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1  Das Urteil des Thamus

  Postman-1991

 

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In Platons <Phaidros> findet sich eine Geschichte über Thamus, den König einer großen Stadt in Oberägypten. Für Leute wie uns, die wir uns gern zu Werkzeugen unserer Werkzeuge machen, gibt es kaum einen lehrreicheren Mythos als diesen. Sokrates erzählt den Mythos auf folgende Weise:    wikipedia  Phaidros  (fiktives Gespräch zwischen Sokrates und Phaidros)

Einst hatte Thamus den Gott Theuth zu Gast, der vieles erfunden hatte: die Zahl, das Rechnen, die Geometrie, die Astronomie und das Schreiben. Theuth stellte dem König Thamus seine Erfindungen vor und begehrte, sie sollten den Ägyptern bekannt und zugänglich gemacht werden.

»Thamus fragte, was doch eine jede der Künste für Nutzen gewähre, und je nachdem ihm, was Theuth darüber vorbrachte, richtig oder unrichtig dünkte, tadelte er oder lobte. Vieles nun soll Thamus dem Theuth über jede Kunst dafür und dawider gesagt haben, welches weitläufig wäre alles anzuführen. Als er aber an die Buchstaben gekommen, habe Theuth gesagt: Diese Kunst, o König, wird die Ägypter weiser machen und gedächtnisreicher, denn als ein Mittel für Erinnerung und Weisheit ist sie erfunden.

Jener aber habe erwidert:

O kunstreicher Theuth! Einer weiß, was zu den Künsten gehört, ans Licht zu bringen; ein anderer zu beurteilen, wieviel Schaden und Vorteil sie denen bringen, die sie gebrauchen werden. So hast auch du jetzt, als Vater der Buchstaben, aus Liebe das Gegenteil dessen gesagt, was sie bewirken. Denn diese Erfindung wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für die Erinnerung, sondern nur für das Erinnern hast du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst. Denn indem sie nun vieles gehört haben ohne Unterricht, werden sie sich auch vielwissend zu sein dünken, obwohl sie größtenteils unwissend sind, und sie werden der Gesellschaft eine Bürde sein, nachdem sie dünkelhaft geworden, statt weise.« 

detopia-2023: Kurz zum Verständnis: Thamus spricht zu Theus. Das "hört" Sokrates und erzählt es seinem Freund Phaidros. Platon hört das, schreibt das auf und berichtet es dem Leser(seines "Phaidros"). Dann liest Neil Postman das und erzählt es uns (schriftlich). Und ich habe das abgetippt und erzähle es jetzt dem "detopischen Leser". (Ganz einfach! Das kann Schrift.)

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Ich beginne mein Buch mit diesem Mythos, weil die Antwort des Thamus mehrere sehr vernünftige Prinzipien enthält, die wir uns zunutze machen können, wenn wir mit weiser Umsicht Überlegungen zur technologischen Gesellschaft anstellen wollen. Es gibt im Urteil des Thamus sogar einen Irrtum, aus dem wir etwas Wichtiges lernen können. Dieser Irrtum besteht nicht in der Behauptung, die Schrift werde dem Erinnerungs­vermögen schaden und eine falsche Art von Weisheit hervorbringen. Es läßt sich nämlich zeigen, daß die Schrift diese Wirkung tatsächlich gehabt hat.

Der Irrtum des Thamus besteht vielmehr in der Annahme, die Schrift werde der Gesellschaft eine Bürde sein und sonst nichts. Bei all seiner Weisheit vermag Thamus sich nicht vorzustellen, worin die Vorteile der Schrift bestehen könnten, die, wie wir inzwischen wissen, doch recht beträchtlich sind. Wir erkennen daran, daß es falsch ist, anzunehmen, eine technische Innovation wirke sich nur nach einer Seite aus. Jede Technik ist beides, eine Bürde und ein Segen; es gibt hier kein Entweder-Oder, sondern nur ein Sowohl-Als-auch.

Nun ist dies eigentlich offensichtlich, zumal für jene, die mehr als zwei Minuten über diesen Sachverhalt nachgedacht haben. Und doch sind wir heutzutage von ganzen Scharen eifernder Theuths umgeben, einäugigen Propheten, die nur sehen, was die neuen Technologien zu leisten vermögen, und sich nicht vorstellen wollen, was sie zerstören. Man könnte diese Leute als Technophile bezeichnen. Sie sehen die Technik wie ein Liebhaber seine Geliebte, ohne jeden Makel und ohne Sorge um das, was die Zukunft bringen mag. Deshalb sind sie gefährlich, und man muß sich vor ihnen in acht nehmen.

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Auf der anderen Seite gibt es einäugige Propheten, wie ich einer bin (oder wie man es mir zum Vorwurf macht), die in der Art des Thamus nur über die Lasten sprechen, die die neuen Technologien verursachen, nicht jedoch über die Chancen, die sie eröffnen. Die Technophilen müssen für sich sprechen, und sie tun es landauf, landab. Zu meiner Verteidigung sage ich nur, daß eine abweichende Stimme zuweilen gebraucht wird, um das Getöse zu dämpfen, das die begeisterten Massen veranstalten. Wenn schon irren, dann lieber auf der Seite eines skeptischen Thamus. Denn um einen Irrtum handelt es sich allemal. Ich darf aber darauf hinweisen, daß Thamus, abgesehen von seinem Urteil über die Schrift, diesen Irrtum nicht wiederholt.

