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9  Sie haben die freie Wahl 

 

 

 

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In <The Last Hurrah>, dem großartigen Roman von E. Connor über die hemdsärmelige Parteipolitik in Boston, will Bürgermeister Skeffington seinen jungen Neffen mit der Wirklichkeit der politischen Maschinerie vertraut machen. Die Politik, so erklärt er ihm, ist der größte Zuschauersport in Amerika. 1966 gebrauchte Ronald Reagan eine andere Metapher. »Die Politik«, so sagte er, »ist genau wie das Showbusiness.«1

 en.wikipedia  The_Last_Hurrah (1956)

Zwar ist der Sport heute zu einem wichtigen Zweig des Showbusiness geworden, aber er enthält immer noch einige Elemente, die Skeffingtons Ansicht von der Politik hoffnungsvoller erscheinen lassen als diejenige Reagans. In jeder Sportart ist der Leistungsstandard sowohl den Spielern als auch den Zuschauern bekannt, und das Ansehen eines Sportlers oder einer Sportlerin steigt und fällt damit, wie nahe er oder sie diesem Standard kommt. Es läßt sich nur schwer verbergen, wo der Sportler im Verhältnis zu diesem Standard steht, und falsche Angaben lassen sich nicht vortäuschen. Das bedeutet, daß ein Baseball-Außenfeldspieler wie David Garth mit einer durchschnittlichen Schlagquote von 0,218 zur Verbesserung seines Images wenig tun kann. 

Es bedeutet auch, daß eine Meinungsumfrage darüber, wer die beste Tennisspielerin der Welt sei, sinnlos ist. Die Meinung der Öffentlichkeit hat damit nichts zu tun. Martina Navratilovas Aufschlag liefert die entscheidende Antwort.

Man kann noch hinzufügen, daß die Zuschauer bei einer Sportveranstaltung die Spielregeln und die Bedeutung jeder Aktion innerhalb des Spielverlaufs meist genau kennen. Ein Libero, der einen im Abseits stehenden Stürmer anspielt, kann die Zuschauer um nichts in der Welt glauben machen, er habe seiner Mannschaft einen Dienst erwiesen (allenfalls erinnert er sie daran, daß er zu einem gezielten Paß imstande wäre). Der Unterschied zwischen einem Treffer und einem »Aus«, zwischen einem Tor und einem Fehlpaß, zwischen Assen und Doppelfehlern läßt sich nicht verwischen, mag der eine oder andere Sportler noch so viel Mundwerk darauf verwenden. Gliche die Politik einer Sportveranstaltung, so würden sich mit ihrem Namen einige Tugenden verbinden: Klarheit, Redlichkeit, überragende Leistung.

Aber welche Tugenden verbinden sich mit der Politik, wenn Ronald Reagan recht hat? 

Auch dem Showbusiness ist eine Vorstellung von überragender Leistung nicht gänzlich fremd, aber in erster Linie geht es ihm darum, der Menge zu gefallen, und sein wichtigstes Werkzeug ist der Kunstgriff. Wenn die Politik dem Showbusiness gleicht, dann kommt es nicht darauf an, überragende Leistungen, Klarheit und Redlichkeit anzustreben, sondern darauf, den Eindruck zu erwecken, man täte es — und das ist etwas ganz anderes. Was dieses ganz andere ist, läßt sich mit einem Wort sagen: Reklame.

In seinem Buch über Richard Nixons Wahlkampf von 1968, <The Selling of the President>, hat Joe McGinnis im Titel ebenso wie im Text vieles von dem ausgesprochen, was über das Verhältnis von Politik und Reklame gesagt werden muß. Freilich nicht alles. Denn obwohl der »Verkauf« eines Präsidenten eine erstaunliche und erniedrigende Sache ist, ist er doch nur Teil eines größeren Zusammenhangs: Die elementare Metapher für den politischen Diskurs und für die öffentliche Urteilsbildung in Amerika liefert der Werbespot im Fernsehen. 

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Die Fernsehwerbung ist die eigenartigste und zugleich am weitesten verbreitete Kommunikationsform, die man aus der Steckdose beziehen kann: Ein Amerikaner hat mit vierzig Jahren in der Regel weit mehr als eine Million Werbespots im Fernsehen gesehen und muß noch fast eine weitere Million hinter sich bringen, bevor der erste Scheck der Sozialversicherung bei ihm eintrifft. Wir dürfen daher mit Gründen annehmen, daß die Fernsehwerbung die Denkgewohnheiten der Amerikaner nachhaltig geprägt hat. 

Unschwer läßt sich nachweisen, daß sie zu einem wichtigen Modell für die Struktur von öffentlichen Diskursen jeder Art geworden ist. Hier möchte ich vor allem zeigen, wie sie den politischen Diskurs verwüstet hat. 

Zunächst jedoch sollen ihre Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben selbst kurz dargestellt werden.

Indem sie alle Genres des Showbusiness — Musik, Dramatik, Bild, Humor, Prominenz — in einer kompakten Form zusammenfaßt, hat die Fernseh­werbung den schwersten Angriff auf die kapitalistische Ideologie seit dem Erscheinen des <Kapitals> gestartet. 

Um zu verstehen, warum, müssen wir uns in Erinnerung rufen, daß der Kapitalismus genau wie die Wissenschaft und die freiheitliche Demokratie eine Folgeerscheinung der Aufklärung war. Seine wichtigsten Theoretiker und selbst seine erfolgreichsten Praktiker waren der Ansicht, der Kapitalismus beruhe auf der Idee, daß sowohl Käufer als auch Verkäufer hinreichend erwachsen, informiert und verständig sind, um sich auf Geschäfts­beziehungen einzulassen, die im beiderseitigen Eigeninteresse liegen. Wenn man in der Habgier den Brennstoff für die kapitalistische Lokomotive erblickte, dann war jedenfalls die Rationalität der Maschinist. 

