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8. Unsichtbare Technologien  

Postman-1991

 

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Wenn wir »Ideologie« als einen Komplex von Anschauungen definieren, deren wir uns zwar kaum bewußt sind, die uns aber dennoch bei unseren Bemühungen lenken, der Welt Gestalt und Kohärenz zu geben, dann ist unser stärkstes ideologisches Instrument die Technologie der Sprache selbst.

Sprache ist reine Ideologie. Sie lehrt uns nicht nur, welche Namen die Dinge haben, sondern auch — und dies ist noch wichtiger —, welche Dinge überhaupt benannt werden können. Sie teilt die Welt in Subjekte und Objekte. Sie gibt an, welche Ereignisse als Prozesse und welche als Dinge anzusehen sind. Sie belehrt uns über Zeit, Raum und Zahl und formt unsere Vorstellung davon, in welcher Beziehung wir zur Natur und zu anderen Menschen stehen. In der englischen Grammatik zum Beispiel gibt es immer Subjekte, die handeln, Verben, die die Handlungen dieser Subjekte bezeichnen, und Objekte, die »behandelt« werden. Diese Grammatik ist ziemlich aggressiv, und sie macht es denen schwer, die sich mit ihrer Hilfe die Welt als gutartig vorzustellen versuchen. Für uns besteht die Welt notgedrungen aus lauter Dingen, die aneinander­stoßen und einander oft auch attackieren.

Die meisten von uns sind sich natürlich zumeist nicht darüber im klaren, wie die Sprache dies bewerkstelligt. Wir leben innerhalb der Schranken unserer sprachlichen Spielräume und können uns kaum vorstellen, wie sich die Welt für Menschen ausnimmt, die eine andere Sprache sprechen. Wir neigen zu der Annahme, daß jeder die Welt genauso sieht wie wir, ungeachtet aller Unterschiede zwischen verschiedenen Sprachen.

Nur gelegentlich wird diese Illusion in Frage gestellt, etwa wenn die Unterschiede zwischen zwei sprachlichen Ideologien für jemanden sichtbar werden, der zwei ihrer Struktur und Geschichte nach sehr verschiedene Sprachen beherrscht. So zitierte die japanische Zeitung Yomiuri vor einigen Jahren den Gewinner des Nobelpreises für Medizin von 1987, Susumu Tonegawa, mit der These, die japanische Sprache sei der Klarheit oder dem Verstehen in der naturwissenschaftlichen Forschung nicht förderlich. Von seinem Posten als Professor am Massachusetts Institute of Technology sagte er, an seine Landsleute gewandt: »Wir sollten in Erwägung ziehen, unser Denken auf dem Gebiet der Naturwissenschaften zu verändern, indem wir unsere Überlegungen auf englisch anstellen.«

Man beachte, daß er nicht behauptete, die englische Sprache sei besser als die japanische, sondern nur, daß sie für die Zwecke der wissenschaftlichen Forschung besser geeignet sei, und dies bedeutet, daß dem Englischen (und anderen westlichen Sprachen) eine bestimmte ideologische Tendenz innewohnt, die das Japanische nicht besitzt. Wir nennen diese Tendenz den »wissen­schaftlichen Blickwinkel«. Wenn Ihnen dieser wissenschaftliche Blickwinkel so selbstverständlich erscheint wie mir, dann deshalb, weil unsere Sprache diesen Anschein erweckt. Das, was wir als »überlegen« bezeichnen, wird durch den Charakter unserer Sprache bestimmt. Überlegungen auf japanisch anstellen ist offenbar nicht das gleiche, wie Überlegungen auf englisch oder italienisch oder deutsch anstellen.

Kurz, wie jede wichtige Apparatur — zum Beispiel das Fernsehgerät oder der Computer — besitzt auch die Sprache eine spezifische ideologische Ausrichtung, die sich unserem Blick meist entzieht. Im Falle der Sprache ist diese Ausrichtung so tief in unsere Persönlichkeit und in unsere Weltsicht integriert, daß es einer besonderen Anstrengung und oft sogar einer besonderen Ausbildung bedarf, sie und ihre Gestalt zu erkennen.

Im Unterschied zum Fernsehgerät und zum Computer erscheint uns die Sprache nicht als eine Erweiterung oder Verlängerung unserer Kräfte, sondern als ein natürlicher Ausdruck dessen, was wir sind. Darin besteht das große Geheimnis der Sprache: Weil sie aus unserem Innern kommt, halten wir sie für einen direkten, unbe­arbeiteten, unverzerrten, unpolitischen Ausdruck dessen, wie die Welt wirklich beschaffen ist.

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Die Maschine hingegen ist außerhalb von uns, wir haben sie geschaffen, wir können sie verändern und sogar ausrangieren; deshalb ist es leichter, zu erkennen, wie eine Maschine die Welt nach ihrem Bild neu schafft. Aber in vieler Hinsicht funktioniert ein Satz durchaus wie eine Maschine, und dies zeigt sich nirgendwo deutlicher als in jenen Sätzen, die wir Fragen nennen.

Betrachten wir zum Beispiel eine Frage, bei der man die Antwort einsetzen muß:
Thomas Jefferson starb im Jahre...
Formulieren wir diese Frage nun als eine Multiple-Choice-Frage:
Thomas Jefferson starb im Jahre (a) 1788, (b) 1826, (c) 1926, (d) 1809.

Welche von beiden Fragen ist leichter zu beantworten? Ich nehme an, Sie werden mir zustimmen, wenn ich sage, daß sich die zweite Frage leichter beantworten läßt, es sei denn, Sie kennen zufällig das genaue Todesjahr von Jefferson. In diesem Fall stellt weder die eine noch die andere Frage irgendeine Schwierigkeit dar. Für die meisten von uns, die wir nur eine ungefähre Vorstellung davon haben, wann Jefferson lebte, hat die zweite Frage die Dinge so arrangiert, daß sich unsere Chance, die Antwort zu »wissen«, deutlich erhöht. Studenten sind bei einem Multiple-Choice-Test immer »klüger« als bei einem Test, in dem Fragen ohne Vorgaben beantwortet werden sollen, auch wenn es sich um dasselbe Thema handelt.

Eine Frage, und sei sie noch so einfach, ist niemals untendenziös und kann es nicht sein. Ich meine hier nicht den häufig zu hörenden Einwand, ein bestimmter Test sei mit kulturellen Vorurteilen behaftet. Selbstverständlich können Fragen mit kulturellen Vorurteilen behaftet sein. (Warum zum Beispiel fragen wir überhaupt nach Thomas Jefferson und dann auch noch nach seinem Todesjahr?) Ich möchte hier lediglich darauf hinweisen, daß die Struktur jeder Frage ebensowenig neutral ist wie ihr Inhalt. Die Form, in der eine Frage gestellt wird, kann es uns leichter oder schwerer machen. Sie kann sogar, wenn man sie ein wenig umformuliert, widersprüchliche Antworten hervorbringen, wie im Falle der beiden Priester, die sich nicht sicher waren, ob es zulässig sei, gleichzeitig zu rauchen und zu beten, und die deshalb an den Papst schrieben.

