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5/2006 - Das Licht brennen lassen

Da herrschet Well' auf Welle kraftbegeistet, 
zieht sich zurück, und es ist nichts geleistet, 
was zur Verzweiflung mich beängstigen könnte: 
Zwecklose Kraft unbändiger Elemente!
Goethe, Faust 2, Akt 4

143-173

Wie den Sauerstoff bemerken wir auch die Elektrizität nur, wenn sie nicht da ist. Zwar ist uns vage bewusst, dass uns das meiste, was wir tun, ohne sie unmöglich wäre. Aber wir denken nur selten darüber nach, woher sie kommt, wie sie funktioniert oder was wir anfangen würden, wenn es sie nicht mehr gäbe. Doch ihre stete Verfügbarkeit würde Mephistopheles in Erstaunen versetzen.

Anders als die meisten Waren, die wir kaufen und bevorraten können, um sie später bei Bedarf zu verwenden, muss die Elektrizität genau im Augenblick des Verbrauchs produziert werden, denn sie zu bevorraten ist schwierig und teuer.2) Wenn zu viel oder zu wenig ins Netz gelangt, kommt es zu Strom­schwankungen, bei denen sämtliche Computer eines Landes abstürzen. Wenn die Versorgung unter ein bestimmtes Niveau sinkt, bricht das gesamte Netz zusammen. Elektrizität muss also nicht nur in dem Moment hergestellt werden, in dem wir sie haben wollen, sondern auch in genau den richtigen Mengen.

Das wäre kein großes Problem, wenn die Nachfrage immer konstant bliebe, doch sie unterliegt gewaltigen Schwankungen. In einer lauen Sommernacht brauchen wir beispielsweise in Großbritannien Kapazitäten von weniger als 20 Gigawatt zur Stromerzeugung. An einem kalten Winterabend jedoch, wenn die Hälfte der Bevölkerung ungefähr gleichzeitig von der Arbeit heimkommt, das Licht einschaltet, Wasser kocht, den Fernseher sowie elektrische Heizgeräte einschaltet und eine heiße Dusche nimmt, werden über 60 GW benötigt. Außergewöhnliche Ereignisse, die dazu führen, dass wir unser Verhalten noch genauer synchronisieren, können den Bedarf weiter in die Höhe treiben. 

Während des Halbfinales der Fußballweltmeisterschaft 1990 stieg der Bedarf nach der ersten und zweiten Halbzeit innerhalb weniger Minuten um jeweils 1,6 GW und nach dem Elfmeterschießen sogar um 2,8 GW.3 Warum? Weil die meisten Zuschauer gleich zu Beginn der Pause aufstanden, um Teewasser zu kochen. 2,8 GW ist mehr als das Doppelte der »Last« des größten Kraftwerks in Großbritannien.4) Weil wir Fernseher und Licht bereits eingeschaltet hatten, war das System schon vor der zusätzlichen Nachfrage stark gefordert. Irgendjemand musste dafür sorgen, dass die plötzlich steigende Nachfrage in genau dem Moment befriedigt werden konnte, wo sie entstand. Und dabei ging es nicht nur um etwas zusätzliche Elektrizität, sondern präzise um die benötigte Menge.

Das bedeutet, dass die Elektrizitätsversorger sich das Verhalten ihrer Kunden genau ansehen müssen, Aufzeichnungen über den früheren Stromverbrauch benötigen, Feiertage und nationale Ereignisse einplanen, die Wettervorhersage und das Fernsehprogramm samt Einschaltquoten berücksichtigen und das Elfmeterschießen ansehen müssen, um genau den Augenblick zu wissen, in dem sich die gesamte Nation vom Sofa erhebt.

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Um auf diese Schwankungen der Nachfrage zu reagieren, müssen die Stromversorger ständig Kraftwerke zur Produktion zuschalten oder herausnehmen. Die »Grundlast« — jene 20 GW, die wir ständig brauchen — wird durch Kernkraftwerke und große Gaskraftwerke zur Verfügung gestellt. Steigt der Bedarf, dann kommen Kohlekraftwerke und kleinere Erzeuger hinzu. Einige Anlagen produzieren während des gesamten Sommers keinen Strom, sondern werden erst eingesetzt, wenn der Bedarf im Winter steigt. Andere bleiben in »Bereitschaft«: Sie produzieren nur einen Bruchteil ihrer potenziellen Last, können aber binnen Sekunden auf die volle Kapazität hochgefahren werden. Ein Kabel zwischen Frankreich und Großbritannien erlaubt uns, 2 GW zu importieren, wenn der Strom bei uns knapp wird. Einige Fabriken haben besondere Abkommen mit den Elektrizitätsversorgern: Als Gegenleistung für einen Rabatt sind sie bereit, ihre Nachfrage kurzfristig zu reduzieren, wenn das System unter Druck gerät.5) 

Außerdem gibt es in Großbritannien noch drei Pumpspeicherwerke, welche die einzige kosteneffektive Möglichkeit der Stromspeicherung sind. Jedes besteht aus zwei Wasserreservoiren, eins oben auf einem Berg, das andere ziemlich weit unten im Tal. Wenn die Elektrizität billig ist, also bei geringer Nachfrage, wird das Wasser unter Einsatz von Strom aus dem tiefer gelegenen Becken in das höhere gepumpt. Steigt die Nachfrage dann plötzlich, öffnete man das obere Becken, und das Wasser strömt durch Turbinen nach unten. Das Pumpspeicherwerk in Dinorwig, Nordwales, kann fünf Stunden lang 1,7 GW produzieren.6) Es reagiert innerhalb von 15 Sekunden.7) Ich stelle mir in diesem Zusammenhang gern einen Mann in einer Kabine vor, wo der Fernseher läuft. Wenn das Fußballspiel sich dem Ende zuneigt, klingelt das Telefon. 

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»Jetzt kommt der letzte Elfmeter. Öffne das Becken.« Er zieht einen großen roten Hebel nach unten, und das Wasser rauscht aus dem oberen Becken, genau in dem Moment, da der Ball in der Torecke landet. Ich bin sicher, in Wirklichkeit läuft das alles automatisch.

Wenn ich mir anschaue, wie dieses System funktioniert, dann denke ich, es sollte uns eigentlich nicht überraschen, dass die Elektrizitätsversorger so zögernd in unsichere Stromquellen wie Wind- und Wasserkraft investieren. Das System ist jetzt schon derart fein austariert, dass der Instinkt jedem Betreiber nahelegt, seine Komplexität möglichst auf ein Minimum zu beschränken. Aber irgendetwas muss passieren, denn dieses Wunder lässt sich nur aufrecht­erhalten, indem wir riesige Mengen fossiler Brennstoffe verfeuern.

Das <Environmental Change Institute der Oxford University> schätzt, dass wir zwar den Kohlenstoffanteil der im Haushalt verbrauchten Energie bis 2050 um insgesamt 60 Prozent reduzieren können, unseren Stromverbrauch während derselben Zeit aber nur um 16 Prozent.8 Das ist deprimierend, vor allem wenn man bedenkt, dass der Zeitplan des Instituts zwanzig Jahre mehr umfasst als meiner. Es geht dabei allerdings von der Annahme aus, dass nichts unternommen wird, um die steigende Nachfrage nach neuen und oft größeren elektrischen Geräten zu unterdrücken. Ich bin davon überzeugt — und ich hoffe, das ist kein ungerechtfertigter Optimismus —, dass ein System der Rationierung, verbunden mit entweder konkreten Bestimmungen oder einer effektiven Kampagne zur Information der Öffentlichkeit (wobei man den Leuten beispielsweise sagt, dass große Plasmafernseher fünfmal so viel Strom wie andere Modelle verbrauchen), einiges dazu beitragen würde, den aktuellen Trend umzukehren. Und ich gehe von der Annahme aus, dass es gelingen kann, den Stromverbrauch bis 2030 um ungefähr 25 Prozent zu senken.

