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5 - Der Zusammenbruch der Abwehrmechanismen

Postman-1991

 

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Das Technopol ist ein bestimmter Kulturzustand. Es ist zugleich ein bestimmter Geisteszustand. Es besteht in der Vergöttlichung der Technologie, und dies bedeutet, daß die Kultur ihre Beglaubigung in der Technologie sucht, daß sie ihre Befriedigung aus der Technologie gewinnt und sich ihre Befehle von der Technologie erteilen läßt. Hierzu muß sich eine neue Gesellschaftsordnung herausbilden, und dies führt notwendigerweise zu einer raschen Auflösung traditioneller Überzeugungen und all dessen, was mit ihnen verbunden ist.

Am besten kommen jene mit dem Technopol zurecht, die sich gewiß sind, daß der technische Fortschritt die größte Errungen­schaft der Menschheit und das Instrument darstellt, mit dem sich unsere elementaren Probleme lösen lassen. Sie halten auch die Information für einen ungetrübten Segen und meinen, die fort­gesetzte und unkontrollierte Erzeugung und Verbreitung von Information bringe mehr Freiheit, größere Kreativität und mehr Seelenfrieden

Daß die Information zu alledem nichts beiträgt, sondern gerade das Gegenteil bewirkt, scheint kaum jemanden zu beirren, denn der unerschütterliche Optimismus, der sich hier bekundet, ist selbst ein unvermeidliches Produkt der Struktur des Technopols. 

Kurz, das Technopol gedeiht am besten, wenn die Abwehrmechanismen gegen die Information zusammenbrechen.

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Die Beziehung zwischen der Information und den Mechanismen ihrer Kontrolle ist leicht zu beschreiben: Die Technologie vergrößert den Vorrat an verfügbaren Informationen. Durch die Vergrößerung des Informations­vorrats werden die Kontroll­mechanismen immer stärker beansprucht.

Zusätzliche Mechanismen sind erforderlich, um die neue Information zu bewältigen. Wenn nun die zusätz­lichen Kontrollmechanismen wiederum technischer Art sind, dann führen sie erneut zu einer Vergrößerung des Informations­vorrates. Läßt sich der Informationsvorrat nicht mehr kontrollieren, kommt es zu einem allgemeinen Zusammen­bruch der psychischen und sozialen Orientierung. Ohne Abwehr­mechanismen fehlt den Menschen die Möglichkeit, Sinn in ihren Erfahrungen zu entdecken, sie verlieren das Erinnerungs­vermögen, und es fällt ihnen schwer, sich eine sinnvolle Zukunft vorzustellen.

Man kann das Technopol auch so definieren: 

Es ist das, was einer Gesellschaft zustößt, wenn die Abwehr­mechanismen gegen die Informationsschwemme zusammengebrochen sind. Es ist das, was eintritt, wenn die Institutionen einer Gesellschaft nicht mehr imstande sind, mit dem Übermaß an Information fertig zu werden. Es ist das, was eintritt, wenn eine von technologisch erzeugter Information überwältigte Gesellschaft die Technologie selbst einzusetzen versucht, um sich zu orientieren, um klare Ziel- und Zweckbestimmungen zu gewinnen. Dieses Bestreben ist fast immer zum Scheitern verurteilt. Zwar ist es zuweilen möglich, eine Krankheit als Heilmittel gegen sich selbst einzusetzen, aber nur, wenn man genau weiß, durch welche Prozesse diese Krankheit normalerweise in Schach gehalten wird.

Ich möchte hier nun die Abwehr­mechanismen beschreiben, die grundsätzlich zur Verfügung stehen, und zugleich andeuten, warum sie ihre Funktion verloren haben.

Die Gefahren, die die frei flottierende Information in sich birgt, lassen sich vielleicht besser verstehen, wenn man den oben erwähnten Vergleich mit dem biologischen Immunsystem zur Abwehr eines unkontrollierten Zell­wachstums weiterspinnt. Daß Zellen wachsen, ist selbstverständlich ein normaler Prozeß, ohne den organisches Leben sich nicht erhalten könnte. Aber ohne ein funktionierendes Immunsystem kann ein Organismus das Zellwachstum nicht steuern. Es gerät in Unordnung und zerreißt das sensible Geflecht der Verbindungen zwischen den lebenswichtigen Organen. Kurz, das Immunsystem zerstört unerwünschte Zellen. Jede Gesellschaft verfügt über Institutionen und Techniken, die wie ein solches biologisches Immunsystem funktionieren.

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Ihr Zweck ist es, das Gleichgewicht zwischen Altem und Neuem, zwischen Innovation und Tradition, zwischen Sinn und Begriffsverwirrung aufrechtzuerhalten, und dies gelingt ihnen, indem sie unerwünschte Information »zerstören«.

Ich möchte betonen, daß gesellschaftliche Institutionen aller Art als Kontrollmechanismen fungieren. Das ist wichtig, weil die meisten Autoren, die über gesellschaftliche Institutionen schreiben (vor allem Soziologen), nicht begreifen, daß jede Schwächung von Institutionen die Menschen anfällig gegenüber dem Informationschaos macht.1) Wenn man sagt, Leben werde durch geschwächte Institutionen destabilisiert, so bedeutet dies nichts anderes, als daß die Information ihren Nutzen verliert und beginnt, Verwirrung zu stiften, statt Kohärenz.

Manchmal erfüllen gesellschaftliche Institutionen ihre Aufgabe einfach dadurch, daß sie den Menschen den Zugang zu Informationen verweigern, aber meistens tun sie dies, indem sie bestimmen, welches Gewicht und mithin welchen Wert man der Information beimessen soll. Institutionen haben es mit der Bedeutung von Information zu tun, und sie können bei der Durch­setzung der Kriterien für die Zulässigkeit von Information sehr streng sein.

 

Betrachten wir das Beispiel eines Gerichtshofes. Fast alle Regeln, die das Einbringen von Beweismitteln und das Verhalten der Teilnehmer an einer Gerichtsverhandlung betreffen, sollen die Menge an Informationen begrenzen, denen Zugang zum System gewährt wird. In unserem Rechtssystem läßt ein Richter das »Hörensagen« oder persönliche Meinungen nicht oder nur unter genau kontrollierten Umständen als Beweismittel zu; den Zuschauern sind Meinungsäußerungen untersagt; frühere Meinungen und Ansichten des Angeklagten dürfen nicht ins Spiel gebracht werden; die Geschworenen dürfen Auseinandersetzungen über die Zulässigkeit von Beweismitteln nicht mit anhören — lauter Beispiele für die Kontrolle von Informationen. Die Regeln, auf denen diese Kontrolle beruht, ergeben sich aus einer Theorie der Gerechtigkeit, die bestimmt, welche Informationen als relevant gelten sollen und, vor allem, welche Informationen als irrelevant angesehen werden müssen.

