Fernsehkritik:  Lauterburg 1998     Anmerk    Start   Weiter

6  Das Medium der totalen Enthüllung 

 

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Vidal Sasson, ein bekannter Friseur, hatte eine Zeitlang eine eigene Fernsehsendung — eine Mischung aus Kosmetiktips, Ernährungs­ratschlägen, Prominenten­verehrung und Populärpsychologie. Bei einer dieser Sendungen, kurz vor einer Reklame­einblendung, hatte Sasson gerade noch Zeit, in die Erkennungs­melodie hinein zu verkünden: »Schalten Sie nicht um. Wir sind gleich wieder da, mit einer phantastischen neuen Diät, und danach einem kurzen Blick auf den Inzest.«

Während ich dies schreibe, hat Phil Donahue eine TV-Show, die fünfmal in der Woche ausgestrahlt wird. Er ist ein ernsthafter, verantwortungs­bewußter Mann, der offenbar davon überzeugt ist, daß im Fernsehen jedes Thema »gebracht« werden kann — und gebracht werden sollte. Aber auch, wenn er nicht dieser Überzeugung wäre, würde er es so machen: fünf Sendungen in der Woche, eine Stunde pro Tag, zweiundfünfzig Wochen im Jahr — da kann man es sich kaum leisten, zimperlich oder wählerisch zu sein oder gar altmodische Regungen wie Verlegenheit zu zeigen. 

Nachdem man das Verteidigungsbudget, die Energiekrise, die Frauenbewegung und die Straßenkriminalität »gebracht« hat, kommt man, ob schnell oder langsam, unweigerlich auch auf den Inzest, die Promiskuität, die Homosexualität, den Sadomasochismus, die Probleme todkranker Menschen und andere Geheimnisse des Erwachsenenlebens zu sprechen. 

Sogar eine Art von Psycho-Striptease läßt sich »bringen«: Die Stanley-Siegel-Show z.B. umfaßte regelmäßig einen Abschnitt, in dem sich der nervöse Gastgeber auf eine Couch verfügte und von einem Psychologen seine Gefühle gegenüber den Eltern, seine Sexualität und sein gefährdetes Selbstgefühl »analysieren« ließ.

An dieser Stelle müssen wir die Frage, inwiefern das Fernsehen einer Trivialisierung der Kultur Vorschub leistet, beiseite lassen. (Was würde wohl Sophokles von dem Versuch halten, einen »kurzen Blick« auf den Inzest zu werfen? Was würde Freud von der Ausschlachtung der Psychoanalyse für eine Varietenummer halten?) 

Zunächst müssen wir uns einer anderen Frage zuwenden: Warum zwingt das Fernsehen die gesamte Kultur ins Scheinwerferlicht? Warum werden Dinge wie die Couch des Psycho­analytikers und der Beichtstuhl so unschamhaft in aller Öffentlichkeit aufgebaut?

Die Antwort liegt, wie ich meine, auf der Hand, auch wenn einige, die uns naive Theorien über die Böswilligkeit der Fernsehleute aufdrängen wollen, sie zu verschleiern suchen. Tatsache ist, daß das Fernsehen praktisch rund um die Uhr arbeitet, daß seine äußere Gestalt wie auch seine symbolische Form es unnötig — ja sogar unmöglich — machen, das Fernsehpublikum zu gliedern, und daß es auf ständigen Nachschub von neuen und interessanten Informationen angewiesen ist, um dieses Publikum »anzusprechen« und »bei der Stange zu halten«. Deshalb muß sich das Fernsehen jedes kulturelle Tabu zunutze machen.

Ob solche Tabus in einer Talk Show offenbart, zum Thema einer Seifenoper oder sonst einer Fernsehserie gemacht oder in einem Werbespot enthüllt werden, ist dabei ziemlich unerheblich. Das Fernsehen braucht Material, und zwar auf eine andere Weise als die anderen Medien. Das Fernsehen ist nicht nur ein bildliches Medium, es ist auch ein gegenwartszentriertes, mit Licht­geschwindigkeit operierendes Medium. Es tendiert dazu und macht es sich daher zur Aufgabe, Informationen zu bewegen, nicht sie zu sammeln. Es kann nicht bei einem Thema verweilen und es gründlich untersuchen, wozu die statische, lineare Form des Buches sehr gut geeignet ist. 

Es gibt vielleicht fünfzig Bücher über die Geschichte Argentiniens, fünfhundert über die Kindheit und fünftausend über den amerikanischen Bürgerkrieg. Aber wenn sich das Fernsehen mit einem dieser Themen befaßt, so tut es das einmal und geht dann zum nächsten Gegenstand über. Deshalb ist das Fernsehen zum wichtigsten Erzeuger dessen geworden, was Daniel Boorstin als »Pseudo-Ereignis« bezeichnet. Er versteht darunter Ereignisse, die eigens für den Publikumskonsum inszeniert werden.1) 

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Die Oscar-Verleihungen, die Miss-America-Wahlen, die alljährliche Preisverleihung der Country Music Association, die »battles« zwischen den Stars der verschiedenen Fernsehstationen, Pressekonferenzen usw. gibt es, weil das Fernsehen — und nicht etwa die Wirklichkeit — sie benötigt. Das Fernsehen berichtet nicht über diese Ereignisse, es stellt sie her. 

Und das liegt nicht etwa daran, daß die Fernsehleute zu wenig Phantasie hätten, sondern gerade daran, daß sie ihnen reichlich zu Gebote steht. Sie wissen, daß das Fernsehen beim Publikum ein unersättliches Bedürfnis nach Neuigkeiten und öffentlichen Enthüllungen erzeugt und daß die dynamische Bilderwelt des Fernsehens nicht für den Spezialisten, den Forscher oder den, der einer analytischen Tätigkeit nachgehen will, da ist. 