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Das bedeutet, dass ich immer noch eine Möglichkeit finden muss, die Kohlendioxidemissionen bei der Erzeugung der verbleibenden Elektrizität um mehr als 80 Prozent zu reduzieren. In Großbritannien stammt die Elektrizität aus den in der Tabelle aufgeführten Quellen.9)

Brennstoff

Prozent der Stromerzeugung

 

Gas

41

 

Kohle

33

 

Kernkraft

19

 

Erneuerbare Energien

3

 

Importe

2

 

Öl

1

 

Andere Brennstoffe

Quelle: UK Department of Trade and Industry

Kohle enthält durchschnittlich 24,1 Kilogramm Kohlenstoff pro Gigajoule Energie, während Erdgas nur 14,6 Kilogramm enthält.10) Wenn alle anderen Variablen also gleich blieben, dann würde das Verbrennen von Gas statt Kohle die Kohlendioxidemissionen pro Watt erzeugter Elektrizität um ungefähr 40 Prozent senken. Aber Kohle ist noch schlimmer, als diese Zahlen vermuten lassen. Ein modernes Gaskraftwerk wandelt ungefähr 52 Prozent der im Brennstoff enthaltenen Energie in Elektrizität um.11) Die besten Kohlekraftwerke haben eine Effizienz von nur 40 Prozent.12) Teils weil wir immer noch Kohle verwenden, teils weil einige unserer Gasturbinen ziemlich veraltet sind, betrug die durchschnittliche Effizienz von Kraftwerken in Großbritannien 2004 nur etwa 38,5 Prozent.13)

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Ein entscheidender Schritt hin zu einer Ökonomie, die weniger Kohlenstoff verbraucht, besteht also ganz einfach darin, die beiden Brennstoffe auszutauschen. Das ist, nicht nur aus ökologischen Gründen, in Großbritannien schon in großem Umfang vollzogen worden. 1970 verbrauchten wir 176 Millionen short tons* Kohle; 2003 waren es nur noch 69 Millionen.14 Der Wechsel zum Gas ist einer der Hauptgründe für die Reduzierung der britischen Kohlendioxidemissionen: Ohne ihn hätten wir wenig Chancen, unsere im Kyoto-Protokoll festgelegte Verpflichtung von 12,5 Prozent weniger Emissionen als 1990 bis 2012 zu erfüllen.

Nachdem die Substitution von Kohle durch Gas einige Jahrzehnte lang gut voranging, sieht es jetzt leider so aus, als würden wir uns in die entgegengesetzte Richtung bewegen. 2025 werden die Vereinigten Staaten nach Angaben der Energy Information Administration der US-Regierung 40 Prozent mehr Kohle als heute verbrennen.15 China hat die Absicht, bis 2020 dreimal so viel Kohle wie heute zur Erzeugung von Elektrizität einzusetzen.16 Die britische Regierung erwartet — wenn es keine Eingriffe in den Markt gibt —, dass nach 2020 in Großbritannien sehr viel mehr Kohle als heute verbrannt wird.17

Es ist unschwer zu erkennen, warum die Welt zum Kohlezeitalter zurückkehrt. Die Erdgasvorräte in Nordamerika haben ihren Gipfel bereits überschritten und beginnen zu sinken.18) In Europa hat sich der Erzeugerpreis für Erdgas zwischen 2003 und 2006 verdreifacht.19) Das hat zum Teil damit zu tun, dass auch die Gasvorräte in der Nordsee geringer werden; zum Teil hängt es damit zusammen, dass die russische Regierung die Versorgung der osteuropäischen Länder vorübergehend eingeschränkt hat,20) während die Gasversorger, welche die Pipelines kontrollieren, Westeuropa nicht mehr ausreichend versorgten.21)**

*  1 short ton = 2000 Libs (lbs); 1t = 2204,585 lbs.  (u2013:) Also rund 1 Tonne = 1 kurze Tonne

* Der Energieregulierer Ofgen behauptet beispielsweise, dass die Gasgesellschaften den Strom durch den »Interconnector« — die Pipeline durch die Nordsee — während des Winters, wo wir am meisten Gas brauchen, auf 60 Prozent der maximalen Kapazität beschränkt haben. Anfang 2006 hat Russland seine Gaslieferungen an die Ukraine eingeschränkt (die ihrerseits wiederum den Rest der europäischen Länder versorgt), um eine Vertragsänderung zu erzwingen.

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Einige Leute machen sich Sorgen, dass es den Gasversorgern weltweit bald genauso wie den Amerikanern gehen könnte und die Vorräte schwinden. Das britische Parliamentary Office of Science and Technology erwähnt beispielsweise eine Organisation, die sich »Association for the Study of Peak Oil and Gas« nennt und vorhersagt, dass die »globale Gasproduktion zwischen 2020 und 2030 ihren Höhepunkt überschreiten wird«.22 Ich halte das für unwahrscheinlich.

Die Royal Commission on Environmental Pollution erwartet, dass »die globale Produktion ihren Höhepunkt nicht vor 2090 erreicht«,23 obwohl der von ihr erwähnte Experte, Professor Peter Odell, Prognosen über den Ölpreis abgegeben hat, die sich als optimistisch erwiesen.24 Shell geht davon aus, dass die bekannten Gasreserven 2020 größer sein werden als heute.25 Aber ich habe gelernt, den Prognosen der Ölkonzerne nicht uneingeschränkt zu vertrauen. Zuverlässiger ist vielleicht die Voraussage der Geological Society of London: Sie meint, innerhalb der nächsten fünfzig Jahre 

werden die Ölvorräte wahrscheinlich ihren Höhepunkt überschreiten ... die Gasvorräte aber nicht... obwohl die Projektion historischer Wachstumsraten vermuten lässt, dass um die Mitte des Jahrhunderts Produktions­einschränkungen auftreten könnten.26)

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Für Kohle gibt es dagegen keine derartigen Beschränkungen. 

Die International Energy Agency hat erklärt, dass es weltweit derzeit ungefähr 1 Billion Tonnen förderbarer Kohle gibt — genug für weitere 200 Jahre Produktion auf dem gegenwärtigen Niveau.27) Die Geological Society hebt hervor, dass ein Preisanstieg von nur 10 Dollar pro Tonne die ökonomischen Kohlereserven der Welt verdoppeln würde.28) Der norwegische Ölkonzern Statoil schätzt, dass allein unter dem norwegischen Meeresboden 3 Billionen Tonnen Kohle lagern, für die es jedoch im Moment keine praktikablen Fördermöglichkeiten gibt.29) 90 Prozent der in den USA noch vorhandenen Energiereserven bestehen aus Kohle.30)

Es gibt Möglichkeiten, die Sicherheit — und damit die ökonomische Langlebigkeit — unserer Gasreserven zu erhöhen. Am effektivsten ist eine Erhöhung der Lagerbestände. In Großbritannien reichen die Vorräte beispiels­weise nur für vierzehn Tage, während der europäische Durchschnitt bei 52 Tagen liegt.31 Das bedeutet, dass unsere Gasversorgung weniger zuverlässig ist als in anderen Ländern, was den Druck erhöht — von Organisationen wie der Confederation of British Industry —, zu anderen Brennstoffen zu wechseln. Doch wir haben reichlich potenzielle Lager in Form von Salzbetten und alten, ausgebeuteten Gasfeldern unter der Nordsee. Gas lässt sich einfach lagern, indem man es unter die Felsen zurückpumpt. Das ist in kleinerem Umfang im Rough-Gasfeld in der südlichen Nordsee bereits geschehen,32 in größerem Ausmaß auch in Ohio, West Virginia, Pennsylvania und New York State.33,34)

Ich behaupte nicht, dass Gas als Energielieferant die Biosphäre retten wird, sondern ich sage einfach nur, dass die Rückkehr vom Gas zur Kohle die Zerstörung enorm beschleunigen wird.