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Die Theorie mag dem einen oder anderen mit Mängeln behaftet erscheinen — Anwälte können zum Beispiel uneins über die Prinzipien sein, die den Informationsfluß lenken —, aber Meinungsverschiedenheiten darüber, daß die Information in irgendeiner Weise reguliert werden muß, gibt es nicht. Auch in dem simpelsten Rechtsfall können Tausende von Ereignissen eine Auswirkung auf den strittigen Punkt gehabt haben, und jeder weiß, wenn man sie alle zulassen würde, könnte es kein geordnetes Verfahren geben, die Prozesse wären endlos, und das Recht selbst würde zur Bedeutungslosigkeit verkommen. Kurz, Rechtsstaatlichkeit hat es mit der »Zerstörung« von Information zu tun.

Obwohl die Rechtstheorie durch neue Informationen aus sehr unterschiedlichen Quellen — aus Biologie, Psychologie, Soziologie und anderen Fächern — bis an die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit strapaziert worden ist, sind ihre Relevanzkriterien bemerkenswerterweise ziemlich stabil geblieben. Das erklärt vielleicht, weshalb die Amerikaner ihre Gerichte allzu häufig in Anspruch nehmen, um Kohärenz und Stabilität zu finden.

Während andere Institutionen als Mechanismen zur Kontrolle der wuchernden Information immer nutzloser werden, haben sich die Gerichte als letzte Instanz in Wahrheitsfragen bisher halten können. Für wie lange noch, weiß niemand.

 

Ich habe oben darauf hingewiesen, daß auch die Schule ein Mechanismus zur Informationskontrolle ist. Wie ihre Maßstäbe beschaffen sind, erkennt man zumeist am Lehrplan oder noch klarer am Vorlesungs­verzeichnis. Ein solches Vorlesungsverzeichnis führt Kurse, Themen und Studiengebiete auf, die zusammengenommen ziemlich genau und verbindlich umreißen, worüber ein ernsthafter Student nachdenken sollte. Wichtiger noch: aus dem, was ein solches Verzeichnis nicht nennt, können wir ersehen, worüber ein ernsthafter Student nicht nachdenken sollte. Mit anderen Worten, ein Vorlesungsverzeichnis ist seiner Form nach ein Programm zur Bewältigung von Information; es definiert und kategorisiert Wissen und schließt damit bestimmte andere Arten von Information systematisch aus, erklärt sie für minderwertig und trivial, kurzum, es läßt sie außer acht. Aus diesem Grund ergibt ein solches Vorlesungsverzeichnis »Sinn« (oder genauer gesagt, es wird dazu benutzt, Sinn zu erzeugen). Durch das, was es aus- bzw. einschließt, spiegelt es eine bestimmte Theorie des Zwecks und der Bedeutung von Bildung. An der Universität, an der ich lehre, findet man zum Beispiel keine Kurse in Astrologie oder Dianetik oder Schöpfungslehre.

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Es steht natürlich sehr viel Information über diese Themen zur Verfügung, aber das Bildungskonzept, das die Grundlage dieser Universität bildet, verweigert solcher Information das Eindringen in die formelle Struktur ihrer Lehrveranstaltungen. Professoren und Studenten wird die Gelegenheit verweigert, jener Information Aufmerksamkeit zu schenken, und sie werden ermuntert, so zu verfahren, als würde es sie gar nicht geben. Auf diese, Weise gibt die Universität ihrer Vorstellung davon, was legitimes Wissen ist, Ausdruck. Zur Zeit billigen manche Leute diese Vorstellung, andere hingegen nicht, und die daraus resultierende Kontroverse schwächt die Universität in ihrer Funktion als Informations­kontrollzentrum.

Das deutlichste Symptom für den Zusammenbruch des Curriculums ist der Begriff cultural literacy (kulturelle Literalität /Bildung), der als Organisationsprinzip vorgeschlagen wurde und bei vielen Pädagogen auf ernstes Interesse gestoßen ist.2  Der »kulturell Gebildete«, so die zugrundeliegende Vorstellung, soll eine bestimmte Liste von Tausenden von Namen, Orten, Daten und Aphorismen beherrschen, die angeblich den Inhalt des Bewußtseins eines gebildeten Amerikaners ausmachen. 

Aber wie ich im letzten Kapitel zu zeigen versuchen werde, ist cultural literacy durchaus kein organisier­endes Prinzip, und wir haben es hier offensichtlich mit einem jener Fälle zu tun, in denen die Krankheit zum Heilmittel deklariert wird. An dieser Stelle möchte ich nur hervorheben, daß jede gesellschaftliche Institution, wenn sie bei der Bewältigung von Information wirklich funktionieren soll, ein theoretisches Konzept vom Zweck und von der Bedeutung von Information haben muß, daß sie über Mittel verfügen muß, diesem Konzept einen klaren Ausdruck zu geben, und zwar vor allem, indem sie bestimmte Informationen ausschließt.

 

Betrachten wir ein anderes Beispiel: die Familie. So wie sie sich im späten 18. Jahrhundert in Europa entwickelte, gehörte zu ihrer Theorie der Grundsatz, daß die Einzelnen Schutz vor einer kalten, konkurrenz­orientierten Gesellschaft benötigen. Die Familie wurde, wie Christopher Lasch es im englischen Titel eines seiner Bücher formulierte, zur »Zuflucht in einer herzlosen Welt«.3 Zu ihrem Programm gehörte die Erhaltung der »Traditionen religiöser Sekten, fremder Sprachen und Dialekte, lokaler Überlieferungen und anderer Traditionen«.

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Um diese Aufgabe zu erfüllen, mußte die Familie die Sozialisation der Kinder übernehmen; die Familie wurde eine, wenn auch informelle Struktur zur Bewältigung von Information. Sie kontrollierte, welche »Geheimnisse« des Erwachsenenlebens den Kindern enthüllt werden sollten und welche nicht. Vielleicht kann sich der eine oder andere Leser noch an eine Zeit erinnern, in der Erwachsene in Anwesenheit von Kindern bestimmte Wörter und bestimmte Themen mieden, die ihnen ungeeignet für Kinder schienen.

