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10   Unterricht als Unterhaltung 

 

 

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Als im Jahre 1969 die erste Folge von <Sesam Straße> gesendet wurde, schien ausgemacht, daß sie bei Kindern, Eltern und Erziehern begeisterte Aufnahme finden würde. Den Kindern gefiel die Sendung, weil sie mit Werbespots großgeworden waren und intuitiv wußten, daß sie die am besten gemachte Unterhaltung im Fernsehen sind. Diejenigen, die noch nicht zur Schule gingen, und auch die, die gerade in die Schule gekommen waren, fanden nichts Komisches dabei, daß der Unterricht aus einer Serie von Werbespots bestand. Und daß das Fernsehen zu ihrer Unterhaltung da war, war für sie ohnehin selbstverständlich.

Die Eltern begrüßten <Sesam Straße> aus mehreren Gründen — nicht zuletzt deshalb, weil die Sendung ihre Schuldgefühle angesichts der Tatsache dämpfte, daß sie nicht imstande oder nicht willens waren, den Zugang ihrer Kinder zum Fernsehen zu beschränken. <Sesam Straße> schien zu rechtfertigen, daß man Vier- und Fünfjährigen erlaubte, während langer Zeitspannen reglos vor dem Bildschirm zu verharren. Die Eltern gaben sich der Hoffnung hin, das Fernsehen werde ihren Kindern noch etwas anderes beibringen als die Antwort auf die Frage, welche Cornflakes die knusprigsten sind. 

Gleichzeitig enthob <Sesam Straße> sie der Verpflichtung, ihren Kindern, soweit sie noch im Vorschulalter waren, das Lesen beizubringen — gewiß keine Kleinigkeit in einer Kultur, in der Kinder häufig als lästig empfunden werden. Außerdem war deutlich erkennbar, daß <Sesam Straße> trotz einiger Mängel dem amerikanischen Zeitgeist ganz und gar entsprach. Die Art, wie <Sesam Straße> niedliche Puppen, Prominente, eingängige Melodien und ein Schnellfeuer rasch wechselnder Szenen einsetzte, mußte den Kindern Vergnügen bereiten und war deshalb zur Vorbereitung auf ihren Eintritt in eine vergnügungslustige Kultur vorzüglich geeignet.

Auch die Lehrer hatten zumeist eine gute Meinung von <Sesam Straße>. Im Gegensatz zur landläufigen Auffassung sind sie durchaus bereit, neue Methoden zu akzeptieren, vor allem, wenn man ihnen sagt, daß der Unterricht mit Hilfe der neuen Technologien wirksamer vonstatten gehen kann. (Deshalb hat man neue Ideen wie das »lehrer-unabhängige« Lesebuch, standardisierte Tests und jetzt auch Mikrocomputer in den Klassen begrüßt.) Sesam Straße erschien als eine phantasievolle Hilfe bei der Lösung des immer größer werdenden Problems, den Amerikanern das Lesen beizubringen, und gleichzeitig schien es die Kinder zu ermuntern, die Schule zu lieben.

Heute wissen wir, daß Sesam Straße die Kinder nur dann ermuntert, die Schule zu lieben, wenn es in der Schule zugeht wie in Sesam Straße.  

Mit anderen Worten, wir wissen, daß Sesam Straße die herkömmliche Idee des Schulunterrichts untergräbt. Während das Klassenzimmer ein Ort sozialer Interaktionen ist, bleibt der Platz vor dem Bildschirm Privatgelände. Während man in einem Klassenzimmer den Lehrer etwas fragen kann, kann man dem Bildschirm keine Fragen stellen. Während es in der Schule hauptsächlich um die Sprachentwicklung geht, verlangt das Fernsehen Aufmerksamkeit für Bilder. Während der Schulbesuch vom Gesetz vorgeschrieben wird, ist fernsehen ein freiwilliger Akt. Während man in der Schule eine Strafe riskiert, wenn man nicht auf den Lehrer acht gibt, wird fehlende Aufmerksamkeit vor dem Bildschirm nicht geahndet.

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Während man mit dem Verhalten in der Schule zugleich gewisse Regeln des Sozialverhaltens beachtet, braucht man sich beim Fernsehen an solche Regeln nicht zu halten, das Fernsehen hat keinen Begriff von Sozialverhalten. Während der Spaß im Klassenzimmer immer nur Mittel zum Zweck ist, wird er im Fernsehen zum eigentlichen Zweck.