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Der eine Priester stellte die Frage: »Ist es erlaubt, beim Beten zu rauchen?« und bekam die Antwort: Nein, denn dem Gebet solle die ungeteilte Aufmerksamkeit des Betenden gehören. Der andere fragte, ob es erlaubt sei, beim Rauchen zu beten, und erhielt die Antwort: Ja, denn ein Gebet sei immer gut. Die Form einer Frage kann uns sogar daran hindern, Lösungen für Probleme zu erkennen, die sichtbar werden, sobald man die Frage anders formuliert. Betrachten Sie die folgende Anekdote, deren Authentizität zwar fraglich ist, nicht aber, so scheint mir, ihre Pointe.

Vor langer Zeit entstand in einem Dorf im heutigen Litauen ein ungewöhnliches Problem. Eine seltsame Krankheit befiel viele Einwohner des Ortes. Meistens verlief sie tödlich (aber nicht immer), und ihr Ausbruch zeigte sich daran, daß das Opfer in ein dem Tod ähnliches Koma fiel. Da die medizinische Wissenschaft noch nicht so weit fortgeschritten war wie heute, ließ sich, wenn das Begräbnis angebracht schien, nicht eindeutig feststellen, ob das Opfer wirklich tot war. So wuchs bei den Dorfbewohnern die Furcht, mehrere ihrer Anverwandten seien womöglich lebendig begraben worden und ein ähnliches Schicksal erwarte vielleicht auch sie selbst. Die Schwierigkeit bestand darin, diese Unsicherheit aus der Welt zu schaffen.

Eine Gruppe von Leuten schlug vor, die Särge mit einem Vorrat an Wasser und Speisen zu versehen und ein kleines Luftloch in den Deckel zu bohren, für den Fall, daß einer der »Toten« doch noch lebte. Dies war zwar kostspielig, aber es schien die Mühe wert zu sein. Eine zweite Gruppe verfiel auf eine weniger kostspielige, effizientere Idee. Jeder Sarg sollte auf der Innenseite des Deckels, genau in der Höhe des Herzens mit einem fünfundzwanzig Zentimeter langen Pflock ausgestattet werden. Wenn der Sarg dann geschlossen wurde, hörte jegliche Ungewißheit auf.

Die Anekdote erzählt nicht, für welche Lösung man sich schließlich entschied, aber das ist für meinen Zweck auch nicht wichtig. Wichtig ist, daß hier durch unterschiedliche Fragen unterschiedliche Lösungen begünstigt wurden. Die erste Lösung war eine Antwort auf die Frage: Wie können wir sicherstellen, daß wir keinen Menschen begraben, der noch lebt? Die zweite war eine Antwort auf die Frage: Wie können wir sicherstellen, daß wir nur Menschen begraben, die tot sind?

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Fragen gleichen Computern oder Fernsehgeräten oder Stethoskopen oder Lügendetektoren also insofern, als sie Mechanismen sind, die unseren Gedanken eine bestimmte Richtung geben, neue Ideen hervorbringen oder alte in Ehren halten, Tatsachen sichtbar machen oder verbergen. In diesem Kapitel möchte ich einige Mechanismen untersuchen, die wie Maschinen funktionieren, aber normalerweise nicht als Teil der Apparatur des Technopols angesehen werden. Ich muß gerade deshalb auf sie aufmerksam machen, weil sie häufig übersehen werden. Im Hinblick auf ihre praktische Wirkung kann man sie für Technologien halten, für verkappte Technologien vielleicht, aber doch für Technologien.

Von der Sprache selbst einmal abgesehen, gibt es wohl kein anschaulicheres Beispiel für eine Technologie, die nicht wie eine solche aussieht, als das mathematische Zeichen, das unter dem Namen Null bekannt ist.

Die Null gelangte im 10. Jahrhundert von Indien nach Europa. Um das 13. Jahrhundert hatte sie einen festen Platz im abendländischen Bewußtsein eingenommen. (Den Römern und dem antiken Griechenland war sie unbekannt, während die babylonischen Mathematiker der hellenistischen Zeit über analoge Konzepte verfügten.) Ohne die Null wird es schwierig, Berechnungen anzustellen, die sich mit ihr ganz leicht durchführen lassen. Das kann jeder unschwer selbst feststellen, wenn er versucht, MMMMM mit MMDCXXVI zu multiplizieren. Man hat mir übrigens gesagt, daß eine solche Berechnung durchgeführt werden kann, aber die Bewältigung dieser Aufgabe ist so mühsam, daß sie kaum wirklich zu Ende gebracht wird, ein Umstand, der der Aufmerksamkeit der mittelalterlichen Mathematiker nicht entging.

Es gibt tatsächlich keine Hinweise darauf, daß römische Zahlen je zum Rechnen verwendet wurden oder hierfür gedacht waren. Zum Rechnen benutzten die Mathematiker den Abakus, das Rechengestell, und in der Zeit zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert kam es zu einer Art Kampf zwischen den Abakisten, die römische Zahlen schrieben und mit dem Abakus rechneten, und den Algoristen, die die indischen Zahlen mitsamt der Null verwendeten.

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Gegen die Null wandten die Abakisten ein, sie bezeichne das Nichtvorhandensein einer Zehnerpotenz, was keine römische Zahl tat und was ihnen philosophisch und vielleicht auch ästhetisch anstößig erschien. Schließlich ist die Null ein Zeichen, das sich überall, wo es erscheint, auf die Werte von Zahlen auswirkt, ohne selbst einen Wert zu haben. Es ist ein Zeichen, das Zeichen betrifft und das sich etymologisch aus dem Italienischen, aus nulla (»Nichts«) herleitet, das seinerseits eine Lehnübersetzung des arabischen sifr (»Ziffer«) darstellt und auf das indische Wort für »Leere« oder »Nichts« zurückgeht. Den Abakisten erschien es abwegig, mit einem Zeichen für »nichts« umzugehen, und ich fürchte, ich hätte mich damals auf ihre Seite geschlagen.

Ich spreche aus zwei Gründen über die Null: Erstens, um zu unterstreichen, daß es sich bei ihr um eine Art von Technologie handelt, die bestimmte Arten von Gedanken sowohl ermöglicht als auch erleichtert, wie sie ohne diese Technologie einem gewöhnlichen Menschen unzugänglich blieben. Die Null birgt vielleicht nicht gerade eine Ideologie in sich, aber sie enthält eine Idee. Ich habe weiter oben auf die Technologie, Aufsätze von Schülern mit Buchstaben oder Zahlen zu bewerten, und auf die griechische Entdeckung der Technologie der Alphabetschrift hingewiesen: wie der Gebrauch der Null sind auch dies Beispiele für Symbole, die wie Maschinen funktionieren, indem sie neue Denkgewohnheiten und damit auch neue Wirklichkeitsauffassungen generieren. Zweitens ermöglichten die Null und das gesamte indische Zahlensystem, zu dem sie gehörte, eine Weiterentwicklung der Mathematik, die ihrerseits eine der mächtigsten heute gebräuchlichen Technologien hervorbrachte: die Statistik.