Wenn man die ganze Episode noch einmal liest, stellt man fest, daß er sowohl das anführt, was für die Erfindungen Theuths spricht, als auch das, was gegen sie spricht. Denn keine Gesellschaft kommt umhin, sich, sei es auf vernünftige oder auf unvernünftige Weise, mit der Technik auseinanderzusetzen. Es wird ein Handel geschlossen, bei dem die Technik gibt und nimmt. Die Verständigen wissen das, und sie werden sich selten von technischen Wandlungen beeindrucken und nie zur Begeisterung hinreißen lassen. Hier eine Passage aus <Das Unbehagen in der Kultur>, in der sich ein skeptischer Freud zu unserem Thema äußert:

»Man möchte einwenden, ist es denn nicht ein positiver Lustgewinn, ein unzweideutiger Zuwachs an Glücksgefühl, wenn ich beliebig oft die Stimme des Kindes hören kann, das Hunderte von Kilometern entfernt von mir lebt, wenn ich die kürzeste Zeit nach der Landung des Freundes erfahren kann, daß er die lange, beschwerliche Reise gut bestanden hat? Bedeutet es nichts, daß es der Medizin gelungen ist, die Sterblichkeit der kleinen Kinder, die Infektionsgefahr der gebärenden Frauen so außerordentlich herabzusetzen, ja die mittlere Lebensdauer des Kulturmenschen um eine beträchtliche Anzahl von Jahren zu verlängern?«

Freud wußte sehr wohl, daß man technische und wissenschaftliche Fortschritte nicht leicht nehmen darf, und deshalb beginnt er diesen Abschnitt damit, daß er sie anerkennt. Aber er endet mit einem Hinweis auf das, was sie zunichte gemacht haben:

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»Gäbe es keine Eisenbahn, die die Entfernungen überwindet, so hätte das Kind die Vaterstadt nie verlassen, man brauchte kein Telephon, um seine Stimme zu hören. Wäre nicht die Schiffahrt über den Ozean eingerichtet, so hätte der Freund nicht die Seereise unternommen, ich brauchte den Telegraphen nicht, um meine Sorge um ihn zu beschwichtigen. Was nützt uns die Einschränkung der Kindersterblichkeit, wenn gerade sie uns die äußerste Zurückhaltung in der Kinderzeugung aufnötigt, so daß wir im ganzen doch nicht mehr Kinder aufziehen, als in den Zeiten vor der Herrschaft der Hygiene, dabei aber unser Sexualleben in der Ehe unter schwierige Bedingungen gebracht und wahrscheinlich der wohltätigen, natürlichen Auslese entgegengearbeitet haben? Und was soll uns endlich ein langes Leben, wenn es beschwerlich, arm an Freuden und so leidvoll ist, daß wir den Tod nur als Erlöser bewillkommnen können?« 2)

Bei seiner Aufstellung der Kosten des technischen Fortschritts kommt Freud zu einem ziemlich deprimier­enden Ergebnis und würde der These von Thoreau wohl zustimmen, daß unsere Erfindungen nichts weiter sind als verbesserte Mittel zu einem unverbesserten Zweck. Der Technophile würde auf Freuds Einwände sicherlich antworten, das Leben sei schon immer arm an Freuden und leidvoll gewesen, aber das Telephon, der Ozeandampfer und vor allem die Herrschaft der Hygiene hätten das Leben nicht nur verlängert, sondern auch erträglicher und angenehmer gemacht.

Ich jedenfalls würde so argumentieren (und würde damit zugleich zeigen, daß ich kein einäugiger Techno­phobe bin), aber es ist nicht nötig, diesen Gedanken hier weiterzuverfolgen. Ich habe Freud nur zitiert, um zu zeigen, daß der Weise — und selbst einer, der eine so sorgenvolle Miene aufsetzt — seine Kritik an Technik und Technologie beginnen muß, indem er deren Erfolge anerkennt.  

Hätte König Thamus tatsächlich die Weisheit besessen, die man ihm zuschrieb, so hätte er nicht vergessen, seinem Urteil eine Weissagung über die Fähigkeiten beizufügen, die durch das Schreiben entfaltet würden. Eine ausgewogene Kalkulation des technischen Fortschritts erfordert auch einen unparteiischen Maßstab.

Soviel zu dem, was Thamus irrtümlich ausgelassen hat. Es gibt in seinen Überlegungen noch eine zweite Auslass­ung, die aber nicht auf einem Irrtum beruht. Thamus hält es nämlich für selbstverständlich — und deshalb für nicht erwähnenswert —, daß die Schrift keine neutrale Technik ist, deren Nutzen und Nachteil allein davon abhängt, wie man sie gebraucht.

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Er weiß, daß die Art und Weise, wie man von irgendeiner Technik Gebrauch macht, weitgehend durch die Struktur dieser Technik selbst bestimmt wird — mit anderen Worten, daß sich ihre Funktionen Bus ihrer Form ergeben. Deshalb fragt Thamus nicht danach, was die Menschen schreiben werden; ihn interessiert vielmehr, daß sie schreiben werden. Man kann sich schlechterdings nicht vorstellen, daß dieser Thamus nach Art der gewöhnlichen Technophilen von heute behaupten würde, wenn man das Schreiben nur dazu nutzte, bestimmte Arten von Texten anzufertigen, andere hingegen nicht (also zum Beispiel, um Theaterstücke zu schreiben, nicht aber historische oder philosophische Abhandlungen), so könnte die zerrüttende Wirkung des Schreibens auf ein Mindestmaß reduziert werden.

Er würde einen solchen Rat für äußerst naiv halten. Er würde, so denke ich mir, auch damit einverstanden sein, einer Technik den Zugang zu einer Kultur zu verwehren. Aber wir können von Thamus folgendes lernen: Sobald man einer Technik den Zugang gewährt, spielt sie alles aus, was sie bei sich hat; sie tut, wozu sie bestimmt ist. Unsere Aufgabe ist es, zu erkennen, worin diese Bestimmung besteht — anders gesagt, wenn wir einer neuen Technik den Zugang zu unserer Kultur gewähren, dann müssen wir dies mit offenen Augen tun.

