Neil Postman

Das Verschwinden 
der Kindheit

The Disappearance of Childhood 

1982 bei Delacorte Press, New York  

1983 im S. Fischer Verlag 

1987 im Fischer Taschenbuch

Neil Postman :  Das Verschwinden der Kindheit  (1982)   

1982   171/191 Seiten

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deMause    Alice Miller 

"Es ist für die elektronischen Medien unmöglich, irgendwelche Geheimnisse zu bewahren.
Ohne Geheim­nisse aber kann es so etwas wie Kindheit nicht geben." (Neil Postman)

Inhalt

Einleitung  (7)

 

Anmerkungen  (173)

Literatur (181)     Register  (185) 

 

Dieses Buch bricht den faulen Frieden, den die Erwachsenen mit der Gleichgültigkeit geschlossen haben, um die Welt bis in die Nischen hinein nach ihrem Bilde einzurichten. Es handelt von dem vielleicht folgenschwersten kulturellen Kolonisierungs­unternehmen in der Gegenwart: der Zerstörung der Kindheit durch Mißachtung oder Destabilisierung ihrer Spielräume, ihrer inneren Geschichte und ihrer spezifischen Zeitrechnung.

Brisant ist nicht nur Postmans These, daß in der abendländischen Zivilisation die Idee der Kindheit im Verschwinden begriffen sei, sondern auch seine intelligente Analyse der elektronischen Medien, die er als die machtvollen Beschleuniger dieser Entwicklung bestimmt. 

Postmans Kritik gilt der Allianz von Kommerz, Ideologie und Gedankenlosigkeit gegen die Ansprüche der Kinder auf eine eigene, freie Lebenszeit: auf die Kindheit nicht als eine biologische, sondern vielmehr als eine kulturelle Erfahrung. Die Vorstellungs- und Empfindungswelt der Kindheit ist endgültig dann abgeschafft, wenn die Kinder und Jugendlichen nur noch zu Erwachsenen-Wünschen fähig sind.

Teil I: Die Erfindung der Kindheit 

  1  Als es keine Kinder gab  (13) 

  2  Die Druckerpresse und der neue Erwachsene  (31)

  3  Die Wiege der Kindheit  (49)

  4  Der Weg der Kindheit  (65)

Teil II: Das Verschwinden der Kindheit

  5  Der Anfang vom Ende  (81)

  6  Das Medium der totalen Enthüllung  (97) 

  7  Der Kind-Erwachsene  (115)

  8  Das verschwindende Kind  (137) 

  9  Sechs Fragen  (161) 

   

Einleitung

7-9

Kinder sind die lebenden Botschaften, die wir einer Zeit übermitteln, an der wir selbst nicht mehr teilhaben werden. Eine Kultur, die vergißt, daß sie sich reproduzieren muß, ist, biologisch gesehen, undenkbar. Aber eine Kultur kann sehr wohl Bestand haben, ohne über eine gesellschaftliche Vorstellung von Kindern zu verfügen. Anders als das Säuglingsalter ist die Kindheit ein gesellschaftliches Kunstprodukt, keine biologische Kategorie. 

Unsere Gene enthalten keine klaren Anweisungen darüber, wer ein Kind ist und wer nicht, und auch die Gesetze des Überlebens machen es nicht erforderlich, eine Unterscheidung zwischen der Welt des Erwachsenen und der Welt des Kindes zu treffen. 

Wenn wir mit dem Wort »Kinder« eine bestimmte Kategorie von Menschen zwischen sieben und, sagen wir, siebzehn Jahren bezeichnen, die bestimmte Formen von Pflege, Unterricht und Schutz benötigen, dann läßt sich eine Fülle von Belegen dafür anführen, daß es »Kinder« erst seit weniger als vierhundert Jahren gibt.

Und wenn wir das Wort »Kinder« in dem umfassenden Sinne verwenden, in dem man es im allgemeinen begreift, dann ist »Kindheit« kaum älter als hundertfünfzig Jahre. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Die Sitte, den Geburtstag eines Kindes zu feiern, gab es im 18. Jahrhundert in Amerika nicht,1 und auch die Gepflogenheit, das Alter eines Kindes genau anzugeben, ist noch relativ jung, nicht älter als zweihundert Jahre.2

Und ein zweites, wichtigeres Beispiel: Noch um 1890 nahmen die amerikanischen High Schools nur sieben Prozent der Vierzehn- bis Siebzehnjährigen auf.3 Die übrigen 93 Prozent leisteten, wie viele andere noch erheblich jüngere Kinder, Erwachsenenarbeit, einige von Sonnenaufgang bis Sonnen­unter­gang und in all unseren Großstädten.

