrument einer kollektiv emotionalen Homöostasis waren. 

Die meisten Familien in der Geschichte praktizierten einmal Kindestötung, Inzest, Schlagen und Verstümmelung von Kindern, um Ängste zu lindern. Heute setzen wir damit fort, unsere Kinder durch unser Militär, unsere sozialen und ökonomischen Institutionen zu töten, zu verstümmeln, zu belästigen und auszuhungern.

Darum hat Herrschaft und Gewalt in der Geschichte solch eine Kontinuität: Verrat und Missbrauch von Kindern ist seit den Anfängen der Art eine konsistente menschliche Eigenschaft. Jede Generation beginnt erneut mit frischen, neugierigen, vertrauensvollen Gesichtern von Babies, bereit zu lieben und eine neue Welt zu kreieren. Und jede Generation von Eltern foltert, missbraucht, vernachlässigt und herrscht über ihre Kinder, bis sie zu emotional verkrüppelten Erwachsenen werden, die in fast jedem Detail exakt soziale Gewalt und Herrschaft wiederholen, wie sie in vorangegangenen Jahrzehnten existierten.


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Wenn auch nur eine Minorität von Eltern die Menge an Missbrauch und Verrat an ihren Kindern etwas verringerten und sie nur ein bisschen versuchten, die frühen Jahre etwas sicherer und liebevoller zu gestalten, um etwas mehr Freiheit und Unabhängigkeit zuzulassen, würde die Geschichte bald in überraschend neue, innovative Richtungen gehen und soziale Veränderungen bewirken. Die Geschichte muss sich nicht wiederholen; nur die Traumata verlangen nach Wiederholung.

 

Die psychogene Geschichtstheorie 

 

Die psychogene Geschichtstheorie ist eine wissenschaftliche, empirische, falsifizierbare Theorie, basierend auf einem Modell, das mit kollektiven Wiederaufführungen dissoziierter Erinnerungen früher Traumata zu tun hat, deren Inhalte sich durch die Evolution der Kindheit ändern. Sie basiert auf den Schlussfolgerungen klinischer Psychologie, wonach der psychische Inhalt durch frühe emotionale Beziehungen organisiert ist, sodass die psychische Struktur durch den schmalen Trichter der Kindheit von Generation zu Generation weitergegeben wird. Folglich sind die gesellschaftlichen Praktiken der Kindeserziehung nicht nur ein Bestandteil kultureller Eigenschaften, sondern genau die Bedingung für die Übertragung und Entwicklung aller kulturellen Elemente. 

Die Kindeserziehung ist der springende Punkt, weil sie die emotionale Struktur organisiert, welche die Übertragung jeglicher Kultur determiniert und definitive Grenzen dafür setzt, was von einer Gesellschaft erreicht werden kann. Spezifische Kindheiten erhalten spezifische kulturelle Eigenschaften, und wenn diese frühen Erfahrungen nicht länger vorkommen, verschwindet die Eigenschaft oder wird modifiziert. Es ist die erste Sozialtheorie, die Liebe als den zentralen Mechanismus für historische Veränderungen postuliert, weil klinische Wissenschaften gezeigt haben, dass Liebe die Individuation hervorbringt, die für menschliche Innovation gebraucht wird - das heißt, für kulturelle Evolution.

Die Theorie wird »psychogen« genannt, anstatt »ökonomisch« oder »politisch«, weil sie den Menschen mehr als Homo relatens denn als Homo oeconomicus oder Homo politicus betrachtet — das heißt, mehr auf der Suche nach Beziehungen und Liebe als nach Geld oder Macht. Die Theorie betrachtet sich entwickelnde Psychoklassen — kollektive Kindeserziehungsmodi —, die für das Verstehen von Geschichte maßgeblicher sind als ökonomische oder soziale Klassen, zumal die politische Geschichte hauptsächlich entlang der Linien von Kindeserziehungsmodi ausgefochten wird, wobei eine zunehmende strafende Kindeserziehung um so strafendere politische Verhaltensweisen hervorbringt.28)


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Die psychogene Theorie steht der soziogenen Theorie anderer Sozialwissenschaften gegenüber, die individuelle Veränderung bloß als eine Reflexion sozialer Veränderung sehen. Stattdessen betrachtet die psychogene Theorie Erwachsene als Person, die wegen neuer Kindeserziehungsmodi neue Formen von Persönlichkeit entwickelt haben und die weiters frühe Traumata auf die Bühne der Geschichte dergestalt projizieren, dass Ereignisse eher der Gruppe zu passieren scheinen, anstatt diese als internalisierte Formen zu sehen, die gemeinsame Träume, Gruppenfantasien kreieren, welche so intensiv und zwingend sind, dass sie ein Eigenleben annehmen. 

 

Nehmen wir ein typisches Beispiel eines beim Heranwachsen traumatisierten Kindes heran, das sich anderen in der Ausformung einer historischen Gruppenfantasie anschließt. Timothy McVeigh, einer der Bombenattentäter des Regierungsgebäudes in Oklahoma City, bei dem 168 Menschen ums Leben kamen, machte, nach den Aussagen von Nachbarn und Verwandten, als Kind die Erfahrung, von der Mutter andauernd verlassen worden zu sein, als sie ihren Ehemann regelmäßig betrog und die Familie mehrmals über Wochen hinweg im Stich ließ.29) Timothy fragte immer wieder Freunde: »Hab ich das gemacht?«, da er zu verstehen versuchte, warum seine Mutter nicht da war. Als er zehn war, fing er an, sich für Waffen zu interessieren, und wurde ein Überlebenskämpfer, der Waffen sammelte für den Fall, dass die Kommunisten das Land erobern würden. 

Als er sechzehn war und seine Mutter ihn für immer verlassen hatte, begann er von ihr als »bitch« und »that non-good whore« [Luder, diese nichtsnutze Hure, Anm. d. Übers.] zu sprechen. Nachbarn berichteten, er sei oft wie zwei Personen gewesen, »zornig und brüllend in der einen Minute, um dann in ziemliche Normalität zu wechseln«, ohne ersichtlichen Grund, was offensichtliche Züge einer Dissoziation von Persönlichkeit erkennen lässt. Die Armee verließ er angewidert, als er den Green-Beret-Test nicht bestand — eine neuerliche Zurückweisung — und fing an, mit rechtsgerichteten Militaristen herumzuhängen. Nachdem er nach Waco, Texas, gegangen war, um zu sehen, wie die Regierung die Kinder während der Belagerung im Stich ließ, fuhr er nach Oklahoma City, um eine Szene aus einem rechtsgerichteten Roman auszuagieren, worin eine Gruppe einen Lastwagen mit einer selbstgebastelten Bombe belud und sie vor der FBI-Zentrale zündete.

Der entscheidende Hinweis auf eine Wiederaufführung findet sich vier Monate, bevor er seinen Zorn ausagierte. McVeigh besuchte das Tagesheim im selben Gebäude und gab vor, er hätte Kinder, die er anmelden wollte.30)

 

     

Fig. 5-1 
Die psychogene Geschichtstheorie

 


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So wählte er einen Ort aus, wo Kinder, die von ihren Müttern verlassen wurden, ebenfalls getötet würden, um so verlassene Kinder zu bestrafen — Repräsentanten seiner selbst —, und führte durch den Tod von 168 unschuldigen Menschen beides, sowohl seine eigene Verlassenheitsgeschichte als auch die Durchführung der Bestrafung, die er glaubte, wegen seines Zorns auf die Mutter zu verdienen, wieder auf.

Der wiederaufführende Teil von Timothy McVeigh war zweifelsohne ein tatsächliches Alter Ego, oder eine wechselnde Persönlichkeit, ähnlich solchen Personen, die multiple Persönlichkeitsstörungen aufweisen, eine Diagnose, die kürzlich auf dissoziierte Identitätsstörung [dissociated identity disorder - DID] umbenannt wurde. Fast immer stehen hinter DID schwerer, wiederholter Kindesmissbrauch und Verwahrlosung. 

Alter Egos haben oft andere Namen, Handschriften, Stimmen, Wortschätze, Ausdrücke, sogar andere EEG-Alpha-Rhythmen und sind manchmal amnestisch, was die sonstigen Aktivitäten der Person betrifft. Zusätzlich zur Wirtspersönlichkeit, die oft deprimiert, masochistisch, zwanghaft gut ist und unter Erinnerungslücken leidet, gibt es Alter Egos wie ängstliche Kinder, die Traumata aufrufen, innere Verfolger, Container für verbotene Impulse, die Missbraucher Rächende oder ihnen Verzeihende, idealisierte Figuren, die Wut verleugnen usw. Die Ausformung solcher Alter Egos ist lebensrettend und erlaubt der Wirtspersönlichkeit die Abwehr unerträglicher Traumata und ermöglicht so ein Weiterleben. Die Tragödie liegt darin, dass diese Alter Egos ihre Traumata im Erwachsenenleben wiederaufführen, was Kluft »revictimization behaviour« oder »the sitting-duck-syndrom« [auf die Wiederholung der Opferrolle wartend] nennt, wobei sie das Gefühl haben, Kontrolle über den Missbrauch zu erlangen. Sie beenden die unerträgliche Agonie des Wartens auf Wiederkehr durch Wiederaufführung.31)

 

Soziale Alter Egos und soziale Trance  

 

Kinderpsychologen haben darauf hingewiesen, dass möglicherweise »alle Kinder dissoziativartige Stadien« durchlaufen und dass Missbrauch und Verwahr­losung zur »Etablierung von Erfahrungszentren während flüchtiger hypnoseartiger Stadien außerhalb des Kernselbst führen«, die wie frühe Alter Egos agieren.32) Beim Heranwachsen werden diese dissoziierten Teile der Psyche in verfolgende soziale Szenarien organisiert, die mit anderen geteilt werden und als soziale Alter Egos bezeichnet werden könnten. 

McVeigh wechselte in sein zorniges, militantes Ich, sein soziales Alter Ego, jedes Mal hinein und wieder heraus, wenn er Anzeichen von Verlassen-Werden durch Mutterfiguren wiedererlebte. Das ist ein Prozess, den wir alle in einem bestimmten Ausmaß mit McVeigh gemeinsam haben. Anstatt unser Leben zur Gänze in unserem privaten Selbst zu leben, halten wir uns teilweise in unserem sozialen Alter Ego auf, wo sich die Geister unserer Vergangenheit — »die Familie in uns«33 — als soziale Rollen in der Gegenwart maskieren. Soziale Alter Egos von Individuen verbinden sich zur Herbeiführung sozialer Trance und besitzen fünf Merkmale:


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1. Sie sind separate neurale Netze, Speicher für Gefühle, Bilder und Szenarios in Verbindung mit traumatischem Missbrauch und Vernachlässigung, inklusive der dazugehörigen Abwehrmechanismen.

2. Sie sind in dynamischen Strukturen organisiert und beinhalten alternativ zum eigentlichen Ich ein Set von Zielen, Werten und Abwehrhaltungen, die die Überwältigung durch Traumata verhindern und Erinnerungen aus der Kindheit an Erniedrigungen und Verfolgungen abwehren.

3. Sie haben die zentrale Aufgabe, die Hauptakteure der Kindheit in der Gesellschaft zu organisieren und aufzuführen: die sadistischen, verfolgenden Personen (Täter-Alter-Ego), die verletzten Kinder (Opfer-Alter-Ego), wütende Kinder (schützendes Alter Ego), idealisierte Erwachsene (umsorgendes Alter Ego) und andere.34

4. Sie haben ein Ko-Bewusstsein35 mit der Wirtspersönlichkeit, dennoch sind sie durch eine nahtlose Wand von Verleugnung, Depersonalisierung, Diskontinuität des Affekts und einer Nichtidentifikation von Verantwortung geteilt, die durch eine versteckte Verbindung [Kollusion] mit anderen aufrecht erhalten wird und die so tut, als ob die Alter Egos normal wären.

5. Sie werden in historischen Gruppenfantasien gemeinschaftlich geteilt und wiederaufgeführt und innerhalb politischer, religiöser und sozialer Institutionen sorgfältig aufbereitet.

 

Soziale Alter Egos beinhalten Erinnerungen an schwere Traumata und Zurückweisungen und besitzen ihr eigenes Repertoire an abwehrendem Verhalten. Experimente haben gezeigt, dass in der Kindheit traumatisierte Erwachsene empfänglicher für Hypnose, Kollektivsuggestionen, hysterisches religiöses Verhalten und paranormale Erfahrungen sind.36 Dissoziative Störungen sind, was Winnicott »die versteckte Psychose hinter der Neurose« nannte.37 

Besser organisiert und dissoziiert als bloße »falsche Selbstbilder«38 unterscheiden sich soziale Alter Egos von multiplen Persönlichkeiten dadurch, dass sie die normale Verleugnung durch Amnesie, durch eine Verleugnung der Dissoziation emotionaler Verbindungen ersetzen und in Kollektivkollusionen aufrechterhalten. Obwohl man sich der Aktivitäten des sozialen Alter Egos mehr oder weniger bewusst sein kann, fehlen die emotionalen Verbindungen zwischen den beiden Ichs. Folglich können sich Menschen vorstellen, in den Krieg zu ziehen oder einen Genozid zu vollziehen, weil die Aussicht auf einen passenden Feind da ist, nie aber, weil etwas Emotionales in ihren Köpfen passiert.