So viel können wir aus dem erschließen, was Thamus nicht sagt. Noch mehr allerdings können wir dem entnehmen, was er ausdrücklich sagt. 

Er weist zum Beispiel darauf hin, daß das Schreiben die Bedeutung von Wörtern wie »Erinnerung« und »Weisheit« verändert. Er fürchtet, man könnte die Erinnerung mit dem verwechseln, was er verächtlich als bloßes »Erinnern« bezeichnet, und ist besorgt darüber, daß Weisheit und bloßes Bescheidwissen schließlich ununterscheidbar werden könnten. Dieses Urteil müssen wir uns gut einprägen, denn radikale Techniken oder Technologien bringen tatsächlich neue Definitionen alter Begriffe hervor, und dies geschieht, ohne daß wir uns dessen vollständig bewußt wären. Insofern hat es etwas Tückisches und Gefährliches an sich, ganz anders als der Prozeß, in dessen Verlauf neue Technologien zur Herausbildung neuer Wörter führen.

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In unserer Zeit haben wir unserer Sprache ganz bewußt Tausende von neuen Wörtern und Wendungen einverleibt, die mit neuen Technologien zu tun haben — »Videorecorder«, »Binärziffer«, »Software«, »Vorderachsantrieb«, »Walkman« usw. Dieser Vorgang vollzieht sich nicht unmerklich, sondern vor unseren Augen. Neue Dinge erfordern neue Wörter. Aber neue Dinge modifizieren auch alte Wörter, Wörter, die tiefverwurzelte Bedeutungen besitzen. Der Telegraph und die Massenpresse haben das, was wir früher unter »Bildung« oder »Information« verstanden haben, verändert. Das Fernsehen hat verändert, was wir früher unter »politischer Debatte«, »Nachricht« und »öffentlicher Meinung« verstanden haben.

Und der Computer verändert das Wort »Information« noch einmal. Das Schreiben hat verändert, was wir früher unter »Wahrheit« und »Recht« verstanden haben; der Buchdruck hat diese Begriffe noch einmal verändert, und heute werden sie durch das Fernsehen und den Computer aufs neue modifiziert. Solche Wandlungen vollziehen sich schnell, nachhaltig und obendrein in der Stille. Lexikographen veranstalten keine Volksabstimmungen zu diesen Fragen. Handbücher verzeichnen nicht, was sich da abspielt, und die Schulen bekommen es nicht mit. 

Die alten Wörter sehen immer noch genauso aus wie früher, sie werden noch immer in den gleichen Arten von Sätzen verwendet. Aber sie haben nicht mehr die gleiche Bedeutung; in manchen Fällen hat sich diese Bedeutung sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Und dies will Thamus uns lehren — daß die Technik ein unnachgiebiges Kommando über unsere wichtigsten Begriffe führt, daß sie neue Definitionen für »Freiheit«, »Wahrheit«, »Intelligenz«, »Tatsache«, »Weisheit«, »Erinnerung«, »Geschichte« hervorbringt — lauter Wörter, durch die und in denen wir leben. Sie nimmt sich allerdings nicht die Zeit, uns dies mitzuteilen. Und wir nehmen uns nicht die Zeit, danach zu fragen.

Diese Erscheinung im Zusammenhang mit dem technischen Wandel verlangt eine eingehende Betrachtung, und ich werde in einem späteren Kapitel darauf zurückkommen. Hier möchte ich zunächst noch einige andere Grundsätze nennen, die man dem Urteil des Thamus entnehmen kann und die erwähnt werden müssen, weil in ihnen all das anklingt, worüber ich im folgenden schreiben werde. Thamus warnt zum Beispiel davor, daß die Schüler des Theuth unverdient in den Ruf der Weisheit geraten könnten.

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Er will damit sagen, daß jene, die Kompetenz im Umgang mit einer neuen Technologie entwickeln, zu einer Elitegruppe werden und daß dieser Gruppe von denen, die eine solche Kompetenz nicht besitzen, eine unverdiente Autorität und ein unverdientes Ansehen zugesprochen wird. Die interessanten Auswirkungen davon lassen sich auf verschiedene Weise formulieren. Harold Innis, der Vater der modernen Komm­unik­ations­forschung, sprach mehrfach davon, daß wichtige Technologien »Wissensmonopole« erzeugen. Er meinte damit genau das, was auch Thamus im Sinne hatte: diejenigen, die das Funktionieren einer bestimmten Technologie kontrollieren, häufen Macht an und bilden unweigerlich eine Art von Verschwörung gegen all jene, die keinen Zugang zu dem von der Technologie verfügbar gemachten Spezialwissen haben.

In seinem Buch The Bias of Communication führt er viele historische Beispiele dafür an, wie eine neue Techno­logie ein überkommenes Wissensmonopol »gesprengt« und ein neues geschaffen hat, das nun in der Hand einer anderen Gruppe liegt. Man könnte auch sagen: Nutzen und Nachteile einer neuen Technologie sind nicht gleichmäßig verteilt. Es gibt jedesmal gleichsam Gewinner und Verlierer. Und es ist ebenso irritierend wie beklemmend, daß in der Vergangenheit die Verlierer aus schierer Ahnungslosigkeit den Gewinnern oft Beifall gespendet haben. Einige tun dies heute noch.