Eine der Voraussetzungen für die Konkurrenz auf dem Markt besteht der Theorie nach darin, daß der Käufer nicht nur weiß, was ihm nützt, sondern auch, was überhaupt nützlich ist. Wenn der Verkäufer nichts produziert, was, gemessen an den Standards eines rationalen Marktes, Wert besitzt, dann erleidet er Schiffbruch. Die Annahme, daß sich die Käufer von ihrer Rationalität lenken lassen, spornt die Konkurrenten an, Sieger zu werden, und die Sieger spornt sie an, Sieger zu bleiben.

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Wo man annimmt, daß der Käufer unfähig sei, rationale Entscheidungen zu treffen, werden Gesetze erlassen, die solche Geschäfte ungültig machen, etwa jene, die es Kindern untersagen, Verträge zu schließen. In Amerika gibt es sogar eine gesetzliche Vorschrift, daß der Verkäufer über seine Produkte die Wahrheit sagen muß, denn wenn der Käufer falschen Behauptungen schutzlos ausgesetzt ist, wird seine Möglichkeit, rational zu entscheiden, ernsthaft beeinträchtigt.

Natürlich weist die kapitalistische Praxis innere Widersprüche auf. Kartelle und Monopole zum Beispiel haben die Theorie untergraben. Aber die Fernsehwerbung macht sie vollends zunichte. Hierfür ein ganz simples Beispiel: Soll eine Behauptung — im Geschäftsleben oder anderswo — rational überprüfbar sein, so muß sie eine sprachliche Form haben, genauer gesagt, sie muß die Form eines Aussagesatzes annehmen, denn aus dem Diskursuniversum solcher Sätze stammen Wörter wie »wahr« und »falsch«. Sobald man dieses Diskurs­universum verläßt oder entwertet, vermögen empirische Tests, logische Analysen und alle anderen Werkzeuge der Vernunft nichts mehr auszurichten.

Die Abkehr vom Aussagesatz in der kommerziellen Werbung setzte gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein. Aber erst im Laufe der fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts hat der Fernsehwerbespot den sprachlichen Diskurs als Grundlage von Produktentscheidungen überflüssig gemacht. Indem sie Behauptungen durch Bilder ersetzte, machte die Bildwerbung den emotionalen »Appeal« statt einer rationalen Prüfung zur Basis der Verbraucher­entscheidungen. Inzwischen haben sich Rationalität und Reklame weit voneinander entfernt, ja, man kann sich kaum noch vorstellen, daß zwischen ihnen einmal ein Zusammenhang bestand. In der Fernsehwerbung von heute begegnet man Aussagesätzen genauso selten wie unattraktiven Menschen. Wahrheit oder Falschheit einer Reklameaussage stehen nicht zur Debatte. Eine McDonalds-Werbung zum Beispiel liefert nicht eine Reihe von überprüfbaren, logisch geordneten Aussagen.

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Sie inszeniert ein Schauspiel — eine Mythologie, wenn man so will —, in dem nette Menschen Hamburger verkaufen, kaufen und verzehren und dabei vor lauter Glück fast in Ekstase geraten. Es werden keine Behauptungen aufgestellt, ausgenommen jene, die der Zuschauer selbst in das Schauspiel hineinprojiziert oder aus ihm erschließt. Gewiß, man kann einen Werbespot mögen oder nicht mögen. Widerlegen jedoch kann man ihn nicht.

Wir können noch weiter gehen: Die Fernsehwerbung handelt gar nicht von den Produkten, die konsumiert werden sollen; sie handelt vom Charakter der Konsumenten. Bilder von Filmstars und berühmten Sportlern, von ruhigen Seen und Macho-Fischern auf einer Hochseeyacht, von einem eleganten Dinner oder einem romantischen Intermezzo, von fröhlichen Familien, die ihren Kombi für ein Picknick auf dem Lande packensie sagen nichts über die Produkte, die da verkauft werden sollen. Doch sie sagen alles über die Ängste, die Phantasien und Träume derer, die sie kaufen sollen.

Wer einen Werbespot in Auftrag gibt, der muß nicht die Stärken seines Produkts, sondern die Schwächen des Käufers kennen. Deshalb gibt die Wirtschaft heute mehr Geld für Marktforschung als für Produktforschung aus. Die Fernsehwerbung hat dazu beigetragen, daß die Wirtschaft auf die Steigerung des Eigenwertes ihrer Produkte heute weniger bedacht ist als auf die Steigerung des Selbstwertgefühls ihrer potentiellen Kunden, mit anderen Worten, sie hat sich eine Pseudo-Therapie zur Aufgabe gemacht. Der Verbraucher ist zum Patienten geworden, dem man mit Psycho-Dramen Sicherheit vermittelt.

Das alles würde einen Adam Smith ebenso verblüffen, wie die Wandlungsprozesse der Politik einen George Orwell mit seinen Schreckensvisionen in Erstaunen setzen würden. Es stimmt zwar, daß, wie George Steiner feststellt, Orwell glaubte, die »Neusprache« werde zum Teil aus den »Sprachhülsen der kommerziellen Werbung« hervorgehen. Doch als Orwell in seinem berühmten Aufsatz <The Politics of the English Language> schrieb, Politik habe es fortan vor allem damit zu tun, »das nicht zu Verteidigende zu verteidigen«, ging er davon aus, daß die Politik ein zwar korrumpierter, aber eigenständiger Diskursmodus bleiben werde.

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Seine Verachtung richtete sich gegen jene Politiker, die sich der jahrhundertealten Kunstgriffe des »Zwiedenkens«, der Propaganda und der Täuschung in verfeinerter Form bedienen würden. Daß die Verteidigung des nicht zu Verteidigenden als Amüsement betrieben werden könnte, kam ihm nicht in den Sinn. Er fürchtete im Politiker den Betrüger, nicht den Entertainer.

 

Der Fernsehwerbespot ist das wichtigste Instrument bei der Entwicklung der modernen Methoden zur Präsentation politischer Ideen gewesen, und zwar auf zweifache Weise. 