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Aber selbst wenn wir weiterhin den größten Teil unserer Elektrizität auf der Basis fossiler Brennstoffe erzeugen, könnten wir zumindest theoretisch unsere Kohlen­dioxi­demissionen um 8o35 bis 85 Prozent senken.36 Die Technologie, die das ermöglichen würde, bezeichnet man als »Sequestration«.

Dieser Fachbegriffsteht für ein Verfahren, bei dem man dem Brennstoff vor oder nach dem Verbrennen das Kohlendioxid entzieht und es unterirdisch speichert, wobei man hofft, dass es dort bleiben wird. Wie so vieles, was mit der Erzeugung von Elektrizität zu tun hat, klingt das lächerlich. Aber an einigen Orten wird das Verfahren schon praktiziert.

Statoil entzieht dem Gas, das aus dem Sleipner-Feld in der Nordsee gefördert wird, bereits 1 Million Tonnen Kohlendioxid pro Jahr und pumpt es in einen Salzwasserleiter unter dem Meeresgrund.37 BP betreibt ein ähnliches Projekt in Algerien.38 (Das Kohlendioxid ist eine Verunreinigung, die den Wert von Erdgas mindert.) Seit 1954 verwendet das kanadische Unternehmen En-Cana Kohlendioxid, um das restliche Öl aus einem bereits ausgebeuteten Reservoir in Saskatchewan auszuspülen. Obwohl sich EnCana anfangs wenig dafür interessierte, was mit dem Gas passierte, blieben ungefähr drei Viertel davon unter der Erde.39

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie man den Abgasen eines Kraftwerks das Kohlendioxid entziehen kann. Das Verfahren, das man höchstwahrscheinlich anwenden wird, ist schon seit über sechzig Jahren für andere Zwecke im Einsatz.40 Man bezeichnet es als »Auswaschen mit Aminen«. Die Abgase werden durch eine Lösung mit Ethanolaminen geleitet, welche 82 bis 99 Prozent des Kohlendioxids absorbiert.41) Anschließend erhitzt man die Chemikalienmischung, um das Kohlendioxid freizusetzen42 und es anschließend in das unterirdische Lager zu leiten, sodass die Amine erneut verwendet werden können.

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Das freigesetzte Gas wird komprimiert und anschließend durch eine Pipeline unter die Erde befördert. Verschiedene Gesteinsformationen scheinen in der Lage zu sein, Kohlendioxid fast unbegrenzt festzuhalten. Die Liste43) zeigt, welche möglichen Reservoire es weltweit gibt und wie viel Kohlendioxid sie aufnehmen können.

Reservoir                                   Globale Kapazität (Mrd. t)         Quelle: UK Department of Trade and Industry

Alte Ölfelder                                125
Nichtabbaubare Kohlevorkommen  148
Alte Gasfelder                               800
Salzhaltige Wasserleiter                  400-10.000

Bedenklich sind die weit auseinandergehenden Zahlen für salzhaltige Wasserleiter. Weltweit produzieren Kraftwerke rund 10,5 Milliarden Tonnen Kohlendioxid pro Jahr.44 Wenn die höheren Schätzungen korrekt wären, dann könnte man im Prinzip die gesamte Menge Kohlendioxid, die unsere Kraftwerke in den nächsten 24 Jahren produzieren werden, mehrfach dort speichern. Aber ich werde gleich zeigen, dass es sogar schwierig ist, das nur einmal zu tun.

Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass Kohlendioxid, wenn es einmal richtig gelagert wurde, an Ort und Stelle verbleibt. Die meisten Erdgasreservoire, die wir heute ausbeuten, existieren seit Jahrmillionen. Das IPCC erklärt, dass nach tausend Jahren wahrscheinlich weniger als 1 Prozent des in angemessenen Reservoiren gespeicherten Kohlendioxids entwichen sein würde.45)

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Kohlendioxid hat eine günstige Eigenschaft, die dazu beiträgt, es dort zu halten, wo es sich befindet: 800 Meter oder noch tiefer unter der Erdoberfläche lässt der Druck es »überkritisch« werden: Es verhält sich dann mehr wie eine Flüssigkeit als wie ein Gas.46 Nach Angaben der Internationalen Energieagentur liegen 80 Prozent der weltweiten Ölfelder, in die ein Teil des Gases gepumpt werden könnte, tiefer als 800 Meter.47 Kohlendioxid auszuwaschen und unterirdisch zu speichern kostet pro Tonne 18 bis 240 Euro, je nachdem, welchen Schätzungen man glauben will.48-54) Das Auswaschen aus den Abgasen von Kohlekraftwerken ist teurer als die Abgasreinigung von Gaskraftwerken, weil Kohle mehr Kohlendioxid pro Tonne enthält. Alles in allem produzieren die britischen Kraftwerke jährlich 172 Millionen Tonnen Kohlendioxid.55

Als ich zum ersten Mal von dieser Technologie hörte, reagierte ich ablehnend. Mein erster Gedanke war, dass die Sache nicht funktionieren konnte: Das Gas würde mit Sicherheit aus den Speichern austreten. Diese Sorge habe ich inzwischen nicht mehr. Dann dachte ich, dass der Prozess, bei dem das Kohlendioxid ausgewaschen, komprimiert, transportiert und in den Lagern gespeichert wird, mehr Energie (und folglich Kohlenstoff) kosten würde, als wir dadurch einsparen. Aber das IPCC bleibt dabei: Ein Kraftwerk würde 10 bis 40 Prozent mehr Brennstoff brauchen, um diese Energiekosten zu decken, während die Netto-Kohlendioxidersparnis immer noch bei 80 bis 90 Prozent läge;56 denn das Kohlendioxid aus den Abgasen der zusätzlich verfeuerten fossilen Brennstoffe könnte ja ebenfalls unterirdisch gelagert werden.

Dann machte ich mir Sorgen, das Versprechen, man könnte Kohlendioxid auswaschen und unterirdisch lagern, könnte als Entschuldigung dafür missbraucht werden, dass sich nichts an unserem Umgang mit fossilen Brennstoffen ändert. 

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Es wäre doch bestimmt sehr viel sicherer, die fossilen Brennstoffe einfach im Boden zu lassen, oder? Aber dieses Argument konterte Jonathan Gibbins vom Imperial College in London auf eine interessante Weise. Sein Einwand: Regelungen, die erforderlich wären, um die Förderung fossiler Brennstoffe zu verhindern, hätten »wahrscheinlich eine wesentlich geringere Zuverlässigkeit ... und Langlebigkeit als die geologische Lagerung. Außerdem verlangt die Lagerung einen einmaligen Kraftakt zu Beginn und keine dauerhafte Dominanz globaler Politik.«57 Anders gesagt: Befindet sich das Kohlendioxid erst einmal unter der Erde, dann kann man es mehr oder weniger vergessen. Aber wenn wertvolle Rohstoffe unter der Erde liegen, dann muss man sich ständig darum kümmern, dass niemand sie ausgräbt. Das Auswaschen und Lagern von Kohlendioxid ist eine politisch stabilere Lösung als die ökonomische Einschränkung.

Doch es gibt drei Gegenargumente, die einiges Gewicht haben. 

