1.4 Was nun? Meißner-2017
Der aller Einsicht zum Trotz zu fordernde Super-Paradigmenwechsel
widerspricht unserer geistig einfachen, pragmatischen, selbstsüchtigen, hochemotionalen Natur.
Gregory Fuller(298)
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Verwirrt stehen wir nun da. Schlaue Gedanken und Erkenntnisse der Evolutionsforschung, der Biologie und der Psychologie schwirren uns durch den Kopf und verursachen Ratlosigkeit, die Fakten der planetaren Umweltkrise sowie der schon spürbare Klimawandel lähmen und machen Angst, ökologische Grundregeln und der Entropiegedanke irritieren zusätzlich. Was hat das alles nun miteinander zu tun? Und wo bleiben die guten menschlichen Fähigkeiten, etwa Aufklärung, Ratio und Wissen, die zur Problemlösung führen könnten?
Zunächst einmal sehen wir, dass das, was uns heute bedrückt, sich schon seit gestern und vorgestern dahin entwickelt hat. Die Evolutionslehre und das Entropiegesetz sind nicht der Wahrheit letzter Schluss, denn die Komplexität unserer Biosphäre lässt sich mit vermeintlich feststehenden Naturgesetzen nur unscharf erfassen. Aber annäherungsweise beschreiben sie Entwicklungen, die nicht grundsätzlich »schlecht« im Sinne einer katastrophalen Wirkung, aber letztlich unumkehrbar sind. An sich ist es faszinierend zu betrachten, welche Vielfalt und auch schöne Komplexität und Fähigkeiten die Evolution auf unserem Planeten hervorgebracht hat, gerade auch bei den Lebewesen, wie wir eines sind. Diese Entwicklung ist mit Sicherheit noch nicht beendet. Wir sind ein Zwischenstadium davon, und trotz unserer herausragenden Stellung in der Natur ist noch lange nicht gesagt, dass uns tatsächlich die große Bedeutung zukommt, die wir uns beimessen. Auch wir sind letztlich ein Entwicklungszweig, ein Herantasten und Ausprobieren, und es kann sein, dass eine andere Richtung der Evolution sich als viel erfolgreicher entwickeln wird. Der Natur und dem Universum sind wir letztlich egal. Fast alle Arten, die einmal gelebt haben, sind auch wieder verschwunden.
Der evolutionäre Antrieb zum Überleben und zu Reproduktion hat beim Menschen in Millionen von Jahren letztlich zu immer besseren Jagd- und Anbaumethoden sowie hoch technisierten Werkzeugen geführt - wenn man so will, im Sinne einer kulturellen Evolution. Das Problem dabei ist nur, dass für diese immer komplexer gewordenen Lebensweisen immer mehr Energie nötig geworden ist. Und die droht uns bald auszugehen, während gleichzeitig der Bedarf weltweit weiter steigt. In immer kürzeren Abständen haben wir neue Energieträger benötigt, ging es von Holz zur Kohle, dann zu Öl, Gas und Atomkraft. Dabei bemerken wir nicht zuletzt am Klimawandel, dass die verfeuerten Substanzen nicht verschwunden sind, nur eben jetzt in der Atmosphäre als Treibhausgase ihr Unheil anrichten. Das ist die praktische Erfahrung des ersten Hauptsatzes der Thermodynamik: die Energiemenge bleibt insgesamt gleich. Aber sie wandelt sich von einer verfügbaren Form - wie Holz, Kohle oder Öl - in eine nicht mehr verfügbare Form - wie Gase und Abfall. Deutlicher kann wiederum der zweite Hauptsatz der Thermodynamik gar nicht werden.
Die Auswirkungen dieser Grundgesetze spitzen sich somit seit der Industrialisierung durch den verstärkten Energiehunger zu. Dabei ist das dem zugrunde liegende Weltbild, sich der Natur gegenüber als Eroberer zu verhalten und sie nur als Rohstofflager zu sehen, nicht das schon immer existierende - und auch nicht das Weltbild von Gesellschaften, an denen die Industrialisierung vorbei gegangen ist. Dieses bei uns seit 250 Jahren herrschende Weltbild wurde somit nur in einem Bruchteil der menschlichen Geschichte von einem Bruchteil der Menschheit angewandt.(299)
Für all das aber können wir heute Lebenden im Grunde nicht viel. Wir haben es uns nicht ausgesucht, in diese Zeit geboren zu werden.