Dennoch sollte man Sesam Straße oder ihrem Abkömmling The Electric Company nicht vorwerfen, sie brächten das traditionelle Klassenzimmer in Gelächter zum Verschwinden. Wenn das Klassenzimmer als Lernumgebung heute fade und trist zu wirken beginnt, dann muß man dies den Erfindern des Fernsehens selbst vorwerfen und nicht dem Children's Television Workshop. Von Leuten, die gute Fernseh-Shows machen wollen, kann man schwerlich verlangen, sich mit der Frage zu befassen, wozu das Klassenzimmer da ist. Sie befassen sich mit der Frage, wozu das Fernsehen da ist. 

Damit will ich nicht sagen, daß Sesam Straße nicht bildend wäre. Diese Sendung ist sogar ungemein bildend — so wie auch jede andere Fernseh­sendung bildend ist. Das Lesen eines Buches — irgendeines Buches — fördert eine ganz bestimmte Einstellung zum Lernen, und genauso verhält es sich, wenn man eine Fernsehsendung anschaut. Ebenso wirksam wie Sesam Straße fördern The Little House in the Prairie, Cheers und The Tonight Show einen bestimmten Lernstil, den man als fernsehtypisch bezeichnen könnte. Und dieser Lernstil steht seinem Wesen nach quer zur Bücher­gelehrsamkeit oder ihrer Magd, der Schulweisheit. 

Wenn man der Serie Sesam Straße etwas vorwerfen kann, dann dies: daß sie vorgibt, ein Verbündeter des Klassenzimmers zu sein. Immerhin hat sie damit ihre Entstehung und ihren Anspruch auf öffentliche Gelder gerechtfertigt. Als Fernseh-Show, und zwar als gute, ermuntert Sesam Straße die Kinder durchaus nicht, die Schule oder irgend etwas an der Schule zu lieben; die Sendung ermuntert sie, das Fernsehen zu lieben.

Im übrigen muß man hinzufügen, daß es völlig unerheblich ist, ob Sesam Straße den Kindern die Buchstaben und die Zahlen beibringt oder nicht. Wir können uns hier an John Deweys Feststellung orientieren, der Inhalt einer Lektion sei beim Lernen das Unwichtigste.

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In Erfahrung und Erziehung schreibt er:

"Die Meinung, man lerne jeweils den besonderen Gegenstand, den man gerade studiert, ist vielleicht der fatalste aller pädagogischen Irrtümer. Das gleichsam nebenbei sich vollziehende Lernen, etwa die Herausbildung dauerhafter Haltungen, ... kann viel wichtiger sein und ist es häufig auch. als der Rechtschreibeunterricht oder die Lektion in Geographie oder Geschichte ... Denn auf diese Haltungen kommt es in der Zukunft an."1

Mit anderen Worten: Beim Lernen lernt man vor allem, wie man lernt. An anderer Stelle schrieb Dewey: »Man lernt, was man tut.« Das Fernsehen erzieht die Kinder, indem es ihnen beibringt, das zu tun, was beim Fernsehen von ihnen verlangt wird. Und das ist von dem, was im Klassenzimmer von ihnen verlangt wird, genauso weit entfernt wie das Lesen eines Buches vom Besuch einer Varietévorstellung.

 

Man käme nicht darauf, wenn man die neueren Vorschläge zur Verbesserung des Erziehungswesens zu Rate zöge doch die These, daß Bücherlesen und Fernsehen völlig unterschiedliche Konsequenzen für das Lernen haben, markiert das zentrale pädagogische Problem im heutigen Amerika. Amerika liefert heute ein besonders deutliches Beispiel für das, was man als die dritte große Krise im abendländischen Bildungswesen bezeichnen könnte. Die erste ereignete sich im 5. Jahrhundert v.Chr., als Athen den Übergang von einer mündlichen Kultur zur Schriftkultur vollzog. Man muß Platon lesen, will man wirklich verstehen, was das bedeutete. Die zweite Krise trat im 15. Jahrhundert Chr. ein, als die Druckpresse in Europa zu einer radikalen Umwälzung führte. Man muß John Locke lesen, will man wirklich verstehen, was das wirklich bedeutete. Die dritte ereignet sich heute, in Amerika - sie ist eine Folge der elektronischen Revolution und insbesondere der Erfindung des Fernsehens. Man muß Marshall McLuhan lesen, will man wirklich verstehen, was das bedeutet.