Erstens: Fast alle Kostenschätzungen, die ich gelesen habe, werden von einer zweiten Reihe niedrigerer Zahlen begleitet — für einen Prozess, den man »verbesserte Ölausbeute« nennt. Grundsätzlich geht es dabei um dasselbe Verfahren: Man pumpt Kohlendioxid in alte Ölfelder. Aber in diesem Fall macht man es zum Teil, um die letzten Ölreste aus ihnen herauszupressen (wie EnCana es in Saskatchewan getan hat). Das Gas löst sich im Öl und verringert dessen Viskosität. Während es durch das Reservoir gepumpt wird, treibt es das Öl in die Förderanlagen.58 Das Geld, das man dabei gewinnt, erklärt, warum die verbesserte Ölausbeute weniger kostet als eine direkte Lagerung von Kohlendioxid. Es verbleibt weniger Kohlendioxid unter der Erde, weil ein Teil davon mit dem Öl wieder nach oben gelangt. Ein Bericht des US Department of Energy geht aber von der Annahme aus, dass die Ölreserven des Landes durch das Einpumpen von Kohlendioxid effektiv vervierfacht werden könnten.59

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Da das meiste Öl in Fahrzeugen verbraucht wird und es keine praktikable Möglichkeit gibt, Kohlendioxid aus deren Abgasen auszuwaschen und unterirdisch zu lagern, besteht die Gefahr, dass durch die Verwendung von Kohlendioxid zur verbesserten Ölausbeute die CO2-Konzentration in der Atmosphäre letztlich steigen könnte. Wenn wir die unterirdische Lagerung von Kohlendioxid als Mittel gegen den Klimawandel einsetzen wollen, dann dürfen wir sie nicht gleichzeitig als Mittel zu Verbesserung der Ölausbeute verwenden.

Das zweite Gegenargument lautet, dass wir mit dem Auswaschen und Lagern von Kohlendioxid der Kohleindustrie wieder auf die Beine helfen. Schon heute, wo es nur Spekulationen darüber gibt, was eines Tages möglich sein könnte, trommeln die Kohlebefürworter uns das Schlagwort »saubere Kohle« in die Ohren. Aber auch wenn das Kohlendioxid aus den Abgasen der Kohlekraftwerke später einmal unter der Erde entsorgt werden könnte, bleibt der Kohlebergbau in jeder anderen Hinsicht eine Industrie, die zu den zerstörerischsten dieser Welt gehört. Wenn Sie mir das nicht glauben, dann stellen Sie sich einfach an den Rand eines Tagebaugebietes und sagen die Worte »saubere Kohle«.

In den Appalachen im Osten der Vereinigten Staaten benutzen die Kohlekonzerne — stets innovativ, wenn es um die Zerstörung des Planeten geht — jetzt eine Abbaumethode, die sich »Mountaintop Removal« nennt. Man sprengt einfach den Berggipfel und schafft das Geröll mit Bulldozern ins Tal. Von dem vormals zerklüfteten Gebirge bleibt ein Plateau zurück. Auf diese Weise wurden schon Flussläufe in einer Länge von 1200 Meilen begraben.60 Wenn ich meinen Freunden sage, dass ich im Zweifelsfall die Kernkraft der Kohle vorziehen würde, sind sie entsetzt. Ich lade sie dann ein, sich einige Bilder von den Minen in West Virginia anzusehen.61

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Aber auf die Gefahr hin, mich denselben Spekulationen hinzugeben wie die Kohlebarone, will ich daraufhinweisen, dass es eine Technologie gibt, die eines Tages das Versprechen von sauberer Kohle erfüllen könnte. Man nennt sie »unterirdische Kohlevergasung«. Zu diesem Zweck werden Löcher in ein Kohleflöz gebohrt, in die man anschließend Luft und Dampf pumpt. Die Kohle ist »vergast« und gibt Methan und Wasserstoff ab, die beide in Kraftwerken verbrannt werden können. Kohlendioxid kann entweder vor oder nach der Verbrennung entzogen werden. Die Technik erfordert keine größeren Grabungen, es bleiben keine Abraumhalden zurück, und es gibt keine Kinder, die in engen Gassen Staub einatmen müssen.

Das Verfahren wird seit den fünfziger Jahren in Usbekistan praktiziert und mit einigem Erfolg in Australien, Spanien, China, den Vereinigten Staaten und Großbritannien getestet. Inzwischen ist es möglich, Flöze bis zu einer Tiefe von 600 Metern zu vergasen.62 Je tiefer man geht, desto besser, weil dann das Risiko, Grundwasserleiter zu verschmutzen, geringer ist.63 Wie bei jeder Art von Kohleverbrennung werden auch bei diesem Verfahren noch andere Schadstoffe freigesetzt, beispielsweise Schwefel, Stickoxide und Schwermetalle; und auch sie müssen dem Gas entzogen werden, wenn es aus den Bohrlöchern kommt. Die dafür anfallenden Kosten sind denen vergleichbar, die in einem modernen Kohlekraftwerk entstehen.64

Entscheidend ist jedoch, dass die unterirdische Kohlevergasung ausschließlich in Verbindung mit dem Auswaschen und der anschließenden unterirdischen Entsorgung von Kohlendioxid geschieht. Anderenfalls würde das Verfahren — weil es auch in Flözen angewendet werden kann, die für den konventionellen Abbau zu schmal sind — lediglich dazu führen, dass noch mehr Kohle als bisher für den Abbau zur Verfügung steht. In Großbritannien könnte man beispielsweise mithilfe der unterirdischen Kohlevergasung elfmal so viel Kohle ausbeuten wie mit den Methoden des konventionellen Bergbaus.*

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Das dritte wichtige Argument gegen die unterirdische Entsorgung von Kohlendioxid lautet: Wie alles, was wir tun, hält auch dies uns davon ab, andere Optionen wahrzunehmen. Das bedeutet in diesem Fall, dass die Abwärme aus der Stromerzeugung nicht mehr als Heizenergie genutzt werden kann. So gesehen ist das Auswaschen und die unterirdische Lagerung von Kohlendioxid nur bei sehr großen Kraftwerken ökonomisch sinnvoll, während die Kraft-Wärme-Kopplung (sie wird in Kapitel 7 erklärt) sich nur bei kleineren Kraftwerken wirtschaftlich rechnet.67

Aber selbst wenn wir zu dem Schluss kommen, dass die unterirdische Entsorgung von Kohlendioxid aus den Abgasen fossiler Brennstoffe die beste Möglichkeit zur Verringerung der Emissionen bei der Stromerzeugung darstellt, können wir das Verfahren nicht überall anwenden. Ein Kraftwerk hat eine Lebensdauer von ungefähr vierzig Jahren.68 Wenn das Auswaschen von Kohlendioxid nicht schon beim Bau vorgesehen war, ist die Nachrüstung sehr schwierig. Das Kraftwerk sollte nicht weiter als 500 Kilometer von der Stelle entfernt liegen, wo man das Kohlendioxid entsorgen will, weil die Transportkosten mit zunehmender Entfernung steigen.

* Die US Energy Information Administration schätzt, dass Großbritannien über 1,5 Milliarden Tonnen förderbarer Kohlereserven verfügt.65 Die britische Regierung erklärt, dass »die britischen Kohlevorkommen an Land, die durch den konventionellen Bergbau erschlossen werden können, auf 17 Milliarden Tonnen geschätzt werden (das reicht bei gleich bleibendem Verbrauch für 300 Jahre). Hinzu kommt mindestens noch einmal dieselbe Menge, die nicht konventionell abgebaut werden kann.« Außerdem gibt es noch ausgedehnte Kohlevorkommen unter dem Meeresboden.66

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Man braucht genügend Platz für zusätzliche Rohre und Ventile und für die Anlage zum Auswaschen.69 In vielen Kraftwerken weltweit fehlen dafür die Voraussetzungen, und das gilt auch für einen großen Teil der jetzt neu gebauten. Aus diesem Grund, aber auch weil es Zeit kostet, eine neue Technologie zu entwickeln und zu testen, glaubt die Internationale Energieagentur (IEA), dass es wahrscheinlich noch zehn Jahre dauern wird, bis es möglich ist, Kohlendioxid in großem Umfang auszuwaschen und unterirdisch zu lagern, wobei das wirkliche Potenzial dieser Technologie zur Verringerung der Emissionen in den entwickelten Ländern erst ab 2030 zum Tragen kommt.70

Das scheint auf den ersten Blick zu weit weg zu sein, um als größerer Beitrag zum Erreichen unseres Ziels gelten zu können. Aber wie ich am Ende dieses Kapitels zeigen werde, könnten Schätzungen wie jene der IEA allzu pessimistisch sein. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass diese Technologie gemeinsam mit anderen, die auch als »zu weit weg« gelten, mit dem nötigen politischen Engagement schon sehr viel früher als 2030 in größerem Umfang genutzt werden können. Die Schwierigkeiten, denen ich bei den Recherchen über die anderen Technologien begegnet bin, haben mich davon überzeugt, dass die Sequestration — auch wenn sie nicht die vollständige Antwort ist — eine der Methoden sein kann und muss, mit deren Hilfe wir die Kohlendioxid­emissionen bei der Stromerzeugung drastisch reduzieren.