Aber wir dürfen hier soziale Tatsachen nicht mit sozialen Ideen vermischen. Die Idee der Kindheit ist eine der großen Erfindungen der Renaissance, vielleicht ihre menschlichste. Zusammen mit der Wissenschaft, dem Nationalstaat und der Religions­freiheit hat sich die Kindheit als soziale Struktur und als psychologisches Bedingungsgefüge im 16. Jahrhundert herausgebildet und bis in unsere Zeit weiter­entwickelt. Aber wie bei allen gesellschaftlichen Institutionen ist ihr Fortbestand durchaus nichts Selbstverständliches. 

Dieses Buch geht gerade auf die Beobachtung zurück, daß die Idee der Kindheit verschwindet, und zwar in einem erschreckenden Tempo. Ein Teil meiner Aufgabe auf den folgenden Seiten besteht darin, Zeugnisse für diese These vorzubringen — obwohl ich vermute, daß die meisten Leser von ihr nicht erst lange überzeugt werden müssen. Überall, wo ich über das Verschwinden der Kindheit gesprochen und geschrieben habe, da haben Zuhörer oder Leser diese These nicht nur nicht in Zweifel gezogen, sie haben sie vielmehr bereitwillig mit Beobachtungen aus ihrer eigenen Erfahrung bestätigt. Daß sich die Trennungs­linie zwischen Kindheit und Erwachsenenalter rasch auflöst, ist bei denen, die auf solche Dinge achten, allgemein bekannt, und selbst diejenigen, die nicht so genau hinsehen, hegen ähnliche Vermutungen. Nicht so ohne weiteres begreift man jedoch, wie die Kindheit entstanden ist, und noch viel weniger, warum sie verschwinden sollte.

Ich glaube, ich kenne einige einleuchtende Antworten auf diese Fragen, zum größten Teil abgeleitet aus einer Reihe von Mutmaßungen darüber, wie sich die Kommunikations­medien auf den Prozeß der Sozialisation auswirken; wie insbesondere die Druckerpresse die Kindheit hervorgebracht hat und wie die elektronischen Medien sie zum Verschwinden bringen. Mit anderen Worten, meinem Verständnis nach steht im Zentrum dieses Buches, so wie es ist, nicht die These, daß die Kindheit verschwindet, sondern eine Theorie darüber, warum etwas Derartiges geschehen kann. Deshalb ist das Buch in zwei Teile gegliedert. 

Teil 1 will zeigen, woher die Idee der Kindheit stammt und insbesondere wie die Kommunikations­beding­ungen beschaffen waren, die die Kindheit zunächst unnötig und später dann unumgänglich machten. Teil 2 versetzt uns in die heutige Zeit und versucht zu zeigen, wie der Übergang von der Welt Gutenbergs zu der Samuel Morses die Kindheit zu einer sozialen Struktur gemacht hat, deren Fortbestand gefährdet und vielleicht sogar überflüssig ist.

Einer Frage von großer Bedeutung wird sich dieses Buch nicht zuwenden, der Frage nämlich: Was können wir angesichts des Verschwindens der Kindheit tun?  Der Grund hierfür ist, daß ich auf sie keine Antwort weiß. 

Ich sage das mit einer Mischung aus Erleichterung und Niedergeschlagenheit. Die Erleichterung rührt daher, daß ich der schweren Aufgabe enthoben bin, anderen Menschen Ratschläge zu erteilen, wie sie ihr Leben führen sollen. In meinen früheren Büchern habe ich mir erlaubt, Lösungswege für dieses oder jenes Problem vorzuschlagen. Von Pädagogen wird, wie mir scheint, dergleichen erwartet. 

Ich hätte mir nie träumen lassen, wie angenehm es sein kann, zuzugeben, daß die Fähigkeit, Lösungen zu ersinnen, nur so weit reicht wie das eigene Verständnis des Problems.

Die Niedergeschlagenheit hat natürlich den gleichen Ursprung. Mit ansehen zu müssen, wie der Charme, die Wandelbarkeit und die Neugier der Kinder verkommen und am Ende in einem scheinhaften Erwachsensein erstarren, ist schmerzlich und irritierend und stimmt traurig. 

Tröstlich erschien mir indessen der folgende Gedanke: Wenn man nicht sagen kann, wie wir eine gesell­schaftliche Katastrophe abwenden können, dann ist vielleicht schon der Versuch nützlich, zu verstehen, warum sie sich ereignet.

9

 

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Neil Postman (1982) Das Verschwinden  der Kindheit