Wichtig ist, sich vor Augen zu halten, dass das soziale Alter Ego einer Person vom frühen Gedächtnis­system der Amygdala abhängt, dem Speicherplatz für unsere dissoziierten Traumata. Soziale Alter Egos inkludieren nicht reifere Bereiche des Gehirns, die das entwickelte Selbstbewusstsein, notwendig für Empathie, beinhalten.39 Es ist die fehlende Fähigkeit zur Empathie, die gewalttätiges Ausagieren in der sozialen Sphäre erlaubt — die Menschen werden so erfüllt von ihren Alter-Ego-Projektionen, dass es unmöglich für sie wird, ihre Gefühle zu erspüren.


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Soziale Alter Egos sind wie Koffer, in die wir unsere traumatischsten abgespaltenen Ängste und Ärger packen und in denen wir unser weiteres Leben als traumatisierte Kinder, Verteidiger der Missbraucher, innere Verfolger, elterliche Rächer und andere für das Bewusstsein unerträgliche Teile unseres Selbst aufbewahren, alle in sozialen Posituren. Eine vielleicht noch exaktere Metapher wäre die einer Zeitbombe anstatt eines Koffers, zumal Alter Egos schließlich explodieren und Genozide verursachen können. 

Das soziale Alter Ego basiert auf Fantasien, die Abwehrmechanismen gegen frühe Traumata sind — nicht gegen gegenwärtige Realität —, obwohl es in täglichen politischen und religiösen Gruppenaktivitäten partizipiert. Die Abwehrfantasien sind irreal, auch wenn die gesamte Gesellschaft darin übereinstimmt, dass sie Realität sind. Wenn eine Gruppe von Männern männliche Köpfe sammelt, weil sie glauben, dies würde ihre genitale Potenz steigern, oder wenn eine Gruppe von Frauen die Kitzler ihrer kleinen Mädchen abschneidet, weil sie glauben, dass diese sonst auf 30 cm anwachsen würden, dann stammen diese Vorstellungen offensichtlich von Abwehrfantasien von Gruppen, nicht aus Erfahrungen. Dieselben Personen können ein exzellentes Wissen ihrer Realität in ihren Wirtspersönlichkeiten besitzen, mit extensiven Jagd- oder landwirtschaftlichen Fähigkeiten auf Grundlage realer Lebenserfahrungen ihrer Gruppe, aber in ihren sozialen Alter Egos sind sie nichtsdestotrotz von der Wirksamkeit des Abtrennens von Köpfen und Kitzlern überzeugt.

Mit Ausnahme einiger Psychopathen und Psychotiker bewahren die meisten von uns ihre Koffer im Schrank hinter verschlossener Tür auf, scheinbar abseits unseres täglichen Lebens - aber dann verleihen wir die Schlüssel an emotionale Delegierte, von denen wir abhängig sind, um die Inhalte ausagieren zu können und die es uns möglich machen, die Identifikation mit den Handlungen zu verleugnen. In regelmäßigen Abständen, wenn die Gruppe und ihr Führer in der Vorstellung zusammenzubrechen scheinen — wenn unsere Verzweiflung zu groß wird, erscheinen uns unsere sozialen Alter Egos so weit entfernt, sodass wir uns unserer Lebenskraft beraubt fühlen und unsere Überwachsamkeit einen unerträglichen Höhepunkt erreicht —, scheinen die Inhalte des Koffers wegzubrechen, wir geraten in einen panikartigen Zustand, und unsere frühen Ängste und andere emotionale Erinnerungen werden in Form von Krieg oder anderer sozialer Gewalt wiederaufgeführt.

All die Errungenschaften unserer ausgereifteren Persönlichkeiten — Selbstbewusstsein, die Fähigkeit des Abschätzens von Folgen einer Handlung und das Lernen aus Erfahrung, die Fähigkeit empathischer Anteilnahme für andere, das Bewusstsein von Zeitverläufen, die Fähigkeit, eine realistische Zukunft zu planen, die Übernahme von Verantwortung für Handlungen — fehlen in unseren sozialen Alter Egos und sind nicht Teil der Gruppenfantasie, die wir in der Geschichte ausleben. Wann immer wir in unseren sozialen Alter Egos sind, erfahren wir eine Entpersonalisierung und treten in einen tranceartigen Zustand ein — was in der Gesellschaft passiert, fühlt sich in unserem Selbst unrealistisch und fremd an, ein Verlust von affektiver Rückkoppelung.


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Aber selbst dann, wie auch bei anderen dissoziativen Störungen, bleibt etwas an Realitätswahrnehmung intakt, die Absenz normaler Gefühle und die Abtrennung von der normalen Bandbreite an Gefühlen werden ganz normal gespürt, wenn man sich im sozialen Alter Ego befindet. Was verschwindet, ist vor allem Empathie. Hört man sich die Tonbandaufnahmen von John F. Kennedy und seinen Beratern an, als sie im Oval Office saßen und diskutierten, ob sie den Dritten Weltkrieg beginnen und 100 Millionen Menschen einäschern sollen, weil sie sich vom russischen Staatschef beleidigt fühlten, wird man faktisch Zeuge einer Seance, bei der sich jeder in tiefer Trance befindet und seine Kindheitserniedrigungen wieder aufleben lässt.

Selbst die Sprache von Gruppenfantasien ist besonders, zumal soziale Alter Egos in unvollständiger Form kommunizieren müssen, damit die inakzeptablen wahren Inhalte ihrem eigentlichen Selbst verborgen bleiben. Deswegen werden Gruppenfantasien oft statt mit klaren, offenen Worten über sublim eingebettete Botschaften vermittelt. Wir werden in Kürze sehen, wie man diese Botschaften mit Fantasieanalysen dekodiert, der via regia des Verstehens von kollektivem emotionalen Leben. Gruppen sprechen in dieser eingebetteten Sprache, wenn sie sich in sozialer Trance befinden,40 wenn sie die gleiche tranceartige Dissoziation, die sie während früher Traumata gefühlt haben, wieder erleben. Führer von Gruppen müssen deshalb versiert in der Technik des Auslösens von Trance sein, um ihre Delegiertenaufgabe zu erfüllen. Sie müssen unser wütendes soziales Alter Ego erfolgreich beherrschen, im Wesentlichen durch das Auffinden von »Feinden«, die zu bestrafen sind. 

Wenn eine Gruppe vorübergehend keinen Führer hat, der ihre projizierten sozialen Alter Egos beherrscht, hat sie das Gefühl, als müsse sie verrückt werden, da die Opfer-Alter-Egos des zornigen Kindes in die Wirtspersönlichkeit zurückkehren und die Verfolger-Alter-Egos wütend machen. Alle politischen Gruppenfantasien werden in dieser dissoziativen Tranceatmosphäre geführt, deren Charakteristika mit jenen acht, von Fine bei ihren dissoziierten Patienten gefundenen, Verzerrungen ident sind: Katastrophalisierung, Übergeneralisierung, selektive Abstraktion, dichotomes Denken, Zeitverzerrung, Falscheinschätzung von Ursachen, Unverantwortlichkeit oder exzessive Verantwortlichkeit und Im-Kreis-Denken.41)

 

Das soziale Alter Ego ist das Erbe früherer dissoziativer Verfolgungsgefühle und besitzt als eine seiner Rollen das Übernehmen von Gruppenbestrafungen, was als Anschauungsunterricht für uns alle gelten kann. Die übliche Formel zur Wiederaufführung früher Traumata ist (1) die Verschmelzung mit dem Täter-Alter-Ego (»schreckliche Mutter«); (2) das Finden eines Alter-Ego-Containers, ein Führer-Alter-Ego, dem man sich anschließen kann, um (3) das Opfer-Alter-Ego (»schlimmes Kind«) beispielhaft zu töten. Als ein amerikanischer Senator, der für mehr nukleare Waffen plädierte, sagte, dass es auch dann, wenn ein nuklearer Holocaust losgetreten werden würde, nicht so schlimm wäre, weil wir ihn gewinnen würden (»Wenn wir noch einmal bei Adam und Eva anfangen müssen, dann will ich, dass sie Amerikaner sind«), kann diese verrückte Trancelogik nur verstanden werden, wenn Atomkrieg als ein Anschauungsbeispiel gesehen wird, das es uns ermöglicht, reinen Tisch zu machen und von vorne zu beginnen.


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  Das soziale Alter Ego in Kleingruppen  

Alle, auch kleine Face-to-Face-Gruppen, organisieren Gruppenfantasien aus den gemeinsamen sozialen Alter Egos ihrer Mitglieder. Weil wir auch in kleinen Gruppen gegenüber Schande und Erniedrigung, die uns an unsere frühe Hilflosigkeit erinnern, verletzbar sind, verteidigen wir uns durch den Wechsel in unser soziales Alter Ego und bereiten uns auf zu erwartende Attacken vor. Obwohl Gruppen auch für nützliche Zwecke gebraucht werden, entstehen sie öfter, damit Menschen ihr verfolgendes soziales Alter Ego ausleben können. 

Wenn Menschen eine Gruppenfantasie bilden, geben sie ihre idiosynkratischen Abwehrfantasien auf und begeben sich in soziale Trance. Gruppenanalysten fanden heraus, dass sich auch Kleingruppen in wahnhafte Vorstellungen hineinreden: dass die Gruppe wie eine missbilligende Mutter sei, dass die eigene Gruppe anders und besser sei als andere, dass sie imaginäre Grenzen hätte, die sie beschützen würden, dass sie ihren Mitgliedern unendlich viel Nahrung ohne individuelle Anstrengungen geben könne, dass ihre Führer vergöttlicht würden und in permanenter Kontrolle über ihre Mitglieder sein sollten, dass Sündenböcke nützlich seien und Opfer wichtig für die Reinigung der Gruppengefühle wären, dass sie periodisch von monströsen Außen- und heimlichen Innenfeinden bedroht würden, dass niemals ein Einzelner für die Taten der Gruppe verantwortlich wäre und so weiter — all dies sind defensive Strukturen, die gemeinsame traumatische Inhalte organisieren und wiederaufführen.42 So nutzen etwa Mitgliederwerber von Kulten die Neigung von Menschen, unter die Kontrolle von Gruppen zu geraten und Gruppenfantasien auszuleben; jedenfalls gehören mehr als 20 Millionen Amerikaner Kulten und kultähnlichen Gruppierungen an, die es ihnen ermöglichen, mit idealisierten und bedrohlichen Teilen der sozialen Alter Egos anderer Verbindungen einzugehen.43

Es ist nicht schwer zu erkennen, wenn Mitglieder von Face-to-Face-Gruppen in ihr soziales Alter Ego wechseln und Gruppenfantasien entwickeln. Wenn sich die Gruppe zum ersten Mal trifft, plaudern die Menschen, lachen, argumentieren und interagieren mit den anderen Individuen aus ihrer Wirtspersönlichkeit heraus. Zu einem bestimmten Zeitpunkt aber, wenn sich die Gruppe formen soll, wechseln Individuen in ihr soziales Alter Ego, eine soziale Tranceform,44 und die Gruppenfantasie bestimmt das Geschehen. Sprache und Benehmen ändern sich, und die Menschen fühlen sich irgendwie distanziert, ihrer normalen Gefühlsbandbreite entfremdet und ihrer kritischen Fähigkeiten beraubt. 


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Ein die Lage unter Kontrolle habender Führer wird imaginiert, obwohl er vielleicht gar nicht anwesend ist, Gruppengrenzen werden fantasiert, von Arbeit glaubt man, dass sie ohne Aufwand erledigt werden kann, magisches Denken verbreitet sich, Feinde tauchen auf, Splittergruppen formieren sich, Empathie verringert sich, zumal die anderen jetzt so erfüllt mit den Projektionen der Gruppe sind.

 

All das dauert in der Regel nur wenige Minuten an. Andere auszubeuten und zu missbrauchen wird akzeptabel, weil die Mitglieder selbst einmal ausgebeutet und missbraucht wurden. Sündenböcke stellen sich freiwillig als Opfer zu Verfügung, eine Gruppenbibel, eine Gruppengeschichte, ein Wir-Gefühl und andere wahnartige Gruppenfantasien bilden sich, und ein Gruppenleben beginnt, ein scheinbar emotionaleres vitales Leben als der Alltag, trotz einer in Gruppen üblichen allgegenwärtigen Müdigkeit als Folge der sozialen Trance. Wenn eine Gruppe sich wieder auflöst, oft mit einem trancebrechenden Händeklatschen, genannt »Applaus«, wachen die Menschen auf, unterbrechen die Fahrt, wechseln in ihre zentralen Persönlichkeiten zurück und erleben einen ungeheuren emotionalen Tiefschlag, weil vitale Teile ihres Selbst verloren gingen, sind für einen Moment orientierungslos. Die Gruppe beginnt ihr eigenes Ende zu betrauern - in der gleichen Weise, wie multiple Persönlichkeiten sich ihren wahren Gefühlen näher fühlen, wenn sie in ihr soziales Alter Ego wechseln. Intuitiv erfasste Aristoteles dies, als er sagte, dass der Mensch ein zoon politikon sei, ohne sein »politisches Selbst«, sein soziales Alter Ego unvollständig.