Hier beginnt nun der Teil des Buches, vor dem mir am meisten graut: eine Diskussion der Kernkraft. Ich hasse dieses Thema, teils, weil es mit mehr Ärger belastet ist als jedes andere, teils, weil jede Aussage heftig umstritten ist. So viel man auch darüber liest, man weiß immer noch nicht, was oder wem man glauben soll.

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Das besondere Problem der Umweltschützer besteht darin, dass die Bewegung selbst zum Teil aus den Sorgen über die Kernkraft entstanden ist, eng verknüpft mit Ängsten im Hinblick auf die Proliferation von Atomwaffen. Alles, was vermuten lässt, man würde die Kernkraft ernsthaft in Erwägung ziehen, läuft Gefahr, als Angriff auf die Ökologiebewegung wahrgenommen zu werden. Bei den Grünen spielt das Thema eine so große Rolle, dass ihm sogar der Klimawandel oft untergeordnet wird. Verschiedene Organisationen haben Berichte veröffentlicht, die zeigen, dass es keinen Bedarf für neue Kernkraftwerke gibt, wenn die alten vom Netz genommen werden, weil erneuerbare Energien die Lücke füllen können.71-73) Es besteht die Gefahr, dass wir am Ende die Kernenergie statt der fossilen Brennstoffe ersetzen.

Die Verbindung zwischen Kernenergie und Atomwaffen ist real. Die Entwicklung der Technologie lässt eine entsetzliche Symmetrie erkennen. In den ersten Nationen, welche die Kernkraft nutzten, war die Stromerzeugung ein Nebenprodukt der Entwicklung von Atomwaffen. In den Nationen, die später dazukamen, war es umgekehrt: Atomwaffen waren ein Nebenprodukt der Kernkraftwerke. Jeder Staat, der in den letzten dreißig Jahren versucht hat, ein Atomwaffenprogramm zu entwickeln — Israel, Südafrika, Indien, Pakistan, Nordkorea, der Irak und der Iran —, hat zu diesem Zweck Ressourcen abgezweigt, die aus zivilen Kernkraftwerken stammten.74,75) Je mehr Nuklearmaterial es in der Welt gibt, desto mehr Waffen werden wahrscheinlich entwickelt, und desto weiter werden sie verbreitet.

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Wenn man sich all die anderen Technologien ansieht, die ich in diesem Buch bespreche, dann kann man sie nach drei Kriterien beurteilen: ökologische Auswirkungen, Machbarkeit und Kosten. Aber in diesem Fall müssen wir noch einen weiteren Faktor berücksichtigen. Wie bewerten wir die Bedrohung durch den Klimawandel im Vergleich zur Bedrohung durch einen nuklearen Krieg? Das eine wird mit Gewissheit eintreten — geschieht sogar jetzt schon. Das andere ist genauso verheerend — vielleicht sogar schlimmer —, aber weniger gewiss. Jeder einzelne Beitrag zu den weltweiten Beständen an spaltbarem Material macht einen Krieg vielleicht nicht wahrscheinlicher, aber die Summe des gesamten Materials könnte das Risiko sehr wohl erhöhen.

Wir können mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass jedes Kernkraftwerk nukleare Strahlung in die Umwelt abgibt. Abgesehen von den üblichen Emissionen, die Luft und Wasser belasten, denkt man bei Kernkraftwerken auch gleich an Atommüllskandale. In Großbritannien vergeht beispielsweise kaum ein Jahr ohne irgendeine neue und schreckliche Enthüllung über die Wiederaufarbeitungsanlage in Sellafield. Im Jahr 2004 verklagte die Europäische Kommission die britische Regierung, weil Sellafield den Inspektoren nicht erlaubte, eines der dortigen Atommülllager zu prüfen.76 (Vielleicht erinnern Sie sich daran, dass eine ähnliche Situation der Auslöser für den Irakkrieg war.) 

Es ist kaum überraschend, dass man in Sellafield die Inspektoren nicht auf das Gelände lassen wollte: 2003 entdeckten sie dort ein Wasserbecken, in dem — seit dreißig Jahren unbekannt und ungeprüft — 1,3 Tonnen Plutonium lagerten.77) 2005 fanden Prüfer auf dem Gelände ein leckes Rohr, aus dem über acht Monate lang unentdeckt Salpetersäure ausgetreten war, die ungefähr 20 Tonnen Uran und 160 Kilogramm Plutonium enthielt.78)

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Im Jahr 1997 hatten die Betreiber des Kernkraftwerks in Dounreay an der Nordküste von Schottland zugegeben, dass sie ihren radioaktiven Müll viele Jahre lang in ein offenes Loch entsorgt hatten, das oberhalb der bröckelnden Küstenkliffs gegraben worden war. Der Schacht war schon einmal explodiert (1977) und hatte Plutonium über die Strände geschleudert, aber die britische Atomenergiebehörde als Betreiberin der Anlage hatte den Vorfall verschwiegen.79 Die Behörde versprach, es würde keine weiteren Skandale mehr geben. Aber weniger als ein Jahr später musste sie zugeben, dass man ein zweites Loch in die Kliffs gegraben hatte, in das immer noch offene radioaktive Abfälle entsorgt wurden.80

Es gibt zwei Gründe, warum Betrug in der Nuklearindustrie so weit verbreitet ist: 

Erstens ist es sehr viel billiger, wenn man radioaktives Material nicht sorgfältig, sondern nachlässig behandelt. Und zweitens haben die Betreiber von nuklearen Anlagen eine perfekte Entschuldigung — Geheimhaltung aus Sicherheitsgründen —, wenn sie der Öffentlichkeit unangenehme Tatsachen vorenthalten.

Natürlich ist es gefährlich für Menschen, wenn radioaktive Stoffe, darunter das giftigste Element, das es auf der Erde gibt (Plutonium), in die Umwelt gelangen. Die Zahl der dadurch verursachten Todesfälle wird ebenso kontrovers diskutiert wie alle anderen Aspekte der Kernkraft. Wahrscheinlich sterben in den meisten Staaten, die Kernenergie nutzen, jedes Jahr einige Menschen an den Folgen radioaktiver Strahlung, die routinemäßig oder durch einen Unfall freigesetzt wird. Eine Kernschmelze oder ein erfolgreicher terroristischer Angriff auf ein Kernkraftwerk ist in den reichen Nationen zwar unwahrscheinlich, würde aber noch sehr viel mehr Menschenleben fordern: Die Schätzungen über schwere Gesundheitsschäden durch die 1986 beim Reaktorunfall von Tschernobyl freigesetzte Strahlung schwanken zwischen einigen tausend bis zu mehreren Millionen. Mehrere tausend Menschen werden an den Folgen des Unfalls wahrscheinlich vorzeitig sterben.81) 

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Aber die unerbittliche moralische Buchhaltung, nach der sich alle unsere Entscheidungen richten müssen, verpflichtet mich zu der Aussage, dass die Kernkraft bisher wahrscheinlich sehr viel weniger Menschen getötet hat als der Klimawandel.