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Sicher, wir heute Lebenden haben das Schöne daran, den Konsum, die Sicherheit, den Frieden und den Wohlstand dabei gerne in Anspruch genommen, dafür aber gerne Rohstoffe aus ärmeren Ländern kolonialistisch genutzt und ihnen billige Produktion und Abfälle überlassen. Jetzt, wo Milliarden von Menschen genau dort auch auf den Geschmack kommen, auch dank viel gepriesener Globalisierung und Digitalisierung, und wir zum Teilen gezwungen werden, vergeht uns langsam die Lust an der berauschenden, lange Zeit immer flotter und lauter werdenden Party. Wir merken, es wird ernst. Wir spüren, irgendetwas wird sich ändern müssen. Das schlechte Gewissen drückt immer mehr, eigentlich so nicht mehr weiter machen zu können und zu dürfen. Schuldgefühle entstehen, und eine Lähmung, denn alles erscheint (und ist) so komplex, diffus und unbegreiflich. Wir sind eher dazu in der Lage, zu überlegen, was wir heute noch einkaufen und kochen müssen, wissen aber nicht, was bei dieser globalen Lage nun konkret zu tun wäre. Wir verstehen es ja besser, kurzfristig zu handeln als langfristig vorauszuschauen oder komplizierte Sachverhalte zu erfassen, wie wir im letzten Kapitel gesehen haben. Überfordert von umfassender Entropie, von Unübersichtlichkeit im technischen, beruflichen, privaten, digitalen und politischen Bereich, suchen wir - geprägt von unserem Nervensystem - klare und einfache Antworten, die Populisten in weiten Teilen der Welt gerne geben.
Sind wir also unserem Schicksal ausgeliefert? Werden unsere inneren biologischen Programme und psychologischen Hemmnisse uns immer schneller dem Abgrund näher bringen? Aus der Erkenntnis, dass wir gut kurzfristig handeln können, gelangen wir zu der Aussicht, dass wir dann handeln, wenn nur der Druck groß genug wird und wir Folgen und Krisen direkt spüren. Wir handeln dann, weil wir handeln müssen. Es geht dann nicht mehr um Wollen oder Können. Wenn es auch immer einige Menschen gibt, die weise vorausschauend Prüfungen und Abschlussarbeiten über Monate hinweg vorbereiten, so ist es doch die Mehrheit, die erst kurz vor dem anstehenden Termin unter produktiven Druck gerät und dann handelt, eben weil gehandelt werden muss. Nur ob das in der dann aktuellen Situation ökologisch, sozial und politisch noch reicht?
Noch aber ist der akute Druck für uns nicht groß genug. Stattdessen quält uns ein schlechtes Gewissen. Vielleicht reicht an dieser Stelle diese Überlegung: wir haben keine Schuld - daran, wie es kam und wie es jetzt ist -, aber wir tragen Verantwortung - dafür, wie es kommt.
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So wie wir heute Lebenden nicht den Holocaust und den zweiten Weltkrieg verursacht haben, aber auch weiter verantwortlich sind für die Erinnerung daran, für Entschädigung und für ein Lernen daraus, ist es ähnlich mit der beschriebenen aktuellen Situation. Nur dass hier auch die Generationen vor uns keine Schuld trifft. Angetrieben vom Streben nach Wissen und Fortschritt sind sie - teilweise naiv und unüberlegt - mit entsprechender Eigendynamik voran gestürmt und haben uns ungewollt in diese Situation gebracht:
Die erste Büßergeneration ist schon geboren. Weitere Generationen werden folgen, alle gemeinsam werden sie haften dafür, dass Milliarden Menschen geschlossen in die Verschwendungsfalle liefen. So sieht die pessimistische Sicht der Dinge aus, zur Zuversicht gibt es wenig Grund. Allenfalls zur Hoffnung.300
So beginnt ein Leitartikel im August 2008. Es kommt jetzt darauf an, was wir daraus machen. Die wie erwähnt nötigen guten Bedingungen für gegenseitige Unterstützung drohen sich eher zu verschlechtern, individuell gute Absichten im Gruppensystem unterzugehen. Knapper werdende Ressourcen wie Öl und Wasser schaffen Konkurrenzkämpfe darum, der Klimawandel führt zu Flüchtlingsströmen und damit seinerseits zu Konflikten. Diese Komplikationen gibt es bereits heute, nur bei uns sind sie bisher kaum relevant. Dafür haben in unseren Breiten besonders die Einkommensschwachen bereits schmerzhaft steigende Energie- und Lebensmittelpreise zu spüren bekommen. Dies war zwar zunächst nur vorübergehend der Fall, wird sich aber wiederholen.