Als Fernsehzuschauer ist man, um ein Bild von Dorothy Singer, Jerome Singer und Diana Zuckerman zu verwenden, in einer ähnlichen Situation wie jemand, der eine Party besucht, auf der lauter ihm unbekannte Leute herumstehen.2 Während er sich durch den Raum bewegt, werden ihm alle paar Sekunden neue Gäste vorgestellt. Das bewirkt insgesamt eine gewisse Erregung, am Ende aber kann er sich kaum an die Namen der Leute oder an das, was sie gesagt haben, oder warum sie überhaupt dort waren, erinnern. Und darauf kommt es auch gar nicht an; denn morgen ist wieder eine Party. Man müßte dieses Bild nur dadurch ergänzen, daß man zum erneuten Erscheinen nicht nur durch die Aussicht angeregt wird, neue Gäste kennenzulernen, sondern auch durch die Verheißung, daß jeder Gast ein interessantes Geheimnis offenbaren wird. 

Mit anderen Worten: Schalten Sie nicht ab. Morgen werfen wir einen kurzen Blick auf den Inzest.

Solange es das jetzige konkurrenzorientierte, kommerzielle Fernsehsystem gibt, wird diese Situation fortdauern. Selbst wenn man morgen sämtliche Fernseh­leute und Programm­direktoren entließe und sie beispielsweise durch die Mitglieder der theologischen Fakultät von Harvard ersetzte, würde sich an der Programmgestaltung des Fernsehens auf längere Sicht vermutlich nichts ändern.3) 

Wie die alphabetische Schrift und das gedruckte Wort eröffnet auch das Fernsehen Geheimnisse, macht öffentlich, was zuvor privat war.4 Aber anders als die Schrift und das Buch hat das Fernsehen keine Möglichkeit, Dinge zu verschließen.

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Das große Paradoxon der Literalität bestand darin, daß sie im gleichen Zuge. wie sie Geheimnisse zugänglich machte, dieser Verfügbarkeit ein Hindernis in den Weg legte. Für die Geheimnisse des Buches muß man sich erst qualifizieren, indem man sich den Härten der schulischen Erziehung unterwirft. Man muß langsam voranschreiten, folgerichtig und sogar unter mancherlei Kummer, während sich die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und zum begrifflichen Denken nach und nach vertieft und erweitert. 

Ich erinnere mich noch sehr genau, wie ich als Dreizehnjähriger erfuhr, da gebe es ein Buch von Henry Miller, <Wendekreis des Krebses>, das, so wurde mir versichert, Pflichtlektüre für alle sei, die etwas über die Sexualität erfahren wollten. Aber die Probleme, die ich bewältigen mußte, um es mir zugänglich zu machen, waren immens. Zum einen war es schwer zu finden. Zum anderen kostete es Geld. Und dann mußte es auch noch gelesen werden. Deshalb blieb mir vieles darin unverständlich, und selbst die speziellen Abschnitte, auf die ein früherer Leser durch Unterstreichungen umsichtigerweise meine Aufmerksamkeit lenkte, verlangten Vorstellungsleistungen, die ich mit meinen Erfahrungen nicht immer erbringen konnte.

Das Fernsehen dagegen ist eine Technologie des freien Eintritts, die keine praktischen, ökonomischen, wahrnehmungs- oder vorstellungs­spezifischen Schranken kennt. Ob sechs oder sechzig Jahre alt — jeder ist gleichermaßen qualifiziert, mitzuerleben, was das Fernsehen anzubieten hat. In diesem Sinne ist Fernsehen das egalitäre Kommunikationsmedium schlechthin und übertrifft darin sogar noch die gesprochene Sprache. Denn wenn wir sprechen, können wir sehr wohl auch flüstern, damit die Kinder etwas nicht hören. Oder wir können Wörter verwenden, die sie nicht verstehen. Das Fernsehen aber kann nicht flüstern, seine Bilder sind konkret und erklären sich von selbst. Die Kinder sehen alles, was es vorführt.

Eine besonders deutlich zutage tretende und überall feststellbare Wirkung dieser Situation besteht darin, daß die Exklusivität des Wissens über den Lauf der Welt und damit einer der Hauptunterschiede zwischen Kindheit und Erwachsenenalter getilgt werden. Diese Wirkung beruht auf einem Grundprinzip sozialer Strukturen — eine soziale Gruppe wird zu einem erheblichen Teil durch die Exklusivität des Wissens bestimmt, das ihren Mitgliedern gemeinsam ist.

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Wenn jeder wüßte, was Rechtsanwälte wissen, dann gäbe es keine Rechtsanwälte. Wenn Schüler wüßten, was ihre Lehrer wissen, brauchte man zwischen Schülern und Lehrern keinen Unterschied zu machen. Und wenn die Schüler der fünften Klasse wüßten, was die Schüler der achten Klasse wissen, dann hätte es keinen Sinn, überhaupt Klassen zu bilden. G.B. Shaw hat einmal bemerkt, jeder Berufsstand sei eine Verschwörung gegen die Laienschaft. Wir können diesen Gedanken erweitern und feststellen, jede soziale Gruppe ist eine »Verschwörung« gegen jene, die ihr nicht angehören, und zwar dank der Tatsache, daß die Außenstehenden aus diesem oder jenem Grund keinen Zugang zu den Informationen derer haben, die »dazugehören«.

Selbstverständlich beruhen Rollendifferenzierung oder Gruppenidentität nicht in jedem Falle auf dem Zugang zu bestimmten Informationen. Die Zugehörigkeit zum männlichen und zum weiblichen Geschlecht ist biologisch determiniert.5 Aber in den meisten Fällen wird die soziale Rolle durch die Bedingungen einer bestimmten Informations­umwelt geprägt, und das gilt ganz sicher auch für die soziale Kategorie »Kindheit«. Kinder sind eine Gruppe von Menschen, die von bestimmten Dingen, über die die Erwachsenen Bescheid wissen, keine Ahnung haben. Im Mittelalter gab es keine »Kinder«, weil auch die Erwachsenen keine Möglichkeit hatten, exklusives Wissen zu erlangen. Im Zeitalter Gutenbergs entwickelte sich ein solches Mittel. Im Zeitalter des Fernsehens zerfällt es wieder.