Auch international gibt es bei der Lagerung von Atommüll viele Betrügereien, weil die Entsorgung auf diese Weise erheblich billiger wird. Theoretisch kann man Atommüll sicher lagern. Ich fand einen technischen Bericht der finnischen Atombehörde Posiva überzeugend.82 Die abgenutzten Brennelemente werden in Stahl verpackt, anschließend mit Kupfer ummantelt und tief in ein Bohrloch versenkt. Das Loch füllt man anschließend mit gesättigtem Bentonit, einer Art weicher Tonerde. Die Metallurgen von Posiva gehen davon aus, dass die Kupferhülle unter diesen Bedingungen mindestens eine Million Jahre hält.83

Allerdings besteht die Gefahr, dass der Rest der Industrie dieses gute Beispiel von Posiva als Potemkinsches Dorf missbraucht: ein Vorzeigeprojekt, das den Eindruck erweckt, man habe das Problem gelöst, während hinter den Kulissen der übliche Missbrauch weitergeht. Die britische Regierung hat noch keine Pläne für die Endlagerung des Atommülls. Das sieht nach einem Verstoß gegen das grundlegendste Umweltprinzip aus, das man schon kleinen Kindern beibringt: Bevor du ein neues Durcheinander anrichtest, räum erst mal das alte auf! Einer der Gründe für diese Pflichtverletzung ist die Tatsache, dass die Regierungsbehörde, die für die Auswahl eines Endlagers verantwortlich ist, jedes Vertrauen der Öffentlichkeit dadurch verspielt hat, dass sie einen Ort (Sellafield) mehr aus politischen als aus geologischen Gründen auswählte (ein großer Teil der Bevölkerung aus der Gegend von Sellafield arbeitet in der Nuklearindustrie).84) 

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In Ermangelung eines besseren Plans hat British Nuclear Fuels mit dem Gedanken gespielt, die Entscheidung aufzuschieben. Der Atommüll wird direkt unter der Erdoberfläche in einem Gewölbe zwischengelagert, bis zukünftige Generationen entscheiden, was damit geschehen soll.85

In den Vereinigten Staaten haben Mitarbeiter der Behörde, die für die Testung des Yucca-Mountain-Lagers in Nevada verantwortlich sind, wo die Regierung den gesamten Atommüll der Nation endlagern will, die Berechnungen für den Zeitraum widerlegt, in dem das Lager angeblich vor Sickerwasser geschützt sein sollte. Ein Mitarbeiter der US Geological Survey gab zu: »Ich habe zwei verschiedene Gutachten gefunden, eines, das die QA [Quality Assurance] glücklich machen wird, und ein anderes, das tatsächlich benutzt wurde.«86,87) Auf diese Weise sollte das Lager offenbar sicherer erscheinen, als es ist. Jetzt sieht es so aus, als sei Yucca Mountain kein geeignetes Endlager.88)

Die enormen Kosten für die Lagerung von Atommüll und die Stilliegung von Kernkraftwerken gehören mit zu den Gründen, warum die Kernenergie weiterhin öffentliche Gelder verschlingt. In Großbritannien wird die Reinigung unserer Nuklearanlagen 70 Milliarden Pfund kosten.89 Weil der voraussichtliche Preis während der letzten zehn Jahre laufend gestiegen ist, wäre es wohl fairer, von »mindestens 70 Milliarden Pfund« zu sprechen. Aber schon bevor diese Ausgaben überhaupt anfangen, hat die britische Regierung der Atomindustrie in aller Stille unser Geld übergeben: 2002 lieh sie British Energy 650 Millionen Pfund.90 2005 wurde aus einem vertraulichen Papier bekannt, dass die Regierung dem Unternehmen weitere 184 Millionen Pfund gezahlt hatte.91 Die Öffentlichkeit wurde darüber nie offiziell informiert.

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Nirgendwo gibt es Kernkraftwerke, die nicht auf die eine oder andere Weise von Subventionen abhängen. Sogar der berühmte Olkiluoto-Reaktor in Finnland, das einzige Kernkraftwerk, das gegenwärtig in Europa gebaut wird, und das einzige, das weltweit ohne Regierungsgelder errichtet wird, scheint jetzt eine Lockware zu sein, gesponsert von der französischen Firma Areva, um den Eindruck zu erwecken, die Technologie sei kommerziell existenzfähig.92) 

Eine weitere versteckte Subvention, deren tatsächliche Kosten unmöglich zu berechnen sind, ist die Versicherung, die der Staat übernimmt. Das finanzielle Risiko eines nuklearen Unfalls ist so hoch, dass kommerzielle Versicherer es nicht zu tragen bereit sind. Drei internationale Vereinbarungen begrenzen die Verantwortlichkeit der Betreiber von Kernkraftwerken: die Pariser Konvention 1960, die Wiener Konvention 1963 und das so genannte Gemeinsame Protokoll von 1988 (Joint Protocol).93 

Für die Rechnung kommt der Staat auf. In Großbritannien wird die Regierung alle Kosten eines Unfalls übernehmen, die 140 Millionen Pfund übersteigen.94 In den Vereinigten Staaten liegt die Grenze bei 200 Millionen Dollar.95 In Kanada haften die Betreiber für maximal 75 Millionen kanadische Dollar.96 Das Europäische Parlament schätzt jedoch, dass die Kosten bei einem großen nuklearen Unfall zwischen 80 Milliarden und 5,5 Billionen Euro liegen könnten.97) 

Im Jahr 2005 berechnete die Wirtschaftsberatungsfirma Oxera, dass ein Ersatz für die britischen Kernkraftwerke, von denen die meisten 2020 stillgelegt werden müssen, rund 6,8 Milliarden Pfund kosten würde, nicht eingerechnet die Versicherungen und andere Garantien, aber einschließlich zukünftiger Kosten für die Stillegung und die Lagerung des Atommülls. Einen Anteil von ungefähr 1,6 Milliarden Pfund müsste die Regierung zahlen.98

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Jede Art von Elektrizität, die teurer ist als die billigste auf dem Markt, braucht wahrscheinlich die finanzielle Unterstützung der Regierung, damit der Betreiber nicht Konkurs anmelden muss. Das gilt für erneuerbare Energien ebenso wie für die Kernenergie. Aber eine vergleichende Untersuchung aus den Vereinigten Staaten zeigt, dass die Kernenergie während der ersten fünfzehn Jahre ihrer Entwicklung 45-mal so viel Regierungsgelder bekommen hat wie die Windenergie.99

Ich denke, es gibt zwei Gründe, warum die Regierungen der Kernenergie gegenüber so großzügig waren. Erstens wurde sie gebraucht — besonders 1953 von Präsident Eisenhower —, denn sie konnte das Potenzial für eine Entwaffnung demonstrieren. Eisenhower glaubte, man könne das nukleare Schwert in nukleare Pflugscharen umwandeln: »Es reicht nicht aus, diese Waffe aus den Händen der Soldaten zu nehmen. Sie muss in die Hände jener gelegt werden, die wissen, wie man sie von ihrer militärischen Verkleidung befreit und an die Künste des Friedens anpasst.«100) 

Sein Programm (»Atoms for Peace«), das die unbeabsichtigte Folge hatte, nichtnukleare Nationen mit spaltbarem Material zu versorgen, aus dem sie Atombomben bauen konnten, wurde von anderen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats begeistert übernommen, vielleicht, weil es ihnen zu einem politischen Deckmantel für ihre expandierende Aufrüstung verhalf.

