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2  Von der Werkzeugkultur zur Technokratie 

Neil Postman 1991

 

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Zu den bekannten Sätzen aus der immer wieder aufstörenden Feder von Karl Marx gehört die Bemerkung in <Das Elend der Philosophie>: Der Handweb­stuhl bringe eine Gesellschaft mit einem Feudalherrn hervor, der mechanische Webstuhl hingegen eine Gesellschaft mit einem Industrie­kapitalisten. 

Soweit ich weiß, hat Marx uns nicht gesagt, welche Technologie den Technokraten hervorbringt, und ich bin sicher, daß er an den Auftritt des Technopolisten nie gedacht hat. Dennoch ist seine Bemerkung nützlich. 

Marx hat verstanden, daß Technologien, über ihre ökonomischen Auswirkungen hinaus, die Formen hervorbringen, in denen die Menschen Wirklichkeit wahrnehmen, und daß diese Wahrnehmungsformen ein Schlüssel sind, um die verschiedenen Formen des gesellschaftlichen und geistigen Lebens zu begreifen. In der Deutschen Ideologie sagt er: »Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie«, was den Aussagen von Marshall McLuhan oder auch denen von Thamus denkbar nahe kommt.

In der Einleitung zu den Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie findet sich ein Absatz, der ebensogut in McLuhans Buch Die magischen Kanäle / Understanding Media stehen könnte: »Ist Achilles«, so fragt Marx, »möglich mit Pulver und Blei? Oder überhaupt die Iliade mit der Druckerpresse, und gar Druckmaschine? Hört das Singen und Sagen und die Muse mit dem Preßbengel nicht notwendig auf, also verschwinden nicht notwendige Bedingungen der epischen Poesie?« 1) 

Indem er technologische Bedingungen in ein Verhältnis zur Sphäre der Symbole und zu den psychischen Gewohnheiten setzte, tat Marx nichts Ungewöhnliches. Schon vor ihm hatten es Gelehrte für nützlich gehalten, anhand des technologischen Charakters der verschiedenen Zeitalter verschiedene Kulturstufen voneinander abzugrenzen. Und heute tun sie es immer noch, denn der Entwurf solcher Rangfolgen ist ein fester Bestandteil wissenschaftlicher Tätigkeit. Sofort denken wir an die bekannteste Klassifikation: Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit und Stahlzeit.

Wir sprechen von der »industriellen Revolution« — Arnold Toynbee hat diesen Begriff populär gemacht — und neuerdings mit Daniel Bell von der »post-industriellen Revolution«. Oswald Spengler schrieb über das Zeitalter der Maschinenkultur, und C.S. Peirce bezeichnete das 19. Jahrhundert als das Zeitalter der Eisenbahn. Lewis Mumford schenkte uns im Blick auf längere Entwicklungszeiträume das »eotechnische«, das »paläotechnische« und »neotechnische« Zeitalter. Und aus einer ähnlichen Fernrohrperspektive unterschied Jose Ortega y Gasset in der Entwicklung der Technik drei Stufen: das Zeitalter der Technik des Zufalls, das Zeitalter der Technik des Handwerkers und das Zeitalter der Technik des Technikers. Walter Ong unterschied »orale«, »chirographische« — (schön schreibende), »typographische« — (druckende) und »elektronische« Kulturen. McLuhan selbst prägte den Ausdruck »Gutenberg-Zeitalter« (das, wie er annahm, heute vom Zeitalter der elektronischen Kommunikation abgelöst wird).

Ich glaube, um unsere gegenwärtige Situation zu beleuchten und auf drohende Gefahren hinzuweisen, ist es notwendig, eine weitere Klassifikation vorzunehmen. Kulturen lassen sich in drei verschiedene Typen einteilen — Werkzeugkulturen, Technokratien und Technopole. Gegenwärtig gibt es auf unserem Planeten Beispiele für jeden dieser drei Kulturtypen, wenngleich der erste im Verschwinden begriffen ist: wir müssen in abgelegene Gegenden reisen, um eine Werkzeugkultur zu finden.2 Aber wenn wir dies tun, dann sollten wir uns klarmachen, daß bis zum 17. Jahrhundert alle Kulturen »Werkzeug-Kulturen« waren. Natürlich gab es von Kultur zu Kultur beträchtliche Unterschiede im Hinblick darauf, welche Werkzeuge verfügbar waren. Einige besaßen nur Speere und Kochgeräte; andere verfügten über Wassermühlen und nutzten Kohleenergie und Pferdekraft.

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Aber das Hauptmerkmal aller Werkzeugkulturen besteht darin, daß ihre Werkzeuge erfunden werden, um vor allem zwei Zwecke zu erfüllen: sie sollen ganz bestimmte, dringliche Probleme des materiellen Lebens lösen, wie etwa bei der Nutzung von Wasserkraft, von Windmühlen oder von schweren Räderpflügen; oder sie sollen der symbolischen Welt von Kunst, Politik, Mythos, Ritual und Religion dienen, etwa beim Bau von Burgen und Kathedralen oder bei der Entwicklung der mechanischen Uhr. In beiden Fällen ging von den Werkzeugen kein Angriff auf die Würde und Integrität der Kultur aus, in die sie eingeführt wurden (genauer gesagt: ein solcher Angriff war nicht beabsichtigt). Von einigen Ausnahmen abgesehen, hinderten diese Werkzeuge die Menschen nicht daran, an ihre Traditionen, an ihren Gott, an ihre Politik, an ihre Erziehungsmethoden oder an die Legitimität ihrer gesellschaftlichen Organisation zu glauben. Diese Glaubens­überzeugungen lenkten sogar die Erfindung von Werkzeugen und unterwarfen ihren Gebrauch gewissen Beschränkungen. 

Selbst in der Militärtechnik wurden spirituelle Anschauungen und soziale Gebräuche als hemmende oder kontrollierende Kraft wirksam. Bekanntlich war die Benutzung des Schwertes durch die Samurai bis ins einzelne durch ein System von Regeln bestimmt, das sogenannte »Buschido oder Weg des Kriegers«. Die Regeln und Rituale, die festlegten, wo und wie der Krieger eines seiner beiden Schwerter (das katana oder Langschwert und das wakizashi oder Kurzschwert) verwenden durfte, waren sehr präzise und eng mit dem Ehrbegriff verknüpft, und sie umfaßten auch die Forderung, der Krieger müsse seppuku oder harakiri begehen, wenn seine Ehre beeinträchtigt werde. Eine derartige Kontrolle der Militärtechnik war auch im Abendland nicht unbekannt.