Wir haben es heute mit dem raschen Zerfall der Grundlagen einer Bildung, in deren Mittelpunkt das langsame gedruckte Wort stand, und mit dem ebenso raschen Aufstieg einer neuen Bildung zu tun, die auf dem lichtgeschwinden elektronischen Bild beruht.

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Noch ist das Klassenzimmer dem gedruckten Wort verbunden, obwohl diese Bindung sehr schnell schwächer wird. Unterdessen schiebt sich das Fernsehen nach vorne, und ohne seinem großen technologischen Vorgänger irgendwelche Konzessionen zu machen, schafft es ganz neue Vorstellungen von Wissen und davon, wie man es erwirbt. Mit Fug und Recht kann man behaupten, daß gegenwärtig in den Vereinigten Staaten die größte pädagogische Initiative nicht von den Klassenzimmern ausgeht, sondern von den Bildschirmen daheim, und dies nicht unter der Aufsicht von Schulleitern und Lehrern, sondern unter der von Fernsehmanagern und Unterhaltungskünstlern. 

Ich behaupte nicht, daß diese Situation das Resultat einer Verschwörung ist, oder auch nur, daß diese Leute, die das Fernsehen kontrollieren, diese Verantwortung wollen. Ich sage nur, daß das Fernsehen - wie vorher das Alphabet oder die Druckpresse — dadurch, daß es die Zeit, die Aufmerksamkeit und die Wahrnehmungsgewohnheiten unserer Jugend zu kontrollieren vermag, die Macht erlangt, ihre Erziehung zu kontrollieren. 

Deswegen halte ich es für zutreffend, wenn man das Fernsehen als Curriculum bezeichnet. Ein Curriculum ist nach meinem Verständnis ein eigens erstelltes System der Information und Unterweisung, das zum Ziel hat, den Verstand und die Persönlichkeit junger Menschen zu beeinflussen, zu unterrichten, zu schulen und zu kultivieren. Genau dies tut das Fernsehen natürlich — und zwar schonungslos. Dadurch tritt es mit Erfolg in Konkurrenz zum Schulunterricht, will sagen, es ist verdammt nahe daran, ihn zu zerstören.

Nachdem ich schon in einem früheren Buch, Teaching as a Conserving Activity, die Widersprüchlichkeit dieser beiden Curricula — Fernsehen und Schule — eingehend untersucht habe, möchte ich hier weder mir noch dem Leser eine Wiederholung dieser Analysen zumuten. Ich will jedoch auf zwei Punkte aufmerksam machen, die ich in jenem Buch meiner Meinung nach nicht deutlich genug hervorgehoben habe und die, wie sich herausstellt, gerade für meine jetzige Argumentation zentral sind.

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Der wesentliche Beitrag des Fernsehens zur Bildungstheorie besteht in dem Gedanken, daß Unterricht und Unterhaltung untrennbar miteinander verbunden sind. Dieser absolut originellen Auffassung begegnet man nirgendwo sonst in pädagogischen Abhandlungen, weder bei Konfuzius noch bei Platon und nicht bei Cicero, Locke oder John Dewey. Sieht man sich die pädagogische Literatur an, so wird man hier und da die Meinung finden, daß Kinder am besten lernen, wenn sie sich für das, was sie lernen sollen, interessieren. 

Man wird auch finden — Platon und Dewey haben es ausdrücklich gesagt —, daß der Verstand am besten gedeiht, wenn er in einer gefestigten emotionellen Grundlage wurzelt. Man wird sogar finden, daß es sich am leichtesten unter einem liebevollen und gütigen Lehrer lernt. Aber noch nie hat jemand behauptet oder angedeutet, daß sinnvolles Lernen wirksam, dauerhaft und wirklich bewerkstelligt werden kann, wenn der Unterricht zur Unterhaltung wird. 