Die Statistik eröffnet den Zugang zu neuen Wahrnehmungen und Wirklichkeiten, indem sie weiträumige Muster oder Regel­mäßigkeiten sichtbar macht. Ihre Anwendung in der Naturwissenschaft ist so bekannt, daß wir hier nicht darauf einzugehen brauchen. Nur dieses eine sei gesagt: wenn die Welt, wie die Physiker uns versichern, auf der Ebene subatomarer Teilchen aus lauter Wahrscheinlichkeiten besteht, dann bietet die Statistik das einzige Mittel, ihr Funktionieren zu beschreiben. Die sogenannte Unschärferelation behauptet sogar, daß die Physik über das Wesen der Dinge nur statistische Voraussagen machen kann.

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Es kann natürlich auch sein, daß die Physiker die Welt als probabilistisch auffassen, weil die Statistik erfunden wurde. Aber dieser Frage möchte ich hier nicht nachgehen. Wichtiger erscheint mir eine andere: In welchem Maße hat man die Statistik auf Gebiete vordringen lassen, wo sie nicht hingehört? Das Technopol zeichnet sich dadurch aus, daß es jeder Technologie freie Hand läßt. Insofern könnte man erwarten, daß es auch der Anwendung der Statistik keine Grenzen gezogen hat, und diese Erwartung bestätigt sich.

 

Den größten Mißbrauch mit der Statistik hat möglicherweise Francis Galton getrieben. Er wurde 1822 geboren und starb 1911, lebte also in einer Hochphase technischer Erfindungen, und man darf ihn wohl einen der Gründerväter des Technopols nennen. Galton ist auch als Begründer der sogenannten »Eugenik« bekannt geworden. Er prägte diesen Begriff und bezeichnete damit eine »Wissenschaft«, die, ausgehend von den Erbanlagen der Eltern, durch genetische Ehe- und Familienplanung auf die Erzeugung bestmöglicher Nachkommen zielte. 

Galton glaubte, alles lasse sich messen und insbesondere die Verfahren der Statistik seien eine Technologie, die einen Weg eröffne, alle Formen menschlichen Verhaltens zu begreifen. Wenn Sie sich das nächste Mal im Fernsehen eine Schönheitskonkurrenz ansehen, bei der die Frauen in eine numerische Reihenfolge gebracht werden, dann denken Sie an Galton, auf dessen pathologische Liebesaffäre mit den Zahlen diese Spielart von Schwachsinn zurückgeht. Unzufrieden damit, daß sich nicht eindeutig sagen Keß, wo am meisten »Schönheit« zu finden sei, entwarf er eine »Schönheitskarte« der Britischen Inseln. Hierfür klassifizierte er, wie er selbst berichtet, »die Mädchen, die ich auf der Straße oder anderswo sah, als attraktiv, neutral oder abstoßend«. Und dann führte er den statistischen Beweis, daß London die schönsten Mädchen aufwies, Aberdeen hingegen die häßlichsten; deswegen war es Galton gewiß unangenehm, seine Ferien in Schottland zu verbringen. Aber damit nicht genug, er erfand auch eine Methode zur Quantifizierung der Langeweile (durch Abzählen von Zappelbewegungen) und schlug vor, die Effektivität des Betens durch eine statistische Untersuchung zu bestimmen.

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Aber vor allem ging es Galton darum, die Erblichkeit von Intelligenz mit statistischen Mitteln zu beweisen. Zu diesem Zweck richtete er auf der Weltausstellung 1884 ein Laboratorium ein, in dem sich jeder Besucher für drei Pence den Schädel messen lassen konnte und dann eine Beurteilung der eigenen Intelligenz durch Galton erhielt. Anscheinend gab es keine zusätzlichen Punkte, wenn man sein Geld zurückverlangte, obwohl dies ein deutliches Anzeichen von Intelligenz gewesen wäre. Aber auf eine solche Idee ist damals wohl kaum jemand verfallen, denn Galton galt als einer der führenden Köpfe seiner Zeit. Lewis Terman, der mehr als jeder andere für die Verbreitung von Intelligenztests in Amerika verantwortlich war, hat errechnet, daß Galton einen IQ von mehr als 200 hatte. Terman stellte gern solche Schätzungen für Tote an und bewertete die Intelligenz von Charles Darwin (der übrigens ein Vetter von Galton war) mit bloß 135 Punkten, und die des armen Kopernikus setzte er irgendwo zwischen 100 und 110 an.1

Eine gründliche Geschichte und Analyse der verhängnisvollen Rolle der Statistik bei der »Messung« von Intelligenz enthält das großartige Buch Der falsch vermessene Mensch von Stephen Jay Gould. Ich möchte hier nur kurz auf drei von Gould ausführlich erörterte Gesichtspunkte hinweisen, die wohl jeden, der einen höheren IQ als Kopernikus besitzt, von den Gefahren überzeugen, die der Mißbrauch der Statistik in sich birgt.

Das erste Problem ist die Verdinglichung, die Verwandlung einer abstrakten Idee (zumeist eines Wortes) in ein Ding. In unserem Zusammenhang funktioniert die Verdinglichung folgendermaßen: Mit dem Wort »Intelligenz« bezeichnen wir eine Vielfalt von menschlichen Fähigkeiten, die wir für günstig oder wünschenswert halten. Ein Ding namens »Intelligenz« hingegen gibt es nicht. Intelligenz« ist ein Wort und obendrein ein Wort auf einer hohen Abstraktionsstufe. Wenn wir sie jedoch für ein Ding halten wie die Bauchspeicheldrüse oder die Leber, dann gelangen wir notwendigerweise zu der Überzeugung, daß man sie mit wissen­schaftlichen Verfahren lokalisieren und messen kann.

Das zweite Problem ist das Herstellen von Rangfolgen. Dazu bedarf es eines Kriteriums, mit dessen Hilfe jedem Einzelnen ein Platz in einer einzigen Skala zugewiesen werden kann. Und was eignete sich, wie Gould ausführt, hierzu besser als eine Zahl?

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Wenn wir also der Intelligenz einen Platz in einer Rangfolge zuordnen, nehmen wir an, daß Intelligenz nicht nur etwas Dingliches ist, sondern auch ein einzelnes Ding, das im Gehirn angesiedelt ist und dem eine Zahl zugeordnet werden kann. Die Sache verhält sich hier ungefähr so, als würde man sagen, daß die »Schönheit« einer Frau sich aus der Größe ihrer Brüste ergibt. Wir brauchen dann nur noch die Brüste zu messen, der Frau den entsprechenden Platz innerhalb der Rangfolge zu geben, und schon hätten wir ein »objektives« Maß für »Schönheit«.