Eine Familie, die die Informationsumwelt der zu ihr gehörenden Kinder nicht kontrolliert oder nicht kontrollieren kann, ist eigentlich gar keine Familie und kann Anspruch auf diese Bezeichnung nur aufgrund der Tatsache erheben, daß alle ihre Mitglieder durch die DNS Anteil an den gleichen biologischen Informationen haben. Tatsächlich war die Familie in vielen Gesellschaften genau dies — eine Gruppe, deren Mitglieder durch genetische Information miteinander verbunden sind, die ihrerseits durch genaue Planung der Ehen kontrolliert wurde. Im Abendland wurde die Familie etwa um die Zeit, als der Buchdruck seinen Aufschwung nahm, eine Institution zur Bewältigung nicht-biologischer Informationen. Als Bücher über jedes erdenkliche Thema verfügbar wurden, mußten die Eltern die Rolle von Wächtern, Beschützern und Pflegern und auch von Schiedsrichtern in Geschmacks- und Verhaltensfragen übernehmen. Sie mußten bestimmen, was es heißt, Kind zu sein, indem sie aus der familialen Sphäre jene Informationen ausschlossen, die deren Zielsetzung untergraben hätten. Daß dies der Familie heute nicht mehr gelingt, ist, wie ich meine, für jeden offenkundig.

Gericht, Schule, Familie — dies sind nur drei aus einer ganzen Reihe von Kontrollinstitutionen, die Teil des Immunsystems unserer Kultur zur Abwehr von Information sind. Die politische Partei gehört ebenfalls dazu. Ich selbst bin in einem Haus großgeworden, das mit der Demokratischen Partei sympathisierte, und bekam auf diese Weise schon in jungen Jahren klare Instruktionen, welche Bedeutung politischen Ereignissen und Kommentaren beizumessen sei. Diese Instruktionen mußten nicht ausdrücklich formuliert werden. Sie ergaben sich logisch aus einer Theorie, die ungefähr folgendes besagte: Weil die

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Menschen Schutz brauchen, müssen sie sich einer politischen Organisation anschließen. Die Demokratische Partei nun hatte Anspruch auf unsere Loyalität, weil sie die sozialen und ökonomischen Interessen der Arbeiterklasse repräsentierte, der unsere Familie, unsere Verwandten und Nachbarn angehörten (ausgenommen ein Onkel, der, obgleich er Lastwagenfahrer war, beharrlich die Republikaner wählte und deshalb von den anderen für dumm oder verrückt gehalten wurde). Die Republikanische Partei repräsentierte die Interessen der Reichen, die sich prinzipiell nicht um uns kümmerten.

Diese Theorie gab unseren Wahrnehmungen Klarheit und lieferte einen Maßstab, mit dem sich die Bedeutung von Informationen beurteilen ließ. Das Grundprinzip lautete, daß Informationen, die von den Demokraten stammten, immer ernst zu nehmen seien und daß sie aller Wahrscheinlichkeit nach sowohl wahr als auch nützlich seien (ausgenommen, sie stammten von Demokraten aus den Südstaaten, die bei Präsidentenwahlen zwar hilfreich waren, sonst aber wegen ihrer sonderbaren Rassentheorie nicht ernst genommen werden durften). Informationen, die von den Republikanern stammten, waren Quatsch und nur insofern nützlich, als sie immer wieder verdeutlichten, wie sehr die Republikaner auf ihren Eigennutz bedacht waren.

Ich möchte nicht behaupten, daß diese Theorie korrekt war, aber auf den Einwand, sie stelle eine übermäßige Vereinfachung dar, würde ich erwidern, daß alle Theorien übermäßige Vereinfachungen sind oder zumindest zu übermäßiger Vereinfachung neigen. Rechtsstaatlichkeit ist eine solche Vereinfachung. Ein Lehrplan ist eine solche Vereinfachung. Und die Vorstellung einer Familie von dem, was ein Kind ist, ebenfalls. Darin besteht gerade die Funktion von Theorien — zu vereinfachen und ihren Anhängern auf diese Weise beim Organisieren, Einschätzen und Ausschließen von Information zu helfen. Darauf beruht die Kraft von Theorien. Und ihre Schwäche besteht darin, daß sie, eben weil sie allzusehr vereinfachen, anfällig für neue Informationen sind. Wenn allerdings so viel Information vorhanden ist, daß sie überhaupt keine Theorie mehr bestätigt oder stützt, dann verliert die Information jeden Sinn.

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Die mächtigsten Institutionen zur Kontrolle von Information sind die Religion und der Staat. Sie werden dabei auf eine abstraktere Weise wirksam als Gerichte, Schulen, Familien oder politische Parteien. Sie bewältigen Information durch die Erzeugung von Mythen und Geschichten, in denen Theorien über gewisse grundsätzliche Fragen zum Ausdruck kommen: Warum sind wir hier? Woher stammen wir? Wohin gehen wir?

Ich habe schon auf die umfassende theologische Welterklärung des europäischen Mittelalters hingewiesen und darauf, wie ihre erklärende Kraft zum Wohlergehen und einem Gefühl von Kohärenz beigetragen hat. Vielleicht habe ich noch nicht deutlich genug hervorgehoben, in welchem Grade die Bibel auch als Mechanismus der Informationskontrolle diente, vor allem im Bereich der Ethik. Die Bibel enthält nicht nur Anweisungen, was man tun und was man lassen soll, sie enthält auch Hinweise darauf, welche Sprache man meiden soll (weil man sich sonst der Blasphemie schuldig macht), welche Ideen man meiden soll (weil man sich sonst der Ketzerei schuldig macht) und welche Symbole man meiden soll (weil man sich sonst der Götzendienerei schuldig macht).

Notwendiger-, aber vielleicht auch bedauerlicherweise erklärte die Bibel auch die Entstehung der Welt in so anschaulichen Einzelheiten, daß ihr Bericht mit den neuen Informationen, die das Fernrohr und die daraus resultierenden Technologien lieferten, nicht in Einklang zu bringen war. Die Prozesse gegen Galilei und dreihundert Jahre später gegen Scopes betrafen insofern die Zulässigkeit bestimmter Arten von Information. Sowohl Kardinal Bellarmin als auch William Jennings Bryan kämpften für die Aufrecht­erhaltung der Autorität der Bibel bei der Kontrolle von Informationen über die irdische ebenso wie die sakrale Welt. Mit ihrer Niederlage brach mehr zusammen als bloß der Anspruch der Bibel auf die Erklärung von Ursprung und Aufbau der Natur. Auch ihre Autorität bei der Bestimmung und Bewertung des sittlichen Handelns wurde geschwächt.