 

Gehorsamkeit gegenüber Autoritäten in sozialer Trance

 

Nur wenn man realisiert, dass wir alle unsere sozialen Alter Egos, die sich in Gruppen manifestieren, mit uns tragen, können so ungeklärte Experimente, wie sie in Stanley Milgrams klassischer Studie Obedience to Authority45) beschrieben sind, verstanden werden. In seinem Experiment wurden die einen gebeten, »Lehrer« zu sein und, wann immer ihre »Schüler« einen Fehler machten, diesen dafür massive Elektroschocks zuzufügen. Den Schülern, die ihren Part nur spielten, wurde beigebracht, Schmerzensschreie auszustoßen, obwohl die Elektroschocks nicht wirklich existierten. 

Von den 40 Lehrern verabreichten 65 Prozent die maximale Schockdosis, obwohl sie sahen, wie die Schüler vor Schmerzen aufschrieen und um Erlösung baten, und das, obwohl man ihnen mitteilte, dass sie das Schockniveau nicht hinaufsetzen müssten. Vielfach zitterten die Lehrer bei dem Gedanken, stöhnten und waren aufgebracht darüber, Schmerzen zuzufügen, fuhren aber nichtsdestotrotz damit fort. Dass die Lehrer glaubten, die Schocks seien real, wird durch eine andere Version des Experiments bestätigt, wobei einem jungen Hund tatsächliche Schocks zugefügt wurden, der heulend protestierte; die Statistiken über die Gehorsamkeit waren ähnlich.46 

Sozialwissenschaftler waren über Milgrams Experimente verblüfft und wunderten sich, warum die Teilnehmer so einfach dazu überredet werden konnten, freiwillig Schmerzen zuzufügen. 


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Die eigentliche Erklärung ist, dass sie durch Anschluss an eine Gruppe — der des Universitäts­experiments — in ihre sozialen Alter Egos wechselten und mit ihrem eigenen internalisierten sadistischen Verfolger verschmolzen, der gerne dazu bereit war, die Verantwortung für den Auftrag, Schmerzen zuzufügen, zu übernehmen. Ihr Hadern mit sich selbst, ob sie gehorchen sollten, war eigentlich der Kampf zwischen ihrem sozialen Alter Ego und ihrer Wirtspersönlichkeit.

 

Obwohl viele spätere Experimente die Bedingungen für Gehorsam variierten,47 machte Milgram eines nicht, nämlich das Experiment ohne soziale Trance zu versuchen. Wenn er es nicht als Gruppenerfahrung angelegt hätte, wenn er einfach als eigene Autorität — alleine — an jedes Individuum herangetreten wäre, und er, ohne auf die Universität oder irgendeine andere Gruppe anzuspielen, die Teilnehmer gebeten hätte, zu ihm nach Hause zu kommen, um jemanden mittels massiver Elektroschocks zu bestrafen, wären sie ihm nicht gefolgt, weil sie nicht in ihr soziales Alter Ego gewechselt hätten. 

Der springende Punkt der Experimente lag in der Existenz der »Gruppe-als-schreckliche-Eltern«, die allmächtige Universität wurde zum Alter-Ego-Container. Wenig überraschend war, dass, als das Experiment mit Kindern wiederholt wurde — die leichter in Trance und in traumatische Inhalte wechseln als Erwachsene —, diese noch folgsamer waren, maximale Schocks zuzufügen.48 Die Teilnehmer waren sogar gehorsam, als sie selbst die Opfer waren: 54 Prozent drehten mittels einer Schaltkonsole auf das maximale Limit, als man ihnen mitteilte, dass dies ihre Ohren schädigen und zu ihrer eigenen Taubheit führen könnte, und 74 Prozent aßen Speisen, von denen sie glaubten, dass sie ihnen schaden könnten, und bestätigten so, wahrhaftig in einem dissoziativen Zustand zu sein, nicht nur Autoritäten zu gehorchen oder versuchen, anderen weh zu tun — es war in Wirklichkeit ein anderes Selbst, das dem Wirtselbst die Schmerzen zufügen ließ.49 Das einzige Mal, dass sie verweigerten zu gehorchen, war, als die Experimentierer eine Gruppenrebellion vortäuschten, was die soziale Trance durchbrach.50

 

Milgram hätte auch herausfinden können, ob es bloßer Gehorsam war, der getestet wurde, indem er seine Probanden gebeten hätte, in ihre Hosentaschen zu greifen, um etwas für bedürftige Kinder zu spenden. Sie hätten es verweigert, weil sie nicht irgendeinem blöden Befehl folgen wollten, sondern sie verwendeten das Experiment, um Sündenböcken zu schaden. Die Nazis hätten Hitler nicht gehorcht, wenn er sie gebeten hätte, nett zu den Juden zu sein. Es ist der internalisierte Inhalt des sozialen Alter Egos, der in der Herstellung destruktiven Gehorsams effektiv wird, und nicht die Folgsamkeit gegenüber Autoritäten.

Milgrams Subjekte — wie alle, die an Kriegen und sozialer Gewalt teilnehmen — verloren ihre Fähigkeit zur Empathie mit den Opfern nur im Zustand sozialer Trance. Diejenigen, die damit fortfahren, Milgrams Experimente zu replizieren, und die immer noch darüber verblüfft sind, warum »banalste und oberflächlichste Erklärungen ... ausreichen, bei Menschen destruktives Verhalten auszulösen«,51 unterschätzen ganz einfach die Menge an Traumata, die die meisten Menschen erlebt haben, und die Effektivität von sozialer Trance, die es ihnen erlaubt, diese Schmerzen wiederaufzuführen.


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Die Gruppenfantasien von Nationen 

 

Auch wenn keine Gruppe zu klein ist, die Gruppenfantasien ihrer Mitglieder zu synchronisieren und auszuleben, gilt: Je größer die Gruppe ist, umso tiefer kann sie auch in soziale Trance geraten, umso irrationalere Gruppenfantasien kann sie in Umlauf bringen und ausagieren. Die dissoziative Schande, welche in Kleingruppen operiert, ist bei Nationen ebenso vorhanden; ob Präsident Kennedy, der aus Rache dafür, von Premier Chruschtschow gedemütigt worden zu sein, beinahe eine nukleare Apokalypse in Kuba losgetreten hätte oder Deutschland, das den Zweiten Weltkrieg aus Rache für die Schande von Versailles begonnen hat. 

[Der Autor verweist an dieser Stelle auf das deutsche Wort Scham, das auch für die Bezeichnung des Genitalbereiches verwendet wird, mit dem Hinweis auf das englische Wort shame — Schande; A.d.Ü.] 62)

Dass Nationen einen zentralen Verfolgungsauftrag haben, ist eine weit gehend verleugnete Wahrheit. Vielmehr partizipieren mehr Angehörige von Nationen in der einen oder anderen Weise an Folterungen, Tötungen und/oder an ökonomischen und politischen Herrschaftsformen. Wir verleugnen das nur in der Kollusion solcher Wahnvorstellungen, der Führer sei daran schuld, dass Leiden verdient würde, dass durch Bestrafung reformiert würde, dass Töten moralisch wäre, dass einige Menschen nicht menschlich wären, dass Opfer Erneuerung bringen und dass Gewalt befreiend wirkt. In der Tat ist das meiste, was in Geschichtsbüchern steht, total verrückt — am allerverrücktesten ist die Auffassung von Historikern, die meinen, dies alles wäre vernünftig.

Nur wenn wir die Allgegenwärtigkeit der wahnhaften historischen Gruppenfantasien erkennen, kehrt das persönliche Verantwortungsgefühl zu uns zurück — das Lesen der Tageszeitung, das Ansehen der abendlichen Nachrichten und vieles aus dem täglichen Leben scheint beides, nämlich schmerzhafter und bedeutungsvoller, zu werden, wenn die Empathie in unser soziales Leben zurückkehrt. Seit einiger Zeit, beispielsweise, weine ich häufig beim Ansehen der Abendnachrichten, beim Lesen der Zeitung oder beim Studieren historischer Bücher, eine Reaktion, die ich in jeder Schule, welche ich in 25 Jahren besucht habe, zu unterdrücken gelernt habe. Weil wir oft in unser soziales Alter Ego wechseln, wenn wir versuchen, Geschichte zu studieren, können wir sie nicht verstehen — unsere realen Emotionen sind dissoziiert und deshalb für uns nicht zugänglich.


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Das Konzept des sozialen Alter Egos erklärt, warum Schuldgefühle weder Menschen daran hindern, andere umzubringen, noch Führer davor bewahren, Männer in ihren Tod zu schicken. Soldaten so weit zu bringen, dass sie andere umbringen, ist nicht einfach; Untersuchungen haben gezeigt, dass 80 Prozent der Soldaten in den Kriegen des 20. Jahrhunderts verweigerten, auf den Feind zu schießen, auch wenn dies bedeutete, dass sie wegen ihrer Verweigerung selbst getötet würden.53 Die Aufgabe des Militärs ist es, den Prozess des Wechsels in das verfolgende Alter Ego des Soldaten zu konditionieren, damit er von seiner normalen empathischen Persönlichkeit abgeschnitten wird. 

Nur wenn ein Soldat in sein verfolgendes soziales Alter Ego wechselt, kann er ohne überwältigende Schuldgefühle töten; selten kann er später genügend Verbindung zu seinem Töten aufbauen und, wie es ein Veteran gemacht hat, zugeben: »Damals hat es mich nicht sehr hergenommen, aber wenn ich jetzt daran denke — ich hab diese Leute abgeschlachtet. Ich habe sie ermordet.«54 Weil Soldaten in früheren Zeiten mehr im Nahkampf fochten, konnten sie leichter das Gefühl von Schuld erfahren, selten fielen beim Kampf mehr als ein paar Hundert Männer,55 während moderne Kriege, spezialisiert auf Distanzierung, Verleugnung und Trance auslösende Trainings,56 im 20. Jahrhundert mehr als 100 Millionen Menschen umgebracht haben.

 

Kindeserziehung und soziale Trance 

 

Experimente haben den direkten Zusammenhang zwischen einer traumatischen Kindheit und der Fähigkeit, in Trance zu fallen, bewiesen.67 Die durch das Kindheitstrauma notwendig gemachte Entpersonalisierung, als Form einer hypnotischen Umgehung zur Verhinderung der schmerzhaften Einwirkung des frühen Traumas, findet beim Erwachsenen eine Anwendung. So überrascht es nicht, dass eine Untersuchung über politische Einstellungen eine direkte Korrelation zwischen einer strengen Erziehung und autoritären politischen Annahmen, wie dem Gebrauch von Militär, dem Glauben an die Todesstrafe und anderen bestrafenden politischen Aktionen, zeigte.58

Jenen, denen es gelingt, außerhalb der sozialen Trance zu bleiben, sind die raren Individuen, deren Kindeserziehung weniger traumatisch verlief als beim Rest der Gesellschaft — oder deren persönliche Erkenntnisse durch Psychotherapie oder andere Mittel jene ihrer Nachbarn übersteigen. So erbrachten beispielsweise ausführliche Interviews mit Menschen, die sich während des Holocaust als Retter von Juden betätigten, im Vergleich zu einer Kontrollgruppe von Menschen, die Verfolger waren oder »bloß« dabei waren und das Töten von Juden billigten, erstaunliche Unterschiede in deren Erziehung.59 Während alle anderen Dimensionen des Lebens der Retter denen der Kontrollgruppe ähnelten — Religion, Ausbildung, sogar politische Meinungen —, war ihre Kindheit der Bereich, der die Retter von den anderen unterschied; ihre Eltern wendeten bei der Erziehung argumentative Formen an, im Unterschied zur üblichen Praxis europäischer Eltern in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, Kinder zur Erzwingung von Gehorsam zu schlagen und zu treten.


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Man fand heraus, dass die Eltern der Retter ein gleichbleibendes, unübliches Interesse an Gerechtigkeit, mehr Liebe und Respekt für ihre Kinder, mehr Toleranz für ihre Aktivitäten zeigten und weniger Nachdruck auf Gehorsam legten. All das ermöglichte den Rettern, in ihrer empathischen normalen Persönlichkeit zu verbleiben, sich nicht in das soziale Alter Ego begeben und ihre Gefühle für Juden als menschliche Wesen dissoziieren zu müssen. Die Retter riskierten ihr Leben nicht, weil sie irgendeine Verbindung zum Judentum hatten oder politisch radikal waren, sondern weil sie in ihrem mitfühlenden persönlichen Selbst verblieben, anstatt in die soziale Trance zu kippen, die der Rest der Gesellschaft konstruierte.