Zunächst dadurch, daß man seine Form in Wahlkämpfen zu verwenden begann. Es ist, glaube ich, unnötig, hier ausführlich auf diese Methode einzugehen. Jeder kennt sie, und jeder hat sich mehr oder weniger heftig über sie geärgert, auch der frühere Bürgermeister von New York, John Lindsay, der vorgeschlagen hat, politische Werbespots im Fernsehen zu verbieten. Sogar Fernsehkommentatoren haben unsere Aufmerksamkeit auf die politische Fernsehwerbung gelenkt, etwa Bill Moyers in seinem Dokumentarfilm <The Thirty-second President> (<Der Dreißig-Sekunden Präsident>) innerhalb seiner hervorragenden Fernsehserie <A Walk Through the 20th Century>. 

 

Mir selbst wurde die Macht, die der Fernsehspot als politischer Diskurs besitzt, aufgrund persönlicher Erfahr­ungen klar, als ich vor ein paar Jahren eine winzige Rolle im Wahlkampfteam von Ramsey Clark spielte, der sich gegen Jacob Javits im Bundesstaat New York um einen Senatssitz bewarb. 

 

Als überzeugter Verfechter der überlieferten Formen des politischen Diskurses stellte sich Clark eine kleine Bibliothek von sorgfältig ausge­arbeiteten Positions­papieren über eine Vielzahl von Themen zusammen, angefangen bei den Rassen­beziehungen, über die Atomenergie bis hin zum Mittleren Osten. Jedes Papier reicherte er mit historischen Hinter­grund­informationen, mit ökonomischen und politischen Fakten an und versah es mit einer, wie mir schien, aufgeklärten soziologischen Perspektive. 

Genausogut hätte er Karikaturen zeichnen können. Jacob Javits jedenfalls zeichnete, wenn man so will, Karikaturen.

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Falls er in irgendeiner Frage eine klar umrissene Position gehabt haben sollte, ist diese Tatsache jedenfalls weitgehend unbekannt geblieben. Er baute seinen Wahlkampf auf einer Reihe von Dreißig-Sekunden-Werbespots im Fernsehen auf, in denen er sich — ähnlich wie es in einem McDonalds-Spot geschieht — mit Hilfe von Bildern als ein Mann von Erfahrung, Rechtschaffenheit und Frömmigkeit darbot. 

Soweit ich weiß, glaubte Javits genauso fest an die Vernunft wie Ramsey Clark. Aber noch fester glaubte er daran, daß er seinen Sitz im Senat behalten müsse. Und er wußte genau, in welchem Jahrhundert wir leben. Er wußte, daß in der Epoche des Fernsehens und anderer visueller Medien »politisches Wissen« vornehmlich zu Bildern und nicht zu Worten oder Ideen gerinnt. Er täuschte sich nicht. Mit der größten Mehrheit in der Geschichte des Bundesstaates New York gewann er die Wahl. 

Im übrigen ist es längst eine Binsenweisheit, daß jeder, der sich in Amerika ernsthaft um ein hohes politisches Amt bewirbt, der Dienste eines Image-Managers bedarf, der plant und gestaltet, welche Bilder sich im öffentlichen Bewußtsein festsetzen sollen. Auf die Folgen dieser »Image-Politik« werde ich noch zurückkommen. Zuvor ist es nötig, etwas über die zweite Methode zu sagen, durch die der Werbespot den politischen Diskurs formt.

 

Weil die Fernsehwerbung die Kommunikationsform mit der größten Breitenwirkung in unserer Gesellschaft ist, war es unvermeidlich, daß sich die Amerikaner an ihre Philosophie anpaßten. Mit »anpassen« meine ich, daß wir die Fernsehwerbung als normale und einleuchtende Diskursform akzeptieren. Mit »Philosophie« meine ich, daß der Fernsehwerbung bestimmte Annahmen über das Wesen von Kommunikation zugrunde liegen, die denen anderer Medien, insbesondere denen des gedruckten Worts, zuwiderlaufen. 

Der Werbespot besteht auf einer nie zuvor dagewesenen, man könnte sagen blitzartigen Kürze des Ausdrucks. Ein Werbespot von sechzig Sekunden Länge ist weitschweifig; dreißig Sekunden ist mehr, als die meisten brauchen; fünfzehn bis zwanzig Sekunden sind die Regel.

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Es ist dies eine ungestüme und geradezu bestürzende Kommunikationsstruktur, richtet sich der Werbespot doch, wie gesagt, an die psychologischen Bedürfnisse des Betrachters. Er ist also nicht lediglich eine Therapie; er ist eine Soforttherapie. Und er verficht eine psychologische Theorie mit höchst eigenartigen Axiomen: Der Werbespot will uns glauben machen, daß alle Probleme lösbar sind, daß sie schnell lösbar sind, und zwar schnell lösbar durch das Eingreifen von Technologie, Fachwissen und Chemie. 

Es ist dies natürlich eine ganz unsinnige Theorie über die Wurzeln innerer Unzufriedenheit, und jedem, der sie hörte oder läse, würde dies auffallen. Doch der Werbespot verschmäht die Erörterung, denn sie erfordert Zeit und fordert Einwände heraus. Das wäre ein miserabler Werbespot, der den Zuschauer veranlaßt, nach der Gültigkeit der vorgetragenen Behauptungen zu fragen. 

Deshalb verwenden die meisten Werbespots das literarische Mittel des Pseudo-Gleichnisses.

Solche »Gleichnisse«, etwa das vom schmutzigen Kragenrand, das von den verlorenen Reiseschecks oder das vom Telephonanruf des Sohns in der Ferne, besitzen nicht nur eine unabweisbare emotionale Eindring­lich­keit, sie enthalten, wie die Gleichnisse der Bibel, auch eine unmißverständliche Lehre. Um die Produkte geht es in den Werbespots nur in dem Sinne, wie es in der Geschichte von Jonas um die Anatomie der Wale geht, nämlich gar nicht. Statt dessen handeln sie davon, wie man sein Leben führen soll. Im übrigen haben die Werbespots den Vorteil anschaulicher, bildhafter Symbole, mit deren Hilfe wir die Lehren, die uns erteilt werden, leicht aufnehmen können.