Dennoch verfügt die Heilige Schrift in ihrem Kern über eine so kraftvolle Mythologie, daß auch deren Überreste noch vielen Menschen als anspruchsvoller Kontrollmechanismus dienen. Die Bibel liefert vor allem eine Theorie über den Sinn des Lebens und also Regeln, wie man sein Leben führen soll. Ohne es in diesem Punkt mit Rabbi Hillel aufnehmen zu wollen, der sich mit solchen Fragen sehr viel gründlicher beschäftigt hat, möchte ich diese Theorie folgendermaßen umreißen:

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Es gibt den einen Gott, der die Welt und alles, was in ihr ist, geschaffen hat. Obwohl die Menschen Gott nie ganz begreifen können, hat er ihnen sich und seinen Willen im Verlauf der Weltgeschichte offenbart, vornehmlich durch seine Gebote und das Zeugnis der Propheten, wie es in der Bibel aufgezeichnet ist. Das wichtigste dieser Gebote fordert die Menschen auf, Gott zu lieben und diese Liebe zum Ausdruck zu bringen, indem sie ihren Mitmenschen Liebe, Mitleid und Gerechtigkeit zuteil werden lassen. Am Ende der Zeiten treten alle Nationen und alle Menschen vor Gottes Gericht, und jene, die seine Gebote befolgt haben, werden in seinen Augen Gnade finden. Jene aber, die Gott geleugnet und seine Gebote mißachtet haben, werden in die Finsternis fern von Gott verstoßen werden.

In Anlehnung an Hillel könnte man sagen: Das ist die Theorie. Alles andere ist Kommentar.

Menschen, die an diese Theorie glauben — und vor allem jenen, die das biblische Wort Gottes wörtlich nehmen —, steht es frei, andere Theorien über den Ursprung und den Sinn des Lebens zu verwerfen und den Fakten, auf denen andere Theorien gründen, kein oder wenig Gewicht beizumessen. Darüber hinaus empfingen die Gläubigen, indem sie die Gesetze Gottes und die Vorschriften für ihre Befolgung in allen Einzelheiten beachten, eine Art von Orientierung, welche Bücher sie nicht lesen sollen, welche Theaterstücke und welche Filme sie nicht ansehen sollen, welche Musik sie nicht hören sollen, welche Fächer oder Themen ihre Kinder nicht studieren sollen, und so weiter. Für die strengen Bibel-Fundamentalisten wird die Theorie der Bibel und das, was sich aus ihr ergibt, zu einem Sperriegel gegen unerwünschte Information, und gerade hierdurch gewinnt ihr Handeln Sinn, Klarheit und, wie sie glauben, moralische Autorität.

Menschen, die die Theorie der Bibel ablehnen und beispielsweise der Theorie der Naturwissenschaften vertrauen, sind ebenfalls vor unerwünschter Information geschützt: Ihre Theorie weist sie zum Beispiel an, Informationen aus den Gebieten der Astrologie, der Dianetik oder der Schöpfungslehre, die sie meist als mittelalterlichen Aberglauben oder subjektive Meinung abtun, keine Beachtung zu schenken.

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Ihre Theorie vermag ihnen jedoch keine ethische Orientierung zu geben und legt prinzipiell wenig Gewicht auf Informationen, die außerhalb der Grenzen der Wissenschaft liegen. Unbestreitbar ist, daß sich immer weniger Menschen an die Aufmerksamkeits- und Autoritätsansprüche biblischer oder anderer religiöser Traditionen gebunden fühlen, und dies hat zur Folge, daß sie keine ethischen, sondern nur noch praktische Entscheidungen treffen. Auch hieraus ergibt sich eine Definition für das Technopol. Dieser Begriff paßt auf eine Kultur, deren verfügbare Theorien keine Hinweise enthalten, welche Informationen in der Sphäre der Ethik akzeptabel sind.

Ich vertraue darauf, daß der Leser nicht zu dem Schluß kommt, ich wollte hier irgendeinem Fundamental­ismus das Wort reden. Ein islamischer Fundamentalismus, der einen Menschen mit dem Tod bedroht, weil er etwas geschrieben hat, das man ihm als Blasphemie auslegt, ist ebensowenig zu billigen wie ein christlicher Fundamentalismus, der in früheren Zeiten das gleiche getan hat. Ich möchte hingegen nicht bestreiten, daß man sehr wohl als Muslim, als Christ oder Jude leben kann, indem man eine weniger radikale Haltung zur religiösen Theorie einnimmt. Ich möchte hier nur darauf hinweisen, daß die religiöse Tradition als Mechanismus zur Regulierung und Bewertung von Information fungiert. Wenn die Religion viel oder alles von ihrer bindenden Kraft verliert — wenn sie zu rhetorischer Asche zerfällt —, dann entsteht unweigerlich Verwirrung darüber, woran man sich halten soll und wie man dem, woran man sich hält, Sinn geben kann.

Während ich dies schreibe, ist eine andere große Welterklärung in Verfall geraten, der Marxismus. Ohne Zweifel gibt es marxistische Fundamentalisten, die nicht von der Marxschen Theorie ablassen und sich weiterhin an ihren Rezepten und Zwängen orientieren werden. Auch diese Theorie hat schließlich genug Kraft besessen, die Vorstellungskraft und das Engagement von mehr als einer Milliarde Menschen zu binden. Wie die Bibel und wie alle großen Welterklärungen enthält auch diese Theorie eine transzendente Idee.

Ohne es hier mit den philosophischen und soziologischen Debatten aus anderthalb Jahrhunderten aufnehmen zu wollen, möchte ich diese Theorie folgendermaßen zusammenfassen:

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Alle Formen von institutionellem Elend und institutioneller Unterdrückung sind das Ergebnis von Klassen­kämpfen, denn das Bewußtsein der Menschen wird durch ihre materiellen Lebensbedingungen geprägt. Gott interessiert sich hierfür nicht, denn es gibt keinen Gott. Aber es gibt einen Plan, der sowohl erkennbar ist als auch zum Guten führt. Dieser Plan entfaltet sich im Laufe der Geschichte selbst, die ihrerseits unmißverständlich zeigt, daß die Arbeiterklasse zuletzt triumphieren muß. Wenn dies mit oder ohne Hilfe von revolutionären Bewegungen geschehen ist, werden alle Klassenunterschiede verschwinden. Alle Menschen haben dann gleichen Anteil am Überfluß der Natur und an der schöpferischen Produktion, und niemand beutet mehr die Arbeitskraft eines anderen aus.

Man nimmt allgemein an, diese Theorie sei bei ihren Anhängern in Verruf geraten, weil Informationen, die durch Fernsehen, Film, Telephon, Telefaxapparate und andere Technologien übermittelt wurden, offenkundig gemacht haben, daß die Arbeiterklasse in den kapitalistischen Ländern einen ganz erheblichen Anteil am Überfluß der Natur gewonnen hat und gleichzeitig ein beträchtliches Maß an individueller Freiheit genießt. Ihre Lage ist derjenigen der Arbeiter in Ländern, die sich am Marxismus orientieren, derart überlegen, daß Millionen von Menschen, und zwar, wie es scheint, alle auf einmal, zu dem Schluß gekommen sind, daß die Geschichte womöglich überhaupt keine Absichten hinsichtlich des Schicksals der Arbeiterklasse hegt, und wenn doch, daß sich das letzte Kapitel dieser Geschichte jedenfalls vollständig anders darstellt, als Marx es prophezeit hat.