 

Die Traumwelt der sozialen Trance 

 

Relativ wenig Menschen sind klinisch als dissoziierte Persönlichkeiten diagnostiziert worden.60 So gut wie alle von ihnen hatten ein schweres frühes Trauma erlitten: 85 Prozent wurden sexuell missbraucht, 75 Prozent wurden körperlich schwer missbraucht, 60 Prozent wurden zu Subjekten extremer Verwahrlosung, 40 Prozent waren Augenzeugen gewaltsamen Todes, und eine große Anzahl von ihnen waren Opfer extremer Sadismen inklusive Folter, Kinderprostitution, Todeserfahrungen, wurden in Kellern oder Schränken eingesperrt usw.61 Die Menge an Dissoziationen in einer zufällig gewählten Versuchsmenge der Gesamtpopulation ergab, dass verschiedene Formen von dissoziativen Erfahrungen ziemlich üblich sind — Zigmillionen Amerikaner erfuhren während religiöser oder anderer Rituale Dissoziationen — und dass Dissoziation ein Kontinuum darstellt, von leichteren hin zu schwereren Formen.62 Und so dissoziieren die meisten von uns nur dann massiv, wenn wir in unseren sozialen Alter Egos sind, wenn wir an der Traumwelt der Gruppentrance teilnehmen.

Soziale Alter Egos haben für jeden von uns eine Entwicklungsgeschichte. Sie beginnen ihre eigenständige Existenz in unseren frühesten Stunden als Beschützer, dann als Verfolger und entwickeln sich letztlich zu einer organisierten Gruppenfantasie der Verfolgung im Erwachsenendasein, wobei Elemente aufbewahrt bleiben, die ihre frühen Ursprünge verraten. So wird das traumatische Material unserer ersten Tage, voll von höllischen Gebärmuttern und ausgestoßenen Kindern, furchterregenden Müttern und gewalttätigen Vätern, durch Märchengeschichten, Filme, Fernsehprogramme und Schulen organisiert, zuerst in Drachen und Ritter, später in Imperien des Bösen und amerikanische Präsidenten, die in Star Wars kämpfen. Wie auch immer die infantilen Wurzeln verkleidet sind, diese politischen Fantasien von Erwachsenen sind organisierte verfolgende soziale Alter Egos und werden als kollektive wahnhafte Visionen der Welt und Billionen-Dollar-Waffensysteme realisiert — oder als Gruppenfantasien konkretisiert.


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Die Verschmelzung mit dem Täter 

 

Letztlich verschmilzt unser soziales Alter Ego mit dem Verursacher früher Traumata. In der Gruppenfantasie verschmelzen wir mit dem Aggressor zur Vermeidung von Hilflosigkeit und fügen dann Kindern als Sündenböcken Leid zu, oft unter dem Deckmantel, Kindern zu helfen. Wir sehen die Verschmelzung mit dem Täter in jeder Sündenbockgruppenfantasie. Wenn Menschen Juden verfolgen, verschmelzen sie mit den missbrauchenden Eltern und bestrafen das missbrauchte Kind. Die Juden müssen verfolgt werden, sagt der Heilige Johannes Chrysostomos, für ihre »obszöne Grobheit und ihre extreme Unersättlichkeit« — und offenbart, wie Kinder in seiner Zeit sexuelle Verführung und Verlangen erfahren mussten. Die Juden sind »Gottesmörder« und müssen für die mörderische Wut der Kinder gegenüber ihren Missbrauchern, ihren Göttern, ihren Bezugspersonen, bestraft werden.63 Die Idee, dass »alle Juden umgebracht werden müssen, weil sie sonst das deutsche Volk vernichten«, ist einfach die Version des sozialen Alter Egos mit der Vorstellung, »alle zornigen Kinder müssen bestraft werden, sonst bringen sie ihre Eltern um«. Historische Ereignisse der Erwachsenen, seien sie politisch oder ökonomisch, liefern nur ungefähre Gründe für Sündenbockgruppenfantasien — ihre eigentliche Ursache liegt in frühen traumatischen Ereignissen.

 

Funktionen des sozialen Alter Egos 

 

Soziale Alter Egos sind ein Produkt der Evolution des menschlichen Gehirns, welches mit dissoziierten Modulen anfing und sich nur langsam zu einem integrierteren Selbst entwickelte. Unsere Spezies begann mit nur wenig mehr privatem Selbst als dem von Schimpansen, war im Wesentlichen von unserem unbewussten amygdalen Gedächtnissystem kontrolliert und lebte mit wenig Selbstbewusstsein oder Empathie. Menschen waren nur durch den Erwerb von Sprache und durch die Evolution der Kindeserziehung in der Lage, ein volles Selbstbewusstsein auszuformen und eine bedeutende epigenetische (zusätzlich zu einer genetischen) Evolution der Psyche zu erzielen. Durch Abspaltung und anschließende Vergemeinschaftung der Gefühle in unseren sozialen Alter Egos war es uns möglich, für einige Zeit vernünftig zu bleiben und den Dingen des täglichen Lebens nachzugehen, während wir unsere schmerzhaftesten Traumata und tiefsten Gefühle hinter einem separaten Teil unserer Psyche vermauerten.

Unsere sozialen Alter Egos beinhalten früh angelegte Schichten unserer unerträglichen Leiden (»Warum mochte mich Mami nicht?«, »Warum hat mich Papa geschlagen?«), wiederaufgeführt als Märchen (»Gibt es Hexen?«, »Werden mich die Monster töten?«) und später als soziale Fragen (»Sollen wir Teenagermüttern ihre Kinder wegnehmen?«, »Ist Saddam Hussein ein neuer Hitler, der die Welt in die Luft sprengen wird?«). 


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Die adaptive Funktion des sozialen Alter Egos erlaubt den Menschen, ihren täglichen Geschäften nachzugehen, ohne von traumatischen Erinnerungen und der darauf folgenden Verzweiflung überwältigt zu werden — wie es bei verrückten Leuten passiert. Durch die Dissoziation früherer Verfolger in unsere sozialen Alter Egos und die Identifikation mit diesen Verfolgern in unserem sozialen Leben schaffen wir Menschen es einigermaßen, ein etwas vernünftigeres tägliches Leben zu führen, während wir nicht erkennbare, aber spürbare Gefahren durch das »Verfüttern« von Opfern der Gesellschaft an schreckliche religiöse, politische und ökonomische Göttlichkeiten abwenden.

 

Die Herbeiführung von sozialer Trance 

 

Frühe Gesellschaften waren so tief in sozialer Trance, dass sie trotz ihres exzellenten, auf Erfahrung basierenden, intellektuellen Wissens von der Welt die unvorstellbarsten, bizarrsten magischen Vorstellungen miteinander teilten, während sie sich im sozialen Alter Ego befanden. Evolutionäre Anpassungstheorien geraten bei der Allgegenwärtigkeit dieser bizarren und offenkundig nicht anwendbaren kulturellen Eigenschaften ins Schwimmen. 

Da ist nichts Adaptives in der Aufrechterhaltung des Glaubens, dass jemand bald sterben muss, wenn man ein Stück Holz in eine Kaurimuschel steckt und diese dann zur Seite fällt,64 oder der Annahme, dass Kriege die Potenz von Männern und Gesellschaften wiederherstellen. Der Großteil von Kultur besteht aus Verhaltensweisen wie diesen, die durch Entwicklungspsychologie nachvollziehbar gemacht werden, nicht aber durch Theorien über Anpassung an die Umgebung. Weil frühe Gesellschaften eine so geringe Entwicklung ihres privaten Selbst in der Kindheit besaßen, lebten sie die meiste Zeit ihres Lebens in ihren sozialen Alter Egos — in einer Traumwelt von bösartigen Hexen, Geistern und anderen verfolgenden Wesen. 

Es zeigte sich, dass sowohl verschlingende Hexen als auch zum Beispiel die hilfreichen tierischen Vertrauten der Schamanen eigentlich Alter Egos sind, die in der Kindheit zuerst als imaginierte Kameraden entstanden65 — das heißt, sie werden vom Kind geschaffen, um das Trauma zu »halten«. Ob als neuguineischer Kannibale, als antike griechische Mutter, als Balinese in Trance oder als antisemitischer Nazi, zuerst formt man im Kopf ein Alter Ego eines verschlingenden, blutrünstigen Dämons — unter Verwendung traumatischer Erinnerungen, die zurückreichen bis zur Giftigen Plazenta — und kolludiert mit anderen, um dieses Bild auf furchtbare Hexen, eine verschlingende Striga, einen blutrünstigen Leyak oder einen giftigen Juden zu projizieren, und lindert so innerpsychischen Stress.

Unsere politischen Meinungen heute sind vielfach nicht weniger magisch als die religiösen Glaubensinhalte früherer Zeiten. Der Glaube, das Töten und Verbrennen von Juden könnte deutsches Blut reinigen, basiert auf der gleichen Art von Trancelogik wie frühere Annahmen, das Töten und Verbrennen von Kindern als Opfer für Götter würde eine bessere Ernte garantieren. 


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Beide sind zur Aufrechterhaltung ihrer Zurechnungsfähigkeit von ihren sozialen Alter Egos abhängig. Nur nach dem Wechsel in ihre sozialen Alter Egos können normalerweise friedvolle Menschen zu Verfolgern werden, setzen schreckliche Masken auf oder ziehen Hakenkreuzuniformen an und schlagen Feinden die Köpfe ab oder vergasen Juden. Danach, wenn ihre Traumata wiederaufgeführt wurden, können sie nach Hause gehen, ihre Masken und Alter Egos ablegen und mit ihren Familien zu Abend essen.

Jede bekannte Gesellschaft hat Trancerituale, die dazu da sind, ihren Mitgliedern zu helfen, in deren soziale Alter Egos zu wechseln, sich in Gruppenfantasien zu begeben und sich auf soziale Handlungen zur Linderung von emotionalem Schmerz vorzubereiten. Bourguignon zählte unter 488 untersuchten Gesellschaften 437, die formale Trancerituale besitzen,66 sie verwendet aber eine sehr enge Definition dafür, was Trance konstituiert. Faktisch fehlen keiner Gesellschaft ihre Trancerituale. Offensichtlich gibt einem die Dissoziation vom sozialen Alter Ego, unabhängig von der Dauer, das Gefühl, wichtige Teile des Selbst wären verloren gegangen. So sagte ein !Kung-Buschmann auf die Frage, warum er jede Woche an einem Tranceritual teilnimmt: »Ich kann wirklich wieder ich selbst werden.«67

Die Anthropologie und Neurobiologie von Tranceritualen ist ausführlich untersucht worden.68 Die altehrwürdigen Techniken formaler Tranceinduktion sind allgemein bekannt: Fasten, schnelles Atmen, Inhalation von Rauch und die Einnahme von Drogen, das Zufügen von Schmerz und die Verwendung von trommelnder, pulsierender Musik und Tanz — all dies sind »beschleunigende Verhaltensmuster« für die Reproduktion von Schmerz, Hypoxie und dem Schock frühen Traumas sowie zum Einstieg in den biologischen Rhythmus der Gruppe. Neurobiologisch gesehen ist die amygdale-hippocampale Balance Dreh- und Angelpunkt in Trancezuständen, sie erhöht die Thetawellenrhythmen im Hippocampus, was auf eine zunehmende Aktivität und Aufmerksamkeit gegenüber frühen in der Amygdala konzentrierten Erinnerungen hindeutet und den Zugang zu dissoziierten traumatischen Erfahrungen ermöglicht.69 Die Motive für den Eintritt in Gruppentrance sind jedoch unerforscht geblieben.

Der Führer jeder Gruppe ist ein emotionaler Delegierter für die Bedürfnisse der Gruppe, Trance auszulösen. Freud, der dabei LeBon folgte, erkannte eine Ähnlichkeit zwischen Gruppenfaszination und hypnotischer Trance. Hitler bestätigte seine Erkenntnis: »Mir wurde vorgeworfen, die Massen zu fanatisieren ... Aber was man Menschenmassen in einem empfänglichen Zustand fanatischer Hingabe mitteilt, bleibt wie Worte unter hypnotischem Einfluss, unauslöschlich und jeder vernünftigen Erklärung unzugänglich.«70)

Fig. 5-2 
Ein Mann 
in seinem sozialen Alter Ego.