Im frühen 12. Jahrhundert untersagte Papst Innozenz II. bei Strafe des Kirchenbanns den Einsatz der tödlichen Armbrust. Diese Waffe, so hieß es, errege den »Abscheu Gottes«, und deshalb durfte sie gegen Christen nicht gebraucht werden. Daß sie gegen Muslime und andere Ungläubige sehr wohl eingesetzt werden durfte, ändert nichts an der Tatsache, daß die Technologie in einer Werkzeugkultur nicht als autonom angesehen wird, sondern den Maßregeln eines verbindlichen gesellschaftlichen oder religiösen Systems unterworfen ist.

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Um eine allzu starke Vereinfachung zu vermeiden, muß ich dieser Definition des Begriffs »Werkzeugkultur« zwei Hinweise hinzufügen. Erstens: die Quantität der Technologien, die in einer Werkzeugkultur verfügbar sind, ist nicht deren bestimmendes Merkmal. Schon ein flüchtiger Blick etwa auf das Römische Reich zeigt, in welchem Maß sich diese Kultur in ihrer lebhaften Wirtschaftstätigkeit und bei ihren militärischen Eroberungen auf Straßen, Brücken, Aquädukte, Tunnel und Abwasserkanäle stützte. 

Wir wissen auch, um ein anderes Beispiel zu nennen, daß Europa zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert einen gewaltigen technologischen Aufschwung erlebte: der Mensch des Mittelalters war umgeben von Maschinen.3 Man könnte sogar so weit gehen wie Lynn White, Jr., der gesagt hat, im Mittelalter sei zum erstenmal in der Geschichte »eine komplexe Zivilisation [entstanden], die nicht auf dem Rücken schwitzender Sklaven und Kulis ruhte, sondern hauptsächlich auf nicht-menschlicher Energie«.4

Mit anderen Worten, Werkzeugkulturen können bei der Lösung von Problemen der materiellen Umwelt durchaus erfinderisch und produktiv sein. Windmühlen wurden im späten 12. Jahrhundert erfunden. Brillen gegen Kurzsichtigkeit tauchten in Italien um das Jahr 1280 auf. Die Erfindung des steif gepolsterten, auf den Schulterblättern des Pferdes aufliegenden Kummets löste das Problem, wie sich ihre Zugkraft erhöhen ließ, ohne ihnen das Atmen zu erschweren. Schon im 9. Jahrhundert wurde in Europa das Hufeisen erfunden, und jemand kam auf den Gedanken, daß sich die Zugkraft von Pferden enorm steigern läßt, wenn man sie hinter­einander­spannt. 

Kornmühlen, Papiermühlen und Walkmühlen gehörten ebenso zur mittelalterlichen Kultur wie Brücken, Burgen und Kathedralen. Im 13. Jahrhundert wuchs der Turm des Straßburger Münsters bis in eine Höhe von 142 Metern, was einem Wolkenkratzer mit vierzig Stockwerken entspricht. Und wenn man zeitlich noch weiter zurückgeht, dürfen auch die erstaunlichen ingenieur­technischen Leistungen von Stonehenge und die Pyramiden nicht unerwähnt bleiben (deren Bau, wie Lewis Mumford betonte, das erste Beispiel für den Einsatz einer Megamaschine darstellt).

Aus alledem müssen wir den Schluß ziehen, daß Werkzeugkulturen technologisch nicht unbedingt unterent­wickelt sein müssen, ja, daß sie sogar ein überraschend hohes technisches Niveau haben können.

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Einige Werkzeugkulturen waren technisch natürlich primitiv (und sind es noch heute), und einige haben auf die Handwerke und die Maschinen mit Geringschätzung herabgeblickt. Das Goldene Zeitalter Griechenlands zum Beispiel brachte keine bedeutsamen technischen Innovationen hervor und war nicht einmal imstande, Methoden zur wirkungsvollen Nutzung der Pferdekraft zu ersinnen. Platon und ebenso Aristoteles spotteten über die »niederen mechanischen Künste«, wahrscheinlich in dem Glauben, daß sich seelische Kraft durch das Streben nach mehr Effizienz oder Produktivität nicht erlangen lasse. Effizienz und Produktivität waren Probleme für Sklaven, nicht für Philosophen. Ähnliche Anschauungen begegnen uns in der Bibel, dem ausführlichsten Bericht über eine alte Werkzeugkultur, den wir besitzen. Im Fünften Buch Moses erklärt kein Geringerer als Gott selbst: »Verflucht sei, wer einen Götzen oder ein gegossenes Bild macht, einen Greuel für den Herrn, ein Werk von den Händen der Werkmeister, und es heimlich aufstellt!«

Werkzeugkulturen können also viele oder wenige Werkzeuge besitzen, sie können ihre Werkzeuge mit Begeisterung oder mit Geringschätzung betrachten. Der Ausdruck »Werkzeugkultur« ergibt sich aus dem Verhältnis, das innerhalb einer bestimmten Kultur zwischen den Werkzeugen und dem System der Glaubensüberzeugungen oder der Ideologie besteht. Die Werkzeuge sind hier nicht Eindringlinge. Sie sind in die Kultur so integriert, daß sie keinen entscheidenden Widerspruch zu deren Weltsicht anzeigen. Wenn wir das europäische Mittelalter als Beispiel für eine Werkzeugkultur nehmen, erkennen wir, daß seine Werkzeuge und seine Weltsicht in hohem Maße integriert sind.

Die mittelalterlichen Theologen haben das Verhältnis des Menschen zu Gott, des Menschen zur Natur, des Menschen zum Menschen und des Menschen zu seinen Werkzeugen ausführlich und systematisch beschrieben. Der erste und letzte Grundsatz dieser Theologie lautete, daß alles Wissen und alle Güte von Gott ausgeht und daß deshalb alles menschliche Streben dem Dienst an Gott gewidmet sein müsse. Die Theologie, nicht die Technologie, erteilte den Menschen die Befugnis zu dem, was sie taten und dachten. Vielleicht hielt Leonardo da Vinci aus diesem Grunde seinen Plan zu einem Unterseeboot geheim. Vielleicht glaubte er, es sei ein so schädliches Werkzeug, daß er es nicht freigeben dürfe und daß es vor Gott kein Wohlgefallen finden werde.