Dies bedeutet mehr, als daß die Kindheit bloß ihre »Unschuld« verloren hätte — ein Ausdruck, der so tut, als hätten die Kinder nur etwas von ihrem Charme eingebüßt. Aus der raschen, egalitären Enthüllung der gesamten Erwachsenenwelt durch die elektronischen Medien ergeben sich jedoch einige schwerwiegende Konsequenzen. Zunächst einmal wird die Idee des Scham­gefühls verdünnt und entmystifiziert. Um zu verdeutlichen, was ich hier unter Schamgefühl verstehe, möchte ich an einen Satz von G.K. Chesterton anknüpfen: »Alle gesunden Menschen, in früherer Zeit und heute, in Ost und West, wissen, daß in der Sexualität eine gewisse Raserei liegt, die zu erregen wir uns nicht erlauben dürfen und die stets von einem gewissen Geheimnis und einer Scheu umgeben sein muß, wenn wir bei gesundem Verstand bleiben wollen.«

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Chesterton spricht hier zwar über sexuelle Triebregungen, aber sein Hinweis ist doch von allgemeinerer Bedeutung und stellt, wie ich glaube, eine gute Zusammen­fassung der Ansichten von Freud und Elias über den Prozeß der Zivilisation dar. Ohne Kontrolle der Triebregungen und insbesondere der aggressiven und auf direkte Befriedigung zielenden Regungen kann es keine Zivilisation geben. Wir stehen ständig in Gefahr, von Barbarei, Gewalt, Promiskuität, Instinkt und Egoismus überwältigt zu werden.  

Das Schamgefühl ist ein Mechanismus, mit dem die Barbarei eingedämmt wird, und einen großen Teil seiner Kraft bezieht es, wie Chesterton behauptet, aus dem Geheimnis und der Scheu, mit denen es bestimmte Handlungen umgibt. Zu diesen Handlungen gehören auch bestimmte Gedanken und Worte, die dadurch geheimnisvoll und Scheu einflößend werden, daß sie vor dem Blick der Öffentlichkeit verborgen werden. Indem wir sie verbergen, machen wir sie zu etwas Geheimnisvollem, und indem wir dies tun, regulieren wir sie. In manchen Fällen sind vielleicht sogar Erwachsene außerstande, ihre Kenntnis solcher Geheimnisse voreinander zu offenbaren, und müssen in der Praxis des Psychologen oder im Beichtstuhl nach Erleichterung suchen. 

In jedem Falle aber ist es nötig, das Ausmaß, in dem Kinder von solchen Dingen Kenntnis erlangen, zu kontrollieren. Seit dem Mittelalter ist die Ansicht allgemein verbreitet, daß gewalttätige, sexuelle und egoistische Strebungen eine besondere Gefahr für die Kinder darstellen, die, wie man annimmt, noch nicht über genügend Selbstbeherrschung verfügen. Deshalb bildete die Einprägung von Schamgefühlen einen bedeutsamen und zugleich heiklen Bestandteil der schulischen und der informellen Erziehung des Kindes. Mit anderen Worten, Kinder bewegen sich in einer Welt voll von rätselhaften, Scheu einflößenden Geheimnissen, einer Welt, die die Erwachsenen den Kindern nach und nach einsichtig machen; und die Erwachsenen lehren sie auch, wie sie das Schamgefühl zu einem Komplex moralischer Verhaltensregeln umformen können. Aus der Sicht der Kinder verleiht das Schamgefühl den Erwachsenen Macht und Autorität. Denn die Erwachsenen wissen — anders als die Kinder —, welche Worte »anstößig« sind und welche Handlungen man den Blicken anderer entziehen soll.

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Ich möchte mich in diesem Punkt ganz klar verständlich machen. Ich behaupte nicht, daß der Inhalt des Schamgefühls von der Informationsstruktur einer Gesellschaft hervorgebracht wird. Die Wurzeln des Schamgefühls liegen anderswo, sie reichen tief zurück in die Geschichte und die Ängste eines Volkes und weisen über die Grenzen der Fragestellung des vorliegenden Buches weit hinaus. Ich behaupte allerdings, daß das Schamgefühl als Mittel der sozialen Kontrolle und der Rollendifferenzierung in einer Gesellschaft, die keine Geheimnisse zu wahren vermag, nicht wirksam werden kann. Wenn wir in einer Gesellschaft lebten, in der die Menschen gesetzlich verpflichtet wären, an öffentlichen Badestränden nackt zu erscheinen, würde die Scham, bestimmte Körperteile zu enthüllen, rasch schwinden. Denn Kleidung ist ein Mittel, um ein Geheimnis zu wahren, und wenn uns das Mittel zur Wahrung eines Geheimnisses genommen wird, dann wird uns zugleich das Geheimnis selbst genommen. 

Und so verschwindet auch das Irritierende am Inzest, an der Gewalt, an der Homosexualität, an der Geisteskrankheit, sobald die Mittel verschwinden, diese Sachverhalte zu bedecken; sobald sie in allen Einzelheiten öffentlich ausgebreitet werden und also jedermann zugänglich sind. Was früher irritierend war, wird nun zu einem »sozialen Problem«, zu einer »politischen Frage« oder einem »psycho­logischen Phänomen«, aber es büßt notwendigerweise seine Besonderheit und Unfaßbarkeit und auch einen Teil seiner moralischen Kraft ein.

Man würde es sich zu einfach machen, wenn man, wie die Vertreter der »moralischen Mehrheit«, behauptete, eine solche Situation führe unweigerlich zu einem Verfall der Kultur. Unterschiedliche Kulturen bilden unterschiedliche Tabus aus, und was in der einen als befremdlich gilt, erscheint einer anderen oft als willkürlich. Auch haben wir Grund zu der Hoffnung, daß die Verwandlung von befremdlichem Verhalten in »soziale Probleme« oder »alternative Lebensstile«, wie sie durch die Enthüllung in der Öffentlichkeit und eine konsequente »Rationalisierung« bewerkstelligt wird, in einigen wichtigen Fällen einen Sensibilisierungs-fortschritt darstellt. Sicherlich ließe sich kaum noch die These vertreten, in einer geordneten Gesellschaft müßten Tod, Geisteskrankheit und Homosexualität dunkle, rätselvolle Geheimnisse bleiben.