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Dass das Wiedererlangen und Wiederaufführen früher Traumata die Ziele von sozialer Trance sind, legt die Entdeckung von Hilgard über die Korrelation von der Schwere der Kindheitsmisshandlungen und der Fähigkeit zu hypnotischer Trance nahe.71 Obwohl viele kleinere Gruppen zugeben, dass das Ziel ihrer Trancerituale einen Versuch darstellt, Traumata durch exorzistische Rituale zu heilen, neigen wir heute dazu, dies zu verleugnen. Denn erst wenn die Rationalisierungen unserer Trancerituale entfernt werden und ihre verborgenen Rhythmen und die in ihnen eingebetteten Botschaften zur Analyse freigegeben werden, können ihr traumatischer Ursprung und die modernen Formen von rituellem Exorzismus von Alter Egos/Teufeln augenscheinlich gemacht werden.

 

Fantasieanalyse 

 

Die letzten beiden Jahrzehnte hindurch habe ich eine Technik, die ich Fantasieanalyse nenne, entwickelt und getestet, die versteckte emotionale Botschaften, eingebettet in scheinbar schmeichelnde und langweilige Reden und Pressekonferenzen von leitenden Personen sowie anderes verbales und nonverbales politisches Material, enthüllt.72) Der Zweck der Fantasieanalyse ist es, das Gefühl festzuhalten, wie es ist, Teil des gemeinsamen emotionalen Lebens der Gruppe zu sein. Andere haben bestätigt, dass die Fantasieanalyse von politischem Material ein »Stein von Rosetta« sein könnte, der neue Dimensionen unserer Gruppenfantasien eröffnen und auch dafür verwendet werden könnte, zukünftiges politisches Verhalten vorauszusagen.73) 

Genauso wie experimentelle Psychologen zeigten, dass visuelle Stimuli, die sublim tachistoskopisch in Hundertstelsekunden gezeigt werden, im Unterbewusstsein und in Träumen registriert werden, während sie das Bewusstsein umgehen,74 so sind auch sublime Botschaften in Reden und in den Medien durch die Auswahl bestimmter Metaphern, Vergleiche und emotionaler Bilder eingebettet. Die Fantasieanalyse einer Rede oder anderer historischer Dokumente entfernt defensive Anteile und filtert emotional aussagekräftige Fantasiebegriffe heraus, die die wahre Botschaft enthalten, und sie dekodiert den verborgenen Inhalt durch die Verwandtschaft zum Bild. Die Regeln der Fantasieanalyse sind einfach:

1. Aufzeichnen aller gefühlsbetonten Wörter, auch wenn sie in harmlosen Kontexten vorkommen, wie etwa »den Gesetzesentwurf im Kongress zu Fall bringen« oder »das Budget kürzen«. Dabei sollte man zurückhaltend sein; das Aufzeichnen schwacher Angstwörter erschwert die Analyse nur, obwohl es selten den emotionalen Inhalt der verborgenen Botschaft verändert.

2. Aufzeichnen aller Metaphern, Vergleiche und grundlos wiederholten Wörter.


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3. Aufzeichnen alle Familienbegriffe, wie Mutter, Vater, Kinder.

4. Eliminieren von Negationen, da beispielsweise »wir wollen keinen Krieg« immer noch von Krieg handelt und auch als »wir wollen Frieden« formuliert hätte werden können.

5. Erneutes Aufschreiben der Fantasiewörter in Sätzen, um die versteckten Botschaften zu enthüllen.

 

Meine Bücher und Artikel der letzten beiden Jahrzehnte enthalten umfassende Fantasieanalysen von Präsidenten­reden und Pressekonferenzen und können als Beispiele dafür, wie das Verfahren die Gruppen­fantasien einer Nation zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt enthüllt, nachgelesen werden.75 Die folgende Analyse der Rede von Ronald Reagan, in der er seine Kandidatur zur Wiederwahl im Jahr 1984 annimmt, ist ein Beispiel für die Technik der Fantasieanalyse und illustriert den Prozess der Einleitung von Trance, die Suche nach traumatischen Inhalten und den unbewussten Pakt des Führers mit der Nation darüber, was geschehen sollte.

Die meisten politischen Meetings werden nicht zum Treffen von Entscheidungen, sondern zur Vertiefung der sozialen Trance abgehalten, um in das soziale Alter Ego zu wechseln und um sich den unbewussten emotionalen Strategien zur Handhabung der inneren emotionalen Probleme ihrer verborgenen Welt anzuschließen. Die folgende Rede wurde von Ronald Reagan 1984 am Republikanischen Parteitag gehalten. Schon vor dem Beginn politischer Reden werden wichtige Tranceinduktionsbedingungen etabliert. 

 

Fig. 5-3 
Reagan, 
als Auslöser von Trance.

 

 


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Das Publikum ist normalerweise auf voll besetzten Stühlen bewegungsunfähig gemacht, was die Hilflosigkeit der Kindheit widerspiegelt. Beim Republikanischen Parteitag 1984 wurde den Delegierten vor Beginn der Rede Reagans ein spezieller Film auf einer riesigen Leinwand über der Bühne vorgeführt. Er war so langweilig — hauptsächlich wurde sein Gesicht in Großaufnahme, als ob er eine große Mutter wäre und die Delegierten Kinder, gezeigt —, sodass das Publikum schon zu diesem Zeitpunkt zu regredieren und zu dissoziieren begann. Diesbezüglich schreibt auch Hypnotherapeut Milton Erickson, dass es eine der wirksamsten Tranceinduktionstechniken sei, sehr langweilig zu sein, weil das Bewusstsein dabei bald den Realitätsbezug verliere.76 Die einzigen Personen, die das Publikum fokussieren konnten, waren Kader von jungen Republikanern, die ihre Arme in der Luft schwenkten und rhythmisch »U. S. A.! U. S. A.!« schrieen.77

Reagan begann den Tranceinduktionsteil seiner Rede in Herzschlaggeschwindigkeit — das heißt, in einem Rhythmus von etwa 70 Schlägen pro Minute, obwohl beim normalen Sprechen die Schläge bei über 120 pro Minute liegen. Fast alle Politiker sprechen mit dieser abnormal niedrigen Rate von 70 Schlägen pro Minute, auch wenn Mikrophone ihre Worte einem großen Publikum ziemlich klar vermitteln. Der Grund ist, dass das die Herzschlagrate des Herzens der Mutter ist, welches man als erstes in der Gebärmutter vernimmt. Auch andere Tranceherbeiführende - Priester und Hypnotiseure - verlangsamen instinktiv auf 70 Schläge pro Minute und vermitteln so ihrem Publikum ein maternales Herzschlagen. Um diese Regression in die Wärme des Mutterleibes zu verstärken, waren Reagans erste Fantasieworte (fett geschrieben) an sein Publikum und die Nation vor den Fernsehbildschirmen (lesen Sie sich das sehr langsam vor, um den dissoziativen Effekt zu spüren):

Vielen Dank, Herr Vorsitzender, Herr Vizepräsident, Delegierte dieser Parteiversammlung und Mitbürger. In 75 Tagen, hoffe ich, werden wir uns an einem Sieg erfreuen, der die Größe des Herzens von Texas hat. Nancy und ich erweitern unsere tiefe Dankbarkeit an den Lone-Star-Bundesstaat und an »Big D«, die Stadt Dallas, für all ihre Wärme und Gastfreundschaft.

Nach diesen schwangeren Worten beginnt Reagan in Babysprache zu reden, so als ob er zu einem Publikum von Dreijährigen sprechen würde — eine Technik, die ebenso vom Hypnotherapeuten Milton Erickson zur Einleitung von Trance durch Altersregression verwendet wurde. Erickson erzählt für gewöhnlich Parabeln in Kindersprache, die oft von Tieren handeln; Reagan tut das Gleiche (noch einmal, lesen Sie sehr langsam und beobachten Sie, wie die Augenlider dabei schwer werden):

Vor vier Jahren kannte ich nicht alle Aufgaben dieses Amts genau, und vor nicht allzu langer Zeit lernte ich einige neue von den Erstklässlern der Corpus Christi Schule in Chambersburg, Pennsylvania, dazu. Die kleine Leah Kline wurde von ihrem Lehrer gefragt, ob sie meine Aufgaben beschreiben könne. Sie sagte: »Der Präsident geht zu Besprechungen. Er hilft den Tieren. Der Präsident wird frustriert. Er spricht mit anderen Präsidenten.«


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Erstaunlich ist nicht nur, dass der Führer der mächtigsten Nation der Welt — konfrontiert mit steigenden Defiziten wegen seiner gigantischen militärischen Aufrüstung und einem drohenden Krieg mit Nicaragua — die Erklärung seiner Pläne für die Nation in den nächsten vier Jahren in Kindersprache begann. Noch überraschender ist, dass niemand irgendetwas Komisches daran fand! Die Rede erschien wie normale Politik und Reagan wurde ein Redemeister genannt. Wir alle sind mehr oder weniger daran gewöhnt, dass unsere Führer in einer langweiligen und übertrieben langsamen Kindersprache zu uns sprechen. Regelmäßig verlangen wir von ihnen, uns in Trance zu versetzen, damit wir in unser Alter Ego wechseln und unsere Fantasien koordinieren können. Die Realität ist dabei ziemlich nebensächlich.

Reagan wiederholt mehrere »Herz«-Ausdrücke (die ich aus Platzgründen überspringe) und beginnt dann, mit wiederholten »teilenden« Wörtern den bewussten Verstand vom Unbewussten zu dissoziieren, größtenteils in derselben Art, mit der ein Hypnotherapeut die Aufmerksamkeit spalten will, wenn er dazu auffordert, den sich hebenden Arm anzusehen, während der andere fällt:

Die Wahl ist dieses Jahr nicht nur zwischen zwei verschiedenen Persönlichkeiten oder zwischen zwei verschiedenen Zukunftsvisionen, zwei fundamental unterschiedlichen Regierungsstilen zu treffen — deren Regierung des Pessimismus, der Angst und der Einschränkungen oder unsere der Hoffnung, Zuversicht und des Wachstums. Deren Regierung — deren Regierung betrachtet die Menschen als bloß zu einer Gruppe gehörig. Unsere dient allen Menschen Amerikas als Individuen. Ihre [Regierung] lebt in der Vergangenheit, sie versuchen alte und gescheiterte Politik auf eine Ära anzuwenden, die sie überlebt hat. Unsere lernt von der Vergangenheit und bemüht sich mutig, einen neuen Weg für die Zukunft zu zeichnen. Deren [Weg] lebt von Versprechungen — je größer, umso besser. Wir bieten geprüfte, machbare Antworten.

Die letzte Induktionstechnik ist Altersregression:

Unsere Gegner begannen diese Kampagne in der Hoffnung, Amerika hätte ein schlechtes Gedächtnis. Also machen wir mit ihnen einen kleinen Spaziergang in die Erinnerung ...

Die soziale Trance beginnt jetzt zu wirken und die Gruppe hat in ihr soziales Alter Ego gewechselt. Die Mitglieder des Publikums sind jetzt biologisch mit dem Sprecher und miteinander vereint; subtil bewegen sie sich aufeinander zu, obwohl sich niemand darüber Gedanken gemacht hatte, darauf im Rahmen politischer Treffen Wert zu legen, außer bei so offensichtlichen Vereinigungen wie synchronisierten Fahnenbewegungen oder einem Nazi-Massensalut. Diese Vereinigung selbst beschwört frühe Erinnerungen herauf, weil sie daran erinnert, wie Babies innerhalb von Minuten nach der Geburt die Stimmen von Erwachsenen in ihrer Umgebung antizipieren (und möglicherweise auch im Uterus),78 sie ihren Kopf, ihre Arme, ihren Körper und ihre Finger zum Klang der Erwachsenen schwenken und bewegen.


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Nach der Tranceinduktion fängt Reagan damit an, was Erickson die unbewusste Suche nennt, nämlich herauszufinden zu versuchen, welche Gefühle das Publikum und die Nation zu diesem speziellen historischen Zeitpunkt stören. (Um Platz zu sparen, gebe ich von nun an nur Sätze mit Fantasiewörtern wieder.) Nun folgen Reagans Aussagen darüber, was die Nation Ende 1984 beunruhigt:

Inflation war keine Plage, die aus dem Wind geboren wurde ... Sie wurden durch ein fehlgerichtetes Getreideembargo vernichtet ... Bauern müssen Insekten, Wetter und die Marktlage bekämpfen — sie sollten nicht auch noch mit ihrer eigenen Regierung kämpfen müssen ... Unter ihrer Politik sind die Steuersätze für Familien mit Kindern dreimal stärker gestiegen als für alle anderen ... Jemand, der in San Francisco so laut von Fairness gesprochen hat, war einer von denen, die die größte einzelne Steuererhöhung in unserer Geschichte beschlossen haben ... Sie erhielten einige Erleichterung, als 1983 unsere Steuern linear gekürzt wurden ... Würde das den Reichen wirklich weh tun?