Damit hätten wir nun - drittens - unsere Frage »Wer ist die Schönste im ganzen Land?« auf eine eingeschränkte und tendenziöse Weise formuliert. Aber das bliebe unbemerkt, denn, so schreibt Gould: »Die Mystik der Wissenschaft erhebt die Zahlen zum letzten Prüfstein der Objektivität.« Das heißt, die Art und Weise, wie wir den Begriff definiert haben, entschwindet unserem Bewußtsein, das grundlegend Subjektive daran wird unsichtbar, und die objektive Zahl selbst wird verdinglicht. Man sollte meinen, ein solches Verfahren müßte lächerlich erscheinen, vor allem deshalb, weil wir, sofern wir daran glauben, zu dem Schluß gelangen, daß Dolly Parton schöner ist als Audrey Hepburn. Oder im Hinblick auf die Intelligenz: daß Galton zweimal soviel von ihr besaß wie Kopernikus.

Dennoch wird all dies unter dem Technopol sehr ernst genommen, auch wenn sich hier und da einmal Protest erhebt. Nachdem sich E.L. Thorndike ein Leben lang mit der Messung von Intelligenz beschäftigt hatte, stellte er fest, daß Intelligenztests drei geringfügige Mängel aufweisen: »Was sie eigentlich messen, ist nicht bekannt; wieweit es zulässig ist, die Meßergebnisse, die man erhält, zu addieren, zu subtrahieren, zu multiplizieren, zu dividieren oder aus ihnen Maßverhältnisse zu errechnen, ist nicht bekannt; was die Meßergebnisse in bezug auf die Intelligenz eigentlich besagen, ist nicht bekannt.«2 Mit anderen Worten, diejenigen, die Intelligenztests veranstalten, wissen buchstäblich nicht, was sie tun. Deshalb stellte auch David McClelland fest: »Psychologen sollten sich dafür schämen, daß sie einer Auffassung von Intelligenz Vorschub geleistet haben, die ein solches Testprogramm hervorgebracht hat.«

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Und Joseph Weizenbaum schrieb: »Es gibt wenige <wissenschaftliche> Theorien, die das Denken von Wissenschaftlern und Laien mehr in Verwirrung gestürzt haben als die Theorie des »Intelligenzquotienten oder >IQ<. Die Vorstellung, Intelligenz könne entlang einer simplen Linearskala quantitativ erfaßt werden, hat unserer Gesellschaft insgesamt, vor allem aber auf dem Gebiet der Erziehung, unsäglichen Schaden zugefügt.«3

Gould hat manches von diesem Schaden dokumentiert, und Howard Gardner hat in seinem Buch Frames of Mind versucht, ihn zu mindern. Aber das Technopol widersteht solchen Vorwürfen, denn es braucht den Glauben, daß die Wissenschaft ein vollkommen objektives Unterfangen sei. Da ihm klare ethische Prinzipien fehlen und da es die Tradition verworfen hat, sucht das Technopol nach einer neuen Quelle für Autorität und findet sie in der Idee der statistischen Objektivität.

 

Diese Suche zeigt sich nicht nur in dem Bestreben, genau zu bestimmen, wie klug einzelne Menschen sind, sondern vor allem auch in dem Versuch, herauszufinden, wie klug ganze Gruppen von Menschen sind. Abgesehen davon, daß die hierbei verwendeten Verfahren eine Antwort auf solche Fragen nicht geben und nicht geben können, muß man auch fragen: Wozu wäre es eigentlich gut, wenn man sagen könnte, daß eine bestimmte Gruppe von Menschen schlauer ist als eine andere? 

Nehmen wir an, man könnte aufgrund objektiver Meßdaten zeigen, daß Asiaten mehr »Intelligenz« besitzen als Kaukasier oder Kaukasier mehr als Afroamerikaner. Na und? Was nützt diese Information einem Lehrer oder einem Unternehmer? Soll der Lehrer oder der Unternehmer nun annehmen, daß ein bestimmter Asiate schlauer ist als ein bestimmter Afroamerikaner? Oder gar, daß sechs Asiaten schlauer sind als sechs Afroamerikaner? Offenbar nicht. Aber, wer weiß? Wir sollten nie die Geschichte von dem Statistiker vergessen, der bei dem Versuch ertrank, einen Fluß zu durchwaten, der durchschnittlich ein Meter zwanzig tief war. Mit anderen Worten, in einer Kultur, die der Statistik mit Ehrfurcht begegnet, kann man nie wissen, was für ein Unsinn sich in den Köpfen der Leute schließlich festsetzt.

Die einzige plausible Antwort auf die Frage, warum wir die Statistik für solche Messungen verwenden, lautet, daß dies aus gesellschaftspolitischen Gründen geschieht, deren essentielle Bösartigkeit nur durch den Mantel der »wissenschaftlichen Forschung« verdeckt wird.

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Wenn wir glauben, daß Schwarze dümmer als Weiße seien und daß dies nicht nur unsere private Meinung sei, sondern auch durch objektive Messungen bestätigt werden könne, dann dürfen wir uns in dem Glauben wiegen, wir besäßen eine unumstößliche Autorität, Entscheidungen über die Verteilung von Ressourcen zu treffen. So wird die Wissenschaft unter dem Technopol dazu verwendet, die Demokratie »rational« zu machen.

Meinungsumfragen bieten hier eine weitere Möglichkeit. Die Statistik hat nicht nur eine riesige Test-Industrie, sondern auch einen ganzen Gewerbezweig hervorgebracht, der sich auf die Erforschung der »öffentlichen Meinung« spezialisiert hat. Zunächst muß man einräumen, daß es Verwendungsformen für Meinungsumfragen gibt, die man als verläßlich bezeichnen kann, vor allem, wenn es dabei um genau eingegrenzte Fragen geht, etwa: »Wollen Sie bei der nächsten Wahl dem Kandidaten X oder Y Ihre Stimme geben?« Aber die Feststellung, daß ein Verfahren verläßlich sei, besagt noch nichts über seinen Nutzen. Und bis heute ist ungeklärt, ob die Kenntnis von Wählertrends während eines Wahlkampfes für den eigentlichen Wahlvorgang eine Bereicherung oder eine Verarmung zur Folge hat. Wenn aber Meinungsumfragen zur Orientierung der Politik selbst benutzt werden, haben wir es mit einem ganz anderen Problem zu tun.