Der zweite Grund ist ein perverser Effekt, der mir bei Recherchen über andere Entwicklungsprojekte aufgefallen ist:101) Große, teure Systeme werden von den Regierungen gegenüber kleinen, billigen begünstigt. Das hat teilweise damit zu tun, dass wenige große Projekte leichter zu verwalten sind als viele kleine. Gleichzeitig gilt aber auch: Je größer und teurer ein Projekt ist, desto mächtiger ist die Lobby, die sich dafür einsetzt. Kernkraftwerke können nur von großen Bauunternehmen errichtet werden, und große Bauunternehmen haben bei der Regierung mehr Gewicht als kleine Betreiber, die Windräder installieren wollen.

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Der durchschnittliche Erzeugerpreis für Elektrizität lag Ende 2005 bei ungefähr 3,6 Pence pro Kilowattstunde (1 Euro-Cent = etwa 0,67 Pence [2007]). Das könnte außergewöhnlich sein, denn Ende 2004 lag er noch bei 2,1 Pence.102 Und wie hoch sind die Kosten nun tatsächlich? Die einzige ehrliche Antwort lautet, dass ich nicht die geringste Ahnung habe. Um den Grund dafür zu erklären, hier einige Schätzungen. Sie beziehen sich alle auf die Erzeugerpreise für Elektrizität aus Kernkaftwerken (Preis pro Kilowattstunde Strom):

Ich komme zu dem Schluss, dass der Preis für den Strom aus Kernkraftwerken von unserer politischen Einstellung abhängig ist. Wenn man ihn nicht mag, ist er teuer. Wenn man ihn schätzt, ist er billig. Aber vielleicht gibt es eine einfachere Möglichkeit zu entscheiden, ob Kernkraftwerke sich ökonomisch rechnen oder nicht. In Großbritannien verbietet kein Gesetz den Bau von Kernkraftwerken. Wir haben einen deregulierten Markt für Elektrizität, was die Stromversorger motiviert, die billigste Produktionsmethode zu suchen. 

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Wenn also — wie es den Annahmen des Nuclear Energy Institute entspricht — Kernkraftwerke billiger produzieren können als ihre Konkurrenten, dann sollte man erwarten, dass jedes zukünftig stillgelegte Kraftwerk anderer Art durch ein Kernkraftwerk ersetzt wird. Aber das letzte Kernkraftwerk, das in diesem Land gebaut wurde, war Sizewell B; die Baugenehmigung wurde 1981 beantragt, und der Bau begann 1988.109

Im Zusammenhang mit der Kernkraft bleiben drei weitere große Fragen:  

Die erste lautet, ob es genügend Uran (den wichtigsten Kernbrennstoff) gibt, um jene Art der Energieerzeugung weiterhin zu betreiben. Diese Frage ist schwer zu beantworten, weil sie von mehreren nicht vorhersagbaren Faktoren abhängt. Einer ist die Frage, wie viel Geld die Leute dafür auszugeben bereit sind. Es mag seltsam klingen, aber es gilt für jedes Mineral: Je mehr es wert ist, desto mehr gibt es davon. Vorkommen, deren Abbau bisher zu teuer war, werden ökonomisch attraktiv, wenn die Preise steigen. 

Ein weiterer Faktor ist das geologische Wissen: Man kann nie genau sagen, ob die gesamten globalen Reserven schon bekannt sind. Ein nur für die Nuklearindustrie bedeutsamer Faktor ist die Frage, ob die verbrauchten Brennstäbe wiederaufgearbeitet und in schnellen Brütern eingesetzt werden sollen. Wir sollten hoffen, dass man sich dagegen entscheidet, denn mit diesem Verfahren wären noch einmal zusätzliche Risiken verbunden. Schnelle Brüter benötigen einen konzentrierteren nuklearen Brennstoff, und das bedeutet, dass Unfälle noch gefährlicher sind als bei anderen Reaktoren. Die Erfahrungen in Sellafield zeigen außerdem, dass bei der Wiederaufarbeitung mehr radioaktives Material in die Umwelt gelangt. Außerdem wird das Plutonium dabei von anderen Abfällen getrennt, und dadurch ergeben sich weitere Möglichkeiten für die Proliferation von Atomwaffen oder für terroristische Übergriffe.110

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Die World Nuclear Association behauptet, dass die bekannten Uranreserven in der »geringen Kostenkategorie« ungefähr 3,1 Millionen Tonnen betragen. Bei gleich bleibendem Verbrauch würde das für ein halbes Jahrhundert reichen. Die Organisation betont, dass »dies ein höheres Niveau gesicherter Ressourcen bedeutet, als für die meisten Mineralien üblich ist«.111 Ein weithin bekanntes und ausführliches Papier der Energieanalysten Jan van Leeuwen und Philip Smith geht von folgender Schätzung aus: Würde die gesamte Elektrizität weltweit von Kernkraftwerken produziert, dann reichten die Uranvorräte für 6,8 Jahre.112 Aber die Berater der britischen Regierung, die Sustainable Development Commission, kam nach eingehender Prüfung113 zu dem Schluss:

Auf der Grundlage aktueller Vorhersagen gibt es keine größeren Bedenken hinsichüich der langfristigen Verfügbarkeit von Uran ... in der Vergangenheit wurden die Uranreserven permanent unterschätzt... wahrscheinlich wird es für den zukünftigen Bedarf genügend Uran zu vernünftigen Preisen geben.114) 

Da dieses Ergebnis der Kommission nicht angenehm ist, weil sie sich nachdrücklich gegen die Kernenergie ausspricht, bin ich geneigt, diesen Angaben zu trauen.

Wie Kohle wird Uran im Tagebau gefordert. Weil die Vorkommen geringer sind und man weniger Brennstoff pro Watt erzeugter Energie braucht, verunstalten die Minen einen geringeren Teil der Erdoberfläche als der Kohlebergbau. Dafür sind die Abraumhalden, die nach der Abtrennung des Urans zurückbleiben, aber giftiger.115) 

Eng mit diesem Thema verknüpft ist eine zweite große Frage: Wie viel Kohlendioxid lässt sich mithilfe der Kernkraft einsparen? Die Verknüpfung ergibt sich daraus, dass man für die Förderung und Verarbeitung von Uran umso mehr Energie braucht, je schlechter die Qualität der Uranerze ist.

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Die <Sustainable Development Commission> spricht die möglicherweise höheren Kohlendioxidemissionen bei der Nutzung von qualitativ minderwertigem Uran nicht an, vielleicht, weil sie davon ausgeht, dass sich dieses Problem nicht stellen wird.116 Die World Nuclear Association behauptet, dass die Kernenergie bei der Qualität der heute verwendeten Uranerze ungefähr 1,7 Prozent der Energie verbraucht, die sie produziert.117 Darin eingeschlossen sind die Energiekosten für den Bau und die Stilllegung der Anlage sowie die Entsorgung der Abfälle. 

Wenn ein »Erz von sehr geringer Qualität« — das nur 0,01 Prozent Uran enthält — verwendet würde, dann stiegen die Energiekosten auf 2,9 Prozent der Gesamtleistung, weil mehr Energie nötig wäre, um das Uran vom Erz zu trennen.118) Wenn das stimmt, dann sind alle unsere Elektrizitätsprobleme gelöst: Sogar mit Erzen von geringer Qualität könnten wir unsere Kohlendioxidemissionen um 97 Prozent senken. Aber die Zahlen der Industriekritiker sehen deutlich anders aus. Van Leeuwen und Smith beharren darauf, dass bei der Verwendung von Erzen, die 0,02 Prozent oder noch weniger Uran enthalten, mehr Energie verbraucht als produziert wird. Nach ihren Berechnungen liegt die Netto-Energieproduktion von Erzen, die 0,01 Prozent Uran enthalten, zwischen minus 200 Prozent und minus 500 Prozent.119) 

In beiden Fällen erscheinen mir — dem Laien — die Zahlen gut begründet. Damit meine ich, dass Referenzen angegeben sind, die zu realen Fachartikeln führen.120-121) Doch zu behaupten, ich wüsste, welcher — wenn denn überhaupt einer — der Rechnungen man trauen kann, wäre die Vortäuschung eines olympischen Wissens, über das ich nicht verfüge.