Dass als erstes Fantasiewort der unbewussten Suche nach kollektiven Gefühlen Plage gewählt wird, warnt uns vor einer gravierenden emotionalen Störung, zumal dies das Codewort für paranoide Fantasien über Massenverunreinigung, von den wahnhaften apokalyptischen Plagen der Antike bis zur »Judenplage« des modernen Antisemitismus, ist. Was könnte die Ursache für das Empfinden einer Plage und einer am Boden zerstörten Gesellschaft sein? Vielleicht hat es mit Kampf und Kindern zu tun, die schreiend zerstückelt und verletzt werden? Vielleicht sind verletzte Kinder zu laut? Die Suche wird fortgesetzt (Um Platz zu sparen, notiere ich jetzt nur mehr die Fantasiewörter):

Gestoßen ... kriechen ... außer Kontrolle ... Kontrolle ... Kontrolle ... Kontrolle ... festzurren ... erwürgen ... Elend ... Elend ... Elend ... fallen lassen ... Geburten ... Erleichterung ... zurückschrecken ... schrumpfen ... gefallen ... fallen ... Kinder ... kontrollieren ... Kinder ... Enkelkinder ... unmoralisch ...

Die Gefühle, gewürgt, gestoßen zu werden, und allgemeines Elend scheinen das Problem zu sein. Alles Elend wird außer Kontrolle geratenen und unmoralischen Kindern in die Schuhe geschoben. Wie üblich geben wir unserer eigenen, zunehmend außer Kontrolle geratenen Kindheit die Schuld für unsere Sorgen. (Die Unmoral der Kinder wird später im Rahmen der Zusammenkunft durch das Verurteilen der Christlichen Rechten von Sex bei Teenagern bestätigt.)

Was könne man tun, um diese unmoralischen Kinder zu stoppen? Im Hauptteil seiner Rede sagt uns Reagan, was zu tun sei und erteilt so der Nation einen posthypnotischen Befehl, schließt damit einen »Trancepakt« zwischen dem Führer und seinem Volk:

Verkaufen ... verraten ... Angst ... Kriege ... stark ... kriegerisch ... Studenten ... niederschmettern ... Genozid ... junge Männer ließen ihr Leben ... Opfer ... mörderisch ... Studenten ... Krieg ... zerstückeln ... zerstückeln ... Gewalt ... Beerdigung ... Kinder ... beerdigt ... betrunken ... Krieg ... Krieg ... Kinder ... die Erde befreien ... Bedrohung ...


Die psychogene Geschichtstheorie   95

Schreiben wir Reagans Fantasiewörter in kompletten Sätzen neu auf, erfahren wir, welchen Pakt das Publikum, die Nation, mit Reagan geschlossen hat:

Wir werden verkaufen und verraten, um Angst zu haben in Kriegen von starken kriegerischen jungen Menschen. In einem niederschmetternden Genozid werden junge Männer in einem Opfer, das mörderisch sein wird, ihr Leben gelassen haben. Im Krieg werden die Studenten zerstückelt, zerstückelt mit so einer Gewalt, dass wir Beerdigungen von Kindern haben werden. Sie werden in einem betrunkenen Krieg beerdigt. Der Krieg gegen die Kinder wird die Erde von der Bedrohung in unseren Köpfen befreien.

Das zentrale Projekt Reagans zweiter Amtsperiode — gegen Nicaragua in den Krieg zu ziehen — ist jetzt ein posthypnotischer Befehl, ein Pakt mit dem Teil der Nation, der mit ihm in Trance war (und in soziale Trance fiel). Nur solche Amerikaner, die nicht in Trance fielen — jüngere Psychoklassen, deren Kindheit besser war als die der Mehrheit —, blieben als Gegner von Reagans Vorstoß zu einem mittelamerikanischen Krieg in den nächsten drei Jahren übrig, der dann auch nur knapp verhindert werden konnte.

Die Rede endet mit dem Wechsel des Publikums aus dessen sozialen Alter Egos zurück in Hauptpersönlich­keiten; vervollständigt wurde dieser Vorgang mit Bildern von Frieden, Wärme und, wiederum, »Herz«:

Friede ... Wiege ... Friede ... Fackel ... Fackel ... Fackel ... Fackel ... Fackel ... Blutspuren ... Fackel ... Fackel ... Fackel ... Fackel ... Lampe ... Kinder ... Herz

Dann schlugen die Menschen im Publikum ihre Hände zusammen, um sich selbst aus der tiefen sozialen Trance zu wecken — ganze zehn Minuten lang. Die Nation, die alles mitverfolgt, weiß nun, was sie in den nächsten vier Jahren versuchen sollte: junge Männer zu opfern, damit die Plage außer Kontrolle geratener, unmoralischer Kinder beendet würde. Reagan wurde in der Folge von einer überwältigenden Mehrheit wieder gewählt.

Eine Bestätigung dieser Gruppenfantasie in der Botschaft des Führers erhält man, wenn man die zur gleichen Zeit auftauchenden politischen Cartoons betrachtet, die die verborgenen Gefühle der Nation in einer visualisierten, proverbalen Form zeigen. Gegen Ende 1984 erschienen das erste Mal während Reagans Amtszeit Cartoons von geopferten Kindern, angeblich um Defizite, Abtreibung, Antiabtreibungsterror oder Mutter Russland zu zeigen; in Wirklichkeit aber zeigten sie unser Verlangen nach Kindesopfern.

 

Wachstumspanik und maternales Verschlingen

Eines der am eingehendsten dokumentierten Ergebnisse von drei Jahrzehnten Forschung über Gruppen­fantasien besteht im Nachweis deren unerbittlicher Anbindung an die Person des Führers. 


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Nachdem politische Gefühle so sehr eine Abwehr von Wachstumspanik und den daraus resultierenden Ängsten der Verstoßung durch frühe Liebesobjekte darstellen, organisieren und beleben Gruppen ihre Fantasien mit dem Gefühl, zu jedem speziellen historischen Zeitpunkt Teil einer Gruppe zu sein, die sich mehr Gedanken über den Führer betreffende Gefühle macht als über irgendwelche aktuellen historischen Ereignisse.

Die zentrale Fantasiefunktion des Führers jeder Gruppe, sei sie nun klein oder groß, besteht in der Abwehr der Wiederholung eines frühen Traumas und Verstoßung, verbunden mit der Handhabung von Wünschen, mit der Angst einflößenden Mutter zu verschmelzen. Führer stellt man sich in der Regel als männliche Beschützer gegen maternale Verschlingungsängste vor. Der Gruppenanalyst Didier Anzieu beschreibt die Kleingruppe, die er untersucht, wie folgt: 

»Die Gruppe ist ein Mund ... im Wesentlichen weiblich und mütterlich ... Eine der aktivsten, oder besser paralysierenden, unbewussten Gruppendarstellungen ist die einer Hydra: Die Gruppe fühlt sich an wie ein einzelner Körper mit einem Dutzend Arme, an deren Enden Köpfe und Münder sind ... bereit, einander zu verschlingen, wenn sie nicht zufrieden sind.«79

Wenn der Führer als stark angesehen wird, kann er die Verschlingungsängste der Gruppe erfolgreich abwehren; erscheint der Führer entkräftet, mutet jedes Wachstum gefährlich an, und das Verlangen nach Verschmelzung und maternaler Umarmung steigt, der Führer muss sich also irgendwie so verhalten, dass er die Wachstumspanik abwehrt. Umfassende Arbeiten von Gibbard und Hartman über die Fantasien von Kleingruppen ergaben, dass....

Gruppen sich auf die weitgehend unbewusste Fantasie konzentrieren, dass die Gruppe als Ganzes ein maternales Wesen darstellt oder eine Facette einer mater-nalen Persönlichkeit ... Die Fantasie liefert Gewissheit darüber, dass mit den eher beängstigenden, umhüllenden oder destruktiven Aspekten der Gruppe als Mutter gerechnet werden muss ... Eine der Hauptfunktionen des Gruppenführers besteht in der Abwehr der Umklammerung durch die Gruppe als Mutter. ... Vom Führer der Gruppe glaubt man, dass er die Gruppe als Mutter gemeistert hat und dadurch etwas von ihrem Mana für sich selbst gewinnen konnte. Das macht ihn sowohl zur Bedrohung als auch zum Beschützer.80

Deshalb erleben alle Gruppen — von Banden bis Nationen — Wachstum, Fortschritt und soziale Entwicklung verbunden mit Ängsten vor maternaler Vereinnahmung und Verstoßung. Je miserabler die Erziehung, umso eher wird Wachstumspanik durch Individuation und Selbstbehauptung ausgelöst. Der Weg der kulturellen Evolution ist von der Reduktion von Wachstumspanik durch die Evolution eines fördernderen Erziehungsstils gekennzeichnet. Da diese Kindheitsevolution sehr ungleichmäßig verläuft, verursachen entwickeltere Psychoklassen einen zu großen sozialen Fortschritt für die Mehrheit der Gesellschaft. Alte Formen der Abwehr stehen nicht mehr zur Verfügung, und die Menschen können diverse Sündenböcke nicht mehr in der gleichen Art wie zuvor dominieren und bestrafen Ehefrauen, Sklaven, Dienstboten, Minderheiten. 


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Die weniger fortgeschrittenen Psychoklassen — die Mehrheit der Gesellschaft — beginnen eine enorme Wachstumspanik zu erleben, und neue Wege müssen gefunden werden, mit diesen Ängsten umzugehen. Für sie findet überall Veränderung statt; die Dinge scheinen außer Kontrolle zu geraten. Deshalb werden Wachstum und Selbstbehauptung, wie immer man diese nennt — Hybris, Chuzpe, Erbsünde, menschliches Verlangen an und für sich —, von den religiösen und politischen Systemen der meisten Gesellschaften verboten. Gesellschaften, deren Institutionen sich über den durchschnittlichen Kindeserziehungsmodus hinaus entwickeln, werden zu den schrecklichsten und gewalttätigsten, zumal ihre Wachstumspanik sowohl von der Menge früher Traumata als auch vom sozialen Fortschritt abhängt.

Die Gewalt, die aus der Angst vor maternaler Vereinnahmung resultiert, wurde jedenfalls mit dem eigentlichen Umschlingungsverhalten von Müttern empirisch belegt. Zum Beispiel fanden Ember und Ember81 in ihren kulturübergreifenden Untersuchungen heraus, dass dort, wo die Mütter enger bei ihren Kindern schlafen als die Väter und sie deshalb dazu neigen, ihre Kinder als Ersatz für den Ehemann zu benutzen, vermehrt Totschlag und Gewalttaten vorkommen und auch eine höhere Frequenz der Kriegsführung nachzuweisen ist; beide Korrelationen wurden von der psychogenen Theorie vorausgesagt.

Die Ängste vor maternalem Verschlingen können auch durch die Verschmelzung mit der verschlingenden Mutter in der Fantasie bewältigt werden, um sich dann selbst oder einen Ersatz für sich selbst der verschlingenden Mutter zu opfern. Viele frühe Religionen zeigen weibliche Bestien, die verehrt werden und denen man menschliche Opfer bringt. 

Fig. 5-4 
Fantasien der Kindsopferung in Reagans Amerika.

 


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Die Mayas zum Beispiel opferten, indem sie dem Opfer bei lebendigem Leib das Herz aus der Brust rissen und es Jaguargöttern übergaben, und überließen sogar ihre Kinder lebenden Jaguaren zum Fraß, während in einer Gegend Indiens bis vor kurzem Haie verehrt wurden und »sowohl Männer als auch Frauen sich in Ekstase versetzten und sich den Haien anboten, indem sie bis zur Brust ins Meer [stiegen] und sie bald darauf [von den Haien] gefasst und verschlungen wurden«.82 Maternale Verschlingungsfantasien werden sehr oft in Form sozialer Rituale konkret ausagiert — ob religiös oder militärisch. Initiationszeremonien zeigen gewöhnlich Männer mit Tiermasken, die Initianden »verschlingen«, und Schlachtfelder werden oft als »verschlingende Mäuler« gezeichnet, »in deren Rachen« Soldaten »geschickt« werden, um diese »ihrem Mutterland« zu opfern.

 

Führerschaft und Abwehrformen von Wachstumspanik 

 

Intuitiv sind sich Führer ihrer hauptsächlichen Funktion bewusst, grandiose manische Gegengifte gegen Wachstumspanik bereitzustellen. Jede Gesellschaft erkennt in irgendeiner Art ihre Funktion als Abwehr gegen maternales Verschlingen an. Die meisten melanesischen Gesellschaften geben offen zu, dass die wichtigste Funktion ihrer Rituale in der Abwehr der verheerenden Effekte von verunreinigtem Menstruationsblut liegt.83 Alte ägyptische und mesopotamische Gesellschaften waren rund um Rituale gebildet, welche ihre Panik, dem Chaos zu erliegen, abwehren sollten, ständig in Angst vor weiblichen »Chaosmonstern, [die] das Blut der Menschen tranken und ihr Fleisch verschlangen«.84 Viele westliche Politiktheoretiker, wie etwa Machiavelli, sahen die Notwendigkeit politischer Autorität in der Bekämpfung von »weiblichem Chaos«. Meine psychogene Theorie unterscheidet sich nur in der Zuordnung dieser Ängste vor maternaler Verstoßung zur Fantasie, nicht zur Realität — zum Familienleben in der Kindheit, nicht zum erwachsenen sozialen Leben.