Das alles ist nur provisorisch gesagt. Die Geschichte läßt sich viel Zeit, und es können noch Entwicklungen eintreten, die der Vision von Marx eine neue Wahrscheinlichkeit verleihen. Folgendes läßt sich jedoch feststellen: Die Anhänger der marxistischen Welterklärung bekamen ziemlich klare Anweisungen, wie sie Information einzuschätzen, und insofern auch, wie sie das historische Geschehen zu verstehen hatten. In dem Maße, wie sie die Theorie nun ablehnen, droht ihnen eine Begriffsverwirrung, das heißt, sie wissen nicht mehr, wem sie glauben und was sie glauben sollen. Im Westen und vor allem in den Vereinigten Staaten herrscht große Genugtuung hierüber, und allenthalben wird versichert, an die Stelle des Marxismus könne nun die sogenannte »liberale Demokratie« treten.

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Aber man muß dies eher als Frage denn als Antwort formulieren, denn heutzutage ist durchaus nicht mehr klar, was der Begriff der liberalen Demokratie eigentlich besagt.

Ein Loblied auf den Siegeszug der liberalen Demokratie stimmt Francis Fukuyama in seinem Essay The End of History? an. Fukuyama, der sich einer einigermaßen seltsamen Definition von Geschichte bedient, kommt darin zu dem Schluß, daß es, nachdem alle Konkurrenten des modernen Liberalismus unterlegen seien, in Zukunft keine ideologischen Auseinandersetzungen mehr geben werde. Dazu beruft er sich auf Hegel, der im frühen 19. Jahrhundert eine ähnliche Position vertreten habe, als die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit, wie sie in der Amerikanischen und in der Französischen Revolution zum Ausdruck kamen, triumphierten. Nach dem Niedergang des Faschismus und des Kommunismus gebe es nun keinerlei Bedrohung mehr.

Aber Fukuyama zollt den Veränderungen zu wenig Beachtung, die der Begriff der liberalen Demokratie selbst im Laufe von zweihundert Jahren erfahren hat. In einer Technokratie bedeutet er etwas ganz anderes als unter dem Technopol; hier rückt er in die Nähe dessen, was Walter Benjamin als »Warenkapitalismus« bezeichnet hat. Im Falle der Vereinigten Staaten war die große Umwälzung des 18. Jahrhunderts gewiß nicht völlig unberührt vom Warenkapitalismus, aber sie war zugleich von einem ethischen Inhalt erfüllt. Die Vereinigten Staaten waren mehr als ein Experiment mit einer neuen Regierungsform; sie waren die Erfüllung eines göttlichen Plans. Adams, Jefferson und Paine lehnten die übernatürlichen Elemente in der Bibel zwar ab, aber sie zweifelten nie daran, daß ihr Experiment das Imprimatur der Vorsehung besaß. Die Menschen sollten frei sein, jedoch mit einem Ziel. Ihre gottgegebenen Rechte brachten Pflichten und Verantwortung mit sich, nicht nur gegenüber Gott, sondern auch gegenüber anderen Nationen, für die die neue Republik ein Schaufenster dessen sein sollte, was möglich ist, wenn sich Vernunft und Spiritualität verbünden.

Es ist ungeklärt, ob die »liberale Demokratie« in ihrer heutigen Gestalt eine gedankliche Grundlage mit so viel ethischer Substanz darzustellen vermag, daß sich mit ihr ein sinnerfülltes Leben entfalten läßt. Genau diese Frage hat Václav Havel in einer Rede vor dem amerikanischen Kongreß kurz nach seiner Wahl zum Präsidenten der Tschechoslowakei gestellt.

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»Wir wissen nicht, wie wir die Ethik der Politik, der Wissenschaft und der Wirtschaft voranstellen sollen«, sagte er. »Wir sind noch immer unfähig zu verstehen, daß das einzige wirkliche Rückgrat unserer Handlungen — wenn sie ethisch sein sollen — die Verantwortung ist. Die Verantwortung gegenüber etwas Höherem, als es die eigene Familie, das eigene Land, die eigene Firma, der eigene Erfolg ist.«

Es sei nicht genug, so meint Havel, wenn sich sein Land von einer fehlerbehafteten Theorie befreie; es sei nötig, eine andere zu finden, und er fürchtet, daß das Technopol keine Antwort geben wird. Mit anderen Worten: Francis Fukuyama irrt. Der nächste ideologische Konflikt ist längst entbrannt — zwischen der »liberalen Demokratie« mit ihrem transzendenten ethischen Unterbau, wie das 18. Jahrhundert sie konzipierte, und dem Technopol, einem Gedankengebäude des 20. Jahrhunderts, das nicht nur ohne transzendente Welterklärung auskommt, die eine ethische Basis bereitstellen könnte, sondern auch ohne starke gesellschaftliche Institutionen, die die von der Technologie erzeugte Informationsflut kontrollieren könnten.

Weil diese Flut die Theorien verwüstet hat, auf denen die Schule, die Familie, die politische Partei, die Religion und die Nation selbst gründen, muß sich das amerikanische Technopol in einem bestürzenden Ausmaß auf technische Methoden zur Kontrolle des Informationsflusses stützen. Drei Mittel, die es dabei anwendet, verdienen besondere Aufmerksamkeit. Sie stehen in Verbindung miteinander, aber um der größeren Klarheit willen sollen sie hier gesondert beschrieben werden.

Das erste ist die Bürokratie, die James Beniger in seinem Buch The Control Revolution als die »wichtigste aller technologischen Lösungen für die Kontroll-Krise« bezeichnet.4 Die Bürokratie ist natürlich keine Erfindung des Technopols. Ihre Geschichte läßt sich fünftausend Jahre zurückverfolgen, wenngleich das Wort selbst erst während des 19. Jahrhunderts Eingang in die englische Sprache fand. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß sich schon die alten Ägypter über die Bürokratie ärgerten, doch es steht jedenfalls fest, daß zu Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Bürokratien immer wichtiger wurden, auch die Klagen über sie an Heftigkeit zunahmen. John Stuart Mill sprach von einer »administrativen Tyrannei« und Carlyle von einer »Plage des Kontinents«.