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Die dritte große Frage lautet: 

Angenommen, die Kernenergie könnte uns tatsächlich mit weitgehend kohlendioxidfreier Elektrizität versorgen, könnte sie uns diese Elektrizität dann innerhalb des vorgegebenen Zeitrahmens liefern?

Zunächst sieht es so aus, als müsste die Antwort »Nein« lauten. In seiner Vorlage für das <House of Commons Environmental Audit Committee> hat der Umweltanalyst Tom Burke so argumentiert: Wenn die britische Regierung sich 2005 entschieden hätte, Kernkraftwerke zu bauen, dann könnte die erste Anlage frühestens 2021 ans Netz gehen.122 Die sechzehn Jahre würde man für die Bereitstellung der Finanzierung, die Genehmigungen, den Entwurf und den Bau der Anlage benötigen. Die britische Regierung ist zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen: Wenn der Advanced-Passive-1000-Reaktor (das wahrscheinlichste Modell) eingesetzt werden sollte, dann würde es mindestens zwanzig Jahre dauern, bis ein neues Nuklearprogramm Früchte tragen könnte.123) 

Aber wenn das ein Argument gegen die Kernkraft sein soll, dann ist es ebenso ein Argument gegen Offshore-Windanlagen, neue Eisenbahnlinien, bessere Automotoren und fast alles, was wir vielleicht entwickeln wollen. Wenn wir beispielsweise neue Windparks in großer Zahl installieren möchten, dann brauchen wir einige größere neue Verbindungen zum nationalen Netz. Zu diesem Zweck sind die <Scottish und die Southern Energy Group> gerade dabei, eine neue Hochspannungsleitung quer durch Schottland zu bauen. Auf meine Frage, wie lange das dauern würde, erfuhr ich:

Wir haben mit der Planung dieses Projekts 2002 begonnen. Die Genehmigung wurde 2005 beantragt. Wir gehen davon aus, dass wir für die Arbeiten mindestens vier Sommer brauchen. Aber wir wissen nicht, wie lange der Genehmigungsprozess dauern wird. Sollte es eine öffentliche Anhörung dazu geben, wird sie das Verfahren bestimmt erheblich verzögern. Kurzum, wenn wir im nächsten Sommer beginnen könnten und alles nach Plan liefe, dann müsste man für das Projekt sieben Jahre veranschlagen. Aber wenn das Genehmigungs­verfahren länger dauert, reicht das vielleicht nicht. 124)

Professor Nick Jenkins von der Manchester University meint, man müsse damit rechnen, dass ein solches Projekt zehn Jahre in Anspruch nimmt.125 Parallel dazu braucht die Firma natürlich auch die Genehmigung zum Bau der Windparks. Und das könnte, da es kontrovers diskutiert wird, ebenfalls Jahre dauern.

Aber wenn ein Land wirklich will, dass etwas geschieht, dann können die üblichen Hemmnisse beiseitegefegt werden. In seinem Buch über die amerikanische Automobilindustrie — <Taken for a Ride> — zeigt Jack Doyle, wie die Fahrzeughersteller auf die Bombardierung von Pearl Habor reagierten:

Ende 1941 wandelten die Autohersteller aus dem Stand — innerhalb weniger Monate, nicht Jahre — mehr als tausend Autofabriken in über 31 Bundesstaaten in militärische Produktionsanlagen um ... Innerhalb eines Jahres gelang es General Motors, aus dem Nichts heraus, tausend Avenger- und tausend Wildcat-Flugzeuge zu entwickeln und zu bauen ... GM entwickelte auch das Amphibien­fahrzeug »Duck« — eine wasserdichte Stahlhülle, in der sich ein 2,5-Tonner auf sechs Rädern befand, den man an die Verhältnisse zu Lande oder zu Wasser anpassen konnte. GMs Duck »wurde in nur neunzig Tagen entworfen, getestet, gebaut und ausgeliefert« ... Bei Ford lief alle 63 Minuten ein B-24-Bomber vom Band ... Knapp ein Jahr nachdem Pontiac von der Navy beauftragt worden war, Schiffsabwehrraketen zu bauen, konnte das Unternehmen das fertige Produkt an Geschwader in der ganzen Welt ausliefern. 126) 

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Wenn unsere Regierung entschiede, dass der Klimawandel so dringlich ist wie die internationale Krise 1941 — was ich für einen angemessenen Vergleich halte —, dann könnte sie die Wirtschaft in kürzester Zeit auf eine andere Schiene setzen. Einsprüche bei Genehmigungsverfahren würden ignoriert, Anreize und gesetzliche Regelungen würden genutzt, um dafür zu sorgen, dass die Konzerne so kurzfristig und flexibel reagieren, wie es General Motors und Ford im Krieg getan haben. Windparks, Hochspannungsleitungen und Kernkraftwerke — wenn es das ist, was wir wollen — könnten allesamt in weniger als einem Jahrzehnt gebaut werden.

Vor diesem Hintergrund, so denke ich, können wir die pessimistischen Annahmen der Internationalen Energieagentur über die Sequestration neu bewerten: Zwar lassen sich viele vorhandene Kraftwerke nicht nachträglich mit der neuen Technologie ausstatten, aber die meisten davon sind ohnehin schon reif für den Schrottplatz. In Großbritannien, das in dieser Hinsicht offenbar recht typisch ist, müssen wir fast 50 Prozent der Kraftwerkskapazität, die wir im Jahr 2000 hatten, bis 2018 und 90 Prozent bis 2030 ersetzen.127 

Diese Tatsache im Gedächtnis zu behalten ist für die Diskussion sehr wichtig: Es geht hier nicht darum, nützliche Anlagen abzureißen, sondern wir reden über den Ersatz von Anlagen, die jetzt schon in die Jahre kommen. Andererseits ist die Technologie der Sequestration noch im Versuchsstadium und nicht ausgereift. Sie wurde noch nicht in dem Umfang getestet, von dem hier die Rede ist. Aber wenn man nachweisen kann, dass sie in allen Fällen funktioniert, dann gibt es keinen vernünftigen Grund, warum nicht jedes bis 2030 gebaute neue Kraftwerk, das fossile Brennstoffe verheizt, mit dieser Technologie ausgestattet werden sollte.

Trotz aller immer wieder auftauchenden Ungewissheiten bin ich der Meinung, dass ich gute Gründe für meine Entscheidung habe. Weil die Industrie einen schlechten Ruf hat, weil sie mit der Proliferation von Massenvernichtungswaffen in Verbindung gebracht wird und weil es ungelöste Fragen im Hinblick auf die Entsorgung des Atommülls und die Energiebalance gibt, rangiert die Kernkraft bei mir einstweilen an zweitletzter Stelle meiner Präferenzliste, direkt vor Kraftwerken, die Kohle aus dem Tagebau nutzen. Ich plädiere für die Sequestration als Teillösung des Problems. 

Der gegenwärtige Stand der Technologie und die in den nächsten Jahrzehnten notwendige Erneuerung von Kraftwerken lässt mich annehmen, dass — den politischen Willen vorausgesetzt — Gaskraftwerke mit der Ausrüstung für die Sequestration bis 2030 ungefähr 50 Prozent unseres Strombedarfs decken könnten. Ein größerer Beitrag ist jedoch unwahrscheinlich, sodass ich mich anderweitig umsehen muss, wenn ich mein Ziel erreichen will. Die offensichtliche Alternative sind erneuerbare Energien. Aber wie viel Elektrizität können sie liefern — und zu welchen Kosten?

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George Monbiot 2006 Heat Hitze Burning