 

Je primitiver der dominante Kindeserziehungsmodus einer Gesellschaft, umso mehr muss Wachstumsangst abgewehrt werden. Väter in Neuguinea sind oft so sehr davon überzeugt, ihre Buben würden von vergiftetem Menstruationsblut verschlungen und von Hexen gefressen werden, dass sie sich selbst schneiden, um ihr »starkes« männliches Blut den Buben zu ihrer Stärkung zu verabreichen.85 Die meisten Opferriten werden zur Abwehr von gefährlicher »Blutverschmutzung« aufgeführt.86 Politische Führer ziehen regelmäßig aus Angst vor den verschmutzenden Gefahren des Feindes in den Krieg, so wie Hitlers Ängste vor »fremdem Blut, das unserem Volkskörper zugeführt wird«.87 Von Kriegen sagt man, sie seien speziell zur »Säuberung der nationalen Arterien, die durch Reichtum und Sorglosigkeit verstopft sind«,88 geeignet. Tatsächlich ist Entgiftung der zentrale Zweck von allen sozialen Ritualen, ob nun die Säuberung durch Kriege, religiöse Opfer oder durch Depressionen erreicht wird, von ihnen allen wird behauptet, sie würden den politischen Körper von sündhaften Vergnügungen und Freiheit reinigen.89


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Ängste, verlassen zu werden, die durch sozialen Fortschritt ausgelöst werden, werden von Nationen als Dramaturgie in ihrer Beziehung zu ihrem Führer erlebt, von dem angenommen wird, er distanziere sich mehr und mehr und sei immer weniger in der Lage, grandiose manische Projekte gegen die steigende Wachstumspanik zu liefern. Die zunehmende Hilflosigkeit und Schwäche des Führers kann man an den von vielen beobachteten Bewertungen, die er in Beliebtheitsumfragen erhält, ablesen, die, nach einem Hoch am Anfang, für gewöhnlich im Laufe der Amtsperiode abnehmen, außer sie werden durch spezielle, effektive und manische Abwehraktionen wiederbelebt, in welchen sich der Führer engagiert.90 Das ist gerade das Gegenteil von dem, was man vernünftigerweise erwarten würde, denn wenn eine Nation mehr und mehr Beweise dafür erhält, was der Führer leisten kann, müsste man ja mehr Vertrauen in seine Leistungsfähigkeit legen. Stattdessen stellt man sich vor, Führer würden in ihrer Amtsausführung schwächer werden, weil die steigende Wachstumspanik sie distanzierter und weniger stark erscheinen lässt.

 

Alte Gesellschaften kannten dieses Gefühl der schwächer werdenden Führung sehr gut und veranstalteten einige ihrer wirkungsvollsten Rituale zur Revitalisierung der Stärke ihrer Könige. Die frühesten dieser Rituale wurden jährlich abgehalten und fanden ihren Höhepunkt in Reinigungsritualen, wobei sich die Gemeinschaft von Verschmutzung befreite; Rituale der Kasteiung und des Opfers, bei denen die Menschen sich durch Fasten und andere Bestrafungen von ihren gefürchteten Begierden befreiten; und Kampfrituale, im Rahmen derer Gefechte mit projizierten teuflischen Gegnern ausgefochten wurden.91 

Später stellten göttliche Könige Abwehrformen gegen maternale Verunreinigung zur Verfügung, man hielt sie für sehr eng verbunden mit der Gesundheit des Getreides, der Tiere und Menschen. Frühe griechische Könige regierten acht Jahre und man glaubte, sie würden in dieser Zeit derartig schwach werden, dass entweder sie selbst umgebracht wurden oder Ersatz finden mussten (manchmal den ältesten Sohn), den man töten konnte, oder sie sonstige Regenerationsrituale zur Säuberung durchlaufen mussten. Um regeneriert zu werden, müsste der König zuerst durch ein Erniedrigungsritual — man schlug ihm ins Gesicht, um die Erniedrigungen der Kindheit zu wiederholen — und es konnte auch sein, dass er den rituellen Prozess des Sterbens und der Wiedergeburt zu durchlaufen hatte.92 Daraus resultiert die Phrase: »Der König ist tot; lang lebe der König!« Oder, wie Robespierre 1792 verlautbarte: »Louis muss sterben, weil die patrie leben muss.«93

In modernen demokratischen Nationen töten wir unsere Führer nicht wirklich; wir werfen sie regelmäßig aus dem Amt und ersetzen sie mit revitalisierten Ersatzmännern. Aber der Rückgang der Stärke eines Führers — seine unerbittliche Verstoßung durch uns, während wir uns entwickeln — wird heute noch gespürt.


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Das liegt daran, dass der Führer weniger eine Autoritätsfigur darstellt als vielmehr einen emotionalen Delegierten, jemanden, der uns sagt, was zu tun ist, und dem wir sagen, was wir getan haben möchten, jemanden, der für uns »die Schuld auf sich nimmt«. Als Giftcontainer für unser dissoziiertes soziales Alter Ego erwarten wir von ihm, unsere gewalttätigen Gefühle zu absorbieren, ohne dabei zu kollabieren. Viele Gesellschaften designieren »Männer fürs Grobe«, um dem Führer bei seiner Aufgabe zu helfen, oder Verwandte, die das Blut mit ihm tauschen, damit sie die auf ihn gerichteten vergifteten Gefühle der Menschen abfangen können. In modernen Nationen sind die Kabinettsmitglieder unsere Männer fürs Grobe und werden regelmäßig geopfert, wenn der Führer attackiert wird.

Diese Führungsaufgabe, ein emotionaler Delegierter der irrationalen Wünsche der Menschen zu sein, macht Führer eher zu Experten für Masochismus als für Sadismus, wie es die traditionelle Machttheorie erfordert. Das erklärt, warum Janus in seinen Studien über die Prostituierten von Washington D. C. herausfand, dass mächtige Politiker ihren sexuellen Kick beim Spielen von masochistischen, und nicht sadistischen, sexuellen Rollen bekamen, indem er beschreibt, dass »die von Politikern am häufigsten verlangten Dienste von Call Girls darin bestanden, sich von ihnen schlagen zu lassen«, und sie Frauen engagieren, die so tun, als ob sie ihnen »Folter und Verletzungen des Körpers ... und eine Verstümmelung der Genitalien«94 zufügen würden.

Nur weil sie unsere emotionalen Delegierten sind — indem sie genau unseren unbewussten Befehlen folgen —, folgen wir unseren Führern. Wir würden ihnen in den Krieg folgen und unser Leben dafür geben, einen Feind zu bekämpfen, den sie allein ausgesucht haben, doch in dem Moment, in dem sie versuchen, die Gruppenfantasie zu ignorieren und unsere verborgenen Befehle zu umgehen, hören die Menschen sie schlicht nicht. Die Vorstellung, dass Führer uns gegen unseren Willen führen, ist genauso eine Gruppenfantasie, wie die charismatische Macht des Führers, Sonnenauf- und -Untergang zu befehlen.96

 

Ein Führer ist ein einzelnes Individuum, das an einem Schreibtisch in einer Ecke der Stadt sitzt. Die Macht, die wir vorbehaltlich an ihn delegieren, liegt in unserer Gruppenfantasie, weil seine zentrale Funktion darin besteht, als Giftcontainer für unsere Gruppenfantasien zu fungieren. Sollte er unerwartet sterben, verschwindet der Container und die Ängste kehren zu uns in einem Ansturm zurück. In kleineren Gesellschaften bricht nach dem Tod von Führern oft eine heftige Hexenangst aus,96 und frühe Gesellschaften begleiteten den Tod des Königs vielfach mit der Abschlachtung von Hunderten von Opfern.97 Der Führer wird nur als omnipotent gesehen, weil er als stark genug erscheinen muss, unsere Projektionen zu beherrschen. Seine Stärke ist aber pure Fantasie und hat nichts mit wirklich Erreichtem zu tun. Immer wieder erneuern die Maoris ihre Energie, indem sie zwischen den Beinen des Führers durchschlüpfen und dabei seinen mächtigen Penis berühren, und reiche Amerikaner zahlten Hunderttausende von Dollars, um den Präsidenten im Weißen Haus zu berühren.98 Da das Charisma von Führern einfach eine abwehrende Grandiosität von uns selbst ist, die unsere Gefühle der Hilflosigkeit in der Kindheit kompensiert, schwindet mit der Zeit die Stärke eines Führers unaufhaltsam.


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Die vier Phasen einer Führerschaft 

 

Politik ist nicht einfach ein Weg zur Erreichung praktischer sozialer Ziele, wie üblicherweise angenommen wird. Sie bietet in erster Linie einen Ort, um Gefühle, mit denen man nichts zu tun haben will, und unbewusste Teile des individuellen Ichs abzulegen und so zu versuchen, Gefühle der Gespaltenheit und innerer Verzweiflung zu überwinden. Es ist die primäre Aufgabe eines Führers, die kollektiven emotionalen Probleme seines Volkes zu verkörpern und zu versuchen, diese aufzulösen.

Die von mir in den letzten beiden Jahrzehnten durchgeführten Fantasieanalysen von Titelseiten von Zeitschriften und politischen Cartoons99) zeigen, dass es für Regierende, die eine Periode von mehreren Jahren hindurch im Amt sind, vier Phasen von kollektiven Fantasien über Führer gibt, und sie auch zunehmend weniger in der Lage sind, grandiose manische Lösungen für die steigende Wachstumspanik der Nation bereitzustellen. Caspar Schmidt hat aufgezeigt, dass die Anerkennung amerikanischer Präsidenten in den Gallup-Meinungsumfragen im Verlauf ihrer Amtsperiode ständig fällt, sofern sie nicht militärische oder andere opferartige Projekte, die sie von ihrem »Gift« befreien, zur Verfügung stellen.100

Nachdem Gruppenängste in eine fötale Matrix eingebettet sind, entsprechen diese vier Phasen einer Führerschaft in der Gruppenfantasie den vier Phasen des Geburtsverlaufes.101 Die vier Führungsphasen sind (1) stark, (2) einbrechend, (3) kollabierend und (4) im Umbruch.

Im ersten Jahr seiner Amtsperiode etwa wird der Führer als grandios, phallisch und unbesiegbar portraitiert, in der Lage, alle Mächte des Bösen in Schach zu halten, und fähig, die unbewussten Ängste der Nation zu beherrschen. Fotos des Führers, die auf Titelseiten von Zeitschriften und Tageszeitungen abgebildet werden, sind hauptsächlich aus der Perspektive eines kleinen Kindes aufgenommen und lassen ihn als starken Elternteil erscheinen.

Fig. 5-5  Starke Phase.

   


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Internationale politische Krisen, die während der starken Phase auftreten, werden selten als gefährlich angesehen oder zumindest als Erfordernis einer aktiven Reaktion; selten werden Kriege im ersten Jahr der Führerschaft begonnen.102 Tatsächlich ist die starke Phase genauso unrealistisch wie spätere Phasen, da die Menschen sich vorstellen, ihr privates emotionales Leben würde nun wie durch Magie viel besser werden, nur weü jetzt ein anderer Erlöser irgendwo in einem Büro sitzt und nicht, weil sie vorhaben, sich selbst einer realen Veränderung zu widmen.

Ungefähr im darauf folgenden Jahr beginnt die Vergötterung des Führers nachzulassen, und er wird bereits entkräftet dargestellt; in Cartoons erscheint er oftmals mit richtigen Rissen, zunehmend hilflos und unfähig, mit den emotionalen Bürden der Nation umzugehen. Die Medien verwenden übertrieben viel Zeit mit Analysen, ob dieser oder jener nebensächliche Vorfall ihn schwächen könnte. Während die Nation auf solides ökonomisches Wachstum mit immer manischeren Überinvestitionen und Überproduktionen reagiert, kommen gleichzeitig immer häufiger Wachstumsängste zum Ausdruck, und »die Dinge scheinen außer Kontrolle zu geraten« — das heißt, der reale Fortschritt der Nation entfacht Verstoßungsängste. Die Nation lässt sich zur Abwehr ihrer Verstoßungsdepression auf eine wachsende Anzahl von ökonomisch und politisch manischen Projekten ein und sucht externe Giftcontainer zur Aufbewahrung ihres abgespaltenen frühen Traumas. Cartoons geben böse Monster wieder, die den Führer zu verfolgen beginnen, und die Gruppengrenzen scheinen sich aufzulösen, Bilder von auslaufendem Wasser und abbröckelnden Mauern überwiegen, als ob die Gebärmutterhülle der Nation einreißen würde. Klagen über Bedrängnis, Hunger und Atemlosigkeit kommen auf, Feinde beginnen, sich stark zu vermehren, und werden bedrohlicher.

 

Fig. 5-6 

Einbruchsphase.