Die Bildungstheoretiker sind stets davon ausgegangen, daß die Akkulturation ein schwieriger, weil notwendigerweise mit der Hinnähme von Einschränkungen verbundener Prozeß ist. Sie haben darauf hingewiesen, daß Lernen in einer bestimmten Abfolge von Schritten erfolgen muß, daß Ausdauer und ein gewisses Maß an Schweißarbeit unerläßlich sind, daß persönliches Vergnügen häufig hinter den Interessen des Zusammenhalts der Gruppe zurückstehen muß und daß den jungen Menschen Kritikfähigkeit und die Fähigkeit zu logischem, strengem Denken nicht in den Schoß fallen, sondern erarbeitet werden müssen. Cicero erklärt, Zweck der Erziehung sei es, den Schüler von der Tyrannei des Augenblick zu befreien, was denen keinen Spaß machen kann, die sich, wie die Kinder, mit aller Kraft um das Gegenteil bemühen, nämlich darum, sich an die Gegenwart anzupassen.

Das Fernsehen bietet eine wunderbare und, wie gesagt, höchst originelle Alternative zu alledem. Man könnte sagen, daß die vom Fernsehen propagierte Bildungstheorie im wesentlichen drei Gebote umfaßt. 

Der Einfluß dieser Gebote läßt sich an Fernsehsendungen aller Art beobachten

 ten Sesam Straße ge-l—baus^^ie an den Dokumentarfilmen von Nova und The Natio-^^lal Geographie oder an Fantasy Land.

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Diese Gebote lauten:

1. Du sollst nichts voraussetzen.

Jede Fernsehsendung muß eine in sich geschlossene Einheit sein. Vorwissen darf nicht verlangt werden. Nichts darf darauf hinweisen, daß Lernen ein Gebäude ist, das auf einem Fundament errichtet ist. Dem Lernenden muß jederzeit Zutritt gewährt werden, ohne daß er dadurch benachteiligt wäre. Deshalb wird man es nie erleben, daß eine Sendung mit dem Hinweis beginnt, für diejenigen Zuschauer, die die früheren Sendungen nicht gesehen haben, sei die nun folgende sinnlos. Das Fernsehen ist ein ungestuftes Curriculum, und nie und aus keinem Grund würde es einen Zuschauer ausschließen. Mit anderen Worten, indem es die Idee der Folgerichtigkeit und Kontinuität von Bildungsprozessen beiseite schiebt, untergräbt das Fernsehen die Vorstellung, Folgerichtigkeit und Kontinuität hätten irgend etwas mit dem Denken zu tun.

2. Du sollst nicht irritieren.

Im Fernsehunterricht ist die Irritation der kürzeste Weg zu niedrigen Einschaltquoten. Ein irritierter Fernsehschüler ist ein Schüler, der auf einen anderen Sender umschaltet. Die Sendungen dürfen also nichts enthalten, was man behalten, studieren, mit Fleiß verfolgen oder - das Schlimmste überhaupt - geduldig erarbeiten müßte. Man geht davon aus, daß jede Information, jeder Bericht, jeder Gedanke unmittelbar zugänglich gemacht werden kann, denn nicht die Entwicklung des Lernenden, sondern seine Zufriedenheit ist entscheidend.

3. Du sollst die Erörterung meiden wie die Zehn Plagen, die Ägypten heimsuchten.

Von allen Feinden des Fernsehunterrichts, zu denen auch die Kontinuität und die Irritation gehören, ist die Erörterung der furchtbarste. Argumente, Hypothesen, Darlegungen, Gründe, Widerlegungen und all die anderen traditionellen Instrumente

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eines vernünftigen Diskurses lassen das Fernsehen zum Radio werden, schlimmer, sie machen aus ihm ein drittklassiges Druckerzeugnis. Deshalb erfolgt der Fernsehunterricht stets in der Form von Geschichtenerzählen, geleitet von dynamischen Bildern und von Musik unterstützt. Das ist für Star Trek genauso kennzeichnend wie für Cosmos, für Sesam Straße, für die Werbespots und für Nova. Im Fernsehen wird nichts gelehrt, was sich nicht visualisieren und in den Kontext einer dramatischen Handlung stellen läßt. 

*

Einen Unterricht ohne Voraussetzungen, ohne Irritation und ohne Erörterung darf man wohl als Unterhaltung bezeichnen. Und wenn man bedenkt, daß amerikanische Kinder und Jugendliche für keine Beschäftigung, vom Schlafen abgesehen, mehr Zeit aufwenden als für das Fernsehen, dann drängt sich der Schluß auf, daß sich auf dem Gebiet des Lernens heute eine einschneidende Neuorientierung vollzieht. Und damit bin ich bei dem zweiten Punkt, den ich hervorheben möchte: Die Folgen dieser Neuorientierung lassen sich nicht nur am Autoritätsverlust des Klassenzimmers ablesen, sondern paradoxerweise ebenso an den Versuchen, aus dem Klassenzimmer einen Ort zu machen, an dem das Unterrichten und das Lernen amüsante Tätigkeiten sein sollen.