Nehmen wir zum Beispiel das Fernsehen. In den Vereinigten Staaten, wo sich das Fernsehen tiefer eingewurzelt hat als irgendwo sonst, halten viele Menschen es für einen Segen, nicht zuletzt diejenigen, die im Fernsehen eine hochbezahlte, für sie höchst befriedigende Karriere als Angestellte, Techniker, Nachrichten­sprecher und Entertainer gemacht haben. Es braucht niemanden zu wundern, wenn diese Leute, die faktisch ein neues Wissensmonopol bilden, sich selbst bejubeln, wenn sie die Fernsehtechnologie verteidigen und propagieren.

Auf der anderen Seite könnte das Fernsehen der Karriere von Lehrern auf lange Sicht ein Ende bereiten, denn die Schule war eine Erfindung der Druckpresse, und sie steht oder fällt mit der Frage, welche Bedeutung man dem gedruckten Wort beimißt. Vierhundert Jahre lang hatten die Lehrer Anteil an dem vom Buchdruck erzeugten Wissensmonopol, und nun erleben sie, wie dieses Monopol zerbricht.

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Es scheint, daß sie gegen dieses Zerbrechen wenig auszurichten vermögen, aber geradezu grotesk mutet es an, wenn Lehrer angesichts dessen, was da vor sich geht, Begeisterung bekunden. Solche Begeisterung erinnert mich an die Geschichte von dem Hufschmied aus der Zeit um die Jahrhundertwende, der nicht nur ein Loblied auf das Automobil sang, sondern auch fest davon überzeugt war, daß sein Berufszweig vom Auto profitieren werde; statt dessen wurde er überflüssig gemacht, wie klarer sehende Hufschmiede wohl schon bald hätten erkennen können. Was sie dagegen hätten tun können? Vielleicht nichts, es sei denn weinen.

In einer ähnlichen Situation befinden wir uns angesichts der Entwicklung und Verbreitung der Computer­technologie, denn auch hier gibt es Gewinner und Verlierer. Es steht außer Zweifel, daß der Computer die Macht von Großorganisationen, etwa der Streitkräfte, der Fluggesellschaften, der Banken oder der Steuerbehörden, gesteigert hat. Und ebenso klar ist, daß der Computer für die Mitarbeiter in physikalischen oder anderen naturwissenschaftlichen Großforschungsprojekten heute unentbehrlich ist. 

Aber inwiefern war die Computertechnologie für die große Masse der Bevölkerung von Vorteil?

Für Stahl­arbeiter, Gemüse­händler, Lehrer, Automechaniker, Musiker, Maurer, Zahnärzte und für die meisten anderen, in deren Leben der Computer immer stärker eindringt? Ihre Privatangelegenheiten sind für die Instanzen der Macht leichter zugänglich geworden. Sie selbst sind leichter zu ermitteln und zu kontrollieren und werden häufiger überprüft; sie verstehen die über sie getroffenen Entscheidungen immer weniger; und oft werden sie zu bloßen Nummern reduziert. Eine Flut von Müllpost ergießt sich über sie. Für Werbeagenturen und politische Organisationen sind sie zu einer leichten Beute geworden. Die Schulen lehren die Kinder, mit computerisierten Systemen umzugehen, statt ihnen Dinge beizubringen, die für die Kinder viel wichtiger wären. Kurzum, fast nichts von dem, was sie wirklich brauchen, wird den Verlierern zuteil. Und ebendeshalb sind sie Verlierer.

Es ist nicht verwunderlich, daß die Gewinner versuchen, die Verlierer für die Computertechnologie zu begeistern. Gewinner verfahren so, und deshalb versichern sie den Verlierern immer wieder, daß jeder normale Mensch mit Hilfe eines Personal Computers sein Konto übersichtlicher führen, seine Quittungen besser ablegen und seine Einkaufzettel sinnvoller gliedern kann.

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Sie erklären ihnen auch, daß sie ihr Leben effizienter gestalten können. Doch dabei gehen sie still­schweig­end über die Frage hinweg, aus wessen Perspektive diese Effizienz wünschenswert erscheint und wie hoch ihr Preis ist. Wenn sich die Verlierer trotzdem skeptisch zeigen, blenden die Gewinner sie mit den Wunderdingen, zu denen die Computer imstande sind. Doch für das Leben der Verlierer und dessen Qualität sind fast alle diese Leistungen nur von untergeordneter Bedeutung, auch wenn sie beeindruckend wirken. Und schließlich geben die Verlierer nach, zum Teil auch deshalb weil sie, wie Thamus es prophezeit hat, das Spezialwissen derer, die eine neue Technologie beherrschen, für eine Form von Weisheit halten. Die Herren der neuen Technologie sind, wie Thamus es prophezeit hat, von ihrer eigenen Weisheit ebenfalls überzeugt. Und so kommt es, daß bestimmte Fragen nicht gestellt werden. Zum Beispiel die Frage, wem die Technologie mehr Macht und mehr Freiheit gibt. Und wessen Macht oder wessen Freiheit durch sie eingeschränkt wird.

In meiner Darstellung hört sich das vielleicht an, als ginge es hier um eine sorgfältig geplante Verschwörung, als wüßten die Gewinner nur zu genau, was da gewonnen und was verloren wird. Aber ganz so verhält es sich nicht. Zum einen neigt in Kulturen mit einem demokratischen Ethos, mit relativ schwachen Bindungen an die Tradition und einer hohen Aufnahmebereitschaft gegenüber neuen Technologien jeder dazu, sich für den technologischen Wandel zu begeistern, und jeder glaubt, dessen Vorteile würden sich zuletzt gleichmäßig auf die gesamte Bevölkerung verteilen. Vor allem in den Vereinigten Staaten, wo die Gier nach dem Neuen grenzenlos scheint, ist diese kindliche Überzeugung weit verbreitet. 