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Die theologischen Anschauungen dienten jedenfalls als leitende und kontrollierende Ideologie, und alle Werkzeuge, die erfunden wurden, mußten sich letztlich in den Rahmen dieser Ideologie fügen. Überdies kann man sagen, daß alle Werkzeugkulturen — die technologisch primitivsten ebenso wie die mit dem höchsten technischen Standard — theokratisch sind oder jedenfalls durch eine metaphysische Theorie in sich geeint oder zusammengehalten werden. Diese theologischen oder metaphysischen Systeme geben dem Dasein Ordnung und Sinn und machen es fast unmöglich, daß die Technik die Menschen ihren Erfordernissen unterwirft.

Das »fast« ist wichtig. Aus ihm ergibt sich die zweite Einschränkung, die ich machen muß. Werkzeugen, daran erinnert uns Thamus, gelingt es, auch in das geschlossene System kultureller Überzeugungen einzudringen. Die Macht von Theologie und Metaphysik hat ihre Grenzen, und die Technik vollbringt Dinge, die sich zuweilen nicht aufhalten lassen. Eines der interessantesten Beispiele für die technisch bedingte tiefgreifende Umwälzung einer Werkzeugkultur bietet der Einsatz des Steigbügels bei den Franken unter Karl Martell im 8. Jahrhundert. Bis zu dieser Zeit wurden Pferde im Krieg vornehmlich dazu benutzt, die Krieger zum Kampfplatz zu transportieren, wo sie dann abstiegen, um sich dem Feind zu stellen. Der Steigbügel nun machte den Kampf zu Pferd möglich, und dies brachte eine furchteinflößende neue Militärtechnologie hervor: die Reiterattacke.

Die neue Kampfform stärkte, wie Lynn White, Jr., im einzelnen nachgewiesen hat, die Bedeutung des Rittertums und veränderte das Wesen der Feudalgesellschaft.5 Landbesitzer hielten es nun für geboten, sich zu ihrem Schutz der Dienste der Kavallerie zu versichern. Schließlich erlangten die Ritter Kontrolle über kirchlichen Grundbesitz und verteilten ihn an ihre Vasallen, sofern diese für längere Zeit im Dienst der Ritter blieben. Der Steigbügel schwang sich, wenn man so will, in den Sattel und führte die Feudalgesellschaft in eine Richtung, die sie andernfalls nicht genommen hätte.

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Hier ein Beispiel aus späterer Zeit: Ich habe schon darauf hingewiesen, daß sich die mechanische Uhr im Laufe des 14. Jahrhunderts von einem Hilfsmittel zur Wahrnehmung der religiösen Pflichten in ein Hilfsmittel bei geschäftlichen Unter­nehmungen verwandelte. Für diese Verwandlung wird zuweilen ein genaues Datum angegeben, und zwar das Jahr 1370, in dem der französische König Karl V. anordnete, alle Bürger von Paris sollten ihr Privat-, ihr Geschäfts- und ihr Arbeitsleben nach den Glocken des Königlichen Palastes ausrichten, die alle sechzig Minuten schlugen. Die Kirchen von Paris wurden ebenfalls aufgefordert, ihre Uhren, ungeachtet der kanonischen Stunden, neu zu stellen. So mußte auch die Kirche den materiellen Interessen Vorrang vor den spirituellen einräumen — ein anschauliches Beispiel dafür, wie ein Werkzeug dazu beiträgt, die Autorität der zentralen Institution in der mittelalterlichen Gesellschaft aufzulösen.

Es gibt noch andere Beispiele, die zeigen, wie aus Technologien Probleme für das spirituelle Leben im mittelalterlichen Europa erwuchsen. Die Mühlen etwa, zu denen von überallher die Bauern kamen, um ihr Korn mahlen zu lassen, wurden auch von den Prostituierten gern aufgesucht, die hier nach Kunden Ausschau hielten. Dieses Problem nahm solche Ausmaße an, daß sich der hl. Bernhard, der Abt des Zisterzienserordens, im 12. Jahrhundert darum bemühte, die Mühlen schließen zu lassen — ohne Erfolg, denn die Mühlen waren inzwischen viel zu wichtig für die Wirtschaft geworden. Mit anderen Worten, man würde ungebührlich vereinfachen, wollte man behaupten, in Werkzeugkulturen würden Brauchtum und symbolische Sphäre niemals durch die Technik beeinflußt werden oder eine neue Orientierung erhalten. 

Und wie im Mittelalter so finden wir auch in technologisch primitiven Gesellschaften von heute sonderbare, jedoch sehr anschauliche Belege dafür, wie Werkzeuge die Vorherrschaft von Gebräuchen, Religion oder Metaphysik zu zerrütten vermögen. Der holländische Soziologe Egbert de Vries hat berichtet, wie die Einführung von Streichhölzern bei einem afrikanischen Stamm dessen sexuelle Gewohnheiten veränderte.6 Die Angehörigen dieses Stammes hielten es seit jeher für unabdingbar, nach jedem Geschlechtsverkehr ein neues Feuer zu entzünden. Diese Sitte hatte zur Folge, daß der Geschlechtsverkehr Züge eines öffentlichen Ereignisses annahm, denn wenn er beendet war, mußte jemand in eine benachbarte Hütte gehen und ein brennendes Holzscheit holen, um damit ein neues Feuer zu entzünden.