Das Experiment in Philadelphia, bei dem der Schulunterricht in ein Rock-Konzert verwandelt wurde, habe ich schon erwähnt. Es ist dies nur der einfältigste unter einer Vielzahl von Versuchen, Erziehung als Unterhaltung zu definieren und zu praktizieren. Von den Grundschulen bis hinauf zum College sind die Lehrer bemüht, die visuelle Stimulanz ihrer Stunden zu erhöhen; das Ausmaß an Erörterung, mit dem die Schüler zurechtkommen sollen, zu reduzieren; die Schulaufgaben, die mit Lesen und Schreiben zu tun haben, einzuschränken; und widerstrebend gelangen alle diese Lehrer zu dem Schluß, daß die Unterhaltung das wichtigste Mittel ist, um das Interesse der Schüler zu wecken. 

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Ohne Schwierigkeiten könnte ich die restlichen Seiten dieses Kapitels mit Beispielen dafür füllen, wie Lehrer — in einigen Fällen, ohne es zu merken — aus ihrem Unterricht eine zweitklassige Fernseh-Show zu machen suchen. Aber ich will mich hier auf The Voyage of the Mimi (Die Fahrt der Mimi) beschränken, ein Projekt, in dem man wohl eine Synthese, wenn nicht Apotheose der Neuen Erziehung sehen darf. The Voyage ofthe Mimi ist der Name eines kostspieligen naturwissenschaftlichen und mathematischen Projekts, zu dem sich einige der angesehensten Institutionen des Erziehungswesens zusammengetan haben - das Erziehungsministerium der Vereinigten Staaten, das Bank Street College of Edu-cation, das öffentliche Fernsehen (Public Broadcasting System) und der Verlag Holt, Rinehart and Winston. Ermöglicht wurde das Projekt durch einen Zuschuß in Höhe von 3,65 Millionen Dollar vom Erziehungsministerium, das stets sofort bereit ist, sein Geld dorthin zu geben, wo die Zukunft liegt. Und die Zukunft liegt bei The Voyage of Mimi.  

Eine knappe Beschreibung des Projekts entnehme ich der New York Times vom 7. August 1984:

»[Das Projekt], in dessen Mittelpunkt eine sechsundzwanzig-teilige Fernsehserie steht, die die Abenteuer einer schwimmenden Walforschungsstation schildert, verbindet das Anschauen von Fernsehsendungen mit großzügig illustrierten Büchern und Computerspielen, die die Arbeit von Naturwissenschaftlern und Navigatoren simulieren. [...] 

Das Kernstück von >The Voyage of the Mimi< bilden Fernsehsendungen von fünfzehn Minuten Länge, die die Abenteuer von vier jungen Leuten schildern, die zwei Naturwissenschaftler und einen bärbeißigen Kapitän bei einer Fahrt begleiten, auf der das Verhalten von Buckelwalen vor der Küste von Maine beobachtet werden soll. Die Mannschaft des umgebauten Thunfisch-Trawlers lenkt das Schiff, spürt die Wale auf und kämpft auf einer unbewohnten Insel um ihr Überleben, nachdem der Rumpf des Schiffes bei einem Sturm beschädigt worden ist. [...]

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Im Anschluß an die spannenden Episoden folgt jeweils ein Dokumentarfilm von fünfzehn Minuten Länge über verwandte Themen. In einem dieser Filme besucht einer der jungen Schauspieler den Atomphysiker Ted Taylor in Greenport, Long Island, der eine Methode zur Reinigung von Meerwasser durch Gefrieren erfunden hat.

Die Fernsehsendungen, die von Lehrern kostenlos mitgeschnitten und nach eigenem Ermessen verwendet werden können, werden von einer Reihe von Büchern und Computerübungen begleitet, in denen vier wissenschaftliche Themenbereiche aufgegriffen werden, die sich aus dem Handlungsverlauf ergeben: Umgang mit Landkarten und Navigation, Wale und ihre Umwelt, ökologische Systeme und Computerkenntnisse.»