Überhaupt wird in Amerika kaum wahr­genommen, daß es bei gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, gleich welcher Art, fast immer Gewinner und Verlierer gibt. Das hängt zum Teil mit dem ausgeprägten Optimismus der Amerikaner zusammen. Im Falle des technologisch bedingten Wandels wird dieser angestammte Optimismus von Unternehmern ausgebeutet, die alles daransetzen, in der Bevölkerung die unwahr­schein­lichsten Hoffnungen zu wecken, denn sie wissen, daß es ökonomisch unklug ist, den Preis zu nennen, der für den technologischen Wandel gezahlt werden muß. Wenn es also eine Verschwörung gibt, dann die Verschwörung einer Kultur gegen sich selbst.

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Außerdem, und dies scheint mir noch wichtiger, ist zumindest in den frühen Phasen des Eindringens einer Technologie in eine Kultur nicht immer klar, wer durch sie vor allem gewinnen und wer vor allem verlieren wird. Dies liegt daran, daß die von der Technologie bewirkten Veränderungen sehr subtil, wenn nicht geradezu geheimnisvoll und im wesentlichen nicht vorhersagbar sind. Zu denen, die sich am allerwenigsten vorhersagen lassen, gehören diejenigen, die man als ideologische Veränderungen bezeichnen könnte. An sie dachte Thamus, als er davor warnte, daß sich die Schreibenden nur äußerlich, vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich, aus sich selbst und unmittelbar erinnern würden und daß sie vieles gehört haben und sich vielwissend dünken ohne Unterricht. Er war der Meinung, daß neue Technologien das verändern, was wir unter »Bescheid­wissen« und »Wahrheit« verstehen; sie verändern jene tief verankerten Denkgewohnheiten, die das Bild prägen, das sich eine Kultur von der Welt macht — ihre Auffassung davon, wie die natürliche Ordnung der Dinge beschaffen ist, was vernünftig, was notwendig, was unvermeidlich, was wirklich ist. 

Da solche Veränderungen in Bedeutungsverschiebungen alter Wörter zum Ausdruck kommen, möchte ich die Erörterung der massiven ideologischen Wandlungen, die sich heute in den Vereinigten Staaten vollziehen, auf ein späteres Kapitel verschieben. Hier möchte ich zunächst nur ein Beispiel dafür nennen, wie eine Technologie neue Vorstellungen davon, was wirklich ist, erzeugt und im gleichen Zuge ältere Vorstellungen untergräbt. Ich meine die scheinbar harmlose Praxis, Antworten, die Schüler und Studenten bei Prüfungen geben, mit Noten oder Zensuren zu versehen. Diese Prozedur scheint den meisten von uns selbst­verständlich, so daß wir uns ihrer Bedeutung kaum bewußt sind. Vielleicht fällt es uns sogar schwer, zu begreifen, daß die Zahl oder die Zensur überhaupt ein Werkzeug oder, wenn man so will, eine Technologie ist; mehr noch, daß wir etwas durchaus Seltsames tun, wenn wir eine solche Technologie anwenden, um das Verhalten eines anderen zu beurteilen.

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Zum erstenmal wurden Aufsätze von Studenten im Jahre 1792 an der Universität Cambridge mit Noten bewertet, und zwar auf Vorschlag eines Tutors namens William Farish.3 Viel ist über diesen Farish nicht bekannt; nicht mehr als eine Handvoll Leute hat je von ihm gehört. Und doch markierte seine Idee, menschlichen Gedanken einen quantitativen Wert beizumessen, einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Konstruktion eines mathematischen Wirklichkeitsbegriffs. Wenn man die qualitative Beschaffenheit eines Gedankens mit einer Zahl versehen kann, dann kann man auch die qualitative Beschaffenheit von Mitleid, Liebe, Haß, Schönheit, Intelligenz und selbst die geistige Gesundheit mit einer Zahl versehen.

Als Galilei erklärte, die Sprache der Natur sei die Sprache der Mathematik, dachte er nicht daran, die Sphäre menschlicher Gefühle, Leistungen und Erkenntnisse in diesen Gedanken einzuschließen. Heutzutage jedoch sind die meisten von uns hierzu durchaus bereit. Unsere Psychologen, Soziologen und Pädagogen würden es für unmöglich halten, ihre Arbeit ohne Zahlen zu verrichten. Sie glauben, ohne Zahlen könnten sie zuverlässiges Wissen weder erlangen noch zum Ausdruck bringen.

Ich will hier nicht behaupten, daß diese Vorstellung dumm oder gefährlich sei, ich sage nur: sie ist seltsam. Und noch seltsamer ist, daß viele von uns an dieser Vorstellung durchaus nichts Seltsames finden. Die Aussage, jemand müßte eigentlich bessere Leistungen erbringen, weil er einen IQ von 134 hat, oder jemand bringe es auf der Sensibilitätsskala zu einem Wert von 7,2, oder der Aufsatz dieses Menschen über den Aufstieg des Kapitalismus sei »Eins Minus«, der Aufsatz jenes anderen hingegen »Drei Plus«, wäre Leuten wie Galilei, Shakespeare oder Thomas Jefferson als purer Nonsens erschienen. Wenn wir einen Sinn darin erkennen, dann deshalb, weil unser Denken durch die Technologie der Zahlen so stark geprägt ist, daß wir die Welt anders wahrnehmen als sie. Unser Begriff von dem, was wirklich ist, ist ein anderer. Und das heißt: in jedem Werkzeug steckt eine ideologische Tendenz, eine Neigung, die Welt so und nicht anders zu konstruieren, bestimmte Dinge höher zu bewerten als andere, einer bestimmten Auffassung, einer bestimmten Fertigkeit, einer bestimmten Einstellung mehr Gewicht beizumessen als anderen.

