Teil 2  Fragliche Wege aus der Krise     Start   Anmerk    Weiter

2.1 - Trügerische Hoffnungen: Lösungsansätze von Experten

 

Es gibt aber Leute, die inniger an den Fortschritt glauben als je ein Heiliger an Gott,
und diese werden mit Recht darauf hinweisen, dass die Hunderte von Millionen, die im kommenden Nuklearkrieg umkommen werden,
an der Beulenpest nicht hätten sterben können, denn die haben wir überwunden. 
 (Erwin Chargaff, 303) 

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Die Notwendigkeit zu handeln wird - zumindest auf Expertenebene - immer mehr erkannt. Umweltjournalisten, Ökoinstitute, Naturschutzorganisationen und Wissenschaftler publizieren in diesen Jahren Bücher um Bücher mit vielen nachdenkenswerten Vorschlägen. Sie alle darzustellen würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Zentrale Aspekte und die Frage der jeweiligen Realisierbarkeit sollen aber erörtert werden.

   Der zentrale Begriff: Nachhaltigkeit  

Im Zentrum steht die Forderung, nachhaltig zu leben und zu wirtschaften, und das kann man so definieren:

Erstens dürfen nicht-erneuerbare Ressourcen, beispielsweise die Ölvorräte in der Erdkruste, nicht schneller verbraucht werden als sich erneuerbare Alternativen wie Sonnenenergie entwickeln. Zweitens dürfen Gewässer, Luft und Böden nicht dermaßen verschmutzt werden, dass sie sich nicht regenerieren können. Und drittens muss für mehr Gerechtigkeit in der Welt gesorgt werden. Solange die Kluft zwischen Arm und Reich so immens wie heute ist, wird es keine nachhaltige Entwicklung geben.(304)

Deutlich wird bei dieser Definition, dass es auch um horizontale Gerechtigkeit zwischen verschiedenen Regionen der heutigen Welt geht sowie um vertikale Gerechtigkeit zwischen den heute Lebenden und zukünftigen Generationen. Und es geht nicht nur um kosmetische Korrekturen, sondern um eine grundsätzliche Änderung der Lebensweise vor allem in den Industrieländern. Im Gegensatz zu den ersten beiden Revolutionen, der land­wirt­schaftlichen und industriellen, die sich wie von selbst (mit Eigendynamik) vollzogen haben, ist nun jedoch eine bewusste, willentliche und gezielte Umsteuerung zur Nachhaltigkeit notwendig, und dies noch dazu nicht nur für einen Teil der Menschheit, sondern möglichst global.

  Viele allgemeine Forderungen - wenige konkrete Modelle  

Anschauliche Entwürfe für eine nachhaltige Gesellschaft sind bisher jedoch Mangelware. Zumeist bleibt es bei allgemeinen Überlegungen und Appellen, was sich in Wirtschaft und Politik ändern muss. So wurden in einem Global-Marshall-Plan etwa die Implementierung einer weltweiten Ökosozialen Marktwirtschaft als Fernziel, Ideen für ein institutionelles Design für »Global Governance« und Vorschläge für Internationale Finanz­ierungs­instrumente gefordert.305 Klingt gut, heißt aber was konkret?

Zumindest die für 2015 angepeilten Milleniumsziele wurden teilweise erreicht.306 Sie sind fortgeschrieben worden in den 17 Nachhaltig-keitszielen mit 169 Unterpunkten, die alle Länder in die Pflicht nehmen, aber freiwillig sind, keiner Kontrolle unterliegen und somit vage und unverbindlich bleiben.

Etwas konkreter wird Jakob von Uexküll, Stifter des Alternativen Nobelpreises: er fordert

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• eine Energiewende mittels erneuerbarer Energien,
• eine Agrarwende weg von der energieintensiven Landwirtschaft hin zu lokaler Produktion,
• eine Verkehrswende mit radikalem Ausbau des Nahverkehrs und der Eisenbahn sowie
• eine ökologische Steuerreform.(307)

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An einen hypothetischen Modellentwurf herangewagt hat sich der Architekt Dirk Althaus.(308)  qwant  prof+dirk+althaus

Als wesentliche Energiequellen sieht er - wie viele andere Autoren und Wissenschaftler auch - die oben kurz skizzierte Solarthermie und die Photovoltaik, mit dezentraler Energiegewinnung. Was die Materie betrifft wird demnach Recycling die neue Wirtschaftsform, mehr also noch als schon heute. Er schlägt weiter vor, »in Zukunft der Politik jegliche laienhafte und immer parteiische Einmischung in das Wirtschaftssystem zu nehmen« und Politik allein mit dem ethnischen Zusammenhalt der Gruppen, die sie vertreten, zu beauftragen. Er nimmt an, dass sich in den unternehmerisch geführten Betrieben klassische Strukturen natürlicher Sozialgemeinschaften bilden werden, das kreative Potenzial werde dabei erhalten und gesteigert.