Diese Lehren besagen unter anderem, daß kurze, einfache Botschaften langen und komplexen vorzuziehen sind; daß die Dramatik der Erörterung vorzuziehen ist; daß es besser ist, wenn einem Lösungen verkauft werden, als wenn man mit Fragen oder Problemen konfrontiert wird. Solche Ansichten wirken sich natürlich auf unsere Einstellung zum politischen Diskurs aus; so kann es sein, daß wir anfangen, bestimmte Annahmen über die Beschaffenheit der politischen Sphäre als selbstverständlich hinzunehmen, die entweder aus der Fernsehwerbung stammen oder von ihr verstärkt werden.

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Jemand, der eine Million Werbespots gesehen hat, könnte durchaus zu der Meinung gelangen, daß es für alle politischen Probleme schnelle Lösungen mit einfachen Mitteln gibt — oder geben sollte. Oder daß einer komplizierten Sprache nicht zu trauen sei und daß sich alle Probleme in bühnenwirksame Dramatik umsetzen lassen. Oder daß alles Argumentieren geschmack- und taktlos sei und nur in unerträgliche Unsicherheit münde. Ja, daß es unnötig sei, zwischen Politik und anderen Formen des gesellschaftlichen Lebens zu trennen. 

So wie das Werbefernsehen einen Sportler, einen Schauspieler, einen Musiker, einen Romanschriftsteller, einen Naturwissenschaftler oder eine Gräfin »einsetzt«, um uns die Vorzüge eines Produkts darzustellen, für das sie gar nicht sachverständig sind, so befreit das Fernsehen auch den Politiker aus dem begrenzten Bereich seiner Sachkenntnisse. Politische Gestalten können überall und jederzeit auftauchen und irgend etwas Beliebiges tun, ohne komisch, anmaßend oder auch nur deplaziert zu wirken. Mit anderen Worten, sie haben sich als Prominente der allgemeinen Fernsehkultur angeglichen.

Prominent sein ist etwas anderes als bekannt sein. Harry Truman war bekannt, aber er war nicht prominent. Wann immer Präsident Truman in der Öffentlichkeit zu sehen oder zu hören war — stets sprach er von Politik. Man muß viel Phantasie aufbieten, um sich Harry Truman oder seine Frau bei einem Gastauftritt in Sendungen wie <The Goldbergs> oder <I Remember Mama> vorzustellen. Politik und Politiker hatten nichts mit derlei Sendungen zu tun, die sich die Leute zu ihrem Vergnügen ansahen, nicht aber um politische Kandidaten und Probleme kennenzulernen.

Es ist schwer zu sagen, wann genau Politiker damit anfingen, sich absichtlich als Quelle von Amüsement in den Vordergrund zu schieben. In den fünfziger Jahren trat Senator Everett Dirksen als Gast in der Sendung What's My Line? auf. Als sich John F. Kennedy um das Präsidentenamt bewarb, gestattete er den Kameras von Ed Murrows Sendung Person to Person, in sein Haus einzudringen.

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In einer Zeit, da er sich nicht um die Präsidentschaft bewarb, trat Richard Nixon für ein paar Sekunden in <Laugh-In> auf, einer einstündigen Unterhaltungssendung nach dem Muster des Werbefernsehens. Im Laufe der siebziger Jahre gewöhnte sich das Publikum langsam daran, daß es politische Gestalten als Teil der Welt des Showbusiness wahrzunehmen hatte. In den achtziger Jahren kam dann die Springflut.

William Miller, Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten, machte einen Werbespot für American Express. Der Star der Watergate Hearings, Senator Sam Ervin, ebenfalls. Der frühere Präsident Gerald Ford tat sich mit dem ehemaligen Außenminister Henry Kissinger zusammen, und beide übernahmen kleine Rollen in Denver Clan. Der Gouverneur von Massachusetts, Mike Dukakis, trat in der Sendung St. Elsewhere auf, der Sprecher des Repräsentantenhauses, Tip O'Neill, in Cheers. Der Verbraucheranwalt Ralph Nader, George McGovern und Bürgermeister Edward Koch fungierten als Gastgeber in Saturday Night Life. Koch spielte außerdem die Rolle eines Box-Managers in einem Fernsehfilm mit James Cagney in der Hauptrolle. Mrs. Nancy Reagan trat in Diffrent Strokes auf. Und würde es irgendwen verwundern, wenn Gary Hart in Hill Street Blues auftauchte oder wenn Geraldine Ferraro eine kleine Rolle als Hausfrau aus Queens in einem Film von Francis Coppola übernähme?

Vielleicht geht es zu weit, wenn man sagt, der »prominente« Politiker habe die politischen Parteien bedeutungs­los gemacht. Doch zweifellos gibt es einen auffälligen Zusammenhang zwischen dem Aufstieg des prominenten Politikers und dem Niedergang der Parteien. Einige Leser erinnern sich vielleicht noch an die Zeiten, in denen die Wähler kaum wußten, wer ihr Kandidat war, und sich jedenfalls nicht um seinen Charakter und sein Privatleben kümmerten. 

Als junger Mann weigerte ich mich einmal, für einen Bürgermeisterkandidaten der Demokraten zu stimmen, der mir dumm und korrupt erschien. »Was hat das denn damit zu tun?« protestierte mein Vater. »Alle Kandidaten der Demokraten sind dumm und korrupt. Willst du vielleicht, daß die Republikaner gewinnen?«

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Er wollte damit sagen, daß einsichtige Wähler derjenigen Partei den Vorzug geben, die ihre wirtschaftlichen Interessen und ihre soziologische Perspektive am besten artikuliert. Für den »besten Mann« zu stimmen, schien ihm naiv und sinnlos. Er bezweifelte nicht, daß es bei den Republikanern gute Leute gab. Er wußte aber auch, daß sie nicht für seine Klasse sprachen. Mit untrüglichem Gespür vertrat er die gleiche Auffassung wie Big Tim Sullivan, einer der Führer der New Yorker »Tammany Hall« in ihrer glorreichen Zeit. 