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Dies meinte Marshall McLuhan mit seinem berühmten Aphorismus »Das Medium ist die Botschaft«. Dies meinte Marx, als er erklärte, die Technik offenbare die Art und Weise des Umgangs der Menschen mit der Natur und erzeuge die »Verkehrsformen«, durch die sie miteinander in Beziehung treten. Dies meinte Wittgenstein, als er im Hinblick auf unsere elementarste Technologie erklärte, die Sprache sei nicht bloß das Fahrzeug des Gedankens, sondern auch der Fahrer selbst. Und dies wollte Thamus dem Erfinder Theuth klarmachen. Kurz, es handelt sich hier um eine alte Weisheit, die vielleicht am einfachsten in dem alten Sprichwort zum Ausdruck kommt: »Wer einen Hammer hat, sieht überall Nägel.« Vielleicht darf man diese Weisheit ausweiten: Wer einen Bleistift hat, sieht überall Listen. Wer eine Kamera hat, sieht überall Bilder. Wer einen Computer hat, sieht überall Daten. Und wer ein Zeugnisformular hat, sieht überall Zahlen.

Aber solche Tendenzen sind nicht immer schon offenkundig, wenn sich eine Technologie auf den Weg ihrer Entwicklung macht, und deshalb kann niemand zielsicher daraufhinarbeiten, daß er am Ende als Sieger aus dem technologischen Wandel hervorgeht. Wer hätte im voraus gewußt, wessen Interessen und welcher Weltsicht die Erfindung der mechanischen Uhr letztlich Vorschub leisten würde? 

Die Uhr hat ihren Ursprung in den Benediktinerklöstern des 12. und 13. Jahrhunderts. Hinter ihrer Erfindung stand der Wunsch, dem Tageslauf im Kloster, der sieben Perioden der Andacht umfaßte, eine mehr oder minder präzise Regelmäßigkeit aufzuprägen. Das Läuten der Klosterglocken sollte die kanonischen Stunden anzeigen; die mechanische Uhr war die Technik, die diesen Andachtsritualen Präzision verleihen konnte. Und sie tat dies auch. Die Mönche sahen indessen nicht voraus, daß die Uhr ein Instrument ist, mit dem sich nicht nur die Zeit messen läßt, mit dem man vielmehr auch das Handeln von Menschen synchronisieren und kontrollieren kann. Und so kam es, daß die Uhr um die Mitte des 14. Jahrhunderts das Kloster verließ und dem Leben des Arbeiters und des Kaufmanns eine neuartige, harte Regelmäßigkeit vorschrieb. »Die mechanische Uhr«, meinte Lewis Mumford, »machte die Idee der regelmäßigen Produktion, der regelmäßigen Arbeitszeit und des standardisierten Produkts überhaupt erst möglich.«4

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Das Paradoxe und Überraschende liegt darin, daß die Uhr von Menschen erfunden wurde, die sich mit vermehrter Inbrunst Gott widmen wollten; doch schließlich wurde aus ihr eine Technologie, die denen den größten Nutzen brachte, die sich voller Inbrunst der Anhäufung von Geld widmen wollten. In dem ewigen Kampf zwischen Gott und Mammon begünstigte die Uhr auf eine ziemlich unvorhersehbare Weise den Mammon.

Unvorhergesehene Konsequenzen treten immer wieder als Hindernisse denen in den Weg, die meinen, sie könnten die Richtung, in der eine neue Technologie uns lenkt, deutlich erkennen. Selbst die Erfinder solcher neuen Technologien soll man, wie Thamus warnend anmerkt, in diesem Fall nicht für verläßliche Propheten halten. Gutenberg zum Beispiel war nach allem, was man weiß, ein frommer Katholik, und er wäre entsetzt gewesen, hätte er gehört, wie der fluchwürdige Häretiker Luther den Buchdruck als höchste Gnade Gottes pries, durch die das Werk des Evangeliums befördert werde. Im Unterschied zu Gutenberg begriff Luther, daß das in Massen produzierte Buch, indem es Gottes Wort auf jeden Küchentisch brachte, jeden Christen zu seinem eigenen Theologen erhob — man könnte sogar sagen: zu seinem eigenen Priester oder, aus Luthers Blickwinkel, geradezu zu seinem eigenen Papst. Im Kampf zwischen religiöser Einheit und religiöser Vielfalt begünstigte der Buchdruck die Vielfalt, und wir dürfen vermuten, daß Gutenberg diese Möglichkeit nie in den Sinn gekommen ist.

Thamus hat sehr genau verstanden, daß die Erfinder nur in begrenztem Maße die gesellschaftlichen und psychologischen — das heißt, ideologischen — Tendenzen ihrer Erfindungen zu erfassen vermögen. Man könnte sich vorstellen, daß er sich mit folgenden Worten an Gutenberg wendet: »Gutenberg, du Muster von einem Erfinder! Der Entdecker einer Kunst ist nicht der beste Richter über Nutzen und Nachteil, der denen erwächst, die sich ihrer bedienen. So auch hier; du, der Vater der Druckpresse, glaubst aus Liebe zu deiner Erfindung, daß sie die Sache des Heiligen Stuhls befördern wird, während sie in Wirklichkeit Zwietracht zwischen den Gläubigen säen, die Glaubwürdigkeit deiner geliebten Kirche erschüttern und ihr Monopol zerstören wird.«

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Man könnte sich vorstellen, daß Thamus Gutenberg auch darauf aufmerksam macht, wie er es bei Theuth getan hat, daß die neue Erfindung eine große Menge von Lesern hervorbringt, die »vieles gehört haben ohne Unterricht« und die zuletzt »dünkelhaft werden statt weise«; daß also das Lesen in eine Konkurrenz zu anderen, älteren Formen der Gelehrsamkeit gerät. Tatsächlich ist dies ein weiteres Prinzip des technologischen Wandels, das wir dem Urteil des Thamus entnehmen können: neue Technologien konkurrieren mit alten — um Zeit, um Aufmerksamkeit, um Geld, um Prestige, aber vor allem um die Vorherrschaft ihrer Weltdeutung.