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Und noch weniger vertretbar wäre die These, Erwachsene dürften sich, wenn überhaupt, nur unter den allergrößten Vorbehalten mit diesen Themen beschäftigen. Andererseits aber darf man sich der Einsicht nicht verschließen, daß die vorbehaltlose Offenlegung dieser Themen Gefahren in sich birgt und insbesondere die Zukunft der Kindheit problematisch werden läßt. Denn wenn es keine dunklen, ungreifbaren Geheimnisse mehr gibt, die die Erwachsenen den Kindern zunächst vorenthalten und dann später, wenn sie es für nötig, möglich und angebracht halten, offenbaren, dann wird der Trennungsstrich zwischen Erwachsenen und Kindern außerordentlich dünn. Wir haben es hier gleichsam mit einem faustischen Pakt zu tun, und betrüblicherweise muß man feststellen, daß die einzige Gruppe innerhalb des Gemeinwesens, die dies verstanden hat, jene unaufgeklärte Bewegung ist, die man in Amerika als die »moralische Mehrheit« bezeichnet. Sie nämlich hat die Frage aufgeworfen: Welchen Preis zahlen wir für Offenheit und Freimütigkeit?

Es gibt viele Antworten auf diese Frage, die meisten von ihnen kennen wir nicht. Aber eins ist klar: wenn wir Kindern in großem Umfang Erwachsenen­wissen aushändigen, dann kann und wird die Kindheit nicht überleben. Erwachsenheit bedeutet per definitionem, daß die Rätsel gelöst und die Geheimnisse gelüftet sind. Aber wenn die Kinder von Anfang an die Rätsel und Geheimnisse kennen, wie sollen wir sie dann noch von allen anderen unterscheiden?

Parallel zum Verfall des Schamgefühls verlieren auch die Höflichkeitsformen immer mehr an Bedeutung. So wie das Schamgefühl als psychischer Mechanismus die Triebregung bewältigt, so sind die Höflichkeits­formen der äußere soziale Ausdruck für das gleiche Bestreben. Tischsitten, gesittetes Sprachverhalten, Kleidersitten — sie alle sollen offenbaren, in welchem Maße man es gelernt hat, sich zu beherrschen; und gleichzeitig sind sie Mittel, die Selbstbeherrschung einzuüben. Die Gesittung oder die civilite nahm, wie schon gesagt, bei der Masse des Volkes erst nach der Erfindung des Buchdrucks eine ausgeprägte Gestalt an, vor allem deshalb, weil die Literalität ein hohes Maß an Selbstbeherrschung und Befriedigungs­aufschub sowohl forderte als auch förderte. Gesittung, so könnte man sagen, bildet das soziale Gegenstück zur Literalität. Beide verlangen die Unterwerfung des Körpers unter den Geist. Beide setzen einen ausgedehnten Lernprozeß voraus.

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Beide gebieten eine intensive Unterweisung durch Erwachsene. So wie die Literalität eine intellektuelle Hierarchie hervorbringt, so erzeugt die Gesittung eine soziale Hierarchie. Kinder müssen die Erwachsenheit erwerben, indem sie sich sowohl Lesen und Schreiben als auch Manieren aneignen. In einer Informations­umwelt aber, in der die Literalität als Metapher für die menschliche Entwicklung nichts mehr taugt, müssen auch die Anstandsformen an Bedeutung verlieren. Die neuen Medien bewirken, daß die Unterschiede zwischen den verschiedenen Altersgruppen überflüssig erscheinen, und arbeiten insofern der Idee einer differenzierten Sozialordnung entgegen. 

Man betrachte z.B. den Fall des Sprachverhaltens. Es ist noch nicht lange her, da gebrauchten Erwachsene bestimmte Wörter nicht in Anwesenheit von Kindern, und umgekehrt erwartete man von diesen, daß sie solche Wörter nicht in Anwesenheit von Erwachsenen gebrauchten. Dabei war es unerheblich, ob die Kinder solche Wörter aus anderen Zusammenhängen kannten. Die gesellschaftliche Sitte verlangte, in der Öffentlichkeit den Unterschied zwischen der symbolischen Welt des Erwachsenen und der des Kindes zu wahren. Diese dem Mittelalter unbekannte Gepflogenheit war mehr als bloß eine freundliche soziale Fiktion. In der sprachlichen Zurückhaltung des Erwachsenen spiegelte sich ein soziales Ideal, die Bereitschaft nämlich, Kinder gegenüber der gefühllosen, niedrigen oder zynischen Gesinnung, die in brutaler oder obszöner Sprache so oft anklingt, in Schutz zu nehmen. Und in der Zurückhaltung der Kinder spiegelte sich ein Verständnis für ihren Platz innerhalb der sozialen Ordnung und besonders dafür, daß sie nicht berechtigt waren, derlei Gesinnungen öffentlich zum Ausdruck zu bringen. 

Verwischen sich die Rollenunterschiede, so wird einer solchen sprachlichen Rücksichtnahme allmählich die Grundlage entzogen. Diese Gepflogenheit ist so rasch verfallen, daß diejenigen, die sie heute noch beachten, als »verschroben« gelten. Wie es scheint, sind wir wieder im 14. Jahr­hundert angekommen, als es keine Wörter gab, die man als untauglich für das Ohr des Kindes erachtete.

Aufgrund all dessen wird sowohl der Autorität der Erwachsenen als auch der Neugier der Kinder die Wurzel gezogen. Denn so wie Schamgefühl und Höflichkeit gründen auch diese beiden Verhaltenselemente in der Idee des Geheimnisses.