In seinem Aufsatz »Politics 1984« erzählt Terence Moran, wie sich Sullivan einmal über die Nachricht ärgerte, bei einer Wahl seien in seinem Bezirk 6382 Stimmen für die Demokraten und 2 für die Republikaner abgegeben worden. Bei der Auswertung dieses enttäuschenden Resultats meinte Sullivan: »Na ja, ist Kelly nicht zu mir gekommen und hat erzählt, daß der Vetter seiner Frau zu den Republikanern hält, und habe ich ihm um des lieben Friedens in der Gemeinde willen nicht die Erlaubnis gegeben, republikanisch zu wählen? Aber ich möchte wissen, wer sonst noch für die Republikaner gestimmt hat!«2) 

Die Weisheit dieser Argumentation möchte ich hier nicht erörtern. Es mag manches dafür sprechen, ohne Rücksicht auf die Parteizugehörigkeit den besten Mann zu wählen (obwohl mir keiner einfällt). Entscheidend jedoch ist, daß uns das Fernsehen jedenfalls nicht offenbart, wer der Beste ist. Das Fernsehen macht es sogar unmöglich, zu bestimmen, ob einer besser als ein anderer ist, sofern man unter »besser« versteht, daß er über größeres Verhandlungstalent, mehr Organisationskraft, mehr außenpolitische Erfahrung, mehr Verständnis für die Wechselbeziehungen innerhalb des Wirtschaftssystems und dergleichen verfügt. 

Daß dem so ist, hängt vor allem mit der Rolle, die das Image im Fernsehen spielt, zusammen. Allerdings nicht etwa damit, daß die Politiker bemüht sind, sich in möglichst gutem Licht zu zeigen. Wer will das nicht? Das müßte ein sehr merkwürdiger, seelisch erheblich gestörter Mensch sein, der nicht den Wunsch hätte, ein günstiges Bild von sich zu hinterlassen.

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Aber das Fernsehen bringt dieses Bild und diesen Wunsch in Verruf. Denn im Fernsehen bietet der Politiker dem Publikum nicht so sehr ein Bild von sich an, er macht sich vielmehr zu einem Bild, das die Zuschauer gerne sehen. Und darin liegt einer der stärksten Einflüsse begründet, die die Fernsehwerbung auf den politischen Diskurs ausübt.

Um zu begreifen, wie die Image-Politik im Fernsehen funktioniert, können wir bei den in Amerika sehr bekannten Werbespots von Bell Telephone ansetzen, jenen von Steve Hörn geschaffenen Romanzen, in denen wir aufgefordert werden, zum Hörer (und in die Ferne) zu greifen und jemanden zu berühren (oder Kontakt mit ihm aufzunehmen) — Reach Out and Touch Someone. Dieser »jemand« ist meist ein Verwandter, der in Denver oder Los Angeles oder Atlanta lebt, jedenfalls weit weg, und den wir, wenn wir Glück haben, in einem guten Jahr am Thanksgiving Day wiedersehen werden. Dieser »jemand« spielte früher eine wesentliche Rolle in unserem täglichen Leben, mit anderen Worten, er war Familienangehöriger.

Die amerikanische Kultur steht der Idee der Familie zwar entschieden ablehnend gegenüber, aber noch hat uns das bohrende Gefühl nicht verlassen, daß uns etwas Wesentliches verlorengeht, wenn wir sie aufgeben. Da tritt Mr. Horn mit seinen Werbespots auf, Moralpredigten von dreißig Sekunden Länge, die uns eine neue Definition von Intimität vermitteln sollen, in der die Telephonleitung an die Stelle des altmodischen Beisammenseins tritt. Mehr noch, für eine Nation von Verwandten, die von Autos, Düsen jets und anderen Werkzeugen des Familienselbstmords in alle Winde versprengt wurden, deuten diese Werbespots eine neue Vorstellung von familialer Zusammengehörigkeit an. Jay Rosen hat sie näher analysiert:

»Horn ist nicht daran interessiert, irgend etwas zu sagen; es gibt keine Botschaft, die er übermitteln will. Es ist nicht sein Ziel, Informationen über Bell zu liefern, er will vielmehr aus den zerbrochenen Bindungen im Dasein von Millionen von Amerikanern ein Gefühl hervortreten lassen, das sich auf das Telephon richten könnte. [...] Horn sagt nicht, was er meint. Sie sagen nicht, was Sie meinen. Er sagt, was Sie meinen3) 

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Dies ist die Lehre aller wichtigen Fernsehwerbespots: 

Sie liefern einen Slogan, ein Symbol, das für die Zuschauer ein umfassendes, unwiderstehliches Bild ihrer selbst hervorbringt. Der Übergang von der Parteipolitik zur Fernsehpolitik richtet sich auf das gleiche Ziel. Man läßt uns nicht herausfinden, wer als Präsident, als Gouverneur, als Senator der Beste wäre, statt dessen können wir in Erfahrung bringen, wessen Image die Tiefenschichten unserer Unzufriedenheit am ehesten erreicht und diese Unzufriedenheit am ehesten beschwichtigt. Wir schauen auf den Bildschirm und fragen uns genauso unersättlich wie die Königin in Schneewittchen und die sieben Zwerge: »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist am schönsten im ganzen Land?« 

Und wir neigen dazu, unsere Stimme denen zu geben, deren Persönlichkeit, deren Familienleben und deren Lebensstil, so wie sie uns auf dem Bildschirm gezeigt werden, uns eine erfreulichere Antwort geben, als die Königin erhielt. Schon vor 2500 Jahren stellte Xenophanes fest, daß die Menschen sich ihre Götter nach ihrem eigenen Bild schaffen. Dem hat die Fernsehpolitik eine neue Wendung gegeben: Jene, die Götter sein möchten, verwandeln sich in Bilder, die sie so zeigen, wie die Zuschauer sie sehen wollen.