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Unter solchen Bedingungen läßt sich Ehebruch schwer verheimlichen, und es ist denkbar, daß dieser Gesichtspunkt ursprünglich auch der Grund für diese Sitte war. Die Einführung des Streichholzes veränderte nun alles. Es wurde möglich, ein neues Feuer anzuzünden, ohne die Nachbarhütte aufzusuchen, und so ging, wenn man so will, eine alte, tiefverwurzelte Tradition mit einem Schlag in Flammen auf. Alvin Toffler, der die Befunde von de Vries mitteilt, knüpft einige interessante Fragen daran: Bewirkten die Streichhölzer einen Wandel der Wertvorstellungen? Wurde der Ehebruch nachher heftiger oder weniger heftig als vorher mißbilligt? Veränderten die Streichhölzer, indem sie es erleichterten, die Sexualität in die Privatsphäre einzuschließen, den Wert, den man dieser Privatsphäre beimaß?

Wir können sicher sein, daß es zu einem gewissen Wandel der Wertvorstellungen kam, wenngleich er wohl nicht so dramatisch war wie der, der sich bei den Ihalnuit zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach der Einführung des Gewehrs vollzog. Wie man in dem Buch von Farley Mowat, The People of the Deer, nachlesen kann, ist die Ersetzung von Pfeil und Bogen durch Gewehre bei diesem Volk eine der traurigsten Episoden eines technologischen Angriffs auf eine Werkzeugkultur, die uns überliefert sind. Das Ergebnis bestand in diesem Fall nicht in der Veränderung der Kultur, sondern in ihrer Vernichtung.

Doch selbst wenn man erkennt, daß keine systematische Stufenfolge der Wirklichkeit einer historischen Situation je ganz gerecht wird und daß es insbesondere dem Begriff Werkzeugkultur an Genauigkeit mangelt, bleibt es möglich und nützlich, die Werkzeug­kultur von der Technokratie zu unterscheiden. In einer Technokratie spielen die Werkzeuge für die Gedankenwelt der Kultur eine zentrale Rolle. Alles muß sich bis zu einem gewissen Grad ihrer Entwicklung fügen, das gesellschaftliche Leben und die Sphäre der Symbole werden in zunehmendem Maße den Anforderungen, die sich aus dieser Entwicklung ergeben, unterworfen. Die Werkzeuge werden in die Gesellschaft nicht integriert; sie attackieren die Gesellschaft. Sie legen es darauf an, selbst die Kultur zu werden. Infolgedessen müssen Tradition, Sitte und Brauchtum, Mythos, Politik, Ritual und Religion um ihr Überleben kämpfen.

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Die modernen Technokratien des Westens wurzeln im europäischen Mittelalter, das drei große Erfindungen hervorgebracht hat: die mechanische Uhr, mit der sich eine neue Zeitauffassung durchsetzte; den Buchdruck mit beweglichen Lettern, der die Epistemologie der mündlichen Überlieferung ins Wanken brachte; und das Fernrohr, das die fundamentalen Lehren der jüdisch-christlichen Theologie entwertete. Jede dieser Erfindungen war insofern bedeutsam, als sie eine neue Beziehung zwischen Werkzeugen und Kultur begründete.

Aber so wie man sagen darf, daß von Glaube, Hoffnung und Liebe die letztere am wichtigsten ist, so wage ich die Behauptung, daß von Uhr, Druckpresse und Fernrohr ebenfalls das letztere am wichtigsten war. Genauer gesagt, Beobachtungsinstrumente, die einfacher waren als das Fernrohr (denn Kopernikus, Tycho Brahe und eine Zeitlang auch Kepler arbeiteten noch ohne Fernrohr), erlaubten es den Menschen, den Himmel in einer Weise zu betrachten, zu messen und über ihn zu spekulieren, wie es bisher nicht möglich gewesen war. Die Verbesserungen des Fernrohrs machten ihr Wissen dann so präzise, daß es, wenn man so sagen darf, zu einem Zusammenbruch des moralischen Schwerkraftzentrums im Abendland kam. 

Dieses Zentrum hatte die Menschen in dem Glauben bestärkt, die Erde sei die ruhende Mitte des Universums und die Menschheit nehme deshalb einen bevorzugten Platz in der Aufmerksamkeit Gottes ein. Nach Kopernikus, Kepler und vor allem nach Galilei war die Erde jedoch nur noch ein einsamer Wandelstern in einer unbedeutenden Galaxis irgendwo im Weltall, und das Abendland mußte sich fragen, ob sich Gott überhaupt für uns Menschen interessiert. John Milton war noch ein Kind, als Galileis Sidereus Nuncius oder Nachricht von neuen Sternen 1610 im Druck erschien, aber viele Jahre später schilderte er die tiefe Verzweiflung, in die Galileis Blick durch das Fernrohr in ein unergründlich tiefes Weltall eine unvorbereitete Theologie stürzte. In seinem Verlorenen Paradies schrieb er:

»Before [her] eyes in sudden view appear 
The secrets of the hoary Deep — a dark 
Illimitable ocean, without bound, 
Without dimension ...«

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»Vor ihre Augen traten nun der Tiefe 
Geheimnisse, das dunkle ewige Meer, 
Das grenzenlos und ohne Länge, Breite 
Und Höh' und Zeit und Raum sich dehnt ...«

Fürwahr, ein verlorenes Paradies. Aber Galilei hatte nicht die Absicht — ebensowenig wie Kopernikus oder Kepler —, seiner Kultur die Waffen aus der Hand zu schlagen. Sie alle waren Menschen des Mittelalters, die, wie vor ihnen Gutenberg, die spirituellen Grundlagen ihrer Welt durchaus nicht beschädigen wollten.

Kopernikus war Doktor des kanonischen Rechts und Domherr in Frauenburg. Er machte zwar keinen Doktor in der Medizin, aber er studierte dieses Fach, betätigte sich als Leibarzt seines Onkels und war als Arzt besser bekannt denn als Astronom. Er veröffentlichte nur ein einziges wissenschaftliches Werk, Über die Kreisbewegung der Weltkörper, und das erste fertige Exemplar erreichte den Siebzigjährigen vom Buchdrucker erst wenige Stunden vor seinem Tod am 24. Mai 1543. 