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Kinder sind neugierig, weil sie das noch nicht kennen, was es, wie sie vermuten, kennenzulernen gibt; und die Autorität der Erwachsenen rührt zum großen Teil daher, daß sie die Hauptquelle für solches Wissen sind. Das prekäre Gleichgewicht zwischen Autorität und Neugier ist Gegenstand von Margaret Meads wichtigem Buch Der Konflikt der Generationen, einer Untersuchung über den generation gap, die Kluft zwischen den Generationen. Dort behauptet sie, daß wir uns auf eine Epoche neuer, rasch abwechselnder und frei zugänglicher Informationen zubewegen, in der die Erwachsenen den Jugendlichen nicht mehr als Ratgeber und Lehrer dienen können, so daß es, wie sie schreibt, zu einer »Glaubenskrise« kommt: »Meiner Meinung nach ist diese Glaubenskrise ... auf die Tatsache zurückzuführen, daß es keine Älteren mehr gibt, die besser als die jungen Menschen selber darüber Bescheid wissen, welche Erfahrungen die Jugend heute macht.«6

Wenn Margaret Mead recht hat — wenn also die Älteren als Wissensquelle für die Jungen nicht mehr taugen —, dann hat sie ihrem Buch den falschen Titel gegeben und im Grunde ihr Thema verfehlt. Sie hat nicht die Kluft zwischen den Generationen untersucht, sondern das Verschwinden dieser Kluft. Denn in einer Welt, in der die Älteren nicht über mehr Autorität verfügen als die Jungen, gibt es überhaupt keine Autorität; die Kluft ist geschlossen, und alle gehören der gleichen Generation an. 

Und obwohl ich die Ansicht von Margaret Mead nicht teile, daß wir bereits den Punkt erreicht haben, an dem »es keine Älteren mehr gibt, die besser als die jungen Menschen selber darüber Bescheid wissen, welche Erfahrungen die Jugend heute macht«, scheint es mir doch offensichtlich, daß die elektronischen Medien aufgrund ihrer schonungslosen Aufdeckung aller Geheimnisse der Kultur eine schwere Herausforderung für die Autorität der Erwachsenen und die Neugier der Kinder darstellen. 

Margaret Mead schrieb ihr Buch während des Aufstiegs der kurzlebigen, aber von der Öffentlichkeit stark beachteten Gegenkultur-Bewegung. Vielleicht gelangte sie deshalb zu der Auffassung, der Verfall der Erwachsenenautorität tue der kindlichen Neugier keinen Abbruch. Bis zu einem gewissen Grad ist die Neugier ja tatsächlich eine natürliche Anlage des Kindes; aber sie entfaltet sich nur dann, wenn das Kind immer deutlicher erfährt, daß wohlgeordnete Fragen die Macht besitzen, Geheimnisse aufzuschließen.

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Die Brücke von der Welt des Bekannten zu der des Unbekannten schlagen das Staunen und die Verwunderung. Staunen jedoch gibt es vor allem dort, wo die Welt des Kindes von der Erwachsenenwelt geschieden ist, wo sich die Kinder durch ihre Fragen den Zugang zur Erwachsenenwelt erst suchen müssen. Wenn die Medien beide Welten miteinander verschmelzen, wenn die vom noch ungelüfteten Geheimnis ausgehende Spannung abnimmt, verändert sich das Staunen selbst. An die Stelle der Neugier tritt Zynismus oder, schlimmer noch, Arroganz. Wir haben dann Kinder, die sich nicht mehr auf die Erwachsenen und deren Wissen verlassen, sondern auf Nachrichten aus dem Nirgendwo. Wir haben Kinder, die Antworten bekommen auf Fragen, die sie nie gestellt haben. Kurzum, wir haben keine Kinder mehr.

Wir müssen im Auge behalten, daß nicht allein das Fernsehen zur Offenlegung der Erwachsenen­geheim­nisse beiträgt. Wie ich gezeigt habe, setzte der Prozeß, in dessen Verlauf die Information außer Kontrolle geriet und Elternhaus und Schule ihre bestimmende Position bei der Lenkung der kindlichen Entwicklung verloren, mit dem Telegraphen ein und ist durchaus kein neues Problem. Jedes Kommunikationsmedium, das man in eine Steckdose stöpselt, hat seinen Teil dazu beigetragen, die Kinder aus dem Horizont kindlicher Wahrnehmung freizusetzen. Das Kino z.B. spielte eine wesentliche Rolle dabei, Kindern die Sprache und die Strategien der Verliebtheit zu offenbaren; Leser über vierzig können bezeugen, daß der Film sie in die Geheimnisse des Küssens eingeweiht hat.  

Und heute kann man im Kino noch ganz andere Dinge lernen. Aber das Kino kostet Eintritt, und es ist immerhin möglich, die Kinder fernzuhalten, wenn in den Filmen zuviel sexuelles Wissen, zuviel Gewalt oder zuviel Erwachsenen­wahnsinn offenbart wird — außer, natürlich, dann, wenn sie im Fernsehen laufen. Denn beim Fernsehen gibt es keinerlei Beschränkungen, weder ökonomische noch andere, und die gelegentlich an Eltern gerichtete Warnung, eine bestimmte Sendung sei »für Kinder und Jugendliche nicht geeignet«, sorgt nur dafür, daß mehr und nicht weniger Kinder sie sich ansehen.

Aber was sehen sie da? Welches sind denn die Geheimnisse, die ihnen dort enthüllt werden? Da sind zunächst, wie schon gesagt, all jene Dinge, die zum Bereich der Sexualität gehören. Bei der Enthüllung sexueller Geheimnisse hat es das Fernsehen inzwischen fast dahin gebracht, den Begriff der sexuellen Abweichung völlig zu verflüchtigen.

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Es ist z.B. durchaus üblich geworden, daß man in der Fernseh­werbung zwölf- und dreizehnjährige Mädchen als erotische Objekte vorgeführt bekommt. Vielleicht hat mancher Erwachsene vergessen, daß so etwas früher als psychopathisch galt, und er muß mir einfach glauben, daß es tatsächlich so war.

Ich behaupte nicht, daß erwachsene Männer nicht auch in der Vergangenheit schon sexuelles Verlangen nach pubeszenten Mädchen verspürt hätten. Das war durchaus der Fall; wichtig ist aber, daß ihr Wunsch ein zumal vor den Jugendlichen selbst wohlgehütetes Geheimnis blieb. Das Fernsehen nun fördert nicht nur das Geheimnis an den Tag, sondern gibt auch zu verstehen, daß es eine überflüssige Behinderung darstellt und daß »nichts weiter dabei ist«. Mit den Geschlechtsteilen von Kindern zu spielen wird vielleicht eines Tages wieder, wie schon im Mittelalter, nichts weiter als eine derbe Belustigung sein. Und wenn das überspitzt sein sollte, so können wir doch immerhin feststellen, daß der offene, wenn auch symbolische Gebrauch von Kindern als »Material« für die Befriedigung der Sexualphantasien von Erwachsenen inzwischen allgemein akzeptiert ist. 