Ich habe vor einiger Zeit an einem Seminar mit einer Gruppe von amerikanischen Kongreßabgeordneten teilgenommen, die sich versammelt hatten, um zwei Tage lang über das Thema zu diskutieren, was geschehen könne, um der Zukunft Amerikas mehr Lebensqualität zu geben und sie, wenn möglich, menschlicher zu gestalten. Man hatte zehn Berater aufgefordert, Perspektiven zu entwickeln und Ratschläge zu geben. Acht von ihnen waren Meinungsforscher. Sie sprachen über die »Trends«, die in ihren Umfragen zutage traten; zum Beispiel darüber, daß die Menschen sich für die Frauenbewegung nicht mehr interessierten, daß sie Umweltproblemen keine vorrangige Bedeutung beimaßen, daß sie nicht glaubten, das »Drogenproblem« werde sich verschlimmern, und so weiter. Offenbar waren diese Umfrageergebnisse als eine Grundlage gedacht, auf die sich die Kongreß­abgeordneten bei ihren Überlegungen zur Gestaltung der Zukunft stützen sollten. Die Gedanken, die die Abgeordneten selbst hegten (lauter Männer übrigens), traten in den Hintergrund.

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Ihre eigenen Wahrnehmungen, Gefühle, Einsichten und Erfahrungen verblaßten zur Bedeutungslosig­keit. Konfrontiert mit »Sozial­wissen­schaftlern«, neigten sie dazu, das zu tun, was den »Trends« zufolge die breite Masse der Bevölkerung zufrieden­stellen würde.4

Man könnte nun argumentieren, die Erforschung der öffentlichen Meinung stelle die Demokratie auf eine vernünftige, wissen­schaftliche Basis. Wenn unsere Politiker uns repräsentieren sollen, dann brauchen sie schließlich Informationen darüber, was wir »glauben« oder »denken«. Doch die Probleme liegen anderswo, und es sind ihrer wenigstens vier. Das erste betrifft die Form der Fragen, die dem Publikum gestellt werden. Ich erinnere den Leser an das Problem, ob es zulässig sei, gleichzeitig zu rauchen und zu beten. Oder, um ein realistischeres Beispiel zu nehmen: Wenn wir Menschen die Frage stellen, ob sie es für akzeptabel halten, daß die Umwelt weiter verschmutzt werde, erhalten wir höchstwahrscheinlich ganz andere Antworten als auf die Frage: Sind Sie der Meinung, daß dem Umweltschutz vorrangige Bedeutung zukommt? Oder: Halten Sie die Sicherheit auf den Straßen für wichtiger als den Umweltschutz? Die »Meinung« der Öffentlichkeit dürfte in bezug auf die allermeisten Probleme ganz und gar abhängig sein von der Art, wie die Frage gestellt wird. (Übrigens wurde während des ganzen Seminars von keinem Kongreßabgeordneten eine Frage zu den Fragen gestellt. Alle Teilnehmer waren nur an den Ergebnissen interessiert, nicht daran, wie sie zustande kamen, und niemandem schien es in den Sinn zu kommen, daß die Ergebnisse und die Art und Weise ihrer Entstehung untrennbar miteinander verbunden sind.)

Die Fragen, die Meinungsforscher stellen, zielen normalerweise auf eine Ja- oder Nein-Antwort. Muß man noch darauf hinweisen, daß in solchen Antworten kein allzu großer Spielraum für die sogenannte »öffentliche Meinung« bleibt? Wenn Sie zum Beispiel auf die Frage »Glauben Sie, das Drogenproblem lasse sich durch staatliche Programme eindämmen?« mit »Nein« antworten, dann wäre über Ihre Meinung wenig Interessantes oder Wertvolles zutage gekommen. Würde man es Ihnen aber ermöglichen, ausführlicher über diese Frage zu sprechen oder zu schreiben, so wäre der Einsatz der Statistik ausgeschlossen.

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Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, daß die Verwendung der Statistik in der Meinungsforschung die Bedeutung des Begriffs »öffentliche Meinung« genauso dramatisch verändert, wie das Fernsehen die Bedeutung von »öffentlicher Debatte« verändert. Unter dem amerikanischen Technopol ist die öffentliche Meinung eine Ja- oder Nein-Antwort auf eine ungeprüfte Frage.

Zweitens: die Verfahren der Meinungsforschung propagieren die Vorstellung, eine Meinung sei ein Ding im Innern des Menschen, das durch die Fragen des Meinungsforschers lokalisiert und zutage gefördert werden könne. Aber es gibt dazu auch eine ganz andere Ansicht, und Jefferson gehörte zu denen, die sie vertraten. Eine Meinung ist kein momentanes Ding, sondern ein Denkvorgang, der durch den ständigen Erwerb von Wissen, durch ständiges Fragen, Diskutieren und Debattieren geformt wird. Eine Frage kann eine Antwort »nahelegen«, sie kann eine Antwort aber auch modifizieren und neu formen; es wäre eigentlich richtiger, zu sagen, daß Menschen Meinungen nicht einfach »haben«, sondern in einem ständigen Prozeß des »Meinens« oder der »Meinungsbildung« begriffen sind.

Die Meinung als meßbares Ding aufzufassen, verfälscht den Prozeß, in dem sich die Menschen ihre Meinung tatsächlich bilden, und dieser Prozeß steht in engster Beziehung zu dem, was den Kern einer demokratischen Gesellschaft ausmacht. Die Meinungs­forschung sagt uns hierüber nichts und neigt dazu, diesen Vorgang unserem Blick zu entziehen.

Womit wir beim dritten Punkt wären. Meinungsumfragen ignorieren in der Regel, was die Menschen über die Themen, zu denen sie befragt werden, eigentlich wissen. Iin einer Kultur, die nicht von dem zwanghaften Bedürfnis besessen ist, alles zu messen und Rangfolgen herzustellen, würde eine solche Blindstelle wahrscheinlich höchst sonderbar erscheinen. Aber überlegen wir doch einmal, was wir von Meinungsumfragen halten würden, wenn stets zwei Fragen gestellt würden, eine, die ermittelt, was die Menschen »meinen«, und eine, die ermittelt, was sie über das jeweilige Thema »wissen«. Unter Verwendung von ein paar fiktiven Zahlen könnte dabei etwa folgendes herauskommen: »Die jüngste Umfrage ergibt, daß 72 Prozent der Amerikaner der Meinung sind, wir sollten Nicaragua die Wirtschaftshilfe entziehen.

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Von denen, die diese Meinung vertraten, glaubten 28 Prozent, Nicaragua liege in Mittelasien, 18 Prozent glaubten, es sei eine Insel in der Nähe von Neuseeland, und 27,4 Prozent vertraten die Ansicht, <die Afrikaner sollen selbst sehen, wie sie zurechtkommen>, wobei sie offensichtlich Nicaragua mit Nigeria verwechselten. Darüber hinaus wußten 61,8 Prozent der Befragten nicht, daß Amerika überhaupt Wirtschaftshilfe für Nicaragua bereitstellt, und 23 Prozent wußten nicht, was <Wirtschaftshilfe> bedeutet.« Wären Meinungsforscher bereit, uns solche Informationen mitzuliefern, so würden das Ansehen und der Einfluß der Meinungsforschung darunter gewiß erheblich leiden. Vielleicht würden angesichts von derart geballter Unwissenheit sogar Kongreßabgeordnete dem eigenen Verstand wieder mehr trauen.