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Tocqueville warnte, was geschehen würde, wenn die Bürokratie in den Vereinigten Staaten Fuß faßte:

»Ich habe früher zwei Arten von Zentralisation unterschieden; die eine nannte ich Regierungs-, die andere Verwaltungs­zentralisation. In Amerika gibt es allein die erste; die zweite ist dort fast unbekannt. Wenn die Gewalt, welche die amerikanischen Gesellschaften lenkt, diese zwei Regierungsmittel zur Verfügung hätte und mit dem Recht, alles zu bestimmen, die Fähigkeit und die Gewohnheit verbände, alles selber auszuführen; wenn sie sich nach der Aufstellung der allgemeinen Regierungsgrundsätze in die Einzelheiten der Anwendung einmischte und nach dem Ordnen der großen Landesinteressen bis zur Grenze der persönlichen Angelegenheiten hinabsteigen könnte — dann wäre die Freiheit bald aus der Neuen Welt verbannt.«5)

Für unsere heutige Zeit vertrat C.S. Lewis die Ansicht, die Bürokratie sei die technische Verkörperung des Teufels selbst:

»Ich lebe im Manager-Zeitalter, in einer verwalteten Welt. Die größten Untaten werden nicht in jenen Schlupfwinkeln des Verbrechens begangen, die Dickens so liebevoll beschrieben hat. Auch nicht in den Konzentrationslagern und Arbeitslagern. Dort erblicken wir nur die letzten Auswirkungen dieser Untaten. Aber geplant und organisiert (angeregt, unterstützt, ausgeführt und protokolliert) werden sie in sauberen, warmen, hellen Büros mit Teppichboden, von ruhigen Männern mit weißen Kragen und geschnittenen Fingernägeln und glattrasierten Wangen, die nicht laut zu werden brauchen. Deshalb verbindet sich das Bild der Hölle für mich mit der Bürokratie eines Polizeistaates oder den Geschäftsräumen eines häßlichen Konzerns.«6) 

Wenn wir diese Attacken für den Augenblick einmal außer acht lassen, können wir feststellen, daß eine Bürokratie im Kern eine Serie koordinierter Verfahren zur Reduktion der Informationsmengen darstellt, die verarbeitet werden sollen. So weist Beniger darauf hin, daß das standardisierte Formular — eines der Haupterzeugnisse der Bürokratie — die »Zerstörung« aller Nuancen und Einzelheiten einer bestimmten Situation erlaubt.7)

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Indem das Formular von uns verlangt, Kästchen anzukreuzen und Felder auszufüllen, läßt es nur ein begrenztes Spektrum formalisierter, objektiver und unpersönlicher Informationen zu, die in manchen Fällen auch genau das sind, was zur Lösung eines bestimmten Problems benötigt wird. Max Weber nannte die Bürokratie einen Versuch, den Fluß der Information zu rationalisieren und ihre Nutzung so effizient wie möglich zu gestalten, indem jene Information ausgesondert wird, die von einem akuten Problem ablenkt. Als herausragendes Beispiel für eine solche bürokratische Rationalisierung nennt Beniger die Entscheidung aus dem Jahre 1884, die Zeit weltweit in vierundzwanzig Zeitzonen zu organisieren.

Vor dieser Entscheidung gab es mitunter in Städten, die nur wenige Kilometer voneinander entfernt lagen, unterschiedliche Uhrzeiten, wodurch der Eisenbahnbetrieb und geschäftliche Aktivitäten unnötig kompliziert wurden. Indem die Bürokratie einfach ignorierte, daß die Sonnenzeit von einem Verkehrsknotenpunkt zum anderen tatsächlich differiert, beseitigte sie dieses Infor­mations­chaos, sehr zur Zufriedenheit der meisten Menschen, aber nicht aller. Denn die Vorstellung von »Gottes eigener Zeit« (eine Formel, mit der sich die Schriftstellerin Marie Corelli zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen die Einführung der Sommerzeit wandte) mußte nun als belanglos gelten. Dies ist wichtig, denn in dem Bestreben, Information möglichst rational zu nutzen, ignoriert die Bürokratie alle Informationen und Vorstellungen, die nicht zur Steigerung der Effizienz beitragen. Und dies tat die Vorstellung von Gottes eigener Zeit nicht.

Nicht jede Bürokratie ist grundsätzlich eine gesellschaftliche Institution; und nicht jede Institution, die Information reduziert, indem sie bestimmte Arten oder Quellen von Information ausschließt, ist eine Bürokratie. Schulen mögen die Dianetik und die Astrologie ausschließen; Gerichte schließen Beweise nach Hörensagen aus. Sie tun dies aus gewichtigen Gründen, die mit den Theorien zusammenhängen, auf denen diese Institutionen gründen. Aber die Bürokratie verfügt nicht über eine intellektuelle, politische oder ethische Theorie — ausgenommen die stillschweigend gemachte Voraussetzung, Effizienz sei das wichtigste Ziel der gesellschaftlichen Institutionen und andere Ziele seien prinzipiell weniger wichtig, wenn nicht irrelevant. Deshalb hielt John Stuart Mill die Bürokratie für eine »Tyrannei«, und deshalb setzte C.S. Lewis sie mit der Hölle gleich.

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Die Verwandlung der Bürokratie aus einer Reihe von Verfahren im Dienste gesellschaftlicher Institutionen in eine autonome Meta-Institution, die weitgehend ihren eigenen Zwecken gehorcht, war das Ergebnis verschiedener Entwicklungen, die sich um die Mitte und gegen Ende des 19. Jahrhunderts vollzogen: rasches industrielles Wachstum, Verbesserungen im Verkehrs- und Kommunikationswesen; ein Ausgreifen staatlicher Aktivitäten in immer weitere Sektoren des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens und die zunehmende Zentralisierung der staatlichen und administrativen Strukturen.

Hinzu kam im 20. Jahrhundert die Informationsexplosion und das, was man als »Bürokratie-Effekt« beschreiben könnte: In dem Maße, wie die Techniken zur Bewältigung von Information immer notwendiger, immer weitläufiger und immer komplexer wurden, nahm die Zahl der Menschen und Strukturen zu, die für die Bewältigung dieser Techniken erforderlich waren, und ebenso die Menge an Informationen, die durch diese bürokratischen Techniken wiederum hervorgebracht wurde. So entstand ein Bedarf an Bürokratien zur Lenkung und Koordination der vorhandenen Bürokratien, sodann ein Bedarf an zusätzlichen Strukturen und Techniken, um jene Bürokratien zu lenken, die ihrerseits Bürokratien koordinierten, und so weiter- bis die Bürokratie schließlich, um eine Bemerkung von Karl Kraus über die Psychoanalyse abzuwandeln, zu jener Krankheit wurde, für deren Heilmittel sie sich ausgibt.

Im Zuge dieser Entwicklung hörte sie auf, eine Dienerin gesellschaftlicher Institutionen zu sein, und wurde zu deren Beherrscherin. Die Bürokratie löst heute nicht nur Probleme, sie schafft auch neue. Noch wichtiger: sie definiert, was unsere Probleme sind — und aus der Sicht der Bürokratie sind dies immer Effizienzprobleme. Dadurch werden die Bürokratien, wie C. S. Lewis meint, äußerst gefährlich, denn während sie ursprünglich nur zur Bewältigung technischer Information vorgesehen waren, werden sie heutzutage bei der Auseinandersetzung mit ethischen, gesellschaftlichen und politischen Problemen eingeschaltet. Die Bürokratie des 19. Jahrhunderts hatte es mit der effizienteren Gestaltung des Verkehrswesens, der Industrie und der Güterverteilung zu tun. Die Bürokratie des Technopols hat sich aus solchen Beschränkungen gelöst und beansprucht heute die Vormacht über alle Belange der Gesellschaft.