Und wie wird die Gesellschaft konkret leben?

Mit abnehmendem Luxus der Industrieregionen unserer fossilen Episode würden die Gruppen engen Zusammenlebens wachsen. Demnach könnten zwölf bis zwanzig Personen als »familiäre« Wirtschaftseinheit fungieren, die drei bis vier Generationen beherbergen und versorgen könnte; nur einige würden »draußen« arbeiten.

In Form von Ökodörfern gibt es so etwas schon heute. In »Sieben Linden« in Sachsen-Anhalt etwa, einem der größten alternativen Lebensprojekte Europas, leben heute 100 Erwachsene und 40 Kinder dauerhaft, hinzu kommen Jugendliche im Freiwilligen Ökologischen Jahr; schon 80 Prozent des konsumierten Gemüses und die Hälfte der Kartoffeln stammen aus Eigenproduktion; Konsensprinzip der Lebensgemeinschaft ist eine Zwei-Drittel-Demokratie.309

Auch das Ökodorf Torri Superiori in Mittelitalien, nahe dem Mittelmeer an der Grenze zu Frankreich gelegen, basiert auf dem Prinzip der Solidarökonomie:310 die drei vorhandenen Autos werden geteilt, jeder bekommt das gleiche Gehalt. 30 Menschen leben fest dort, davon zwölf Erwachsene.


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Sechs arbeiten fest im Tourismus-, Gäste- und Restaurantbetrieb, drei fest in der Landwirtschaft (von der alleine nicht zu leben wäre; im Vordergrund steht der Oliven- und Weinanbau), zwei sind Künstler, eine arbeitet als Lehrerin im traditionell geprägten Unterdorf (Torri Inferiore). Es gibt noch eine Ziegenherde, die Landwirtschaft funktioniert nach den Prinzipien der Permakultur, es gibt eine Töpferund Holzwerkstatt, Seifen werden selbst hergestellt, entsprechende Kurse können belegt und auch anderweitig Seminare abgehalten werden. An zwei Wochenenden im Jahr kommt jeweils ein Mediator, um Diskussionen zu weiteren Projektplanungen und Konflikten zu leiten.

Denkbar sind auch nachhaltig geplante Siedlungen im Rahmen bestehender Städte, wie das Modellprojekt Vauban in Freiburg oder der seit 20 Jahren bestehende »Cherbonhof« in Bamberg.311 Diese Ökosiedlung ist wie ein Dorfanger angelegt, um den sich 25 Einfamilienhäuser mit drei Einliegerwohnungen sowie 21 Mietwohnungen für Senioren gruppieren. Bei monatlichen Treffen werden wichtige Vorhaben oder gemeinsame Aktivitäten besprochen, bei größeren Problemen und Konflikten außerordentliche Versammlungen einberufen.

Aus solch kleinen Einheiten würden sich, so weiter bei Althaus, dann kleine demokratische Gemeinden zusammensetzen, die optimale Größe hierfür läge etwa bei 7.000 Personen. Diese Gemeinde sollte demnach auch ein lokales Rathaus haben und Basis größerer Strukturen auch innerhalb von Großstädten etwa sein. Staatliche Sozialhilfe gäbe es schon aus ökonomischen Gründen nicht mehr, in Not Geratenen werde in Zukunft wieder durch Nächstenliebe geholfen; für das entsprechende Sozialsystem der Nächstenliebe sei eine dann »integrale weibliche Kirche« besonders geschaffen. Die wachsende Recyclingwirtschaft bringe viel Arbeit, die dennoch nicht Eingebundenen könnten Aufgaben wie Kinderbetreuung, Altenpflege und Nutzgartenarbeit gemeinschaftlich übernehmen; die einfließenden Gehälter aus selbst- und fremdbestimmter »Arbeit« würden bei weitgehender Selbstversorgung allemal reichen. Die Medien wiederum könnten Ideen der Neugestaltung der unvermeidlich auf uns zukommenden postfossilen Epoche aufnehmen, darüber sprechen, schreiben und filmen, Ideen weiter entwickeln oder über Weiterentwicklungen berichten.


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Ökologisches Wohnen gilt also als Zukunftsrezept, erfordert aber gerade in der Stadt ein hohes Maß an Mehrarbeit, Wissen und Selbstdisziplin, etwa um ein Mülltrennsystem zu handhaben, gemeinschaftliche Pflanzen­kläranlagen zu warten oder auf Chemie in Haushalt und Garten sowie auf Autos zu verzichten. Städtebaulich gesehen werden von Sozialwissenschaftlern eine Verminderung des Flächenverbrauches mit ökologisch sinnvoller Förderung von Wohn- und Hausgemeinschaften sowie Gemeinschaftseinrichtungen empfohlen.312 Technisch erscheint eine umweltverträgliche und energiesparende Ausstattung von Gebäuden notwendig.