Das kann heilsam sein, im Sinne des beschriebenen, wohl nötigen Drucks. Das kann aber leider auch zu kontraproduktiven Schlussfolgerungen führen. Forderungen nach Steuersenkungen für Öl und Benzin oder nach Wiedereinführung der vollständigen Pendlerpauschale wurden daher in der letzten Hochpreisphase wieder laut. Das entspricht eher einfachen und oberflächlichen Scheinlösungen statt grundsätzlichen Veränderungen. Das zeigt, dass allein ein knapper werdender Geldbeutel noch lange nicht das Verhalten entscheidend ändert, nicht das Verhalten derer, die hohe Verantwortung tragen in einem Staat, aber ebenso wenig das Verhalten von uns Bürgern »unten«, die wir denen »oben« die Macht für diese Verantwortung geben.
Vielmehr haben Marktschreier mit sich anbiedernden Ideen Hochkonjunktur, und wir lieben sie, da sie uns nicht reinen Wein einschenken, sondern uns weiter in der trügerischen Illusion schwelgen lassen, alles könne so weiter gehen wie bisher, höchstens ein bisschen anders oder vielleicht etwas teurer. Attraktive Zukunftsvisionen gibt es dabei gar nicht mehr.301 Leben wir nur noch im »Aggregatzustand der Krise«? Die einen sehen nur Konsum und Kommerz, die anderen nur Klimawandel, Kriege, Katastrophen. Auch die Umweltbewegung zeichnet oft nur negative Zukunftsbilder, auch dieses Buch leidet unter diesem Manko.
Wo aber will unsere Gesellschaft eigentlich hinsteuern? Gibt es irgendwelche positiven Visionen? Welche Notwendigkeiten könnte sie konstruktiv angehen, um Lebensweise und Lebensgefühl zu verbessern, weg vom Burnout? Nur ein weiter so, Wachstum und Wohlstand, jetzt eben mit Google-Brille, Elektroautos und Ausgleichszahlung für Kohlendioxid beim Fliegen? Es scheint so. Also geht für viele die Party erst einmal noch so weiter wie bisher, vielleicht auch erst recht, in dem unguten Gefühl, sie könnte bald vorbei sein. Aufkommende Müdigkeit betäubend wird fleißig konsumiert, das neue Smartphone kommt bestimmt. Im Keller wartet derweilen der Elektroschrott auf seine Fahrt zum Wertstoffhof. Die Erfahrung knapper werdender Rohstoffe vor einigen Jahren war lehrreich, wie in erwähntem Leitartikel 2008 weiter ausgeführt wird:
Rücksicht auf natürliche Lebensgrundlagen ist weder Luxus noch Last. Sie ist Bedingung des wirtschaftlichen Überlebens. Gut, dass die Industriestaaten das jetzt zu spüren bekommen.(302)
Dieser Druck hat wieder nachgelassen, noch lassen sich ausreichend Rohstofflager weltweit finden, dies aber zu einem hohen ökologischen und sozialen Preis. Mit einer erneuten Zuspitzung ist wieder zu rechnen, das mögen die Überlegungen im ersten Kapitel gezeigt haben. Wir werden sehen, was Fachleute neben all den vielen politischen und technologischen Vorschlägen noch bei jedem Einzelnen an Handlungsweisen für nötig halten, um die ökologische Krise aufzuhalten oder gar abzuwenden. Auf der Grundlage dessen, was wir bisher gesehen haben, werden wir danach aber überlegen müssen, wie realistisch diese Ideen sind und was daraus dann zu folgern ist.
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Andreas-Meißner-München-2017