Das vierte Problem im Zusammenhang mit der Meinungsforschung besteht darin, daß sie zu einer Verschiebung der Verantwortung zwischen den Politikern und ihren Wählern führt. Gewiß sollen Kongreß­abgeordnete die Interessen ihrer Wähler so gut wie eben möglich verfechten. Aber ebenso gewiß ist, daß Kongreßabgeordnete ihre eigene Urteilskraft nutzen sollen, um herauszufinden, worin diese Interessen bestehen. Hierzu müssen sie sich an ihre eigenen Erfahrungen und ihr eigenes Wissen halten.

Vor dem Aufkommen der Meinungsforschung wurden Politiker, denen die Meinungen ihrer Wähler auch damals nicht gleichgültig waren, im wesentlichen nach ihrer Fähigkeit beurteilt, Entscheidungen auf der Grundlage dessen zu treffen, was ihnen an Weisheit zur Verfügung stand; mit anderen Worten, diese Politiker waren verantwortlich für ihre Entscheidungen. Mit der Verfeinerung und Ausweitung der Meinungsumfragen geraten sie immer mehr unter den Druck, auf eigenverantwortliche Entscheidungen zu verzichten und sich statt dessen den Meinungen ihrer Wähler zu fügen, gleichgültig, wie uninformiert oder kurzsichtig diese Meinungen sind.

Noch deutlicher erkennen wir diese Verantwortungsverschiebung an der Bewertung von Fernsehsendungen auf der Grundlage statistisch ermittelter Einschaltquoten. Als »gut« gilt heute ganz einfach eine Sendung, die hohe Einschaltquoten hat. »Schlecht« ist eine Sendung mit niedrigen Quoten. Infolgedessen beginnt und endet die Verantwortung eines Fernsehautors bei seiner Fähigkeit, eine Sendung zu fabrizieren, die viele Millionen Zuschauer anschauen.

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Er ist einzig und allein dem Publikum verantwortlich. Tradition, ästhetische Maßstäbe, Fragen der thematischen Plausibilität, des Geschmacks oder auch nur der schlichten Begreiflichkeit braucht er nicht zu berücksichtigen. Die öffentliche Meinung bildet die Richtschnur, auf die allein es ankommt. Fernsehleute behaupten oft, ihr Medium sei die demokratischste Institution Amerikas: jede Woche finde eine Volksabstimmung statt, um zu klären, welche Sendungen überleben sollen. 

Dieser Behauptung versucht man zusätzliches Gewicht durch eine zweite zu geben: schöpferische Künstler seien nie gleichgültig gegenüber den Vorlieben und Meinungen ihres Publikums gewesen. Schriftsteller beispielsweise schrieben für Menschen, sie schrieben, um deren Beifall und deren Verständnis zu erlangen. Aber Schriftsteller schreiben auch aus sich heraus, weil sie etwas sagen wollen, und nicht bloß, weil Leser etwas lesen wollen. Durch ihre fortwährenden Verbeugungen vor dem Publikum und seinen Vorlieben verändert die Meinungsforschung die Motivation der Autoren; ihr ganzes Bemühen zielt nun auf höhere Einschaltquoten. Die populäre Literatur ist heute mehr denn je abhängig von den Wünschen des Publikums und nicht von der Kreativität des Künstlers.

 

Bevor ich mich einem anderen Thema zuwende, möchte ich noch darauf aufmerksam machen, daß die Technologie der Statistik riesige Mengen gänzlich nutzloser Information erzeugt, wodurch die ohnehin schon schwierige Aufgabe, die nützlichen Informationen ausfindig zu machen, zusätzlich erschwert wird. Es handelt sich hierbei nicht bloß um ein Zuviel an Information, es geht hier vor allem um eine Trivialisierung von Information, die zur Folge hat, daß alle Informationen gleichrangig und unterschiedslos nebeneinanderstehen. 

Niemand hat diesen Mißbrauch einer Technologie besser gekennzeichnet als der Cartoonist Mankoff im New Yorker. Mankoff zeigt einen Mann, der aufmerksam vor dem Fernsehgerät sitzt, während der Nachrichten­sprecher sagt: »Aus den vorläufigen Zahlen der jüngsten Volkszählung geht hervor, daß die Zahl der weiblichen Anthropologen zum erstenmal in der Geschichte unseres Landes die Zahl der männlichen Golf-Profis übersteigt.« 

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Wenn sich Statistik und Computer zusammentun, geraten bald riesige Mengen von Informationsmüll in den öffentlichen Diskurs. Wer sich hin und wieder eine Sportsendung im Fernsehen ansieht, weiß, daß Mankoffs Cartoon diesen Zustand nicht sosehr parodiert als vielmehr dokumentiert. Nutzlose, sinnlose Statistiken überschwemmen die Aufmerksamkeit des Zuschauers. Zum Beispiel: »Seit 1984 haben die Buffalo Bills nur zwei Spiele gewonnen, in denen sie sechs Minuten vor Ende der Spielzeit nicht mehr als vier Punkte Vorsprung hatten.«5 

Was soll man mit dergleichen anfangen? Und doch scheint es einen Markt für nutzlose Informationen zu geben. Wer die Zeitung USA Today liest, bekommt auf der Titelseite jeder Nummer irgendeine schwachsinnige Statistik angeboten, die sich etwa so liest: »Die vier Bundesstaaten, die von 1980 bis 1989 im Bananenkonsum an der Spitze lagen, sind Kansas, North Dakota, Wyoming und Louisiana. Seltsamerweise fiel Nevada, das 1989 noch den neunten Platz einnahm, im letzten Jahr auf den sechsund­zwanzigsten zurück, und genau diesen Platz nimmt es auch beim Verbrauch von Kiwi-Früchten ein.«6

Überraschend ist, wie häufig ein derartiger Unfug zum Thema sinnloser Gespräche wird. Ich habe gehört, wie New Yorker mit triumphierendem Lächeln vor Leuten, die aus einer anderen Stadt kamen, verkündeten, in der Kriminalitätsstatistik nehme New York City nur den achten Platz unter den amerikanischen Städten ein, und die sich anschließend trotzdem weigerten, einen Fuß vor die Tür zu setzen, weil es nach 18 Uhr war.

Ich behaupte natürlich nicht, daß alle statistischen Befunde nutzlos sind. Wenn wir erfahren, daß jeder vierte männliche Schwarze zwischen zwanzig und dreißig Jahren eine Zeitlang im Gefängnis gesessen hat oder daß im Bildungssektor die öffentlichen Ausgaben für schwarze Kinder um 23 Prozent unter denen für weiße Kinder liegen, dann sind dies statistische Tatsachen, die uns helfen, eine Beziehung zwischen Ursachen und Wirkungen zu erkennen, und die sogar ein bestimmtes Handeln nahelegen. Aber wie jede Technologie hat auch die Statistik die Tendenz, außer Kontrolle zu geraten, mehr Platz in unserem Kopf zu besetzen, als ihr zukommt, und in Bereiche des öffentlichen Diskurses vorzudringen, wo sie nur Unheil anrichten kann. Wenn sie außer Kontrolle gerät, begräbt die Statistik das notwendige Wissen unter einer Halde von Belanglosigkeiten.