Dreißig Jahre lang hatte er die Veröffentlichung seiner heliozentrischen Theorie hinausgezögert, nicht aus Angst vor einer Bestrafung durch die Kirche, sondern weil er sie für fragwürdig hielt. Tatsächlich wurde sein Buch erst dreiundsiebzig Jahre nach seinem Erscheinen auf den Index gesetzt, und auch dann nur für kurze Zeit. (Der Prozeß gegen Galilei fand erst neunzig Jahre nach dem Tod des Kopernikus statt.) Im Jahre 1543 brauchten Gelehrte nicht zu befürchten, daß man sie ihrer Gedanken wegen verfolgte, solange sie die Autorität der Kirche nicht direkt in Zweifel zogen, was Kopernikus keineswegs im Sinn hatte. Es ist zwar strittig, wer das Vorwort zu seinem Werk verfaßte, aber dieses Vorwort macht deutlich, daß seine Gedanken als Hypothesen aufgefaßt werden sollen und daß diese »Hypothesen nicht wahr zu sein brauchen und nicht einmal wahrscheinlich«.

Kopernikus war sicherlich davon überzeugt, daß sich die Erde wirklich bewegte, doch er glaubte nicht, daß sich die Erde und die Planeten so bewegten, wie er es in seinem System beschrieben hatte. Seiner Ansicht nach bestand dieses System aus lauter geometrischen Fiktionen. Und übrigens glaubte er ebensowenig, daß sein Werk die Vorherrschaft der Theologie untergrübe.

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Es stimmt, daß Martin Luther den Kopernikus als einen Toren bezeichnete, der gegen die Heilige Schrift zu Feld ziehe, aber Kopernikus war nicht dieser Ansicht — und dies zeigt, wie mir scheint, daß Luther weiter gesehen hat als Kopernikus.

Bei dem im Jahre 1571 geborenen Kepler verhält es sich ähnlich. Er begann seine Laufbahn mit der Veröffentlichung von astrologischen Kalendern und beendete sie als Hofastrologe Wallensteins. Obgleich er als Astrologe berühmt war, müssen wir ihm zugute halten, daß er meinte, die Astrologie könne »einem Monarchen großen Schaden zufügen, wenn sich ein schlauer Astrologe seine menschliche Leichtgläubigkeit zunutze macht«. 

Kepler wollte die Astrologie deshalb von allen Staats­oberhäuptern fernhalten, eine Maßregel, die man in neuester Zeit nicht überall beherzigt hat. Seine Mutter wurde beschuldigt, eine Hexe zu sein, und obwohl Kepler dieser speziellen Anschuldigung keinen Glauben schenkte, hätte er die Existenz von Hexen wahrscheinlich nicht grundsätzlich geleugnet. Er korrespondierte mit verschiedenen Gelehrten ausgiebig über Fragen der Chronologie in der Lebenszeit Christi, und seine Theorie, daß Jesus in Wirklichkeit im Jahre 4 oder 5 v. Chr. geboren wurde, wird heute allgemein akzeptiert. Mit anderen Worten, Kepler war ganz und gar ein Mensch seiner Epoche, durch und durch mittelalterlich. Ausgenommen in einer Hinsicht: Er vertrat die Ansicht, daß Theologie und Naturwissenschaft voneinander getrennt werden sollten und daß insbesondere die Engel, die Geister und die Meinungen der Heiligen in der Kosmologie nichts zu suchen hätten. In seiner Neuen Astronomie schrieb er:

»Und was nun die Meinungen der Heiligen in diesen Naturdingen angeht, so antworte ich mit einem Wort, daß in der Theologie das Gewicht der Autorität, in der Philosophie hingegen das Gewicht der Vernunft allein gültig ist.« 

Nach der Erörterung dessen, was verschiedene Heilige über die Erde gesagt hatten, gelangte Kepler zu dem Schluß:

»... aber heiliger als alles dies ist mir die Wahrheit, wenn ich, bei allem Respekt vor den Doktoren der Kirche, aus der Philosophie beweise, daß die Erde rund ist, daß sie rundum von Antipoden bewohnt und von unbedeutender Kleinheit ist, ein rascher Wanderer zwischen den Sternen.«

Indem er diesen Gedanken formulierte, tat Kepler den ersten wichtigen Schritt zur Herausbildung einer Technokratie.

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Klar und deutlich ertönt hier der Ruf nach der Trennung von moralischen und intellektuellen Werten, die zu den Grundpfeilern der Technokratie gehört — ein wichtiger Schritt, aber gewißlich ein kleiner. Vor Kepler hatte keiner die Frage gestellt, warum die Planeten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs sind. Kepler antwortete, es müsse dies auf eine Kraft zurückgehen, die in der Sonne entspringe. Aber diese Antwort bot immer noch Platz für Gott. In einem berühmten Brief an seinen Kollegen Michael Mästlin schrieb Kepler: 

»Die Sonne in der Mitte der sich bewegenden Sterne, selbst in Ruhe und doch die Quelle der Bewegung, trägt das Bild Gottes, des Vaters und Schöpfers. [...] Sie verteilt ihre treibende Kraft durch ein Medium, das die sich bewegenden Körper enthält, so wie der Vater durch den Heiligen Geist wirkt.«

Kepler war Lutheraner, und obwohl er schließlich von seiner Kirche exkommuniziert wurde, blieb er bis zu seinem Tod ein religiöser Mann. So war ihm beispielsweise durchaus unbehaglich mit seiner Entdeckung, daß die Bahnen der Planeten elliptisch sind, weil die Ellipse, anders als der Kreis, seiner Meinung nach nichts besaß, was sie Gott gefällig machen konnte. 

Gewiß, Kepler schuf, ausgehend von dem Werk des Kopernikus, etwas Neues, dessen Wahrheit nicht in erster Linie dazu bestimmt war, das Wohlgefallen Gottes zu finden. Aber ihm war nicht völlig klar, wohin sein Werk führen und welche Auswirkungen es haben würde. Es blieb Galilei überlassen, die unlösbaren Widersprüche zwischen Wissenschaft und Theologie, zwischen intellektuellen und moralischen Kriterien sichtbar zu machen.

Galilei hat das Fernrohr nicht erfunden, wenngleich er dieser Zuschreibung nicht immer widersprochen hat. Das erste Fernrohr hat wahrscheinlich ein holländischer Brillenmacher namens Johann Lippershey gebaut; jedenfalls war er der erste, der sich 1608 um die Erlaubnis zur Herstellung einer größeren Zahl von Fernrohren bemühte. (Vielleicht sollte man hier anfügen, daß auch das berühmte Experiment, bei dem man zwei unterschiedlich schwere Kanonenkugeln vom Turm zu Pisa fallen ließ, nicht von Galilei, sondern von einem seiner Gegner durchgeführt wurde, von Giorgio Coressio, der damit die Ansicht des Aristoteles, daß größere Körper schneller fallen als kleinere, bestätigen und nicht etwa widerlegen wollte.)