Die Fernsehsendungen sind vom <Public Broadcasting System> ausgestrahlt worden; die Bücher und die Computer-Software steuerte Holt, Rinehart and Winston bei, den pädagogischen Sachverstand die Fakultät des Bank Street College. Daher ist The Voyage of the Mimi durchaus ernst zu nehmen. Frank Withrow vom Erziehungsministerium erklärt: »Es ist ein Modell, dem sicher bald andere folgen werden.« 

Alle am Projekt Beteiligten sind begeistert und äußern sich entzückt über seine Vorzüge. Janice Trebbi Richards vom Verlag Holt, Rinehart and Winston versichert: »Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, daß der Lernerfolg steigt, wenn man die Informationen in einem spannenden Rahmen präsentiert, und daß das Fernsehen hierzu besser geeignet ist als jedes andere Medium.« Beamte des Erziehungsministeriums behaupten, das Faszinierende an der Integration dreier Medien - Fernsehen, Buch und Computer - sei die damit gegebene Möglichkeit, Denkfertigkeiten auf einer höheren Stufe zu entwickeln. Und Mr. Withrow wird mit der Erklärung zitiert, daß Projekte wie The Voyage ofthe Mimi auf lange Sicht »billiger sind als alles andere, was wir tun«. Mr. Withrow hat auch darauf hingewiesen, daß es viele Möglichkeiten gibt, solche Projekte zu finanzieren. »Bei >Sesam Straße<«, so meinte er, »hat es fünf oder sechs Jahre gedauert, aber schließlich kann man doch anfangen, das Geld mit T-Shirts und Keksdosen wieder hereinzuholen.«

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Wenn wir über die Bedeutung von The Voyage of the Mimi nachzudenken beginnen, dann sollten wir uns zunächst klarmachen, daß die Idee dazu keineswegs originell ist. Was hier als »Integration dreier Medien« oder als »Multi-Media-Präsentation« bezeichnet wird, nannte man früher »audio-visuelle Hilfsmittel«, und die Lehrer bedienen sich ihrer seit Jahren zu dem bescheidenen Zweck, das Interesse ihrer Schüler am Lehrstoff zu beflügeln. Im übrigen hat das Erziehungsministerium schon vor mehreren Jahren der Fernsehgesellschaft WNET Gelder für ein ähnlich angelegtes Projekt mit dem Titel Watch Your Mouth (Paß auf, was du sagst) zur Verfügung gestellt, einer Serie von Fernsehspielen, in denen junge Leute, bei denen es mit der englischen Sprache hapert, in alle möglichen problematischen Situationen geraten. Linguisten und Pädagogen stellten dazu Unterrichtsmaterial zusammen, das die Lehrer in Verbindung mit den einzelnen Sendungen verwenden konnten.

Die Fernsehspiele als solche waren bestechend — wenn auch nicht annähernd so gut wie Welcome Back, Kotier, das mit dem Charisma von John Travolta über einen nicht zu überbietenden Vorteil verfügte —, aber nichts deutet darauf hin, daß die Schüler, die sich Watch Your Mouth ansehen mußten, ihre Fertigkeiten im Umgang mit der englischen Sprache gesteigert hätten. Und da im alltäglichen Werbefernsehen wahrlich kein Mangel an verderbtem Englisch herrscht, hat man damals auch die Frage gestellt, warum die Regierung der Vereinigten Staaten jemanden dafür bezahlt, zusätzliche Ungereimtheiten als Material für den Schulunterricht zu ersinnen. Ein Videoband mit einer Sendung von David Susskind liefert so viele sprachliche Entgleisungen, daß jeder Englischlehrer damit ein halbes Jahr Sprachanalyse bestreiten könnte.

Doch das Erziehungsministerium ließ sich nicht beirren, offenbar in der Annahme, daß es — um Mrs. Richards noch einmal zu zitieren — zahlreiche Beweise dafür gibt, »daß der Lernerfolg steigt, wenn man die Informationen in einem spannenden Rahmen präsentiert, und daß das Fernsehen hierzu besser geeignet ist als jedes andere Medium«.