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Und noch ein Hinweis ist vonnöten, der den Kern des Kapitels betrifft. Manche Technologien treten verkappt auf. Rudyard Kipling nannte sie »schlummernde Technologien«. Sie sehen nicht aus wie Technologien, und deshalb funktionieren sie, im Guten wie im Schlechten, ohne daß sich viel Kritik erhebt, oder sie bleiben sogar unbeachtet. Das gilt nicht nur für Intelligenztests, für Meinungsumfragen und alle Systeme, in denen Zensuren verteilt oder Rangfolgen erstellt werden, sondern auch für Kreditkarten, Buchhaltungsverfahren und Leistungstests. 

Im Bildungssektor gilt es zum Beispiel auch für die sogenannten akademischen »Kurse«. Ein solcher Kurs ist eine Lerntechnologie. Ich habe mehr als zweihundert solcher Kurse abgehalten und weiß noch immer nicht, warum jeder von ihnen genau fünfzehn Wochen und jede einzelne Sitzung genau eine Stunde und fünfzig Minuten dauert. Wenn die Antwort lauten sollte, dies habe verwaltungstechnische Gründe, dann handelt es sich bei einem Kurs um eine Technologie, die unter falscher Flagge segelt. Er wird für eine vorteilhafte Lernstruktur gehalten, während er in Wirklichkeit nur eine Struktur zur Verteilung von Raum, zur praktischen Verwaltung und Kontrolle von Universitäts- oder Schulzeit ist. Wichtig daran ist, daß uns der Ursprung des Kurses und der Grund dafür, daß es ihn gibt, verborgen bleibt. Wir glauben, es gebe ihn aus jenem Grund, während er in Wahrheit aus einem ganz anderen existiert. Es ist kennzeichnend für diejenigen, die unter einem Technopol leben, daß sie sich über die Herkunft und die Auswirkungen ihrer Technologien meist nicht im klaren sind.7

Eines der aufschlußreichsten Beispiele für diese Art von Unklarheit ist die weitverbreitete Annahme, das moderne Wirt­schafts­leben habe die Technologie des Managements hervorgebracht. Das Management ist ein Macht- und Kontrollsystem, dazu bestimmt, größtmöglichen Nutzen aus dem relevanten Wissen, aus der hierarchischen Organisation menschlicher Fähigkeiten und dem Informationsfluß von unten nach oben und von oben nach unten zu ziehen. Zumeist nimmt man an, das Management sei von Wirtschaftsunternehmen als rationale Antwort auf die wirtschaftlichen und technischen Herausforderungen der Industriellen Revolution erfunden worden.

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Aber die Untersuchungen von Alfred Chandler, Sidney Pollard und vor allem die von Keith Hoskin und Richard Macve vermitteln ein ganz anderes Bild und führen zu einer verblüffenden Schlußfolgerung: das Management ist keine Erfindung der modernen Wirtschaft; vielmehr ist die moderne Wirtschaft eine Erfindung des Managements.8

Am ehesten, so sollte man annehmen, hätte das Management gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Großbritannien entstehen müssen. Es gibt indessen keine Hinweise darauf, daß die britische Industrie in der Zeit vor 1830 etwas von Managementtechniken gewußt hat, und es gab in England auch nichts, was einer »Managerschicht« entsprochen hätte. Das Management wurde in den Vereinigten Staaten erfunden, »aus heiterem Himmel«, wie Hoskin und Macve sagen. Es war keine Erfindung, die dringend benötigt wurde, denn die amerikanische Industrie spielte damals in der Weltwirtschaft nur eine untergeordnete Rolle. Die Wurzeln des Managements lassen sich bis zu einem neuen Bildungssystem zurückverfolgen, das im Jahre 1817 an der Militärakademie der Vereinigten Staaten vom vierten Direktor dieser Akademie, Sylvanus Thayer, eingeführt wurde.

Thayer brachte zwei Neuerungen ins Spiel. Die erste, der Ecole Polytechnique in Paris entlehnt, bestand darin, Prüfungen durch numerische Zensuren zu bewerten. Wie schon erwähnt, wurde die Notengebung für schriftliche Aufsätze der Studenten an der Universität Cambridge gegen Ende des 18. Jahrhunderts erfunden und dann von mehreren Schulen auf dem europäischen Kontinent übernommen. Thayer hat diese Praxis wahrscheinlich als erster in Amerika installiert. 

Wie jeder Lehrer weiß, verändert das Notengeben die Lernerfahrung und den Sinn von Lernen grundlegend. Es löst eine starke Konkurrenz zwischen den Studenten oder Schülern aus, indem es scharf differenzierte Symbole für Erfolg oder Mißlingen bereitstellt. Es liefert einen »objektiven« Maßstab für menschliche Leistungen und erzeugt die unerschütterliche Illusion, der Wert solcher Leistungen lasse sich exakt berechnen. Der Mensch wird, nach einer Formulierung von Michel Foucault, zu einer »kalkulierbaren Person«.

Thayers zweite Neuerung war offenbar eine Erfindung von ihm selbst, das »Stab-Linien-System«. Er gliederte die Akademie in zwei Abteilungen, die er jeweils hierarchisch organisierte. 

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Hoskin und Macve schreiben dazu: »Tägliche, wöchentliche und monatliche Berichte wurden verlangt, alle in schriftlicher Form. Es entstand ein fortwährender Austausch von schriftlichen Mitteilungen und Befehlen, die in jeder Abteilung oder Linie von unten nach oben gingen, bevor sie zusammengefaßt und an die zentrale >Stabsstelle< übermittelt wurden.« 

Thayer lehnte die traditionelle Rolle des Führers, die direkte, sichtbare Kommando­gewalt, ab. Er regierte indirekt, mittelbar, durch schriftliche Berichte, Tabellen, Memoranden, Personalakten usw., etwa so, wie heute die Vorstandsabteilung eines modernen Großunternehmens funktioniert.

Wir wissen nicht, wie die zweihundert Kadetten an der Akademie auf Thayers neues System reagierten (das Hoskin und Macve als »grammatozentrisches Prinzip« bezeichnen, weil der Einsatz von Schrift im Mittelpunkt dieser Organisationsform stand). Aber wir wissen, daß zwei von ihnen, Daniel Tyler und George Whistler, sehr beeindruckt waren. Beide gehörten der Abschlußklasse des Jahres 1819 an, und außer dem Leutnantsrang nahmen sie auch Thayers Ideen über den Aufbau und die Gliederung großer Organisationen mit ins Leben.