Die Image-Politik hält also zwar an der Vorstellung fest, daß der Wähler bei seiner Entscheidung dem Eigeninteresse folgt, aber sie verwandelt die Bedeutung dieses »Eigeninteresses«. Big Tim Sullivan und mein Vater stimmten für die Partei, die ihre Interessen repräsentierte; »Interessen« freilich waren für sie etwas Greifbares — Protektion, bevorzugte Behandlung, Schutz vor der Bürokratie, Unterstützung ihrer Gewerkschaft oder ihrer Gemeinde, Truthähne zum Thanksgiving Day für mittellose Familien. Hieran gemessen sind die Schwarzen die einzigen vernünftigen Wähler, die es in Amerika heute noch gibt. Wir anderen wählen meist gemäß unseren Interessen, aber diese Interessen sind weitgehend symbolischer, genauer: psychologischer Art.

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So wie die Fernsehwerbung ist auch die Image-Politik eine Form von Therapie, und deshalb besteht sie in so großem Maße aus Charme, gutem Aussehen, Prominenz und persönlicher Offenbarung. Der Gedanke ist ernüchternd, daß es von Abraham Lincoln keine Fotos gibt, auf denen er lächelt, daß seine Frau aller Wahrscheinlichkeit nach eine Psychopathin war und daß er selbst unter langwierigen Anfällen von Depression zu leiden hatte. Für die Image-Politik hätte er sich wohl kaum geeignet. Wir wollen nicht, daß unsere Spiegel so dunkel und so wenig unterhaltsam sind. Kurz: So wie sich der Werbespot im Fernsehen, um seine psychologische Arbeit leisten zu können, aller authentischen Informationen über das Produkt entledigt, so entledigt sich — und zwar aus demselben Grund — die Image-Politik aller authentischen politischen Substanz.

Hieraus folgt, daß die Geschichte in der Image-Politik keine maßgebliche Rolle spielen kann. Denn Geschichte besitzt nur für den einen Wert, der die Vorstellung ernst nimmt, daß die Vergangenheit Strukturen aufweist, aus denen sich für die Gegenwart nutzbringende Traditionen ergeben. »Die Vergangenheit«, so hat Thomas Carlyle gesagt, »ist eine Welt und kein graues Dunstloch.« Er schrieb dies allerdings zu einer Zeit, in der das Buch noch das wichtigste Medium eines ernsthaften öffentlichen Diskurses war. Ein Buch ist durch und durch Geschichte. Mit allem, was es ist, versetzt es uns in eine vergangene Zeit zurück — durch die Art, wie es hergestellt wird, durch die lineare Form der Erörterung, dadurch, daß in ihm das Tempus der Vergangenheit die bequemste Form der Aussage ist. 

Wie kein anderes Medium vorher oder nachher fördert das Buch den Sinn für eine kohärente, nutzbare Vergangenheit. Im Gespräch der Bücher ist die Geschichte, wie Carlyle sie verstand, nicht nur eine Welt, sondern eine lebendige Welt. Im Schatten liegt die Gegenwart.

Das Fernsehen hingegen ist ein lichtgeschwindes, gegenwarts-zentriertes Medium. Seine Grammatik, wenn man so sagen darf, gewährt keinen Zugang zur Vergangenheit. Alles, was in laufenden Bildern dargestellt wird, erlebt man so, als geschehe es <jetzt>, weshalb man uns Importen mitteilen muß, daß der Video-Streifen, den wir gerade sehen, Monate zuvor aufgenommen worden ist.

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Mehr noch, wie sein Vorfahre, der Telegraph, kann das Fernsehen lediglich Informations­bruch­stücke transportieren, es kann sie nicht sammeln und organisieren. Carlyle war noch prophetischer, als er sich hätte ausmalen können: Das graue Dunstloch, von dem er spricht und das den Hintergrund aller Fernsehbild­schirme bildet, ist eine treffende Metapher für die Geschichtsvorstellung, die dieses Medium propagiert. Im Zeitalter des Showbusiness und der Image-Politik wird die politische Urteilsbildung nicht nur ihres gedanklichen und ideologischen, sondern auch ihres historischen Inhalts beraubt.

 

Czewslaw Milosz, der Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 1980, stellte in seiner Ansprache bei der Verleihungsfeier in Stockholm fest, unser Zeitalter sei gekennzeichnet von der <Weigerung, sich zu erinnern>, er verwies unter anderem auf die erschütternde Tatsache, daß heute mehr als hundert Bücher vorliegen, die bestreiten, daß sich der Holocaust je ereignet habe. Der Historiker Carl Schorske kommt der Wahrheit meiner Ansicht nach näher, wenn er erklärt, dem modernen Bewußtsein sei die Geschichte gleichgültig geworden, weil sie für dieses Bewußtsein nutzlos geworden sei. Mit anderen Worten, nicht Starrsinn oder Unwissenheit, sondern ein Gefühl der Belanglosigkeit führt zur Verkümmerung der Erfahrung und des Begriffs von Geschichte.

Bill Moyers, selbst ein Mann des Fernsehens, kommt der Wahrheit noch näher: »Ich fürchte, das, was ich tue, [...] trägt dazu bei, unsere Epoche in ein ängstliches Zeitalter von Leuten zu verwandeln, die allesamt das Gedächtnis verloren haben. [...] Wir Amerikaner wissen anscheinend alles über die letzten vierundzwanzig Stunden, aber nur sehr wenig über die letzten sechs Jahrhunderte oder die letzten sechzig Jahre.«4)  

Terence Moran trifft, wie ich glaube, ins Schwarze, wenn er sagt, unter der Vorherrschaft von Medien, die ihrer Struktur nach so angelegt sind, Bilder und Bruchstücke zu liefern, sei uns der Zugang zu einer historischen Perspektive versperrt.