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Wollte man Nachsicht walten lassen, so könnte man diese Behauptung irreführend nennen. George Comstock und seine Mitarbeiter haben 2800 Untersuchungen über den Einfluß des Fernsehens auf das Verhalten, unter anderem auch auf die kognitive Verarbeitung, gesichtet und sind nicht imstande, überzeugende Beweise dafür vorzulegen, »daß der Lernerfolg steigt, wenn man die Informationen in einem spannenden Rahmen präsentiert«.2

Die Untersuchungen von Cohen und Salomon, von Meringoff, von Jacoby, Hoyer und Sheluga, von Stauffer, Frost und Rybolt, von Stern, von Wilson, von Newman, von Katz, Adoni und Parness und von Gunter rechtfertigen sogar den entgegengesetzten Schluß.3)  

Jacoby u.a. zum Beispiel stellten fest, daß nur 3,5 Prozent der Zuschauer in der Lage waren, zwölf Fragen zu zwei dreißig Sekunden langen Ausschnitten aus Sendungen im kommerziellen Fernsehen und im Werbefernsehen richtig mit »wahr« oder »falsch« zu beantworten. Stauffer u.a. haben die Reaktion von Studenten auf Nachrichten untersucht, die ihnen durch das Fernsehen, das Radio und in gedruckter Form übermittelt wurden, und dabei festgestellt, daß die gedruckte Form die Zahl der richtigen Antworten auf Fragen zu Personennamen und Zahlen, die in dem Nachrichtenmaterial vorkamen, wesentlich erhöhte. Stern hat berichtet, daß 51 Prozent der Zuschauer sich wenige Minuten, nachdem sie eine Nachrichtensendung im Fernsehen gesehen hatten, an keine einzige Meldung mehr erinnern konnten. Wilson hat nachgewiesen, daß der durchschnittliche Fernsehzuschauer nur 20 Prozent der in einem fiktiven Fernsehnachrichtenbericht enthaltenen Informationen behalten kann.

Katz u.a. fanden heraus, daß sich 21 Prozent der Zuschauer eine Stunde nach einer Nachrichtensendung an keine Meldung mehr erinnern konnten. Auf der Grundlage dieser und anderer Studien ist Salomon zu dem Schluß gelangt, daß »die Bedeutungsinhalte, die man dem Fernsehen entnimmt, eher segmentiert und konkret und so wahrgenommen werden, daß aus ihnen weniger leicht Schlußfolgerungen abgeleitet werden, während Bedeutungsinhalte, die man der Lektüre entnimmt, mit höherer Wahrscheinlichkeit mit dem bereits gespeicherten Wissen verknüpft werden, so daß aus ihnen auch eher Schlußfolgerungen abgeleitet werden können.«4

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Mit anderen Worten, wenn man diesen und vielen anderen ernstzunehmenden Untersuchungen Glauben schenken darf, erhöht das Fernsehen den Lernerfolg nicht wesentlich, es ist dem gedruckten Material unterlegen und jedenfalls weniger als dieses geeignet, ein komplexes, schlußfolgerndes Denken zu fördern.

Doch man sollte die Rhetorik von Projektantragstellern nicht überbewerten. Wir alle neigen dazu, unsere Hoffnungen in vordergründige Behauptungen zu verwandeln, wenn ein wichtiges Projekt auf dem Spiele steht. Im übrigen zweifele ich nicht daran, daß Mrs. Richards uns mehrere Untersuchungen nennen kann, die ihrer Begeisterung Beistand leisten. Wenn man Gelder für den überflüssigen Zweck lockermachen will, Kinder zu veranlassen, noch mehr fernzusehen, als dies ohnehin schon der Fall ist — und ausgerechnet Fernsehspiele —, dann bedarf es allerdings einer Beredsamkeit von herkulischen Graden.

Von größter Bedeutung im Hinblick auf The Voyage of the Mimi ist, daß deren Gegenstände offensichtlich ausgewählt wurden, weil sie sich im Fernsehen hervorragend darstellen lassen. Warum untersuchen diese Schüler das Verhalten von Buckelwalen? Wie entscheidend ist es, daß sie sich mit »wissenschaftlichen Themenbereichen« wie Navigation und Kartenkunde beschäftigen? Bislang galt die Navigationskunst nicht als »wissenschaftlicher Themenbereich«, und für die meisten Schüler in den Großstädten scheint sie in der Tat völlig belanglos zu sein. Wie kommt man zu der Einschätzung, daß »Wale und ihre Umwelt« ein Thema von herausragendem Interesse ist, so daß man ihm ein ganzes Schuljahr widmen sollte?