Daniel Tyler arbeitete in der großen Waffenfabrik von Springfield, Massachusetts. Er führte dort 1832 (sechzig Jahre vor Frederick Taylors »wissenschaftlicher Betriebsführung«) eine Reihe von Zeit- und Bewegungsstudien durch und legte aufgrund dieser Untersuchungen für jede Tätigkeit innerhalb der Fabrik objektiv begründete Produktionsnormen fest. Die Arbeiter wurden ständig überwacht und ihre tatsächliche Produktivität mit den Normen verglichen. Außerdem setzte Tyler eine Qualitätskontrolle und ein System der Lagerbuchhaltung durch. Alle diese Methoden bewirkten einen drastischen Anstieg der Produktivität und eine Senkung der Kosten.

Inzwischen war George Whistler (übrigens der Vater des Malers James Whistler) Chefingenieur der Western Railroads geworden und entwickelte 1839 ein Managementsystem, auf das Sylvanus Thayer stolz gewesen wäre. Er organisierte die Eisenbahn­gesellschaft in hierarchischen Linien — ausgehend von einer zentralen Stabsstelle über regionale bis hinab zu lokalen Managern. Er gebrauchte sehr wirkungsvoll das grammatozentrische Prinzip, das er sich an der Militärakademie (als cadet staff sergeant major in der Stabsstelle) ohne Zweifel gut eingeprägt hatte.

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Die Prinzipien der Berechenbarkeit und des Grammatozentrismus bilden die Grundlage der modernen Managementsysteme. Die Berechenbarkeit führte unausweichlich zu Ideen wie detaillierter Buchführung, Lagerbuchhaltung und Produktivitätsnormen. Der Grammatozentrismus stützte die Vorstellung, ein Unternehmen sei am besten zu leiten, wenn man es durch schriftliche Berichte der in der hierarchischen Linie weiter unten Stehenden kennt. Mit anderen Worten: man leitet den Betrieb anhand von »Zahlen« und indem man sich von der Alltagswirklichkeit der Produktion fernhält.

Es ist gewiß bemerkenswert, daß die Grundstruktur des Wirtschaftsmanagements außerhalb des eigentlichen Bereichs der Wirtschaft entstanden ist. Aber es dauerte nicht lange, bis die amerikanische Wirtschaft anfing, die Prinzipien von Thayer, Tyler und Whistler zu übernehmen, und auf diese Weise das schuf, was wir uns heute unter einem modernen Unternehmen vorstellen. Gerade das Management ist das Kennzeichen eines modernen Unternehmens, und dies hat John Kenneth Galbraith in seinem Buch The New Industriell State zu der Bemerkung veranlaßt: »Mehr als die Maschinen selbst sind die umfassenden, komplexen Organisationen der Wirtschaft eine greifbare Manifestation der fortgeschrittenen Technologie.«

Das Beispiel des Managements ist aus zwei Gründen lehrreich. Zum einen funktioniert, worauf auch Galbraith hinweist, das Management, ähnlich der Null, der Statistik, der IQ-Messung, der Notengebung oder der Meinungsforschung, genau wie eine Technologie. Gewiß, es besteht nicht aus mechanischen Teilen. Es besteht aus Prozeduren und Regeln, die Verhalten standardisieren sollen. Aber wir können ein solches Prozeduren- und Regelsystem als eine Verfahrensweise oder eine Technik bezeichnen; und von einer solchen Technik haben wir nichts zu befürchten, es sei denn, sie macht sich, wie so viele unserer Maschinen, selbständig. Und das ist der springende Punkt. Unter dem Technopol neigen wir zu der Annahme, daß wir unsere Ziele nur erreichen können, wenn wir den Verfahrensweisen (und den Apparaten) Autonomie geben. Diese Vorstellung ist um so gefährlicher, als sich niemand mit vernünftigen Gründen gegen den rationalen Einsatz von Verfahren und Techniken stellen kann, mit denen sich bestimmte Vorhaben verwirklichen lassen.

Ich möchte nicht einmal bestreiten, daß die Verfahrensweisen, die wir unter dem Stichwort Management kennen, vielleicht wirklich die beste Methode darstellen, die Probleme der modernen Wirtschaft zu lösen. Wir sind technische Geschöpfe, und durch unsere Vorliebe für Techniken und unsere Fähigkeit, Techniken zu entwickeln, haben wir ein hohes Maß an Klarheit und Effizienz gewonnen. Die Sprache selbst ist, wie gesagt, eine Art von Technik — eine unsichtbare Technologie —, und durch sie erlangen wir sogar noch mehr als nur Klarheit und Effizienz. Wir erlangen Humanität — oder Inhumanität. 

Die Frage, die sich im Zusammenhang mit der Sprache ebenso wie mit jeder anderen Verfahrensweise oder Maschine stellt, lautet heute, wie eh und je: Wer ist der Herr? Beherrschen wir sie, oder beherrscht sie uns? Die Kontroverse betrifft also nicht das Verfahren oder die Technik selbst. Sie betrifft den Triumph des Verfahrens, seine Erhöhung zu etwas Heiligem, wodurch verhindert wird, daß auch andere Verfahrensweisen eine Chance bekommen. Wie jede Technologie neigt das Verfahren dazu, unabhängig von dem System zu funktionieren, dem es dient. Es wird autonom, wie ein Roboter, der seinem Herrn nicht mehr gehorcht.

Zweitens: Das Management ist ein wichtiges Beispiel dafür, wie eine »unsichtbare Technologie« untergründig, aber dennoch energisch neue Verfahrens­weisen hervorbringt — ein klassisches Beispiel von einem Schwanz, der mit dem Hund wedelt. Wirtschaftsunternehmen und andere Institutionen könnten durchaus ohne eine hochtechnisierte Managementstruktur funktionieren, auch wenn wir uns dies kaum vorzustellen vermögen. Wir haben uns so daran gewöhnt, daß wir beinahe geneigt sind, das Management für einen Bestandteil der natürlichen Ordnung der Dinge zu halten, so wie Studenten und Lehrer zu der Ansicht gelangt sind, Bildung sei ohne eine Struktur wie den College-Kursus geradezu unmöglich. Und wie Politiker glauben, sie würden ohne den Beistand der Meinungsforschung im dunkeln tappen. 

Wenn eine Methode oder eine Verfahrensweise sich so eng mit einer Institution verbunden hat, daß wir nicht mehr wissen, was zuerst da war — die Methode oder die Institution —, dann wird es schwierig, die Institution zu verändern oder sich auch nur andere Methoden auszudenken, mit denen sie ihre Ziele ebenfalls erreichen könnte.

Deshalb müssen wir begreifen, woher unsere Verfahren und Techniken kommen und wozu sie taugen; wir müssen sie sichtbar machen, um sie in unsere Verfügungsgewalt zurückzuholen. Im nächsten Kapitel möchte ich dies mit jenem verwickelten, ausgreifenden Gefüge von Techniken und Verfahrensweisen versuchen, das ich als Szientismus bezeichne.

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Das Technopol - Von Neil Postman