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Dennoch war die Verwandlung des Fernrohrs von einem Spielzeug in ein wissenschaftliches Instrument ganz und gar Galileis Verdienst. Und sein Verdienst war es auch, daß die Astronomie für die Theologie seiner Zeit zu einer Quelle von Verdruß und Verwirrung wurde. Seine Entdeckung der vier Jupitermonde und der einfache, zugängliche Stil, in dem er schrieb, waren seine entscheidenden Waffen. Doch noch wichtiger war die Direktheit, mit der er gegen die Heilige Schrift stritt. In seinem berühmten Brief an die Groß Herzogin Christina bediente er sich einiger erstmals von Kepler vorgetragenen Argumente, um darzulegen, warum man die Bibel nicht wörtlich nehmen dürfe. 

Aber er ging noch weiter und erklärte, nichts Physisches, das sich direkt beobachten oder durch Demonstrationen beweisen lasse, sollte bloß deshalb beargwöhnt werden, weil bestimmte Abschnitte der Bibel etwas anderes behaupteten. Deutlicher, als Kepler dies vermochte, sprach Galilei den Doktoren der Kirche die Legitimation ab, Meinungen über die Natur zu äußern. Ihnen dieses Recht einzuräumen, sagte er, sei reine Torheit. 

»Das wäre, als würde sich ein absoluter Despot, der weder Arzt noch Architekt ist, nur weil er über alle Befehlsgewalt verfügte, darauf einlassen, Arzneien zu verschreiben und Bauwerke nach seinen Eingebungen zu errichten — mit großer Lebensgefahr für seine armen Patienten und großer Einsturzgefahr für seine Bauten.«

Unter solchen streitbaren Argumenten gerieten die Kirchenlehrer ins Taumeln. Und im Grunde ist es erstaunlich, daß sich die Kirche lange Zeit immer wieder bemühte, ihre eigenen Anschauungen mit Galileis Beobachtungen und Behauptungen in Einklang zu bringen. Sie war beispielsweise bereit, den Satz, daß sich die Erde bewegt und die Sonne stillsteht, als Hypothese zu akzeptieren. Und zwar mit der Begründung, daß es die Aufgabe der Mathematiker sei, interessante Hypothesen zu formulieren. Mit Galileis These freilich, daß die Bewegung der Erde eine natürliche Tatsache sei, konnte es keine Übereinstimmung mehr geben. Eine solche Überzeugung war dem Glauben unbedingt schädlich, weil sie der Heiligen Schrift widersprach. So war der Prozeß gegen Galilei wegen Häresie, den man zunächst immer wieder hinausgezögert hatte, schließlich unvermeidlich. Er fand 1633 statt und endete mit einem Schuldspruch.

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Zu den Strafen gehörte, daß Galilei der kopernikanischen Lehre abschwören, daß er eine Zeitlang in einem regelrechten Gefängnis verbringen und drei Jahre lang einmal wöchentlich sieben Bußpsalmen aufsagen sollte. Wahrscheinlich ist die Anekdote nicht wahr, die uns berichtet, Galilei habe bei der Urteilsverkündung den Satz »Und sie bewegt sich doch« oder etwas ähnlich Trotziges gemurmelt. Tatsächlich war er im Laufe des Verfahrens viermal gefragt worden, ob er an die kopernikanische Lehre glaube, und jedesmal hatte er mit Nein geantwortet. 

Jeder wußte, daß dies nicht seiner Überzeugung entsprach und daß ihn nur Alter, Krankheit und die Furcht vor der Folter gefügig machten. Jedenfalls verbrachte Galilei keinen einzigen Tag im Gefängnis. Zuerst lebte er unter Arrest in der Villa des Großherzogs in Trinitá del Monte, dann im Palast des Erzbischofs Piccolomini in Siena und während der letzten Jahre seines Leben in seinem Haus in Florenz. Er starb 1642, in dem Jahr, in dem Isaac Newton geboren wurde.

Kopernikus, Kepler und Galilei legten den Sprengsatz, der die Theologie und die Metaphysik des Mittelalters schließlich in die Luft jagen sollte. Newton zündete ihn. Bei der Explosion ging die Seelenlehre des Aristoteles und alles, was dieser sonst in seiner Physik geschrieben hatte, in Trümmer. Die Heilige Schrift büßte viel von ihrer Autorität ein. Die Theologie, einst die Königin der Wissenschaften, mußte sich nun mit dem Rang eines Hofnarren begnügen.

Aber am schlimmsten war, daß es auf die Frage nach dem Sinn des Lebens plötzlich keine Antwort mehr gab. 

Und wie paradox es bei alledem zuging! Während sich die Menschen bisher meist an den Himmel gehalten hatten, wenn sie auf der Suche nach Autorität, Orientierung und Sinn waren, wandten sich die Nachtwandler (wie Arthur Koestler Kopernikus, Kepler und Galilei genannt hat) nicht dem göttlichen Himmel, sondern dem Sternenhimmel zu. Und dort fanden sie nur mathematische Gleichungen und geometrische Muster. Sie gingen mit Mut zu Werke, aber nicht ohne gewisse Befürchtungen, denn es kostete sie einige Mühe, ihren Glauben nicht zu verlieren. Doch sie wandten sich von Gott nicht ab. Sie glaubten an einen Gott, der die ganze Schöpfung geplant und entworfen hatte, an einen Gott, der ein Meister der Mathematik war. Ihre Suche nach den mathematischen Gesetzen der Natur war im Grunde eine religiöse.