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Welches Risiko damit verbunden ist, daß wir gesellschaftliche, ethische und politische Angelegenheiten der Bürokratie überantworten, wird deutlich, wenn wir uns darauf besinnen, was ein Bürokrat eigentlich tut. Wie aus der Bedeutungsgeschichte des Wortes selbst erhellt, ist ein Bürokrat nichts weiter als eine bessere Theke. Das französische Wort bureau bezeichnete zunächst nur das Tuch für einen Schreibtisch, dann den Tisch selbst, dann den Raum, in dem der Tisch stand, und schließlich das gesamte Amt und das Personal, das in diesem Amt tätig war. Heute bezeichnet das Wort »Bürokrat« eine Person, die aufgrund ihrer Ausbildung, ihrer Einstellung und sogar ihres Temperaments gegen den Inhalt und die ganze Komplexität menschlicher Probleme gleichgültig ist. Der Bürokrat kümmert sich um die Auswirkungen einer Entscheidung nur insofern, als diese Entscheidung das effiziente Funktionieren der Bürokratie betrifft, und übernimmt keine Verantwortung für die menschlichen Folgen.

So wird Adolf Eichmann zum Grundmodell und Inbegriff des Bürokraten im Zeitalter des Technopols.8

Als man ihm Verbrechen wider die Menschlichkeit zur Last legte, erklärte er, er habe an der Formulierung der politischen und soziologischen Theorie der Nazis keinen Anteil gehabt; er habe es mit dem technischen Problem zu tun gehabt, eine große Zahl von Menschen schnell von einem Ort zum anderen zu transportieren. Warum sie transportiert wurden und was mit ihnen geschehen würde, wenn sie an ihrem Bestimmungsort angekommen waren, sei für seine Aufgabe nicht maßgeblich gewesen.

Die Aufgaben, die Bürokraten heutzutage unter dem Technopol erfüllen, zeitigen zwar weit weniger grauenhafte Resultate, aber die Antwort, die Eichmann gab, wird in Amerika heute wahrscheinlich fünftausendmal am Tag gegeben: Ich trage keine Verantwortung für die menschlichen Folgen meiner Entscheidungen. Ich bin nur verantwortlich für die effiziente Wahrnehmung meiner Rolle innerhalb einer Bürokratie, die um jeden Preis aufrechterhalten werden muß.

Eichmann, auch dies gilt es zu beachten, war ein Experte. Und Expertentum ist ein zweites wichtiges Instrument, dessen sich das Technopol im Kampf um die Kontrolle über die Information bedient. Experten hat es natürlich schon immer gegeben, auch in Werkzeugkulturen. Die Pyramiden, die römischen Straßen, das Straßburger Münster hätten ohne Experten kaum erbaut werden können.

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Aber der Experte und die Expertin unter dem Technopol weisen zwei Merkmale auf, die sie von den Experten der Vergangenheit unterscheiden.

Erstens: die Experten des Technopols sind in allen Belangen, die nicht direkt mit ihrem Fachgebiet zusammenhängen, meist ahnungslos. Ein Psychotherapeut zum Beispiel verfügt heutzutage in der Regel kaum über eine auch nur flüchtige Kenntnis von Literatur, Philosophie, Sozialgeschichte, Kunst, Religion und Biologie, und solche Kenntnisse werden von ihm auch nicht erwartet.

Zweitens: wie die Bürokratie (mit der der Experte in Verbindung stehen mag oder auch nicht) beanspruchen auch die Experten des Technopols Kontrollgewalt nicht nur in technischen Fragen, sondern auch in gesellschaftlichen, psychologischen und ethischen.

In den Vereinigten Staaten haben wir Experten, die uns sagen, wie man Kinder aufziehen und erziehen soll, wie man zu einem liebenswerten Menschen wird und wie man die Liebe praktizieren soll, wie man andere Menschen beeinflussen und wie man Freunde gewinnen kann. Es gibt keinen Aspekt zwischenmenschlicher Beziehungen, der nicht technifiziert und damit der Kontrolle der Experten überantwortet worden wäre.

Es sind vor allem drei Faktoren, die bewirkt haben, daß der zeitgenössische Experte diese Merkmale hat. Erstens: das Anwachsen der Bürokratien, das zum erstenmal ganz und gar technisch orientierte Spezialisten hervorgebracht und auf diese Weise dem Ignoranten Fachmann, dem »Fachidioten«, Glaubwürdigkeit und Ansehen verschafft hat. Zweitens: die Schwächung traditioneller Institutionen, was zur Folge hatte, daß die Menschen das Vertrauen in die Tradition verloren. Drittens, und dies ist die Basis für alle anderen Entwicklungen: die Informationsflut, deren Ergebnis ist, daß heutzutage niemand über mehr als nur einen winzigen Bruchteil des gesamten menschlichen Wissens verfügen kann. In meiner Studentenzeit sagte mir einmal eine begeisterte Professorin für deutsche Literatur, Goethe sei der letzte Mensch gewesen, der alles gewußt habe.

Ich nehme an, sie wollte mit dieser erstaunlichen Bemerkung Goethe nicht zu einem Gott verklären, sondern nur darauf aufmerksam machen, daß es um das Jahr 1832, als Goethe starb, auch für den brillantesten Geist nicht mehr möglich war, alles bekannte Wissen zu erfassen, geschweige denn zu begreifen.

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Die Aufgabe des Experten besteht darin, sich auf ein Wissensgebiet zu konzentrieren, alles auf diesem Gebiet verfügbare Wissen zu sichten, das auszusondern, was für ein bestimmtes Problem nicht relevant ist, und das übrige für die Lösung des Problems anzuwenden. Das funktioniert recht gut, sofern es um technische Lösungen geht und kein Konflikt mit menschlichen Zielsetzungen entsteht — etwa bei der Konstruktion von Weltraumraketen oder beim Bau eines Kanalisationssystems. Es funktioniert weniger gut, wo technische Erfordernisse in einen Konflikt mit menschlichen Zielsetzungen geraten können, wie im Bereich der Medizin oder der Architektur.