 


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Die dritte Phase in der Gruppenfantasie über Führerschaft, die Kollapsphase, dauert auch ein Jahr oder länger an und bringt die extremen Ängste der Nation vor ihrem gefährlichen Fortschritt zum Ausdruck. Unerbittlich baut sich Druck innerhalb einer kollabierenden, vergifteten Welt auf, und es fließen Erinnerungen an Erniedrigungen in der Kindheit zurück ins Bewusstsein, während die umhertreibenden Ängste auf externe Giftcontainer warten. Bilder von verschlingenden Mäulern und gefährlichen, umschlingenden Frauen nehmen zu. So die Wachstumspanik ihren Höhepunkt erreicht, beginnen manische ökonomische und politische Projekte und Truppenbewegungen eine Attacke von Seiten externer Giftcontainer vorauszuahnen, während der Führer machtlos zu sein scheint, die Empfindungen der Nation von Verschmutzung, Schande und Sünde zu beenden, wie sie in Abbildungen von Ersticken, Fallen, Verstoßen, Zerfall, Vergiftung, Tod und Wiedergeburt gezeigt werden. Die Menschen fangen an, nach einer Art von Bestrafung zu suchen, die sie von ihren Gefühlen, schlecht zu sein, reinwäscht. Sie fühlen sich alleine, hilflos und erniedrigt und werden überwachsam, um dann zu attackieren.

 

Vom Führer und verschiedenen Gruppen von Delegierten wird erwartet, dass sie ihre Stimme erheben und zur Erleichterung dieser Gefühle einige grandiose manische Taten vollbringen, und lieber die fantasierte Bedrohung wiederaufführen, als für immer überwachsam und paranoid zu bleiben. Riskante manische Überinvestition und eine Überproduktion von Waren bereiten den depressiven Kollaps der Märkte vor — ähnlich dem Rockmusiker, der auf seinen Erfolg mit manischem Sex, Drogen und übertriebenem Einkaufen reagiert. Nationen antworten in ihrer Kollapsphase auf außenpolitische Krisen streitlustiger als in ihren starken Phasen.103 Noch bevor ein Feind ausgewählt wurde, unternimmt die Regierung oft irrationale ökonomische Maßnahmen, um das Außer-Kontrolle-Geraten zu stoppen, und macht immer mehr Fehler in der Wirtschaftspolitik, die un-bewusst der Verlangsamung des Fortschritts gelten, wie etwa deflationäre Geldpolitik. 

 

Fig. 5-7 
Kollapsphase.

 


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Die Nation leitet auch »Läuterungskreuzzüge« ein, um sexuellen oder anderen Freiheiten, die angeblich für den moralischen Kollaps der Nation verantwortlich sind, ein Ende zu bereiten.104 Vielfach werden Truppen um die Welt gejagt, um auf kleinere Notlagen zu treffen oder sich auf Aktionen vorzubereiten. In der Luft liegende paranoide Fantasien von giftigen Feinden vervielfachen sich, und die Feinde werden oft als Neider des Fortschritts der Nation und bereit zum Angriff dargestellt, sodass ein Präventivschlag notwendig erscheint.

Die Kollapsphase endet mit einer überwachsamen Suche nach einem erniedrigenden Anderen — einem Feind, der in einem Moment gruppenpsychotischer Erkenntnis als konkrete Ursache für die Not der Nation identifiziert werden kann.

 

Beim Eintritt in die Phase des Umbruchs wird der Führer in Medien und Cartoons als Angsthase abgebildet, überwältigt von giftigen Mächten, unfähig, das Unglück abzuwehren, welches oft als gefährliches Seeungeheuer (Giftige Plazenta) oder als Schreckliche Mutter dargestellt wird, neben Bildern von Überflutungen, Strudeln und verschlingenden Mäulern — Bildmaterial, das mittelalterlichen Abbildungen von der Hölle als verschlingendem Dämon gleicht.105 Die Läuterungskreuzzüge zur Säuberung von gefährlichen sexuellen und anderen Wünschen intensivieren sich. Antikinderkreuzzüge vervielfachen sich; man attackiert das innere projizierte Kind dafür, verwöhnt, unanständig, gierig und außer Kontrolle zu sein und einer Bestrafung zu bedürfen. An einem Höhepunkt der Wachstumspanik werden »Giftalarme« ausgerufen und die Ängste vor maternaler Verstoßung bzw. Wünsche nach mütterlicher Umarmung intensivieren sich. Politische Cartoons und beliebte Filme beinhalten immer häufiger apokalyptisch umwälzende Geburtsfantasien, gespickt mit vaginalen Tunneln und explodierendem Druck. Die Welt scheint voll erniedrigender Feinde zu sein. Manische und riskante finanzielle Aktivitäten nehmen zu. Ein vernünftiger Fortschritt erscheint unwichtig, die Wahnvorstellungen der Gruppe sind auf ihrem Höhepunkt und ein Aktivwerden wird unausweichlich, während die Nation nach einem Opfer sucht, um eine magische Restauration ihrer Kraft und eine

Fig. 5-8 Umbruchsphase.


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Läuterung von sündigen Wünschen zu bewirken.106 Der Führer wechselt von der Rolle des Containers für die irrationalen Emotionen der Nation zu der des Bestrafenden von schlimmen Kindern, Sündenböcken für die vitalen, wachsenden Teile in uns, die wir jetzt als wuchernde Hybris sehen. Die Läuterungs-, Restaurations-, Wiedergeburts- oder Wiederbelebungswünsche können sodann als Säuberungsritual vollzogen werden, ein Läuterungskreuzzug, der in eine oder mehr von drei Lösungen münden kann:

1.   Die Königsmordlösung: Wenn es dem Führer nicht gelingt, einen geeigneten zu bestrafenden Feind zu finden, kann er selbst zum Feind der Nation bestimmt werden, der voll von giftigem Sex und Aggression ist, und ein rituelles Morden wird entweder durch wirklichen Königsmord oder Amtsenthebung vollzogen. Sollte er am Ende seiner ersten Amtsperiode wiedergewählt werden, erfolgt während der Wahl ein symbolisches Ritual von Tod und Wiedergeburt, und der revitalisierte und wiedergewählte Führer hat Zeit, auf die Wachstumspanik zu reagieren.

 

2. Die kriegerische Lösung: Wenn ein externer Feind gefunden werden kann, der darin kooperiert, die Nation zu demütigen, so wie man sich von den Eltern in der Kindheit gedemütigt fühlte, kann man diesen Feind nun als Ursache für alle Ängste der Nation betrachten, und der jetzt heroische Führer kann eine militärische Handlung unternehmen, um die Verschmutzung zu beseitigen und eine Wiedergeburt der nationalen Stärke und Entschlossenheit zu inszenieren. Kriegen gehen vielfach Bewegungen apokalyptischer Wachstumspanik voraus, wie das Great Awakening oder andere Weltuntergangsfantasien der Gruppe.107 Der Führer wird in zwei Teile gespalten, und der giftige, traumatisierte Teil wird auf den Führer des Feindes projiziert, der mit der Durchführung eines gemeinsamen Erniedrigungsrituals einverstanden ist und die kosmische Schlacht zwischen Gut und Böse als Säuberungsaktion von den Ängsten der Nation ausficht. Kriege sind deshalb reinigende Rituale, Säuberungskreuzzüge und nationale Läuterung von der Krise der Wachstumspanik. Menschen ziehen in den Krieg, um sowohl ihre imaginierte verschlingende Mutter zu bestrafen (die gerechte Vergewaltigung) als auch ihre eigenen schlimmen, selbstsüchtigen Kindheits-Alter-Egos zu eliminieren, die auf den Feind projiziert werden (Läuterung), damit sie endlich zum ersten Mal von ihren Eltern geliebt werden können. Die Nation empfindet enorme Erleichterung durch die Designierung des Feindes, anstatt sich vernünftigerweise vor der Destruktivität des Krieges zu fürchten. Das Ausfindigmachen eines externen Feindes als Giftcontainer erzielt einen Ausbruch dopamingefüllter Euphorie. So schrieb Winston Churchill seiner Frau 1914, als England sich auf den Krieg vorbereitete: »Alles geht in Richtung Katastrophe und Kollaps. Ich bin interessiert, aufgewühlt und glücklich.« 


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Ähnlich schrieb ein Amerikaner aus Washington D.C. an dem Tag, an dem Präsident Harry Truman entschieden hatte, U.S.-Truppen nach Korea zu entsenden: »Nie zuvor ... habe ich so ein Gefühl von Erleichterung und Einheit durch diese Stadt ziehen sehen ... Als die Erklärung des Präsidenten im Haus verlesen wurde, erhob sich die ganze Kammer zum Jubel.«108) 

 

Das Entsenden der Jugend der Nation, um in Kriegen getötet zu werden, macht das eigene schlechte Selbst zum Sündenbock, der Blutzoll wird als Reinigung des verschmutzten Blutes empfunden, welches die Arterien der Nation infiziert hat, und die Identifikation mit dem grandiosen militärischen Führer der Nation fühlt sich wie eine magische Wiederherstellung der Stärke an. Genozide Kriege sind das extremste Beispiel für reinigende Gruppenfantasien. In letzter Zeit haben damit, im Vergleich mit ihren Nachbarn, meistens Nationen mit besonders mangelhafter Kindeserziehung zu tun, die zu der Zeit, da sie einen Sprung in die Moderne versuchen, eine intensive Wachstumspanik hervorrufen, die nur durch die Opferung von Millionen hilfloser Sündenböcke, als Container für das verschmutzte Selbstbild der Nation, beseitigt werden kann. 

 

3. Die Interne-Opfer-Lösung: Kann der Führer keinen externen Feind finden, der sich mit ihm in einen Opferkrieg begibt, wendet er sich oft einer internen Opferung zu, entweder einer gewaltsamen Revolution oder einer reinigenden ökonomischen Säuberung. In den letzten 1920ern zum Beispiel, als der ökonomische und soziale Fortschritt außer Kontrolle zu geraten schienen, verfolgten Weltbanker — die führenden Opferpriester moderner Nationen — eine deflationäre ökonomische Politik, trieben die Zinsen in die Höhe und verhängten Handelsbeschränkungen und machten noch andere »reinigende« Fehler, was zur Großen Depression führte, der so viel Reichtum der Welt zum Opfer fiel. 

Das Ziel dabei ist Läuterung; 1929 sagte Finanzstaatssekretär Andrew Mellon, als die Nationalbank mithalf, die Welt in die Große Depression zu stürzen: »Es wird das System von der Verrottung säubern.«109) Wirtschaftszyklen werden von wechselnden manischen und reinigenden Gruppenfantasien angetrieben,110 da manische Abwehr von Wachstumspanik in reinigende Zusammenbrüche, puritanische Wirtschaftspolitik, emotionale Verzweiflung und Untätigkeit mündet. 

Anzunehmen ist, dass die meisten Sterblichkeitsraten — bei Autounfällen, Morden, Krebs, Grippe, Herz- und Leberkrankheiten — während blühender, manischer Zeiten steigen, während Depressionen und Rezessionen hingegen zurückgehen.111 Nur Selbstmordraten schnellen bei ökonomischen Verschlechterungen in die Höhe und reflektieren das Verlangen nach einem internen Opfer.

Depressionen und Rezessionen sind also nicht auf die »unsichtbare Hand« der Ökonomie zurückzuführen, sondern sind durch Säuberungen, periodische Opferungen, die manchmal mehr Menschen umbringen als Kriege, motiviert und bremsen gefährlichen Wohlstand und sozialen Fortschritt, die scheinbar außer Kontrolle geraten sind. Dass wachsender Reichtum oft mehr Angst als Glück produziert, kann empirisch belegt werden. 

Von 1957 bis 1995 verdoppelten die Amerikaner ihr reales Einkommen, im Verhältnis dazu ist die Anzahl derer, die bei Meinungsumfragen angaben, sie seien »sehr glücklich«, von 35 auf 29 Prozent gesunken112) — weil Wohlstand und Individuation schneller wuchsen als die Entwicklung der Kindeserziehung. Periodische ökonomische Rückgänge sind puritanische Gegenmittel und werden von Opferpriestern gegen die Krankheit Gier verabreicht. 

In deren Vorfeld porträtieren Cartoons vielfach gierige Menschen, die auf Altären geopfert, oder Kinder, die von Klippen gestoßen werden,113 Sündenböcke für gierige Kindheits-Ichs, von denen man meint, sie seien für das damals erlebte Trauma verantwortlich. Wie die Menschenopfer der Azteken114 werden Rezessionen und Depressionen von nationalen Predigten begleitet, warnenden Geschichten darüber, wie wichtig eine Läuterung durch Opferung ist, um die Welt von der Sündhaftigkeit der Menschen zu reinigen.

Die Auswahl dieser Lösungen für Wachstumspanik folgt zyklischen Mustern; Kriege und Depressionen wechseln sich in der Gruppenfantasie in variierenden Längen ab. Diese langen Zyklen der Gruppenfantasien untersucht das nächste Kapitel.

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