Diese Konkurrenz entsteht notwendigerweise, wenn man einräumt, daß jedem Medium eine bestimmte ideo­logische Tendenz innewohnt. Und sie wird so heftig ausgetragen, wie dies nur bei ideologischen Auseinander­setzungen der Fall ist. Es geht dabei nicht bloß um den Kampf zwischen verschiedenen Werkzeugen oder Instrumenten — das Alphabet im Kampf mit der Bilderschrift, die Druckpresse im Kampf mit der illuminierten Handschrift, die Photographie im Kampf mit der Malerei, das Fernsehen im Kampf mit dem gedruckten Wort. Wenn Medien gegeneinander Krieg führen, dann prallen Weltbilder aufeinander.

In den Vereinigten Staaten können wir solche Zusammenstöße überall beobachten — in Politik, Religion und Wirtschaft, aber am deutlichsten sichtbar sind sie in den Schulen, wo zwei große Technologien im Streit um die Herrschaft über das Denken der Schüler einander unnachgiebig gegenüberstehen. Auf der einen Seite die Welt des gedruckten Worts mit ihrer Betonung von Logik, Folgerichtigkeit, Historie, gegliederter Darstellung, Objektivität, Distanz und Disziplin. Auf der anderen Seite die Welt des Fernsehens mit ihrer Betonung der Bildlichkeit und des Anekdotischen sowie von Augenblicklichkeit, Gleichzeitigkeit, Intimität, unmittelbarer Befriedigung und schneller emotionaler Reaktion.

Heute kommen Kinder zur Schule, die von den Tendenzen des Fernsehens schon tief geprägt sind. Dort stoßen sie nun auf die Welt des gedruckten Wortes. Es kommt zu einer Art innerpsychischer Schlacht, und dabei sind viele Opfer zu verzeichnen — Kinder, die nicht lesen lernen können oder wollen, Kinder, die ihren Gedanken auch innerhalb eines kurzen Abschnitts keine logische Struktur zu geben vermögen, Kinder, die einem Vortrag oder mündlichen Erklärungen nicht länger als ein  paar Minuten folgen können.

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Sie sind Versager — nicht, weil sie dumm sind. Sie sind Versager, weil ein Medienkrieg im Gange ist, in dem sie auf der falschen Seite stehen — zumindest für den Augenblick. Wer weiß, wie die Schulen in fünfundzwanzig Jahren aussehen werden? Oder in fünfzig? Irgendwann wird der Typus des Schülers, der heute ein Versager ist, vielleicht als erfolgreich angesehen, und der Typus, der heute erfolgreich ist, als lernbehindert gelten — in seinen Reaktionen langsam, viel zu distanziert, emotionslos, nicht imstande, sich Bilder von der Wirklichkeit auszumalen. Man bedenke: was Thamus »dünkelhaft statt weise« nannte — das uneigentliche, durch das geschriebene Wort erworbene Wissen —, ist schließlich zur vorherrschenden, von der Schule bevorzugten Wissensform geworden. Aber es gibt keinen Grund, anzunehmen, daß diese Wissensform den Wert, den man ihr heute beimißt, immer behalten muß.

Ein anderes Beispiel: Mit der Einführung des Personal Computers im Klassenzimmer werden wir einen vierhundert­jährigen Burgfrieden zwischen einer durch das mündliche Gespräch geförderten Geselligkeit und Offenheit einerseits und einer durch das gedruckte Wort geförderten Introspektion und Isolation andererseits zerbrechen. Die Mündlichkeit stellt das Lernen in der Gruppe in den Vordergrund, die Kooperation, den Sinn für soziale Verantwortung, also jene Elemente, die nach Meinung des Thamus den Kontext bilden, in dem wirklicher Unterricht und wirkliches Wissen vermittelt werden sollten. Der Buchdruck stellt das individualisierte Lernen, den Wettbewerb und die individuelle Autonomie in den Vordergrund. Vierhundert Jahre lang haben die Lehrer, obwohl sie dem Buchdruck den Vorrang einräumten, der Mündlichkeit ihren Platz im Klassenzimmer belassen und damit eine Art von pädagogischem Frieden zwischen diesen Lernformen hergestellt und das, was beide an Wertvollem enthalten, auf diese Weise noch gesteigert. Jetzt kommt der Computer hinzu und propagiert auf seine Weise ebenfalls das isolierte Lernen und die individuelle Problemlösung. Wird die Ausbreitung des Computers dem gemeinsamen Gespräch nun ein für allemal den Boden entziehen? Wird der Computer den Egozentrismus zur Tugend erheben?

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Solche Fragen wirft der technologische Wandel auf, wenn man einmal, wie Thamus, begriffen hat, daß die Konkurrenz zwischen verschiedenen Technologien einen totalen Krieg entfacht, daß es mithin nicht möglich ist, die Auswirkungen einer neuen Technologie auf einen bestimmten Bereich menschlichen Handelns einzuschränken. Falls der Vergleich mit dem Krieg den Sachverhalt zu brutal darstellt, können wir auch behutsamer, freundlicher formulieren: Technologischer Wandel ist weder additiv noch subtraktiv. Er ist ökologisch. Ich benutze das Wort »ökologisch« in dem gleichen Sinne wie die Umweltforscher.