Und katastrophal wird es dort, wo es um Probleme geht, die sich mit technischen Mitteln nicht lösen lassen und bei denen Effizienzgesichtspunkte in der Regel belanglos sind, wie etwa in der Erziehung, im Rechtswesen, in der Familie und bei Problemen von individueller Fehlanpassung. Ich denke, ich muß den Leser nicht erst davon überzeugen, daß es keine Experten für Kinderaufzucht, für die Praxis der Liebe und für Freundschaften gibt — und daß es sie nicht geben kann. Das alles sind Hirngespinste, die der Phantasie des Technopolisten entsprungen sind und die nur durch den Einsatz technischer Apparate plausibel gemacht werden, ohne die der Experte entwaffnet und als Eindringling und Ignorant bloßgestellt würde.

Der technische Apparat ist für den Bürokraten und den Experten gleichermaßen wesentlich, und man könnte ihn als einen dritten Mechanismus zur Informationskontrolle bezeichnen. Ich denke hier nicht an »harte« Technologien wie den Computer — der unbedingt gesondert betrachtet werden muß, da er alles verkörpert, wofür das Technopol steht.

Ich denke vielmehr an »sanftere« Technologien wie Intelligenztests, Schuleignungstests, standardisierte Formulare, Klassifikationen und Meinungs­umfragen. Einige von ihnen werde ich im achten Kapitel »Unsichtbare Technologien« erörtern, aber ich möchte schon hier auf sie hinweisen, weil ihre Rolle bei der Reduzierung der Vielfalt und der Menge von Informationen, die in einem System zugelassen sind, und infolgedessen auch ihre Rolle bei der Neudefinition traditioneller Begriffe oft unbemerkt bleibt.

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Es gibt beispielsweise keinen Test, mit dem sich die Intelligenz eines Menschen messen ließe. Intelligenz ist ein umfassender Begriff, der die Fähigkeit eines Menschen beschreibt, in einer Vielfalt neuer oder unerwarteter Zusammenhänge Probleme des wirklichen Lebens zu lösen. Jeder, ausgenommen die Experten, weiß, daß dem Einzelnen diese Fähigkeit je nach Art der zu lösenden Probleme in höchst unterschiedlichem Maße zur Verfügung steht - von beständig effektiv bis hin zu beständig ineffektiv. Wenn man uns jedoch glauben machen will, ein Test könne ein genaues Maß für die Menge der Intelligenz eines Einzelnen offenbaren, dann wird aus institutioneller Sicht der Punktwert in einem solchen Test gleichgesetzt mit der Intelligenz dieses Einzelnen. Der Test verwandelt eine abstrakte, facettenreiche Bedeutung in einen technischen, exakten Ausdruck, der all das außer acht läßt, worauf es wirklich ankommt. Von einem Intelligenztest könnte man sagen, was Macbeth vom Leben sagt: »ein Märchen ist's, erzählt von einem Tollen [einem Experten], das nichts bedeutet.«

Dennoch stützt sich der Experte auf unseren Glauben an die Realität technischer Apparate, der zur Folge hat, daß wir die vom Apparat hervorgebrachten Antworten verdinglichen. Zuletzt glauben wir selbst, daß unser Punktwert tatsächlich unsere Intelligenz anzeigt oder unsere Kreativität oder unsere Fähigkeit, zu lieben oder Schmerz zu empfinden. Wir gelangen zu der Ansicht, daß die Ergebnisse von Meinungsumfragen wirklich das sind, was die Menschen glauben, so als ließen sich unsere Anschauungen tatsächlich in Sätzen wie »Ich bin dafür« oder »Ich bin dagegen« unterbringen.

Wenn katholische Priester Wein, Hostien und Gebetsformeln verwenden, um spirituelle Vorstellungen greifbar werden zu lassen, dann räumen sie ein, daß hier Geheimnis und Gleichnis ins Spiel kommen. Die Experten des Technopols indessen wollen von solchen Zwischentönen und Nuancierungen nichts wissen, wenn sie Formulare, standardisierte Tests, Meinungsumfragen und vielerlei Apparaturen in Betrieb setzen, die bestimmten Vorstellungen von Intelligenz, Kreativität, Sensibilität, emotionaler Unausgeglichenheit, sozialer Devianz oder politischer Meinung eine technische Realität geben.

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Sie wollen uns weismachen, die Technik oder die Technologie könnte das Wesen einer menschlichen Befindlichkeit oder einer menschlichen Glaubensüberzeugung dadurch offenbaren, daß ein Punktwert, eine Statistik oder eine kategoriale Zuordnung dieser Befindlichkeit oder dieser Überzeugung eine technische Form gibt.

Die Technisierung von Begriffen und Problemen ist unbestreitbar eine äußerst bedenkliche Version der Informationskontrolle. Institutionen können auf der Grundlage von Testergebnissen und Statistiken Entscheidungen treffen, und in manchen Situationen gibt es hierzu wohl auch keine sinnvolle Alternative. Aber sofern solche Entscheidungen nicht mit Skepsis getroffen werden, sofern dabei nicht beachtet wird, daß hier allein verwaltungspraktische Gesichtspunkte maßgeblich sind, bekommen sie etwas höchst Irreführendes. Unter dem Technopol bekommt diese Irreführung eine zusätzliche Weihe dadurch, daß wir den Experten, die sich mit einer hochentwickelten technischen Apparatur gerüstet haben, übermäßig viel Ansehen zuerkennen. Shaw hat einmal bemerkt, alle freien Berufe seien Verschwörungen gegen die Laien. Ich würde noch weitergehen und sagen:

Unter dem Technopol sind alle Experten mit dem Charisma von Priestern ausgestattet. Einige dieser priesterlichen Experten nennt man Psychiater, andere Psychologen oder Soziologen und wieder andere Statistiker. Der Gott, dem sie dienen, spricht nicht von Rechtschaffenheit oder Güte, von Mitleid oder Gnade. Ihr Gott spricht von Effizienz, Präzision, Objektivität. Und deshalb verschwinden unter dem Technopol Begriffe wie »Sünde« und »das Böse«.

Sie entstammen einem ethischen Universum, das für die Theologie des Expertentums jegliche Relevanz verloren hat. Deshalb bezeichnen die Priester des Technopols die Sünde mit einem statistischen Begriff als »soziale Abweichung«, und deshalb bezeichnen sie das Böse mit einem medizinischen Begriff als »Psychopathologie«. Die Sünde und das Böse verschwinden, weil sie nicht meßbar und objektivierbar sind und weil Experten deshalb mit ihnen nichts anfangen können.

In dem Maße, wie die traditionellen gesellschaftlichen Institutionen die Kraft verlieren, Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit der Menschen zu strukturieren, werden Bürokratie, Expertentum und technischer Apparat die wichtigsten Instrumente, auf die das Technopol setzt, um Information zu kontrollieren und sich selbst den Anschein von Begreiflichkeit und Ordnung zu geben. Der Rest dieses Buches erzählt, warum dies nicht funktionieren kann, und von den schmerzlichen Folgen und der Dummheit, die hieraus resultieren.

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