Ich behaupte, daß The Voyage of the Mimi von jemandem ersonnen wurde, der sich die Frage gestellt hat: Wozu ist das Fernsehen da? und nicht die Frage: Wozu ist Erziehung da? Das Fernsehen ist für Fernsehspiele, Schiffbrüche und Seefahrerabenteuer da, für bärbeißige Kapitäne und Physiker, die sich von prominenten Schauspielern interviewen lassen. Und genau das haben wir in The Voyage of the Mimi bekommen.

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Die Tatsache, daß diese Abenteuerserie von großzügig illustrierten Büchern und Computerspielen begleitet wird, unterstreicht nur, daß die Fernseh­präsentation das Curriculum bestimmt. Die Bücher, deren Bilder die Schüler überfliegen sollen, und die Computerspiele, die sie spielen sollen, werden vom Inhalt der Sendungen diktiert, nicht umgekehrt. Die Bücher, so scheint es, sind heute zum audio-visuellen Hilfsmittel geworden; der wirkliche Träger der Bildungsinhalte ist die Fernsehshow, und ihren Anspruch auf einen bevorzugten Platz im Lehrplan rechtfertigt sie damit, daß sie unterhaltsam ist.

Natürlich kann man Fernsehproduktionen dazu gebrauchen, das Interesse am Unterricht anzuregen, man kann sie sogar in den Mittelpunkt des Unterrichts stellen. Aber hier geschieht etwas anderes: 

Der Inhalt des Lehrplans wird vom Charakter des Fernsehens bestimmt, schlimmer noch, dieser Charakter steht selber nicht auf dem Lehrplan. Man sollte meinen, das Klassenzimmer sei der geeignete Ort, an dem die Schüler sich Gedanken darüber machen können, wie die verschiedenen Medien — auch das Fernsehen — die Einstellungen und die Wahrnehmungen der Menschen beeinflussen. Da unsere Schüler, wenn sie von der High School abgehen, annähernd sechzehntausend Stunden lang ferngesehen haben werden, hätte man — sogar im Erziehungsministerium — sich einmal die Frage stellen können, wer unseren Schülern beibringt, wie man fernsieht, wann man es besser nicht tut, und welche Kritikfähigkeit vorhanden sein sollte, wenn man es tut. 

Das Projekt The Voyage ofthe Mimi umgeht solche Fragen, ja, es hofft, daß sich die Schüler auf die Fernsehspiele in der gleichen Geistesverfassung einlassen, in der sie sich auch St. Elsewhere oder Hill Street Blues ansehen. (Man „darf wohl vermuten, daß die sogenannten »Computerkenntnisse« ebenfalls keine Fragen nach den wahrnehmungsprägenden Strukturen und den sozialen Auswirkungen des Computers umfassen, die doch, wie ich behaupten möchte, zu den wichtigsten Fragen gehören, die man an die neuen Technologien richten muß.)

The Voyage of the Mimi hat also, um es anders auszudrücken, 3,65 Millionen Dollar dafür ausgegeben, die Medien so zu benutzen, wie die Medienhändler es wollen — gedankenlos und ohne sie selbst in den Blick zu nehmen, so als gäbe es die epistemologischen und politischen Tendenzen, die den Medien innewohnen, gar nicht. 

Und was haben die Schüler am Ende gelernt? Gewiß etwas über Wale, vielleicht etwas über Navigation und Kartenlesen, wovon sie das meiste mit anderen Mitteln genausogut hätten lernen können. Aber vor allem haben sie gelernt, daß Lernen eine Form von Unterhaltung ist, genauer gesagt, daß alles, was das Lernen lohnt, die Form von Unterhaltung annehmen kann und annehmen sollte. Sie werden nicht aufbegehren, wenn der Englischlehrer von ihnen verlangt, sie sollen sich die acht Wortarten mittels der Rockmusik einprägen. Oder wenn ihnen ihr Sozialkundelehrer die Tatsachen über den Krieg von 1812 vorsingt. Oder wenn ihnen die Physik auf Keksen oder auf T-Shirts »vermittelt« wird. 

Sie werden gar nichts anderes erwarten und daher ausgezeichnet vorbereitet sein, wenn ihnen Politik, Religion, Nachrichten und Wirtschaftsleben auf die gleiche vergnügliche Art und Weise nahegebracht werden.

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