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Die Natur war das Buch Gottes, und Galilei erkannte, daß das Alphabet Gottes aus »Dreiecken, Vierecken, Kreisen, Kugeln, Kegeln, Pyramiden und anderen mathematischen Figuren« bestand. Kepler stimmte zu und prahlte gar, Gott, der Verfasser dieses Buches, habe sechstausend Jahre auf seinen ersten Leser warten müssen — auf Kepler selbst. Und Newton verbrachte die späteren Jahre seines Lebens damit, in unerschüttertem Glauben an die Heilige Schrift Berechnungen anzustellen, wie viele Generationen von Menschen seit Adam auf der Erde gelebt hatten. Descartes, dessen 1637 erschienener Discours de la méthode Skepsis und Vernunft in den höchsten Rang erhob und zur Grundlage der neuen Wissenschaft wurde, war ein tief religiöser Mann. Obwohl seine Auffassung vom Universum mechanistisch war (»Gebt mir Materie und Bewegung«, so schrieb er, »und ich erbaue die Welt«), leitete er sein Gesetz von der Unwandelbarkeit oder Erhaltung der Bewegung aus der Unwandelbarkeit Gottes ab.

Sie alle hielten bis zuletzt an der Theologie ihrer Zeit fest. Es hätte sie gewiß nicht gleichgültig gelassen, wenn ihnen jemand gesagt hätte, an welchem Tag das Jüngste Gericht stattfinden wird, und sie hätten sich die Welt ohne Gott gar nicht vorstellen können. Außerdem beschäftigte sich die Wissenschaft, die sie betrieben, fast ausschließlich mit Wahrheitsfragen und nicht mit Machtfragen. Im Hinblick auf dieses Ziel entwickelte sich im späten 16. Jahrhundert etwas, das man nur als eine »leiden­schaftliche Liebe zur Genauigkeit« bezeichnen kann: eine Leidenschaft für exakte Daten, Mengenangaben, Entfernungen, Geschwindigkeiten. Man hielt es sogar für möglich, den Augenblick, in dem die Erschaffung der Welt begonnen hatte, genau zu bestimmen.

Es war dies, wie sich herausstellte, der 23. Oktober des Jahres 4004 v. Chr., morgens 9 Uhr. Diese Männer hatten zur Philosophie (mit diesem Begriff bezeichneten sie die Naturwissenschaft) ein ganz ähnliches Verhältnis wie die alten Griechen. Für sie war der wahre Zweck aller Naturforschung die Befriedigung der Spekulation. Die Idee des Fortschritts interessierte sie nicht, und sie glaubten nicht, daß ihre Überlegungen die Verheißung bedeutender Verbesserungen des menschlichen Daseins enthielten. Kopernikus, Kepler, Galilei, Descartes und Newton schufen die Grundlage für die Entstehung der Technokratien, aber sie selbst waren Angehörige von Werkzeugkulturen.

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Francis Bacon, geboren im Jahre 1561, war der erste Protagonist des technokratischen Zeitalters. Mit dieser Behauptung widerspreche ich keinem Geringeren als Kant, der erklärt hat, ein Kepler oder ein Newton sei vonnöten gewesen, um das Bewegungsgesetz der Zivilisation zu finden. Vielleicht. Aber es war Bacon, der als erster in aller Klarheit und Gelassenheit den Zusammenhang zwischen der Wissenschaft und einer möglichen Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen erkannte. Sein Hauptziel war es, »das Glück der Menschheit« zu fördern, und immer wieder kritisierte er seine Vorgänger, weil sie nicht begriffen hätten, daß es das einzige wirkliche und legitime Ziel der Wissenschaften sei, »das menschliche Leben mit neuen Erfindungen und Reichtümern auszustatten«. Er holte die Wissenschaft vom Himmel auf die Erde herunter, auch die Mathematik, die ihm als eine demütige Magd der Erfindungsgabe erschien. Mit seiner utilitaristischen Auffassung von Wissen und Erkenntnis war Bacon der wichtigste Architekt eines neuen Gedankengebäudes, in dem für Selbstbeschränkung kein Platz mehr war und in dem Gott ein besonderes Zimmer zugewiesen wurde. Der Name dieses Gebäudes lautete »Fortschritt und Macht«.

Paradoxerweise war Bacon selbst kein Wissenschaftler oder betätigte sich jedenfalls kaum als solcher. Auf keinem Forschungs­gebiet hat er Pionierleistungen vollbracht. Er hat kein neues Naturgesetz entdeckt und keine neue Hypothese aufgestellt. Selbst über den Stand der wissenschaftlichen Arbeit seiner Zeit war er nicht sonderlich gut informiert. Er rühmte sich zwar, er habe einen revolutionären Fortschritt in der wissenschaftlichen Methode zuwege gebracht, aber die Nachwelt hat dieser Behauptung nicht stattgegeben. Und sein berühmtestes Experiment erhebt vor allem deshalb Anspruch auf unsere Aufmerk­samkeit, weil Bacon infolge dieses Experiments starb.

Er und sein Freund Dr. Witherborne waren an einem schneereichen Wintertag mit einer Kutsche unterwegs, als Bacon den Gedanken erwog, ob sich Fleisch mit Hilfe von Schnee nicht ebensogut konservieren lasse wie mit Salz. Sie kauften ein Huhn, nahmen es aus und stopften den Körper mit Schnee voll. Aber den Ausgang seines Experiments erfuhr der arme Bacon nicht mehr, denn er erkältete sich und starb drei Tage später, wahrscheinlich an Bronchitis. Manche halten ihn deswegen für einen Märtyrer der Experimental­wissen­schaft.

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Aber nicht in der Experimentalwissenschaft lag seine Bedeutung. Obwohl auch andere Zeitgenossen von den Auswirkungen praktischer Erfindungen auf das Leben beeindruckt waren, hat Bacon als erster intensiv und systematisch über dieses Thema nachgedacht. Einen großen Teil seiner Arbeit verwandte er darauf, den Blick der Menschen für die Beziehungen zwischen Erfindung und Fortschritt zu schärfen. In seinem Novum Organum schrieb er:

»Um den hohen Wert der Erfindungen zu würdigen, fasse man einmal jene drei, den Alten völlig unbekannten Erfindungen, deren Ursprung, wiewohl noch neu, dennoch ein ruhmloses Dunkel deckt, ins Auge: wir meinen die Buchdruckerkunst, das Schießpulver und die Magnetnadel. Diese drei haben den ganzen Zustand der Dinge in der Welt durchaus umgewandelt. Sie haben den Wissenschaften, der Kriegskunst und der Schiffahrt eine ganz neue Gestalt verliehen, und hieraus ist eine solche Umänderung in unzähligen anderen Dingen erfolgt, daß keine Staats­umwälzung, keine Religion, keine Konstellation einen durchgreifenderen Einfluß in die menschlichen Angelegenheiten hätte haben können als diese drei mechanischen Erfindungen.«