Es ist gut, wenn utopische Modelle ohne Denksperren entworfen und ansatzweise auch schon umgesetzt werden. Ob sie aber zur Abwendung der Krise mit der nötigen Geschwindigkeit im großen Maßstab, gar global wie jetzt eigentlich nötig, realisiert werden können, noch dazu wenn man wie Althaus der Politik eine regulierende Funktion dafür nicht mehr zugesteht, sei dahingestellt. Die vorgeschlagenen Gemeinschaftseinrichtungen greifen zwar unsere Sippen- und Stammesprägung auf, laufen aber dem hedonistischen Konsumismus und der großstädtischen Vereinzelung, die von vielen im Sinne von Autonomie und Selbstentfaltung durchaus auch gewünscht ist, zuwider und erscheinen daher nur schwer durchsetzungsfähig. Die Bedeutung der Nächstenliebe wird noch betrachtet werden, aber sie wird wohl kaum, angesichts der dargestellten biologischen und psychologischen Grundlagen, für die Tragfähigkeit eines Sozialsystems insgesamt ausreichen.

All diese Modelle und Überlegungen aber - das sei schon an dieser Stelle erwähnt - zeigen jetzt schon Chancen auf für eine Situation nach einem - wohl schmerzhaften - Veränderungsprozess, wenn es um eine tief greifende Wandlung von Lebensstrukturen geht.

Veränderungen aus dem bestehenden System heraus müssen sich jedoch zwangsläufig an den bestehenden Strukturen orientieren. Hier geben bis heute Wirtschaft, Politik und Forschung den Ton an. So fordert der früher bei der Weltbank tätige Ökonom Hermann E. Daly für eine nachhaltige Wirtschaft längere Produktzyklen, fairen Handel sowie eine Besteuerung nicht des Arbeitseinkommens, sondern des Energie-und Materiedurchflusses.313 Arbeitsplätze sollten in Wartung und Reparatur geschaffen werden.    wikipedia  Herman_Daly  *1938 in Houston bis 2022


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Lokale Ökonomie soll dabei der Schwerpunkt vor globalisierter Wirtschaft werden, dies nicht nur wegen kurzer Transportwege, sondern vor allem um Arbeitsplätze vor Ort zu sichern und damit eine Grundlage für den Zusammen­halt der lokalen Gemeinschaft zu schaffen. Dies müsste einhergehen mit einer Dezentralisierung der EntScheidungsprozesse hin zur lokalen Ebene. Denn möglich wäre durch beide Entwicklungen auch eine Stärkung der heute brüchigen sozialen Bindungen in den Familien und Gemeinden.314

Dementsprechend wird in vielen Büchern und Diskussionen betont, dass in den kommenden Jahrzehnten Politiker wie Führungskräfte der Wirtschaft die Rahmenbedingungen richtig setzen müssten, um der Menschheit eine lebenswerte Zukunft zu ermöglichen. Wenn es Wissenschaft und Technologie gelinge, den Menschen ein Wohlergehen zu sichern, dann sei das weit spektakulärer als der Bau von Raumfahrtstationen oder von Kolonien auf dem Mars.315

Manchmal stellt sich jedoch die Frage, ob die Entscheidungsträger all die vielen Bücher mit den sinnvollen Konzepten, die es mittlerweile gibt, überhaupt noch wahrnehmen können oder wollen, auch hier steigt die Entropie.

  Fragliches Vertrauen in Technik  

Ein Teil der von Experten zum Nachhaltigkeitsziel gemachten konkreten Vorschläge bezieht sich somit auf technische Lösungen, die schon diskutiert wurden (siehe bei den »Scheinlösungen der Energiesüchtigen«). Da wird angesichts des Klimawandels nun je nach Sichtweise mehr auf erneuerbare Energien oder auf die Renaissance der Atomenergie gesetzt, Hoffnungen auf neue Methoden zur Endlagerung von CO2 und des Atommülls werden aufrecht erhalten, Methoden des Geo-Engineerings bereits getestet. An sparsameren und andere Energiequellen nutzenden Automotoren wird nun endlich ernsthafter geforscht, die Nutzung der Sonnenenergie wird intensiviert, viele fruchtbare Initiativen sind hierzu lokal, aber auch national und international in Gang gekommen.

Aber die Begrenztheit dieses Ansatzes wurde schon erörtert: technologische Entwicklungen benötigen Zeit, müssen getestet werden, Marktreife entwickeln und erschwinglich für den Einzelnen sein. Reboundef-


 

 

 

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