Beeinflußt durch eine derartige Ausnutzung von Kindern im Fernsehen, hat das Berufungsgericht des Bundesstaates New York 1981 entschieden, daß bei der Mitwirkung an einem pornographischen Film zwischen Kindern und Erwachsenen kein Unterschied gemacht zu werden braucht. Nur wenn der Film als obszön einzustufen ist, kann nach dieser Entscheidung ein Schuldspruch erfolgen. Aber wenn er nicht als obszön zu bewerten ist, dann ist jedes Gesetz, das zwischen der Stellung von Kindern und von Erwachsenen zu unterscheiden versucht, hinfällig.7

Man kann wohl sagen, daß eine solche Rechtsprechung den Weg ebnet für die fortgesetzte Ausbeutung von Kindern. Andererseits spiegelt sich in ihr lediglich die Realität unserer neuen elektronischen Umwelt. Denn es gibt tatsächlich nur noch sehr wenige Ausdrucksformen menschlicher Sexualität, die das Fernsehen nicht für publizierbar hält, die ihm als Thema einer Sendung oder als Aufhänger für einen Werbespot ungeeignet erscheinen. In Werbefilmen für Intimspray und in Diskussionen über Männer-Striptease, in Sendungen, die sich vorwiegend der Darbietung von nackten Hintern und Brüsten widmen, und in Dokumentar­berichten über Partnertausch werden die Geheimnisse in dieser oder jener Weise der Reihe nach ausgebreitet.

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Gewiß, in manchen Fällen werden Themen wie Inzest, lesbische Liebe oder Untreue mit Ernst und sogar mit Würde dargeboten; aber das ändert nicht viel. 

Damit die Leser nicht glauben, diese Bemerkungen seien nichts weiter als die Ergüsse eines prüden Gemüts, möchte ich mich hier so klar wie möglich ausdrücken: Es geht mir um den Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Wissen und darum, welche Auswirkungen die Abschaffung des privaten Wissens durch die Medien der totalen Enthüllung hat. 

Die Behauptung, Homosexualität sei vor Gott eine Sünde — meiner Ansicht nach eine gefährliche Vorstellung —, ist nicht dasselbe wie die Behauptung, es gehe etwas verloren, wenn man die Homosexualität den Kindern vor Augen führt. Und die Behauptung, die menschliche Sexualität sei schmutzig und gemein — meiner Ansicht nach ebenfalls eine gefährliche Vorstellung —, ist etwas ganz anderes als die Behauptung, die öffentliche Darbietung der Sexualität beraube sie ihres Geheimnisses und ihrer Würde und verändere Charakter und Bedeutung sowohl der Sexualität als auch der kindlichen Entwicklung.

Ich bin mir durchaus darüber im klaren, daß man mitunter das Wort »Scheinheiligkeit« auf eine Situation anwendet, in der öffentliches und privates Wissen streng auseinandergehalten werden. Aber die vorteilhafte Seite der »Scheinheiligkeit« ist ein gewisser sozialer Idealismus. Im Falle der Kinder z.B. übt man Verschwiegenheit, um ein ungestörtes Wachstum zu gewährleisten. Kindheit, wie wir sie uns als Ideal vorstellen, kann es ohne ein gewisses Maß an »Scheinheiligkeit« nicht geben.

Nehmen wir etwa die Gewalt. Es läßt sich nicht bestreiten, daß die Menschen einen ungeheur großen Teil ihrer Zeit und ihrer Kraft darauf verwenden, einander zu verstümmeln und umzubringen. Neben dem Herstellen von Zeichen und Werkzeugen ist das Töten eines unserer auffälligsten Wesensmerkmale. Ich habe einmal überschlagen, daß im Laufe meines Lebens annähernd 75 Millionen Menschen von anderen Menschen getötet worden sind.. Und hierbei sind die Tötungen nicht berücksichtigt, die, wie Russell Baker es formuliert, im Namen der »freien Wirtschaft« geschehen, z.B. Verkehrsunfälle, Familientragödien, Raubmorde usw. Ist es scheinheilig, wenn man Kindern dieses Wissen vorenthält? Den Vorwurf der Scheinheiligkeit sollte man sich für passendere Gelegenheiten aufheben.

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Wir wollen Kindern dieses Wissen vorenthalten, weil zu viel davon in zu frühen Jahren für das Wohlergehen eines noch ungeformten Verstandes höchstwahrscheinlich bedrohlich ist, selbst wenn solches Wissen noch so sehr der Wirklichkeit entspricht. Aufgrund von Erkenntnissen über die kindliche Entwicklung kann man behaupten, es sei für die Kinder notwendig, die Überzeugung zu entwickeln, daß die Erwachsenen ihre gewalttätigen Regungen unter Kontrolle haben und eine einigermaßen klare Vorstellung von Richtig und Falsch besitzen. Aus diesem Glauben heraus können Kinder, wie Bruno Bettelheim gesagt hat, eine positive Einstellung zu sich selbst gewinnen, die ihnen die Kraft gibt, ihren Verstand auszubilden, und dieser wiederum versetzt sie in die Lage, Notlagen zu meistern.

SC. H. Waddington hat die Hypothese aufgestellt, eine »Komponente der menschlichen Evolution und der Fähigkeit zur Auswahl [bestehe] in der Fähigkeit des Kindes, von älteren Menschen deren Kriterien für Richtig und Falsch unangezweifelt und als von autorisierter Seite gegeben zu übernehmen«.9 Ohne solche Absicherung würde es dem Kind schwerfallen, Hoffnung, Mut und Disziplin zu entwickeln. Auch wenn es scheinheilig ist, die »Tatsachen« der Gewalttätigkeit und der moralischen Unzulänglichkeit von Erwachsenen vor Kindern zu verbergen, so ist es doch ratsam, so zu verfahren. Scheinheiligkeit im Dienste einer Stärkung der kindlichen Entwicklung ist gewiß keine Untugend.