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Wo es keine Kontinuität und keinen Kontext gibt, so Moran, »können Bruchteile von Informationen nicht zu einem verständigen und konsistenten Ganzen integriert werden«.5) Wir weigern uns nicht, uns zu erinnern; wir halten es, genau genommen, auch nicht für nutzlos, uns zu erinnern; wir werden unfähig gemacht, uns zu erinnern. Denn wenn Erinnerung mehr ist als Nostalgie, dann erfordert sie eine kontextuelle Basis — eine Theorie, eine Vision, eine Metapher —, etwas, worin Tatsachen organisiert und Strukturen erkannt werden können.

Die Image-Politik und die blitzartigen Nachrichten liefern einen solchen Kontext nicht; sie verhindern geradezu; einen solchen Kontext zu erzeugen. Ein Spiegel zeigt nur, was man am heutigen Tag trägt. Über gestern schweigt er sich aus. Mit dem Fernsehen hüllen wir uns in eine kontinuierliche, inkohärente Gegenwart. »Geschichte«, so hat Henry Ford gesagt, »ist Quatsch.« Aber Henry Ford war ein Optimist des Buchdruckzeitalters. »Geschichte«, entgegnet die Steckdose, »gibt es gar nicht.«

Wenn diese Vermutungen Sinn machen, dann hatte Orwell auch in diesem Punkt unrecht, zumindest im Hinblick auf die westlichen Demokratien. Er sah die Zerstörung der Geschichte voraus, doch er glaubte, der Staat werde sie vollbringen; eine Art von Wahrheitsministerium werde unliebsame Tatsachen systematisch unterdrücken und die Dokumente der Vergangenheit vernichten. Gewiß, so macht es die Sowjetunion, unser heutiges Ozeanien. Aber wie Huxley dargelegt hat, ist ein derartig grobschlächtiges Verfahren gar nicht erforderlich. Scheinbar harmlose Technologien, die der breiten Menge eine Politik aus Image, Augenblicklichkeit und Therapie zu vermitteln suchen, können die Geschichte genauso wirksam und vielleicht dauerhafter zum Verschwinden bringen — und ohne auf Widerspruch zu treffen.

An Huxley, und nicht an Orwell, sollten wir uns deshalb halten, wenn wir verstehen wollen, auf welche Weise das Fernsehen und andere Bildformen die Grundlage der freiheitlichen Demokratie, nämlich die Informationsfreiheit, bedrohen. Orwell nahm aus guten Gründen an, der Staat werde den Fluß der Informationen mit Gewalt unter seine Kontrolle bringen, insbesondere durch das Verbot von Büchern.

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Bei dieser Prophezeiung hatte Orwell die Geschichte durchaus auf seiner Seite. Denn überall, wo Bücher ein wichtiger Bestandteil der Kommunikationszusammenhänge waren, sind sie stets einer mehr oder minder strengen Zensur unterworfen worden. Im alten China wurden die Ausgewählten Schriften des Konfuzius auf Befehl des Kaisers Chi Huang Ti verbrannt. Ovid wurde von Augustus nicht zuletzt deshalb aus Rom verbannt, weil er die Ars Amatoria geschrieben hatte.

Sogar in Athen, das erhebliche Maßstäbe für Intellektualität entwickelt hat, beobachtete man Bücher mit Unruhe. In seiner Areopagitica gibt Milton einen vorzüglichen Überblick über die vielen Fälle von Buchzensur im klassischen Griechenland, unter ihnen auch der Fall des Protagoras, dessen Bücher verbrannt wurden, weil er eine seiner Abhandlungen mit dem Eingeständnis begann, er wisse nicht, ob es Götter gebe oder nicht. Aber Milton stellt ausdrücklich fest, daß es vor seiner Zeit stets nur zwei Arten von Büchern waren, denen, wie er es ausdrückt, »die Obrigkeit ihre Aufmerksamkeit zuwendete«, nämlich blasphemische Bücher und Schmähschriften. 

Milton betont diesen Punkt, weil er fast zweihundert Jahre nach Gutenberg sehr genau wußte, daß die Obrigkeiten in seiner eigenen Epoche, wenn man sie gewähren ließe, Bücher über jedes erdenkliche Thema verbieten würden. Mit anderen Worten, Milton wußte, daß die Zensur erst mit dem Aufkommen der Druckpresse ihre eigentliche Aufgabe gefunden hatte, daß Informationen und Ideen erst mit der Entfaltung des Buchzeitalters zu einem schwerwiegenden Problem für die Kultur geworden waren. Denn wie gefährlich ein geschriebenes Wort auch sein mag, es wird hundertmal gefährlicher, sobald es von einer Druckpresse vervielfältigt wird.

Und das Problem, das der Buchdruck aufwarf, wurde früh erkannt; von Heinrich VIII., dessen Sternkammer bevollmächtigt war, sich mit widerspenstigen Büchern zu befassen, ebenso wie von Elisabeth I., den Stuarts und vielen anderen Monarchen in der Zeit nach Gutenberg, auch von Papst Paul IV., in dessen Pontifikat die Abfassung des ersten Index Librorum Prohibitorum fällt.

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David Riesmans These abwandelnd, könnte man sagen, daß in der Welt des Buchdrucks die Informationen das Schießpulver des Geistes sind; deshalb treten die Zensoren in ihren kargen Gewändern auf, um die Explosion zu dämpfen.

 

So sah Orwell voraus, die staatliche Kontrolle über alles Gedruckte werde die westlichen Demokratien ernsthaft bedrohen. Er irrte sich. (Was Rußland, China und andere noch nicht in die Ära der Elektronik eingetretene Kulturen angeht, hatte er natürlich recht.) Orwell hatte ein Problem vor Augen, das im Grunde dem Zeitalter des Buchdrucks angehört — das gleiche Problem übrigens, das auch die Schöpfer der amerikanischen Verfassung vor Augen hatten. Diese Verfassung entstand zu einer Zeit, in der sich die meisten Menschen mit einem Flugblatt, einer Zeitung oder mit dem gesprochenen Wort an ihre Mitbürger wenden konnten. Sie waren durchaus imstande, ihre politischen Ideen einander in Formen und Kontexten mitzuteilen, die sie mit Sachverstand handhabten. Ihre größte Sorge galt deshalb der Möglichkeit einer Tyrannei des Staates. 