Am Beispiel dieser Passage können wir einige von Bacons Qualitäten und die Herkunft seines großen Einflusses erkennen. Wir haben es hier nicht mit einem Nachtwandler zu tun. Bacon weiß sehr genau, was die Technik in einer Kultur bewirkt und rückt die technologische Entwicklung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit seines Lesers. Er schreibt mit Engagement und Überzeugungskraft. Immerhin zählt er zu den bedeutendsten Essayisten aller Zeiten; Bacon war ein meisterhafter Propagandist und kannte sich in der Geschichte der Wissenschaften gut aus, aber für ihn war die Wissenschaft nicht das Kondensat spekulativer Ansichten, sondern all dessen, wozu diese Ansichten den Menschen befähigten. Und rastlos war er bestrebt, seinen Landsleuten, wenn nicht der ganzen Welt, diesen Gedanken zu vermitteln.

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In den ersten beiden Büchern seines Novum Organum, das aus 182 Aphorismen besteht, entwickelt Bacon nichts Geringeres als eine Wissenschaftsphilosophie, ausgehend von dem Axiom, daß »die Verbesserung des menschlichen Geistes und die Verbesserung des Loses der Menschen ein und dasselbe ist«. In diesem Werk prangert er auch die vier berüchtigten »Idole« oder Vorurteile an, die den Menschen bisher daran gehindert haben, Macht über die Natur zu gewinnen: die Idole des Stammes (oder der Gattung), die uns dazu verleiten, unsere Wahrnehmungen für natürliche Tatsachen zu halten; die Idole der Höhle (oder des Standpunktes), die uns dazu verleiten, irrige Ideen aus der Vergangenheit und unserer Umgebung zu übernehmen; die Idole des Marktes (oder der Gesellschaft), die uns durch Wörter täuschen; und die Idole der Bühne, die uns die irreführenden Dogmen der Philosophen beschert haben.

Wer heute Bacon liest, wird immer wieder von seiner Modernität überrascht. Nie sind wir von der uns Heutigen wohlvertrauten Vorstellung weit entfernt, daß die Wissenschaft eine Quelle von Macht und Fortschritt sei. In seiner Schrift The Advancement of Learning entwirft Bacon sogar die Statuten eines Kollegs für Erfinder, das in seinen Umrissen dem Massachusetts Institute of Technology durchaus ähnlich ist. Bacon schlägt vor, der Staat möge die Erfinder bei ihren Experimenten und ihren Reisen finanziell unterstützen. Er denkt an Gelehrtenzeitschriften und internationale Verbände.

Er möchte die Wissenschaftler zu ausgiebiger Kooperation ermuntern — ein Vorschlag, der Tycho Brahe, Kepler und Galilei sicherlich verblüfft hätte, denn sie alle investierten noch viel Intelligenz in das Ersinnen von Methoden, ihre Arbeiten voreinander zu verbergen. Bacon war auch der Meinung, Wissenschaftler sollten für öffentliche Vorträge gut bezahlt werden, und die Unterrichtung des Publikums über die Nützlichkeit einer Erfindung sei ebenso wichtig wie die Erfindung selbst. Kurz, er sah die Wissenschaft so, wie sie heute gesehen wird — als organisierte, finanziell abgesicherte, öffentliche Unternehmung, als beste Waffe der Menschheit im ständigen Kampf um die Verbesserung ihres Loses.

Bacon war, wie gesagt, der erste Vertreter der Technokratie, aber es dauerte einige Zeit, bevor sich breitere Kreise auf seine Seite stellten. Er starb 1626, und es währte noch hundertfünfzig Jahre, bis sich die europäische Kultur die Geisteshaltung der Moderne, das heißt: die Technokratie, zu eigen machte. In der Folge gelangte man zu der Ansicht, Wissen sei Macht, die Menschheit sei imstande, Fortschritte zu machen, die Armut sei ein Fluch, und das Leben der einfachen Leute sei genauso wertvoll wie das Leben jedes anderen.

Es wäre falsch zu behaupten, irgendwann im Laufe dieser Entwicklung sei Gott gestorben. Aber sicher trifft es zu, daß die Vorstellung von einer göttlichen Vorsehung viel von ihrer ursprünglichen Kraft und Bedeutung einbüßte und daß damit auch das Vertrauen in eine Kultur verlorenging, für die moralische und intellektuelle Wertvorstellungen ein Ganzes bildeten. Außerdem müssen wir bedenken, daß in der Werkzeugkultur des älteren Europa die Masse der Bevölkerung aus verarmten, machtlosen Bauern bestand. Auch wenn sie an ein Leben nach dem Tode glaubten, das von endlosen Freuden erfüllt war, blieb ihr irdisches Dasein »widrig, schaurig und kurz«. 

C.P. Snow hat gesagt, die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts, das Ergebnis von Bacons Wissenschaft, sei die einzige Hoffnung der Armen gewesen. Und wenn ihr »wahrer Gott die Maschinerie« wurde, wie es Thomas Carlyle formulierte, dann dürften die meisten Menschen wohl nicht bereit gewesen sein, ihr ganz und gar diesseitiges Dasein noch einmal gegen ein Leben in einer gottesfürchtigen, in sich geschlossenen Werkzeugkultur einzutauschen. 

Aber darum ging es auch gar nicht, denn es hatte auch damals wenig Sinn, der Vergangenheit nachzutrauern. Die westliche Welt war zu einer Technokratie geworden, aus der es kein Zurück mehr gab.

Stephen Benét richtete sich sowohl an jene, die sich für die Technokratie begeisterten, wie auch an jene, die sich von ihr abgestoßen fühlten, als er in seiner Dichtung <John Brown's Body> den einzig sinnvollen Rat gab:

»If you at last must have a word to say,
Say neither, in their way,
<It is a deadly magic and accursed>,
 Nor <It is blest>, but only <It is here>.«

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