Damit soll nicht behauptet werden, Kinder müßten vor jeglicher Kenntnis von Gewalt und moralischer Verkommenheit behütet werden. Wie Bettelheim in seinem Buch <Kinder brauchen Märchen> gezeigt hat, liegt die Bedeutung von Märchen gerade darin, daß sie die Existenz des Bösen in einer Form offenbaren, die es den Kindern gestattet, diese Erkenntnis ohne Trauma zu verarbeiten. 

Möglich ist das nicht allein deshalb, weil der Inhalt der Märchen über Jahrhunderte hinweg organisch gewachsen ist und von den Erwachsenen kontrolliert wird (die etwa die Gewalt abschwächen oder den Ausgang einer Erzählung nach den Bedürfnissen eines bestimmten Kindes verändern können), sondern auch deshalb, weil die psychologische Umgebung, in der die Märchen erzählt werden, ermutigend und beruhigend und insofern therapeutisch ist.

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Die Gewalt jedoch, die heutzutage das Fernsehen offenbart, wird nicht durch die Stimme der Mutter vermittelt, wird kaum mit Rücksicht auf die Kinder abgeschwächt, und ihrer Präsentation liegt erst recht keine Theorie der kindlichen Entwicklung zugrunde. Sie ist da, weil das Fernsehen Stoff braucht, der hier in unerschöpflicher Vielfalt zur Verfügung steht. Und sie ist da. weil sich das Fernsehen mit allem gleichzeitig an alle wendet, d.h. es ist dem Fernsehen unmöglich, irgendwelche Geheimnisse zu wahren. Und deshalb ist es auch nicht in der Lage, die Kinder vor der direkten, schroffen Enthüllung gnadenloser Gewalt zu schützen.

Dabei muß man bedenken, daß die konventionell stilisierten Morde, Vergewaltigungen und Raubüberfälle, die allwöchentliche in den Fernsehserien und Spielfilmen gezeigt werden, nicht einmal die Hälfte des Problems ausmachen. Immerhin sind sie klar als Fiktion oder Pseudo-Märchen gekennzeichnet, und wir können davon ausgehen (allerdings nicht mit letzter Sicherheit), daß manche Kinder sie nicht als Darstellungen des wirklichen Erwachsenenlebens auffassen. 

Weitaus beeindruckender sind indes die täglichen Beispiele für Gewalttätigkeit und moralische Verkommenheit, die im Zentrum der TV-Nachrichten-Shows stehen. Sie werden nicht durch den Auftritt wiedererkennbarer, attraktiver Schauspieler und Schauspielerinnen abgemildert. Sie werden dargeboten als der Stoff, aus dem der Alltag gemacht ist. Es sind die wirklichen Morde, die wirklichen Vergewaltigungen, die wirklichen Raubüberfälle. Und daß sie tatsächlich der Stoff des wirklichen Lebens sind, macht sie um so eindrucksvoller. 

Seit Jahren haben Wissenschaftler immer wieder herauszufinden versucht, wie sich solches Wissen auf die Kinder auswirkt, und dabei lautete ihre Hauptfrage: In welchem Maße regt die häufige, lebendige Darstellung von Gewalt die Kinder selbst zur Gewalttätigkeit an? Gewiß ist diese Frage nicht belanglos, doch sie lenkt von einer anderen wichtigen Frage ab: In welchem Maße unterhöhlt die Darstellung der Welt, so wie sie ist, den Glauben des Kindes an die Rationalität der Erwachsenen, an die Möglichkeit einer vernünftigen Weltordnung, an eine hoffnungsvolle Zukunft? In welchem Maße untergräbt sie das Vertrauen des Kindes in die eigene Fähigkeit, gewalttätige Regungen bei sich selbst in Zukunft zu beherrschen?

Das Geheimnis der Gewalt ist Teil eines größeren Geheimnisses, das vom Fernsehen enthüllt wird. Was aus der Sicht des Kindes im Fernsehen am ehesten auffällt, ist die offenkundige Tatsache, daß die Erwachsenen­welt voller Dummheit, Streit und Kummer ist.

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Das Fernsehen gestattet, wie es Josh Meyrowitz formuliert hat, den Blick hinter die Kulissen des Erwachsenenlebens. Wissenschaftler haben sich kaum mit der Frage beschäftigt, was es bedeutet, wenn wir Kindern in Form von Fernsehsendungen die Ursachen für Ehekonflikte vorführen, die Notwendigkeit von Lebensversicherungen, die unendlich vielen Möglichkeiten von Mißverständnissen, die anhaltende Unfähigkeit der Politiker oder die zehntausend Leiden und Gebrechen des menschlichen Körpers. Diese Liste, mit deren Fortsetzung man leicht eine ganze Seite füllen könnte, umfaßt zwei Beispiele, die besonders gut veranschaulichen, wie schonungslos das Fernsehen die Geheimnisse des Erwachsenenlebens offenlegt.

Das erste — hierüber hat Meyrowitz mit großem Verständnis geschrieben — betrifft die Inkompetenz oder zumindest Verwundbarkeit der Politiker. Auf der Suche nach Stoff, insbesondere solchem, der human interest besitzt, hat das Fernsehen im Privatleben der Politiker eine fast unerschöpfliche Quelle gefunden. Nie zuvor haben so viele Menschen soviel über die Frauen, Kinder, Geliebten, Trinkgewohnheiten, sexuellen Vorlieben, Sprachfehler oder Unbeholfenheiten ihrer politischen Führer gewußt. Diejenigen, die zumindest über einen Teil dieses Wissens verfügten, bezogen ihre Informationen aus Zeitungen und Zeitschriften, das heißt, bis zur Einführung des Fernsehens war die dunkle oder private Seite des politischen Lebens im wesentlichen eine Sache der Erwachsenen. Kinder sind keine Zeitungsleser und sind es nie gewesen. Aber sie sind Fernsehzuschauer und deshalb ständig den Berichten über die Schwächen derer ausgesetzt, die ihnen in einer anderen Epoche als relativ fehlerlos erschienen wären. Infolgedessen entwickeln sie Einstellungen, die man als erwachsenengemäß bezeichnen könnte — eine zynische oder gleichgültige Haltung gegenüber Politikern und politischen Vorgängen überhaupt.