Eine einzige bedeutsame Veränderung zieht eine vollständige Veränderung nach sich. Wenn man aus einem bestimmten Lebensraum die Raupen entfernt, dann hat man nachher nicht diesen Lebensraum, abzüglich der Raupen: man hat einen anderen Lebensraum, in dem sich die Überlebensbedingungen neu formiert haben; das gleiche gilt, wenn man Raupen in eine Umgebung bringt, in der es bisher keine gab. Genauso funktioniert auch die Medienökologie. Eine neue Technologie fügt nichts hinzu und zieht nichts ab. Sie verändert vielmehr alles. 

 

Im Jahre 1500, fünfzig Jahre nach der Erfindung der Druckpresse, gab es nicht das alte Europa plus der Druckpresse, sondern ein anderes Europa. Nach dem Aufkommen des Fernsehens waren die Vereinigten Staaten kein Amerika plus Fernsehen, vielmehr gab das Fernsehen jedem Wahlfeldzug, jedem Zuhause, jeder Schule, jeder Kirche und jedem Industriezweig eine neue Färbung. Und aus ebendiesem Grund wird die Auseinandersetzung zwischen den Medien mit solcher Heftigkeit geführt. 

Jede Technologie ist von Institutionen umlagert, deren Aufbau — und natürlich auch deren bloße Existenz — die von dieser Technologie propagierte Weltsicht widerspiegelt. Wenn also eine alte Technologie von einer neuen attackiert wird, dann werden Institutionen bedroht. Wenn Institutionen bedroht werden, dann gerät eine Gesellschaft in die Krise. Das ist eine ernste Sache, aber wir erfahren nichts darüber, wenn Pädagogen fragen: Erlernen unsere Schüler und Studenten die Mathematik besser mit Hilfe von Computern oder mit Hilfe von Lehrbüchern? Oder wenn Geschäftsleute fragen: Können wir über das Fernsehen mehr Menschen erreichen als über das Radio? Oder wenn Politiker fragen: Wie effektiv lassen sich bestimmte Botschaften durch die verschiedenen Medien verbreiten?

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Solche Fragen haben einen unmittelbaren, praktischen Wert für diejenigen, die sie stellen, aber sie lenken vom Kern des Problems ab. Sie lenken unsere Aufmerksamkeit von den ernsten gesellschaftlichen, geistigen und institutionellen Krisen ab, die von den neuen Medien hervorgerufen werden.

Vielleicht läßt sich dies mit einem Vergleich verdeutlichen. 

Über die Bedeutung von dichterischen Texten hat T.S. Eliot einmal gesagt, der manifeste Inhalt eines Gedichts sei vor allem dazu da, »eine Gewohnheit des Lesers zu befriedigen, seinen Verstand abzulenken und ruhig zu halten, während das Gedicht auf ihn einwirkt: ungefähr so wie jeder Einbrecher in unserer Phantasie ein ordentliches Stück Fleisch für den Haushund dabeihat«. Mit anderen Worten, indem Erzieher, Unternehmer, Prediger und Politiker ihre praktischen Fragen stellen, gleichen sie jenem Haushund, der friedlich an seinem Fleischstück nagt, während das Haus geplündert wird. Einige von ihnen wissen dies vielleicht sogar, doch sie machen sich nichts daraus. Ein schönes Stück Fleisch, freundlich dargeboten, enthebt sie immerhin der Sorge um die nächste Mahlzeit. Aber wir anderen können nicht hinnehmen, daß jemand in das Haus eindringt, ohne daß sich Protest erhebt oder ohne daß es überhaupt bemerkt wird.

Die Überlegungen, die wir im Hinblick auf den Computer anstellen müssen, haben nichts mit seiner Effizienz als Lehr- oder Lerninstrument zu tun. Wir müssen herausfinden, wie er in unsere Auffassung von Lernen und Bildung eingreift und wie er zusammen mit dem Fernsehen die alte Idee der Schule erschüttert. Wen kümmert es, wieviel Schachteln Haferflocken sich über das Fernsehen verkaufen lassen?

Wir müssen herausfinden, ob das Fernsehen unsere Wirklichkeitsauffassung, die Beziehung zwischen Reichen und Armen, unsere Vorstellung von Glück selbst antastet. Ein Prediger, der sich darauf beschränkt, zu überlegen, wie ein Medium die Zahl seiner Zuhörer vergrößern kann, verfehlt die zentrale Frage: In welchem Sinne verändern die neuen Medien das, was mit Religion, mit Kirche und selbst mit Gott gemeint ist? Und wenn der Politiker außerstande ist, über die nächsten Wahlen hinauszudenken, dann müssen eben wir uns fragen, was die neuen Medien aus unserer Idee von Politik und unserer Auffassung vom Staatsbürger machen.

Hierbei hilft uns das Urteil des Thamus, der uns in Form eines Mythos etwas lehrt, das auch Harold Innis auf seine Weise mitzuteilen versuchte. Neue Technologien verändern die Struktur unserer Interessen — die Dinge, über die wir nachdenken. Sie verändern die Beschaffenheit unserer Symbole — die Dinge, mit denen wir denken. Und sie verändern das Wesen der Gemeinschaft — die Arena, in der sich Gedanken entfalten. 

Über diese Fragen haben Thamus und Innis über die Jahrhunderte hinweg miteinander gesprochen, und es kommt darauf an, daß wir ihrem Gespräch folgen, daß wir daran teilnehmen und es mit neuem Leben erfüllen. Denn in Amerika ist etwas geschehen, etwas Sonderbares und zugleich Gefährliches, aber bisher hat man es nur mit einem gelangweilten und sogar stupiden Blinzeln wahrgenommen — nicht zuletzt deshalb, weil es keinen Namen hat. 

Ich nenne es: das Technopol. 

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