Die Bill of Rights ist in weiten Teilen eine Verordnung, die den Staat daran hindern soll, den Fluß der Informationen und Ideen einzuschränken. Die Gründerväter ahnten allerdings nicht, daß die Tyrannei des Staates von einem Problem ganz anderer Art überlagert werden könnte, von dem Problem des korporativen Staates, der durch das Fernsehen den Fluß des öffentlichen Diskurses im heutigen Amerika kontrolliert. Ich habe (zumindest an dieser Stelle) nicht die Absicht, in die bekannten Anklagen gegen den korporativen Staat einzustimmen. Ich möchte nur mit Besorgnis auf die Tatsache selbst hinweisen, so wie dies auch George Gerbner, der Dekan der Annenberg School of Communication, getan hat:

»Das Fernsehen ist eine neue Staatsreligion, gelenkt von einem privaten Kulturministerium (den drei großen Fernsehgesellschaften), das einen universellen Lehrplan für jedermann bietet, finanziert durch eine Form von heimlicher <taxation without representation> — also einer Besteuerung ohne parlamentarische Vertretung. Man zahlt beim Geschirrabwaschen, nicht beim Fernsehen, und unabhängig davon, ob man nun fernsieht oder nicht.«6

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An einer früheren Stelle im selben Aufsatz heißt es:

»Eine Befreiung kommt nicht dadurch zustande, daß man [den Fernseher] abschaltet: Für die meisten Menschen ist das Fernsehen das Attraktivste, was zu jeder Tages- und Nachtzeit vor sich geht. Wir leben in einer Welt, in der die große Mehrheit nicht abschalten wird. Wenn wir die Botschaft nicht aus der Bildröhre beziehen, dann wird sie uns von anderen Menschen zuteil.«

Ich glaube nicht, daß Professor Gerbner mit diesen Sätzen sagen wollte, die Leute, die das »Kulturministerium« leiten, hätten sich verschworen, um unsere symbolische Welt in ihre Hand zu bringen. Er würde mir vermutlich sogar darin zustimmen, daß, wenn die Fakultät der Annenberg School of Communication die drei großen Fernsehgesellschaften übernähme, den Zuschauern der Unterschied wahrscheinlich kaum auffiele. Ich glaube, er wollte sagen — und ich jedenfalls will es —, daß unsere Informationsumwelt im Fernsehzeitalter eine völlig andere ist als die von 1783; daß wir staatliche Übergriffe weniger zu fürchten brauchen als das Überangebot an Fernsehen; daß wir keine Chance haben, uns vor den Informationen, die das korporative Amerika verbreitet, zu schützen; und daß deshalb der Kampf um die Freiheit auf anderen Gebieten geführt werden muß als früher.

Ich wage zu behaupten, daß der traditionelle Widerstand der Verfechter bürgerlicher Freiheiten gegen den Ausschluß bestimmter Bücher aus Schulbibliotheken und Lehrplänen heutzutage weitgehend irrelevant geworden ist. Solche Zensurakte sind natürlich empörend und dürfen nicht hingenommen werden. Aber sie sind trivial. Noch schlimmer, sie lenken die Verfechter bürgerlicher Freiheiten davon ab, sich mit den Fragen auseinanderzusetzen, die sich aus den Ansprüchen der neuen Technologien ergeben.

Um es klar und deutlich zu sagen: 

Ein Student wird in seiner Lesefreiheit nicht ernstlich beeinträchtigt, wenn in Long Island oder sonstwo jemand ein Buch verbietet. Aber das Fernsehen beeinträchtigt, wie Gerbner zu verstehen gibt, die Lesefreiheit dieses Studenten ganz offensichtlich, und es tut dies sozusagen mit unschuldigen Händen. 

Das Fernsehen verbietet die Bücher nicht, es verdrängt sie.

Der Kampf gegen die Zensur ist ein Problem des 19. Jahrhunderts, im 20. Jahrhundert wurde er im großen und ganzen gewonnen. Heute stehen wir vor dem Problem, das sich aus der ökonomischen und der symbolischen Struktur des Fernsehens ergibt. Diejenigen, die das Fernsehen betreiben, engen unseren Zugang zu Informationen nicht ein, sie erweitern ihn sogar. In unserem »Kulturministerium« regiert der Geist, den Huxley, nicht Orwell, beschrieben hat. Auf alle erdenkliche Weise ermuntert es uns, ständig fernzusehen. Aber das Fernsehen ist ein Medium, das uns Informationen in einer Form präsentiert, die sie versimpelt, die sie substanzlos und unhistorisch macht und ihres Kontextes beraubt, ein Medium, das die Informationen auf das Format von Unterhaltung zurechtstutzt. Niemandem wird in Amerika je eine Gelegenheit vorenthalten, sich zu amüsieren.

Tyrannen jeder Couleur haben stets gewußt, wie nützlich es ist, den Massen Vergnügen und Zerstreuung zu bieten, um ihre Unzufriedenheit zu besänftigen. Kaum einer von ihnen hätte sich freilich auch nur träumen lassen, daß es einmal eine Situation geben könnte, in der die Massen alles, was nicht vergnüglich ist, massiv ignorieren. Deshalb haben Tyrannen immer wieder bei der Zensur Zuflucht genommen und tun es auch heute noch. Die Zensur ist gleichsam der Tribut, den die Tyrannen einer Öffentlichkeit entrichten, die den Unterschied zwischen ernsthaftem Diskurs und Unterhaltung kennt — und ernst nimmt. 

Wie sehr hätte es die Könige, Zaren und Führer der Vergangenheit (und die Kommissare von heute) gefreut, wenn sie geahnt hätten, daß Zensur nicht mehr nötig ist, sobald der gesamte politische Diskurs die Gestalt des Amüsements annimmt.

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