Daneben werden die Kinder ständig über die Gebrechen des menschlichen Körpers unterrichtet, ein Thema, das die Erwachsenen früher im allgemeinen zu verheimlichen suchten. Natürlich haben Kinder stets gewußt, daß Menschen krank werden und auf diese oder jene Weise sterben.

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Aber die Erwachsenen hielten es für ratsam, den Kindern die meisten Einzelheiten vorzuenthalten, bis sie von ihnen nicht mehr überwältigt wurden. Das Fernsehen öffnet auch diese Tür. Zu meiner Erbauung habe ich einmal gezählt, wie viele Krankheiten oder körperliche Leiden an drei aufeinander folgenden Abenden im Fernsehen zur Sprache kamen.

Insgesamt fand ich 43 Hinweise auf die Widrigkeiten, denen unser Leib ausgesetzt ist: auf Hämorrhoiden und die leidige Schuppenflechte, auf Neuritis und Neuralgie, Zahn- und Rückenschmerzen, auf Arthritis und Herzleiden, Krebs und künstliche Zähne, auf unreine Haut und Kurzsichtigkeit. Und als sei dies alles noch nicht genug, um das Leben unsicher, wenn nicht gar bedrohlich erscheinen zu lassen, gab es während der gleichen Zeitspanne zwei Hinweise auf die Wasserstoffbombe, eine Diskussion über die Unfähigkeit der Nationen, dem Terrorismus Einhalt zu gebieten, und eine Zusammenfassung der Abscam-Prozesse, in deren Mittelpunkt Korruptionsfälle im Regierungslager standen.

 

Gewiß habe ich bis hierher den Eindruck erweckt, daß alle Erwachsenengeheimnisse, die das Fernsehen den Kindern aufdeckt, die bedrohliche, düstere, verwirrende Seite des Lebens betreffen. Doch das Fernsehen hat durchaus die Tendenz, diese Dinge in den Vordergrund zu stellen. Wenn der größte Teil seiner Offenbarungen von dieser Art ist, dann deshalb, weil der größte Teil des Erwachsenenlebens so geartet ist, angefüllt mit Krankheit, Gewalttätigkeit, Unfähigkeit und Chaos. Allerdings nicht das ganze Erwachsenenleben. Da ist z.B. das existentielle Vergnügen, Dinge zu kaufen. 

Das Fernsehen enthüllt den Kindern schon im denkbar frühesten Alter die Freuden des Konsumismus, die Befriedigungen, die einem der Akt des Kaufens gewährt — ob es sich nun um Bohnerwachs oder um Automobile handelt. Man hat Marshall McLuhan einmal gefragt, warum die Nachrichten im Fernsehen stets schlechte Nachrichten seien. Er entgegnete, das sei keineswegs so; die Fernsehreklame bringe die guten Nachrichten. Und so ist es tatsächlich. 

Es ist tröstlich zu wissen, daß man sich von der täglichen Schufterei durch einen Trip nach Jamaica oder Hawaii erholen kann, daß man seinen Status erhöhen kann, indem man einen Cordoba kauft, daß man eine bessere Hausfrau wird, wenn man ein bestimmtes Waschmittel benutzt, daß man seinen Sex-Appeal mit einem bestimmten Mundwasser steigern kann. Solcher Art sind die Versprechungen der amerikanischen Kultur, und sie verleihen den Motivationen der Erwachsenen eine gewisse Schlüssigkeit.

Mit drei Jahren kennen unsere Kinder diese Motivationen, denn das Fernsehen lädt jeden ein, sie sich zu eigen zu machen. Ich behaupte nicht, daß es sich hier um reife Motivationen handelt, und werde im nächsten Kapitel zu zeigen versuchen, wie das Fernsehen jede vernünftige Vorstellung von reifer Erwachsenheit untergräbt. Worauf es hier nur ankommt, ist die Tatsache, daß die »guten Nachrichten« im Fernsehen gute Nachrichten für Erwachsene sind, über die freilich die Kinder mit sieben Jahren völlig im Bilde sind.

Ich behaupte auch nicht, daß Kinder in früherer Zeit von der Erwachsenenwelt gar nichts wußten, sondern nur, daß seit dem Mittelalter Kinder noch nie so viel über das Leben der Erwachsenen gewußt haben wie heute. Nicht einmal die zehnjährigen Mädchen, die im 19. Jahrhundert in den englischen Bergwerken arbeiten mußten, wußten ähnlich »gut Bescheid« wie unsere eigenen Kinder. Über die Schrecken ihres Lebens hinaus wußten die Kinder in der Periode der Industriellen Revolution sehr wenig. Doch durch das Wunder der Bilder und der Elektrizität kennen unsere Kinder heute alles, was andere auch kennen — das Gute wie das Böse. Nichts ist rätselhaft, nichts ehrfurchtgebietend, nichts bleibt dem öffentlichen Blick verborgen.

Eine allgemein verbreitete Ansicht, die vor allem Fernsehleute gerne ins Feld führen, wenn sie kritisiert werden, hebt gerade hervor, daß die Kinder heute — ungeachtet dessen, was man sonst noch über die Auswirkungen des Fernsehens auf junge Menschen sagen könne — jedenfalls besser informiert seien als Kinder jemals zuvor. Man bedient sich hier zumeist der Metapher, das Fernsehen sei ein Fenster zur Welt. Diese Feststellung ist an sich korrekt. Aber warum man darin ein Zeichen von Fortschritt erkennen soll, ist mir unerfindlich. Was bedeutet es, daß unsere Kinder besser informiert sind als jemals zuvor?

Es bedeutet, daß sie zu Erwachsenen geworden sind oder zumindest den Erwachsenen ähnlich geworden sind. Es bedeutet, daß sie aus dem Garten der Kindheit vertrieben werden, indem man ihnen die Frucht des Erwachs­enen­wissens zugänglich macht.

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